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Für Heinrich Vogeler, einen Bremer Kaufmannssohn, gehörte das Zeichnen und Malen seit seiner Kindheit selbstverständlich zum Alltag. Skizzen vom Leben auf der Straße, Studien von Tieren und arbeitenden Menschen füllen seine Zeichenblöcke. Aber erst nach langem Zögern gibt Vogelers Vater - der den Sohn lieber als seinen Nachfolger gesehen hätte - sein Einverständnis, dass Heinrich die Akademie besuchen darf, um später einmal Maler zu werden. Schon als sehr junger Mann gewinnt Heinrich Vogeler Medaillen und Auszeichnungen. Das Gestalten von Büchern und Gegenständen, die Ausstattung von Wohnräumen und Bauwerken bilden seinem Lebensinhalt. Er wird ein gesuchter Künstler und mit Aufträgen überhäuft. Sein Name, verbunden mit dem von ihm gewählten Wohnsitz, gilt als ein Markenzeichen: Vogeler - Worpswede. Das Signum ist gleichbedeutend für edlen Geschmack, Gediegenheit und Eleganz. Dem vom Erfolg verwöhnten jungen Mann wird in seiner Liebe zu dem Mädchen Martha, wie er hofft, Vollendung zuteil. Drei Kinder wachsen heran. Es ist das Glück und es soll dauern. Der Erste Weltkrieg, zu dem sich Vogeler als Freiwilliger meldet, wird zu einer tiefen Zäsur in seinem Leben. Seine Kunst steht nicht mehr im absoluten Mittelpunkt. Die Ehe mit Martha zerbricht. Der berühmte Künstler richtet auf seinem Wohnsitz, dem Worpsweder Barkenhoff, eine Kommune ein, er hilft den Kriegswaisen. Die Zeiten haben sich geändert, sie ändern auch den Heinrich Vogeler. Sein Lebensweg führt ihn von Worpswede nach Moskau, von Moskau nach Kasachstan... Heinrich Vogeler leistete Bleibendes in Buchgestaltung und Design und gilt als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Jugendstils. Jutta Schlott, die Autorin dieser Biographie, vermag es, von Schönheit und Harmonie im Leben des Künstlers zu erzählen, wie auch von schwerer Selbsterfahrung und der Suche nach dem, was Heinrich Vogelers Leben Sinn geben sollte: "Das Wahre".
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Seitenzahl: 233
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Jutta Schlott
Farbenspiele
Das Leben des Malers Heinrich Vogeler
ISBN 978-3-86394-313-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1989 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Peter Festersen
Auf Wunsch der Autorin wurde das Buch nicht auf die neue Rechtschreibung umgestellt.
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Die Natur hat Feierlichkeit und Behagen, Groteskes und Humor oft in einem Objekt und in einer Linie.
Ernst Barlach, I911
Mitte November gab es den ersten Wintereinbruch. Die Fahrtspuren auf den Wegen verkrusteten, die Pfützen überzogen sich mit einer Haut aus blasigem, krachend splitterndem Eis.
Drei Stunden nach Mitternacht fingen in den Ställen die Hähne zu krähen an, so hell schien in den klaren Nächten der Mond.
Im Haus des Bremer Kaufmanns Vogeler glänzte das Parkett, die Möbel aus edlen Hölzern schimmerten. Gleichmäßig schwang das Perpendikel der großen Standuhr in der Diele. Von rechts nach links, von links nach rechts.
In einem Seitenzimmer schlief Heinrich, der älteste Sohn. Sein Schlaf war unruhig, ihn quälte ein Traum.
Er schwimmt im warmen, sommerlichen Nordseewasser und fühlt seine Arme lahm werden, immer weiter scheint sich der Strand zu entfernen. Angst packt ihn. Der Sog der Flut zieht ihn hinaus ins offene Meer. Ein schwarzer Körper treibt auf den Jungen zu: eine Seespinne. Ein Krake. Das Tier streckt seine schleimigen, mit Saugnäpfen übersäten Arme nach ihm aus. Es wird ihm die Knochen brechen, sein Blut aussaugen!
Es umschlingt ihn, preßt ihm die Luft aus den Lungen. Der Junge will schreien. Gurgelnd füllt sich seine Kehle mit Wasser.
Heftig atmend wachte Heinrich Vogeler auf. Sein Hemd, durchnäßt von kaltem Schweiß, klebte an Brust und Rücken.
Heinrich Vogeler lauschte den Lauten seines Traumes nach. Stille. Nur das leise Ticken der Taschenuhr auf dem Nachttisch. Er zog sie an der Kette zu sich heran, hielt sie ins Mondlicht. Kurz vor fünf. Schwerfällig wälzte er sich aus dem Bett, zog das feuchte Hemd über den Kopf.
Das kalte Wasser, das er sich im Nebenraum seines Zimmers über Gesicht und Arme rinnen ließ, beschwichtigte das aufgeregte Hämmern seines Herzens.
Auf dem Schemel am Ende seines Bettes lag, sorgfältig gefaltet, frische Wäsche. Angenehm kühl schmiegte sich das baumwollene Gewebe an die Haut.
Heinrich Vogeler streckte die Arme nach oben, rollte die Schultern, um den Schlaf zu vertreiben und die Schatten des Traumes. Der Krake trug ein Gesicht, ein Menschengesicht, aber wem es gehörte, fiel ihm nicht ein.
Beim Kämmen betrachtete sich der Junge aufmerksam im Spiegel. Keine Spur der ausgestandenen Angst ließ sich in den Zügen seines Gegenüber wiederfinden.
Als er sich bückte, sich die Schuhe zuband, wußte er, wem der Krake glich. - Lehrer Engelbrecht, wenn er in Wut geriet. Seine Stirn zog sich zu vier waagerechten und drei senkrechten Falten zusammen. Die vollen, dunklen Brauen stießen über der gekrausten Nase zusammen.
Tief eingegraben der Winkel zwischen Nase und Wangen. Die Lippen umschlossen eine von gelblichen Zähnen begrenzte Öffnung, den Mund.
Den gestrigen Anlaß für den Zorn des Lehrers hatte Heinrich vergessen. Genau und leidenschaftslos betrachtete er die Linien des Kopfes. Auf der Rückseite eines beschriebenen Blattes zeichnete er sie nach. Sein Banknachbar verfolgte die Striche, die der Bleistift zog, und lachte auf. Andere Schüler wurden aufmerksam, beugten sich herüber. Federkästen klapperten. Unruhe, Geflüster.
Drohend näherte sich das verzerrte Gesicht von Lehrer Engelbrecht. Er zwang Heinrich Vogeler aufzustehen, ihm den Grund der unterdrückten Heiterkeit preiszugeben. Mit raschem Griff zerknüllte der Lehrer das Papier.
Engelbrechts Rechte umfaßte schmerzhaft Heinrichs Oberarm. Er stieß den Jungen in die Ecke hinter dem Schrank. Der Globus obenauf geriet ins Wanken.
Voller Schadenfreude, die dem Lehrer galt, lachte die Klasse. Der Junge wußte, daß ihn strenge Strafe erwartete, trotzdem fühlte er mehr Genugtuung als Angst.
Einen Brief des Direktors an die Eltern und zehn Seiten Schönschrift als Zusatzarbeit hatte ihm die Zeichnung eingetragen.
Heinrich seufzte. Der Morgentraum, dessen Bedrohung noch auf ihm lag, war schlimmere Strafe.
Aus der Küche im Erdgeschoß drangen gedämpft die vertrauten Geräusche des Morgens. Geschirr klapperte, der Feuerrost im Herd wurde durchgerüttelt.
Anna, das Hausmädchen, bereitete wie jeden Morgen das Frühstück vor.
Nur sie wußte, daß Heinrich erst vor dem Schulgang seine Hausaufgaben erledigte. Bei ihr, in der Küche. Am Ende des großen Tisches, auf dem Fleisch geschnitten, Geflügel ausgenommen und der Teig für Kuchen ausgerollt wurde.
Anna lächelte, als der Junge kam. Sie hatte die weiße, mit Spitzen umrandete Schürze umgebunden, die Sonntagsschürze.
Warum hast du dich schön gemacht, fragte er.
Fidi kommt, sagte Anna. Sie lächelte wieder.
Friedrich Wiese kam nicht oft nach Bremen, in seine Heimatstadt. Monate vergingen zwischen seinen Besuchen. Auch Heinrich freute sich, wenn Fidi kam.
Der Seemann brachte den Kindern von seinen Reisen Geschenke mit, seltsame Dinge mit dem Geruch der Ferne. Muscheln mit rot leuchtenden Öffnungen, Schnitzwerk aus schwarzem Holz oder nie gesehene, süße Früchte.
Heinrich zog es in die Nähe des Mannes. Still hörte er seinen Erzählungen zu. Es ängstigte ihn nicht, wenn Friedrich Wiese im Sommer abends in der Laube hinter dem Hause Korn trank und in langgezogenen Tönen schwermütige Lieder anstimmte. Heinrich kannte das Gefühl, das den Mann so singen ließ. Wenn Fidi kam, hatte Anna abends frei.
Wollt ihr Hochzeit machen, fragte der Junge.
Anna antwortete nicht. Sie seufzte und drehte energischer die große, hölzerne Kaffeemühle. Die frisch gerösteten Bohnen zerknackten mit trockenem Laut.
Heinrich holte seinen Federkasten aus der Mappe und begann zu rechnen. Die Feder kratzte über das Papier.
Vom großen Wasserkessel auf dem Herd fiel zischend ein Wassertropfen auf die Herdplatte. Anna legte Holz nach, dann schob sie dem Jungen sein Frühstück an den Heftrand. Schokolade in der bauchigen blauen Tasse, zwei Schnitten, dick mit Butter bestrichen. Ein Ei.
Der Junge kaute genüßlich, ließ die kühle Butter auf der Zunge zerschmelzen.
Du mußt gehen, drängte ihn Anna.
Er nahm seine Mütze und versprach, sich auf dem Heimweg zu beeilen.
Anna lächelte.
Mittags zogen in schneller Folge gebauschte, grau geränderte Wolken über den Himmel. Heinrich stand mit dem Rücken zum Schulgebäude und blinzelte ins Licht. Er wartete, bis sich seine Mitschüler zerstreuten. Am liebsten ging er allein nach Hause.
Wie immer schien ihm der Weg aus der Schule ein anderer zu sein als am Morgen. Die Angst war schuld. Er fürchtete sich vor den Lehrern, nicht nur vor Engelbrecht, er fürchtete sich vor den Mitschülern. Er wich ihren Nörgeleien aus, den Kraftproben, die sie sich lieferten, und galt für feige.
Die Spottbilder, die er von den Lehrern zeichnete, verschafften ihm bisweilen in der Klasse Anerkennung. Sie war von kurzer Dauer. Mehr als vor den Lehrern graute ihm vor seinen Kameraden, vor ihren derben, handgreiflichen Späßen, den Frozzeleien über sein sommersprossiges Gesicht.
Er schämte sich seiner Ängste. Wenn er die Schule verließ, konnte er sie bis zum nächsten Morgen vergessen.
Die Zeit zwischen Unterricht und dem häuslichen Mittagessen gehörte zu den schönsten des Tages. Aufmerksam betrachtete er alles, was ihm begegnete: Pferdefuhrwerke, Männer mit zweirädrigen Karren, die Kleidung der Passanten.
Er beobachtete die mit den Jahreszeiten sich wandelnden Pflanzen und Sträucher in den Vorgärten. Er sah, daß die Bäume schon im Sommer neben den Blattstielen die Knospen für das nächste Frühjahr ansetzten.
Oft schien ihm, in seinem Gedächtnis gäbe es keinen Platz für die Zahlen aus dem Geschichtsunterricht oder die Merksätze der Algebra. Aber alles, was er mit seinen Augen erfaßte, ließ sich für lange bewahren: Der Tordurchblick in einen Hinterhof. Die Bewegung, mit der eine Mutter ihr Kind aufhob. Die unterschiedliche Zeichnung der lungernden Katzen auf den Fenstersimsen. Der geduldige und ergebene Ausdruck der schweren Lastpferde.
An diesem Mittag ging er eilig an allem vorbei. Er versuchte, Fidis Gesicht aus der Erinnerung zu holen.
Ein Windstoß fuhr in die Bäume am Straßenrand. Glitzernd löste sich Reif von den Zweigen.
Die Luft roch nach Schnee.
Zu Hause warf Heinrich Mappe, Mütze und Jacke in die Küche. Er rannte in das Hinterhaus, wo die Eisenwaren sortiert wurden.
Zwischen Lager und Packraum gab es einen langen, schmalen Flur mit einem eisernen Ofen. Die Arbeiter nannten ihn Schlauch. In den Wintermonaten wärmten sie sich während der Pausen dort auf. Sie legten ihre mitgebrachten Schnitten auf die glühende Platte des Ofens, damit sie eine braune Kruste bekamen. Heinrich, angezogen vom Duft des Brotes, setzte sich nachmittags gern neben die Männer, deren Tabaksrauch die Luft im Schlauch bläulich färbte.
Der Junge stieß die Brettertür auf. Am großen Tisch in der Mitte saß Friedrich Wiese. Heinrichs jüngere Geschwister umringten ihn. Zwei saßen auf seinem Schoß, die kleine Schwester versuchte, die Finger seiner Faust aufzubiegen. Als Heinrich kam, wehrte der Mann die Kinder ab und stand auf.
Hein, sagte er, Jung büst du grot worden.
Friedrich Wiese sprach das bedächtige Bremer Platt. Wenn er fluchte, mischten sich englische Brocken darunter.
Er reichte dem Jungen die Hand. Heinrich, ihren Druck kennend, hielt kräftig dagegen.
Auf dem Tisch stand eine runde, mit Stoff bespannte Hutschachtel. In den Deckel waren Löcher gebohrt.
Fidi ließ die Kinder sich um den Tisch versammeln und hob mit geheimnisvoller Geste den Deckel an.
Ein Krokodil, rief der jüngste Bruder.
Ut Indien, sagte der Mann, zufrieden mit der Aufregung der Kinder. Er strich sich seinen blonden, gekräuselten Bart glatt. Mit vorgereckten Hälsen, vorsichtig Abstand bewahrend, spähten die Kinder in das Behältnis.
Auf dem Boden der Schachtel saß zwischen vertrocknetem Laub und kleinen Zweigen ein graugrünes, langschwänziges Tier. Es richtete sich auf den Vorderbeinen auf, entrollte seinen Schwanz und tastete damit suchend die Umgebung ab.
Es ist ein Drache, behauptete Heinrich.
Fidi lachte, er schüttelte amüsiert den Kopf.
Doch, bekräftigte der Junge. Er kann riesengroß werden! Wie ein Pferd! Wie ein Elefant!
Friedrich Wiese erklärte den Kindern, die nicht wagten, die Hand nach der Schachtel auszustrecken, dort säße ein Chamäleon. Und größer, als es jetzt sei, werde es nicht.
Er sagte Kamelschon und berichtete Wunderdinge: Im Gras färbe das Tier sich grün, im Sand gelb, auf dem Teppich bunt und nach Sonnenuntergang werde es dunkel wie die Nacht.
Während er erzählte, fing er mit der Hand eine der großen trägen Winterfliegen und hielt sie dem Chamäleon zwei Handbreit vor den Kopf. Aus seinem Maul schoß blitzschnell die schmale Zunge, faßte die Fliege und ließ sie zwischen den Kiefern verschwinden.
Ii, schrie einer der Brüder. Es ist häßlich!
Heinrich wußte nicht, ob es ihm häßlich erschien oder nur fremd. Neugierig betrachtete er das seltsame Wesen. Er bemerkte, daß das Chamäleon jedes seiner großen, kegelförmigen Augen in eine andere Richtung bewegte.
Wo hast du es her, fragte er.
Ut Indien, sagte Friedrich Wiese. Von en Mann ut Tirutschirapalli. Die Jüngeren lachten über den Namen und versuchten, ihn nachzusprechen: Tirutschirapalli.
Die Geschwister erhoben keinen Einspruch, als Heinrich das Tier mit in sein Zimmer nehmen wollte. Fidi ermahnte ihn, reichlich Fliegen und Käfer zu fangen, jetzt, im Winter, könne er Mehlwürmer zu fressen geben.
Friedrich Wiese schob die Kinder von sich: So nun will ik zu mien Anna.
Heinrich nahm die Schachtel und trug sie behutsam auf sein Zimmer. In ihrem Innern raschelte es leise.
Er stellte den Kasten auf die Kommode zwischen den beiden Fenstern, öffnete den Deckel.
Das Tier saß reglos. Das eine kegelförmige Auge mit der blanken, stecknadelgroßen Öffnung, war zur Decke gerichtet, das andere auf den Boden der Schachtel.
Tirutschirapalli, flüsterte der Junge.
Er hielt den Atem an. Vorsichtig legte er den Zeigefinger an die gezackte Rückenlinie des Chamäleons. Keine Bewegung verriet, ob das Tier die Berührung wahrnahm.
Heinrich setzte es auf die rote Decke, die tagsüber auf seinem Bett lag.
Nichts geschah.
Das Chamäleon veränderte weder seine Lage, noch verfärbte es sich. Minuten vergingen, ehe es mit den Augen seine Umgebung abzusuchen begann. Die Augen bewegten sich voneinander völlig unabhängig, ausdruckslos, optischen Linsen gleich.
Tirutschirapalli, redete der Junge das Tier an, blies ihm seinen Atem auf die schmale Stirnfläche zwischen den Augenwülsten. Das Chamäleon gab nicht zu erkennen, ob es den Menschen bemerkte. Um es nicht zu erschrecken, holte Heinrich Vogeler mit gemessenen Bewegungen aus der Schublade seines Schreibtisches Papier und einen weichen Bleistift.
Mit kräftigen Strichen zeichnete er die Umrisse. Setzte die Skizze eines der krallenförmigen Vorderfüße daneben, versuchte abzubilden, wie die Augenkegel in der Kopfhöhlung saßen.
Mehrere Versuche mißlangen.
Es war spät am Abend, als er ein Blatt von sich hielt und es zufrieden betrachtete.
Obwohl er längst schlafen müßte, schlich er vorsichtig über die Haustreppe zum Wohnzimmer. Vielleicht traf er den Vater an seinem Schreibtisch im Erker an.
Alles war dunkel. Still.
Er tappte die Treppe herauf bis zu den Bodenzimmern. Vor Annas Tür blieb er stehen.
Er klopfte an. Zweimal, dreimal. Nichts rührte sich. Er pochte stärker. Er wußte, Anna war da. Sie ließ ihn in ihr Zimmer, wenn er abends nicht einschlafen konnte. Er sah ihr dann beim Stricken oder Nähen zu, bis ihm die Augen zufielen.
Heinrich schlug mit der Faust an die Tür. Dielen knarrten, energisch wurde der Riegel zurückgeschoben.
Mit nacktem Oberkörper stand Friedrich Wiese vor dem Jungen und sah ungnädig auf ihn herab.
Ohne ein Wort zu sagen, wandte Heinrich sich um. Fidis ärgerlich gerunzelte Stirn kränkte ihn, und es kränkte ihn, den Mann in Annas Zimmer zu wissen.
Anna lachte anders, wenn Fidi in ihrer Nähe war. Sie bewegte sich flinker und ließ sich gefallen, daß er ihr die Schürzenschleife aufzupfte. Sie ließ sich sogar von ihm kneifen.
Heinrich hatte auch bemerkt, daß Fidi seinen Arm nicht um Annas Schulter legte, wenn sie abends in der Laube saßen, sondern daß seine Hand tiefer rutschte, unter Annas Achselhöhle und von dort über ihre Brust strich.
Der Junge wußte, daß Anna und Friedrich als Verlobte galten, obwohl sie keine Ringe trugen. Aber er hatte nie etwas anderes gedacht, als daß Fidi nachts zu seinem Vater ginge, dem alten Wiese, im Hinterhaus an der Ecke.
In seinem Zimmer hob Heinrich den Deckel der Hutschachtel an. Die leichte, atmende Bewegung hinter den Vorderbeinen des Tieres zeigte an, daß Leben in ihm war.
Der Junge rollte sich im Bett zusammen. Er hatte sich immer auf Fidi gefreut. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob er wirklich der mutigste und stärkste Seemann war, den er kannte.
Am anderen Morgen saß Fidi schon in der Küche, als Heinrich aus seinem Zimmer kam. Anna rührte mit einem Holzlöffel in der Milchsuppe auf dem Herd. Ihre Wangen waren gerötet.
Es verdroß den Jungen, daß Fidi auf seinem Platz am großen Tisch saß, und daß Anna nichts dazu sagte.
Der Mann rührte schweigend in seinem Tee. Scheppernd stieß der Löffel gegen das Glas.
Anna summte vor sich hin und drehte ihnen den Rücken zu.
Als Fidi ihn fragte, was er denn zur heiligen Mitternacht mit dem Papier gewollt habe, ging der Junge, ohne eine Antwort zu geben, in sein Zimmer zurück und starrte aus dem Fenster.
Anna trug ihm das Frühstück hinterher. Sie schien verlegen.
Friedrich Wiese blieb zehn Tage. Er verabschiedete sich mit Handschlag von allen im Haus. Heinrich sah an ihm vorbei.
Zwei Wochen später war das Chamäleon verschwunden.
Weder auf seinem Lieblingsplatz, dem alten, weitverzweigten Gummibaum in Heinrichs Zimmer, war es zu finden, noch unter dem Bett oder hinter der Kommode.
Die Mutter versuchte, den Jungen zu trösten, daß es sich durch die offene Tür in irgendeine stille Ecke verkrochen habe.
Tagelang suchte Heinrich mit den Geschwistern jeden Winkel des Hauses ab, den kalten Garten.
Vom Chamäleon aus Tirutschirapalli fand sich nie wieder eine Spur. Von ihm blieben fünf oder sechs säuberliche Zeichnungen. Das Chamäleon auf der Bettdecke, im Gummibaum, auf dem Boden der Hutschachtel und umgeben von Lianen und Dattelpalmen, die Heinrich aus seinem Lesebuch mit Bildern abzeichnete. Außer ihm bekam die Blätter niemand zu Gesicht. Er verbarg sie unter den Hemden im Wäschefach seines Schrankes.
Am Abend des Totensonntages vor seinem sechzehnten Geburtstag saß Heinrich Vogeler in seinem Zimmer und versuchte, sich einen Text über die Obstbaumzucht einzuprägen.
Es war ganz still. Kein Fuhrwerk klapperte vorüber, keine Schritte knirschten. Kühler, nasser Herbst. Jeder Tag stahl sich aus dem Nebel und verdämmerte in ihm. Bald nach dem Mittagessen wurden die Lampen angezündet.
Das Okulieren, Pfropfen, Kopulieren. Die Lehrsätze sprach er leise vor sich hin: Bei den auf das treibende Auge okulierten Stämmchen nimmt man...
Ein gedämpfter Akkord klang an. Im großen Wohnzimmer spielte der Vater Klavier. Die Melodie des Lindenbaums... ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum...
Heinrich schob das Lehrbuch beiseite, stand auf, holte die große, mit Bändern verschlossene Mappe hinter seinem Schrank hervor. In ihr verwahrte er seine Zeichnungen.
Fünf Blätter wählte er aus: Eine Ansicht der Wallstraße. Annas Porträt. Eine blühende Ackerwinde. Die Kopie einer Federzeichnung, die Bismarck bei Donchery zeigt. Das Chamäleon.
Als er die Zeichnung des Tieres wieder betrachtete, entsann er sich, was ihn vor drei Jahren bewogen haben mochte, die Bilder zu verstecken.
Schläge oder entwürdigende Verhöre gab es für ihn und die Geschwister nicht. Keine Verbote, sondern Regeln der Vernunft. Wurden sie von den Kindern übertreten, prägten sich ein unmutiger Blick, des Vaters oder das Seufzen der Mutter nachhaltiger ein als lange Strafpredigten.
Trotzdem fühlte der Junge, daß außer den allgemeinen und offenen familiären Gesetzen auch andere, verborgene und unausgesprochene galten. Für das Muster einer Visitenkarte bedurfte es kaum mehr als eines guten Zirkels. Heinrich hatte sie im Zeichenunterricht angefertigt und erntete vom Vater wortreiches Lob. Als er ihm Tage später die Zeichnung einer Brennessel auf das Schreibpult legte, wurde Heinrich unwillig aufgefordert, er solle seine Rechenkünste verbessern, auch die Handschrift lasse zu wünschen übrig. Der Vater schien nicht zu bemerken, daß Heinrichs Arbeit einer Lehrbuchzeichnung in nichts nachstand. Alles war vollkommen so wie in der Natur: der aufrecht kantige Stiel, die grob gesägten, lang zugespitzten Blätter mit den Brennhaaren, die vielen kleinen, zu Rispen vereinten Blüten.
Papier ist teuer, schloß der Vater und reichte dem Sohn das Blatt zurück.
Laß die Kunst immer den Wein und nie das Brot des Lebens sein, hatte die Mutter gesagt, als er ihr ein Aquarell mit zwei Narzissenblüten schenkte.
Nur die jüngeren Geschwister bewunderten den Bruder uneingeschränkt. Sie ließen sich gerne helfen, wenn sie eine Initiale entwerfen oder mit Lineal und Winkelmesser eine Zierleiste konstruieren mußten.
Heinrich legte die fünf Blätter aus der Mappe nebeneinander: Ja, es waren die besten. Er würde sie dem Vater als Proben seines Könnens vorweisen.
Wie jedem Kind in der Familie wurde ihm zum Geburtstag ein Wunsch gewährt: Batterien bemalter Zinnsoldaten kamen so ins Haus, Puppenstuben, Kasperlepuppen, mechanische Eisenbahnen und der Brüder Grimms großes Märchenbuch. Für die Erfüllung der Wünsche sorgte die Mutter.
Heinrich wollte dem Vater sagen, was er zur Ermutigung leise für sich sprach: Laß mich Maler werden. Ich will. Ich muß.
Er mußte mit dem Bleistift der Neigung einer Blütenknospe nachspüren oder den Linien eines Gesichtes, die es unverwechselbar machten. Er mußte erfahren, warum mit dem Licht die Farben wechselten.
Was er gemalt und gezeichnet hatte, gehörte ihm, war für immer in seinem Gedächtnis gespeichert. Die Bilder, die dort lagerten, formten die Konturen seiner Träume. Die des Schlafens und die des Wachens. Der Vater hatte ein neues Lied angestimmt. Sein voller, sicherer Bariton übertönte das Klavier... manche Trän' aus meinen Augen ist gefallen in den Schnee...
Entschlossen nahm Heinrich die Zeichnungen zusammen und legte sie zwischen weißes Papier. Lieber hätte er sie heimlich auf den Schreibtisch im Erker gelegt, aber er fürchtete, der Vater könne seine Arbeiten wortlos beiseite schieben.
Heinrich zog sich das Hemd zurecht, strich die Haare glatt. Über die große Wendeltreppe ging er nach unten.
Vor der Wohnzimmertür blieb er stehen, wartete, bis die letzten Töne verklungen waren... fühlst du meine Tränen glühen, da ist meiner Liebsten Haus...
Er klopfte.
Der Vater sah von den Noten auf, die Mutter von ihrem Journal. Ehe die Eltern etwas sagen konnten, fing Heinrich seine sorgfältig vorgedachte Rede an. Wochenlang hatte er sie abends vor dem Einschlafen immer wieder verbessert.
Ich will euch um etwas bitten, sprach er mit leiser Stimme. Es ist mein einziger Wunsch. Zum Geburtstag und zu Weihnachten brauche ich kein Geschenk. Ich werde euch nie wieder um etwas bitten...
Er versuchte, seiner Rede Festigkeit zu geben: Laßt mich Maler werden. Kunstmaler. Ich muß es werden. Es gibt keinen anderen Beruf für mich.
Der Vater stand auf, klappte mit einem Ruck den Klavierdeckel zu. Die Kerzen in den Kandelabern flackerten. Er stellte sich mit dem Rücken zum Zimmer ans Fenster, verschränkte die Arme und schwieg.
Heinrich wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Seine Hand, in der er die Zeichnungen hielt, wurde feucht.
Draußen auf der Diele schlug die Standuhr dreimal.
Ach, Kind..., sagte die Mutter bekümmert und verstummte. Der Vater drehte sich um, trat ein paar Schritte auf den Sohn zu: Warum? Der Junge wagte, den größten aller Sätze zu sagen, den letzten Beweis: Es ist meine Berufung. Ich bin berufen.
Der Vater betrachtete ihn, als sähe er den Sohn zum ersten Mal. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, setzte er sich wieder auf den Schemel vor dem Klavier.
Heinrich ging zum Tisch und breitete mit schnellen Bewegungen die Zeichnungen aus. Da! Der Vater sah nicht hin.
Nein, sagte er streng. Berufen ist man in seinem Kreis. Du bist der Älteste, du wirst die Firma übernehmen. Das ist deine Berufung. Und im Frühjahr gehst du als Lehrling ins Kontor, so, wie es beschlossen ist.
Der Junge fühlte Tränen in die Augen schießen. Vater, bat er, ich muß malen. Ich kann das nicht... die Zahlen... und die Listen. Mit einer Handbewegung schnitt ihm der Vater das Wort ab: Du wirst es lernen. Wer seine Arbeit liebt, zu dem sprechen auch die Zahlen. Und jetzt geh.
An der Tür rief er den Sohn zurück. Nimm das Papier mit!
Mit gesenktem Kopf sammelte Heinrich die Zeichnungen ein. In seinem Zimmer legte er sich, ohne die Kleider abzulegen, ins Bett und zog die Decke über den Kopf.
Langsam, fast unbemerkt, schlich sich die Krankheit in den Körper des Jungen. Sie begann mit einer allgegenwärtigen, lähmenden Müdigkeit. Das morgendliche Aufstehen kostete ihn Überwindung. Das Ankleiden, Essen, der Gang zur Schule, das Zuhören, das Sprechen alles wurde Mühe.
Teilnahmslos ließ Heinrich die geschäftigen, weihnachtlichen Vorbereitungen der Adventszeit an sich vorübergehen. Anna flocht mit den jüngsten Geschwistern Sterne aus getrocknetem, geplättetem Stroh. Na, Heinrich, malst uns was zum Fest, versuchte sie, ihn aufzumuntern.
Er schüttelte stumm den Kopf. Mit hochgezogenen Knien saß er im großen Lehnstuhl und sah dem endlosen Kreisen der erzgebirgischen Pyramide zu. Maria und Joseph, die Krippe mit dem Kind. Die Heiligen Drei Könige. Schafe und Esel. Bergleute in buntgemalter Tracht. Und wieder Maria und Joseph, die Krippe...
Die gleichmäßige, lautlose Bewegung der Figuren, das sanfte Licht der Kerzen taten ihm wohl. Er umfaßte mit beiden Händen den Kopf; so verminderte sich der Druck in seinem Innern.
An den Abenden verstärkte sich das schmerzhafte Ziehen in den Gliedern, Arme und Beine waren doppelt schwer. Er fror und hustete. Morgens rührte ihm Anna einen Löffel Bienenhonig in die Milch.
Die Tanne, die zum Weihnachtsfest das große Wohnzimmer schmückte, hatten drei Arbeiter aus dem hinteren Teil des Gartens ausgegraben und in einen hölzernen Bottich gesetzt. Die Kerzen waren angezündet, die gläsernen Engelchen, Trompeten und Glocken flitzerten. Annas Strohsterne leuchteten golden. Der Baum strömte würzigen Duft aus.
Heinrichs Tischchen mit den Geschenken überragte ein riesiger Nußknacker. Seine dunkel umrandeten Augen blickten drohend, starr. Das gefräßige Maul mit den rechteckigen Zähnen glich dem eines bissigen Hundes. Er drehte die Figur zur Seite. Ein Buch lag unter den Geschenken. Sagen von der Nordseeküste. Heinrich versuchte, die ersten Zeilen zu lesen. Es gelang ihm nicht, den Inhalt der Sätze zu begreifen. Er las sie wieder und wieder, einen Sinn erfaßte er nicht.
Trotz des warmen, von den Kerzen zusätzlich beheizten Raumes war ihm kalt. Seiner Haut tat jede Berührung weh, selbst da, wo sie von Kleidung bedeckt war.
Am Heiligen Abend aßen auch Anna, der alte Wiese, das Zimmermädchen, die Köchin und der Vorarbeiter am Familientisch. Für die anderen Angestellten war schon am Nachmittag eine Tafel in der Diele zwischen Packhaus und Lagerraum, dem Schlauch, gedeckt worden.
Heinrich saß am unteren Ende des Tisches neben dem alten Wiese, Fidis Vater. Der Mann hatte von den Eltern eine Uhrkette geschenkt bekommen. Wohlgefällig betrachtete er das mit Perlmutt verzierte Schmuckstück.
Die Vorsuppe wurde aufgetragen. Alle falteten die Hände zum Dankgebet. Obwohl er nicht essen mochte, zwang sich Heinrich, die heiße Brühe in kleinen Schlucken zu trinken. Jedes Mal klapperte der Löffel gegen den Rand der Boulliontasse. Die Mutter sah vom anderen Ende des Tisches unmutig zu ihm herüber. Heinrich löffelte mit gesenktem Blick weiter. Plötzlich war es still. Heinrich fühlte, daß alle im Raum sich ihm zuwandten.
Ich frier so, wollte er entschuldigend sagen.
Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn, seine Wangen. Aufgeregte Stimmen. Stühle schurrten. Jemand griff ihm unter die Arme und hob seinen Oberkörper an. Dann war es endlich ganz warm, weich und dunkel.
Das Fieber hüllte ihn wohlig ein. Es trug ihn zu kurzen, heftigen Träumen voller Sommer und Farbigkeit, er sah Wolken und besonntes Wasser, dazwischen lagen die langen Dunkelheiten erschöpften Schlafes.
Manchmal tauchte das Gesicht der Mutter vor seinen Augen auf, manchmal das von Anna. Sie sprachen mit ihm, aber er verstand sie nicht. Er wurde angehoben, bitteres ihm eingeflößt.
Eine fremde, männliche Stimme sagte: Das ist die Krisis, gnädige Frau.
Als er das erstemal klaren Sinnes aufwachte, hörte er ein trockenes, kaum vernehmbares Rascheln. Es kam von Fenster. Er wollte den Kopf wenden, es gelang ihm nicht.
Heinrich? Mutters Stimme. Heinrich, bist du aufgewacht?
Er nickte.
Die Mutter beugte sich über ihn. Irgendetwas war anders in ihrem Gesicht. Bevor er darüber nachdenken konnte, was es sein mochte, hörte er wieder das Geräusch.
Was ist das, wollte er fragen, aber seine Lippen öffneten sich nicht. Geschwollen und rissig klebten sie aufeinander. Ein unartikulierter Laut verließ seine Kehle.
Die Mutter erriet die Frage: Es schneit, Junge, sagte sie.
Heinrich wunderte sich, daß sie weinte. Die Tränen fielen auf das Deckbett.
Ja, wiederholte sie, es schneit, die ganze Nacht hat es geschneit, mein armes, armes Kind.
Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß Anna neben seinem Bett.
Durst, sagte er mit rauher Stimme. Das Innere seines Halses brannte wie eine offene Wunde.
Anna hob seinen Kopf an und setzte ihm die Schnabeltasse an die Lippen. Der kühle Tee linderte den Schmerz.
Zwölf Tage bist du im Fieber gewesen, Annas Stimme schwankte zwischen Vorwurf und Verwunderung. Das neue Jahr ist angefangen, und du hast es nicht gemerkt...
Am nächsten Vormittag kam Doktor Fuchsberger. Er drückte ihm mit einem Holzstäbchen die Zunge nieder, horchte seinen Brustkorb ab. Die Mutter in weißer Schwesternschürze beobachtete ängstlich die Hantierungen des Arztes.
Doktor Fuchsberger klopfte Heinrich auf das Schulterblatt. Nur Mut, junger Mann, das Schlimmste haben wir überwunden.
Er verschrieb verschiedene Pulver, verordnete Umschläge zur Senkung des Fiebers, empfahl, auf leichte, kräftige Kost zu achten.
Ein junger, unverbrauchter Organismus, sagte er beruhigend zur Mutter, er wird sich selber helfen. Und zu Heinrich gewandt: Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut.
Die Krankheit dauerte lange. Die Halsschmerzen vergingen, der Kopf wurde klar, Arme und Beine beweglich, ein leichtes Fieber blieb.
Doktor Fuchsberger lauschte am Hörrohr mit angestrengter Miene den Lauten in Heinrichs Innerem nach. Die Lunge ist angegriffen, murmelte er mißmutig.
Die Eltern standen mit besorgten Gesichtern an Heinrichs Bett. Er versicherte ihnen täglich, daß er Besserung fühle, aber insgeheim wünschte er keine Änderung seines Zustandes. Solange er hier lag, bedrohten ihn keine Schule und keine Prüfungen. Solange er krank war, mußte er nicht ins Kontor.
Er langweilte sich nicht. Er hatte Anna gebeten, sein Bett umzuräumen, so daß er aus dem Fenster sehen konnte. Über dem alten Birnbaum, dessen Äste beinahe ins Zimmer ragten, segelten mit zänkischem Gekreisch die Möwen. Wolken bauschten, ballten sich und zerflossen. An hellen Tagen schien nachmittags die Sonne herein.
Anna hatte ungeräucherten Speck an einen Zweig gehängt. Sperlinge, Blaumeisen und Grünfinken kamen, pickten an dem Fett. Manchmal sah eine Amsel ins Fenster. Ein Buntspecht hieb mit hartem Schnabel auf den Stamm des Birnbaums ein.
Die Bewegungen der Vögel, ihr Steigen, Kreisen, Hängen, ihr Trippeln und Wippen, ihr Auffliegen und Niederlassen prägten sich Heinrich mit der Genauigkeit einer Fotografie ein. Er hätte sie mit geschlossenen Augen zeichnen können.
Papier und Bleistift ließ er unberührt in seinem Schreibtisch. Es gelang ihm, jeden Gedanken an die nächste Woche, den nächsten Monat, das nächste Jahr wegzuschieben. So, wie es war, war es gut: Das leichte Fieber, das ihn schweben machte, das Bett, das ihn schützte. Im Februar schrieen nachts die Katzen. Jammernd, klagend, langanhaltend wie das Weinen kleiner Kinder. Bisweilen wurden die hohen Töne von wildem Fauchen und Zischen unterbrochen.
Die Katzen singen ihr Liebeslied, sie zeigen den Frühling an, sagte Anna, als sie morgens das Bett frisch bezog. Und du liegst noch immer. Du mußt wollen, daß du gesund wirst. Der Mensch muß einen festen Willen haben, das hilft.
Mit geübten Griffen schob sie das Laken unter die Matratze, strich die Falten glatt. Und deine Milch hast du auch wieder kalt werden lassen, tadelte sie ihn wie einen kleinen Jungen. Doktor Fuchsberger wird böse sein.
Der Arzt verordnete Schlaf am offenen Fenster und kleine Spaziergänge in trockener Luft.
Heinrich stakste mit unsicheren Beinen in den Garten. Unterm Fliederbusch fand er die ersten Schneeglöckchen. Die spitzen, grünen Blätter, zwei Knospen und eine Blüte ragten heil und unversehrt aus einem Rest schmutzigen Altschnees. Der Anblick rührte ihn. Eine Empfindung, die er noch nicht kannte.
Als sie in den Schwarzwald abfuhren, hatte der Birnbaum vor Heinrichs Fenster rundliche Früchte, kaum größer als ein Fingernagel, angesetzt.
Auch in seinem Zimmer in der Pension ließ sich Heinrich sein Bett mit dem Blick nach draußen einrichten. Die Gardinen band er eng zur Seite. Wenn er aufwachte, sah er Himmel und über dem Fensterbrett die Wipfel dreier Blautannen.
Die Pension lag außerhalb des Ortes in einer Talsenke, den die Wirtsleute den Kessel nannten. Seinen Mittelpunkt bildete die hölzerne Brücke, die über ein schnell fließendes Rinnsal führte.
Blickte man von dort in die Runde, hatte man den Eindruck einer in sich abgeschlossenen, kleinen grünen Welt.
Die Tannenspitzen auf den Höhen des sanft ansteigenden Hügelringes bildeten den Horizont. Die Wiese und der Hausgarten mit Kirsch- und Apfelbäumen gingen ineinander über. Weiß gekalkt, prächtig, erhob sich in der Niederung ein stattliches Haus, die Villa.