Das Meisterwerk - Francine Rivers - E-Book

Das Meisterwerk E-Book

Francine Rivers

5,0

Beschreibung

Roman Velasco und Grace Moore scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben: Er ist ein erfolgreicher Künstler, sie trägt Secondhand-Klamotten und hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Nachdem Grace als Romans neue Assistentin eingestellt wird, prallen nicht nur äußerlich zwei Welten aufeinander. Doch Grace hat schon nach ihrer ersten Begegnung das Gefühl, dass es hier um etwas Größeres als nur um einen neuen Job geht. Denn Roman hütet ein dunkles Geheimnis ... Diese eindrucksvolle Geschichte erinnert daran, dass Gott selbst aus den zerbrochensten Menschen ein regelrechtes Meisterwerk formen kann.

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Über die Autorin

Francine Rivers war bereits eine bekannte Bestsellerautorin, als sie sich dem christlichen Glauben ihrer Kindheit wieder zuwandte. Danach schrieb sie 1986 ihr bekanntestes Buch, Die Liebe ist stark, dem noch rund 20 weitere großartige Romane folgten. Heute lebt Francine mit ihrem Mann in Nordkalifornien und genießt es, Zeit mit ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern zu verbringen und ihre Enkel zu verwöhnen.

Für meinen Mann Rick. Vielen Dank für ein Leben voller Abenteuer.

Kapitel 1

Roman Velasco kletterte die Feuerleiter hinauf und schwang die Beine über die Mauer auf das flache Dach. Geduckt rannte er weiter. Das an ein fünfstöckiges Apartmenthaus angrenzende Gebäude war die perfekte Stelle für ein Graffito. An der Eingangstür des gegenüberliegenden Bankgebäudes hatte er bereits ein Kunstwerk hinterlassen.

Er ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten und nahm seine Utensilien heraus. Die Zeit drängte, denn Los Angeles schlief nie. Selbst um drei Uhr morgens wälzten sich die Autos über den Boulevard.

Dieses Kunstwerk würden alle bewundern können, die in Richtung Osten unterwegs waren. Sein Vorhaben war gefährlich, denn an dieser Stelle gab es keinen Sichtschutz, aber die schwarze Hose und das Kapuzenshirt waren eine gute Tarnung. Niemand, der nicht gezielt nach ihm suchte, würde ihn entdecken.

Zehn Minuten – länger würde Roman nicht brauchen, um eine Figurengruppe zu erschaffen, die an der Fassade tanzte. Die einzelnen Figuren waren dem Geschäftsmann mit Zylinder aus dem Monopoly-Spiel nachempfunden, der Letzte sprang, mit Geldtüten bepackt, in Richtung des Bankgebäudes, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.

Doch die Schablone verhakte sich und riss ein. Leise fluchend beeilte sich Roman, den Schaden mit Klebeband zu beheben. Aufgrund des windigen Wetters vergingen weitere kostbare Minuten, bis er sie schließlich an der Fassade befestigt hatte. Anschließend holte er eine Dose mit Sprühfarbe aus dem Rucksack und schüttelte sie kräftig, doch als er den Knopf drückte, passierte nichts. Fluchend holte er eine andere Dose heraus und begann mit seiner Arbeit.

Ein Fahrzeug näherte sich dem Gebäude. Roman blickte nach unten und erstarrte, als er einen Streifenwagen entdeckte. War es derselbe, den er schon vor einer Stunde gesehen hatte, als er auf dem Weg zur Bank gewesen war? Mit zielgerichteten Schritten war er die Straße entlanggelaufen, in der Hoffnung, die Polizisten würden davon ausgehen, dass er gerade von der Nachtschicht auf dem Nachhauseweg war. Der Wagen war langsamer geworden, die Insassen hatten ihn gemustert und waren dann weitergefahren. Sobald er außer Sichtweite gewesen war, hatte sich Roman eine Spraydose geschnappt und sich die Glastüren des Bankgebäudes vorgenommen.

Unten auf der Straße flammten rote Bremslichter auf. Der Streifenwagen blieb vor der Bank stehen und der weiße Strahl der Scheinwerfer fiel auf die Eingangstür.

Noch eine Minute. Roman sprühte zwei letzte Bögen und machte sich anschließend daran, die Schablone wieder zu entfernen. Da er viel Klebeband benutzt hatte, dauerte es länger als sonst. Nachdem die letzte Papierschicht entfernt war, fügte er noch drei kleine, ineinandergreifende Buchstaben hinzu, die an einen Vogel im Flug erinnerten.

Ein Polizeibeamter stieg aus dem Auto. In der Hand hielt er eine Taschenlampe. Roman duckte sich, rollte die Schablone auf und stopfte sie zusammen mit den Spraydosen in seinen Rucksack.

Der Lichtstrahl der Taschenlampe wanderte an der Fassade entlang und kam immer näher. Geduckt bewegte sich Roman über das Dach. Der Lichtstrahl wanderte weiter, nun allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Erleichtert warf sich Roman den Rucksack über die Schulter und richtete sich ein wenig auf. Plötzlich kehrte das Licht zurück und erfasste seine Silhouette. Mit abgewandtem Gesicht rannte er los.

Der Lichtstrahl verfolgte seine Flucht über das Dach. Stimmen und der Klang schneller Schritte drangen zu ihm hoch. Mit klopfendem Herzen sprang Roman auf das Dach des angrenzenden Gebäudes. Er kam hart auf, rollte sich herum, sprang blitzschnell auf und rannte weiter.

Bestimmt gab es bei der Polizei bereits eine Akte über die Arbeit von The Bird, und inzwischen war Roman kein Teenager mehr, der allenfalls ein paar Stunden Gemeinschaftsarbeit leisten musste, wenn er beim Sprayen erwischt wurde. Wenn sie ihn jetzt schnappten, drohte ihm eine Gefängnisstrafe. Und schlimmer noch als das: Sein Ruf als Künstler wäre ruiniert, denn auf der Straße konnte man sich als Graffiti-Künstler einen Namen machen, aber Graffiti ließ sich nur schlecht in einer Galerie ausstellen.

Einer der Polizeibeamten war inzwischen zum Streifenwagen zurückgekehrt. Reifen quietschten. Und eines war sicher: Diese Polizisten waren hartnäckig und würden nicht so schnell aufgeben.

Einige Häuser weiter entdeckte Roman ein geöffnetes Fenster, weshalb er beschloss, nach oben zu klettern, statt nach unten. Eine Autotür wurde zugeknallt und er hörte jemanden rufen. In dieser Nacht schien nicht viel los zu sein, wenn sich die beiden Bullen so viel Zeit nahmen, um einen Graffiti-Künstler zu verfolgen.

Roman kletterte auf das nächste Dach. Dabei fiel eine halb leere Farbdose aus seinem vollgestopften Rucksack und landete mit einem lauten Knall auf dem Pflaster. Der erschrockene Polizist zog seine Waffe und richtete sie auf Roman, der sich gerade in Richtung des geöffneten Fensters bewegte. „Polizei! Bleiben Sie, wo Sie sind!“

Roman umklammerte den Fenstersims, zog sich hoch und stieg in die Wohnung. Mit angehaltenem Atem lauschte er. Lautes Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer. Er schlich weiter, doch er hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er gegen ein Möbelstück stieß. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das gedämpfte Licht, das von den Anzeigen der Küchengeräte ausging. Der Bewohner schien offenbar unter Sammelwut zu leiden. Das vollgestopfte Wohnzimmer könnte Romans Verderben werden. Er stellte seinen Rucksack hinter dem Sofa ab.

Ganz leise öffnete er die Wohnungstür, spähte hinaus und lauschte. Keine Bewegung, keine Stimmen. Der Mann im Schlafzimmer schnarchte immer noch. Schnell verließ Roman die Wohnung und zog die Tür leise hinter sich zu.

Die Notausgangstür klemmte. Sie mit Gewalt zu öffnen würde zu viel Lärm verursachen. Roman fand den Aufzug, und sein Herzschlag beschleunigte sich, während er auf ihn wartete. Pling. Die Tür glitt auf. Er trat ein und drückte den Knopf für die Tiefgarage.

Bleib ruhig. Er streifte sich die Kapuze vom Kopf, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und atmete langsam ein und aus. Die Aufzugtür öffnete sich. Die Tiefgarage war gut beleuchtet. Roman hielt die Tür fest, wartete ein paar Sekunden ab und schaute sich aufmerksam um, bevor er den Aufzug verließ. Die Luft war rein. Erleichtert machte er sich auf den Weg zum Ausgang.

Der Polizeiwagen stand noch immer am Straßenrand. Türen wurden geöffnet und die beiden Polizeibeamten stiegen aus.

Für einen kurzen Moment überlegte Roman, ob er vielleicht einen Grund dafür erfinden sollte, weshalb er um halb vier Uhr morgens zu einem Spaziergang auf der Straße unterwegs war, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass ihn keine Geschichte der Welt davor bewahren würde, in Handschellen abgeführt zu werden.

Deshalb entschied er sich für die zweite Möglichkeit und rannte los, die Straße entlang in ein angrenzendes Wohngebiet. Die Polizeibeamten folgten ihm wie Jagdhunde, die die Fährte eines Fuchses aufgenommen hatten.

Roman bog in die nächste Straße ab, sprintete über eine gepflasterte Einfahrt und stieg über eine niedrige Gartenmauer. Er wähnte sich bereits in Sicherheit, als er bemerkte, dass er nicht allein war. Ein Schäferhund schnellte hoch und ging auf ihn los. Roman rannte durch den Garten und kletterte über den Zaun, während der Hund wütend bellte. Er landete hart auf der anderen Seite und stieß auf seiner weiteren Flucht mehrere Mülltonnen um. Großartig – jetzt waren auch noch alle anderen Hunde in der Nachbarschaft wach geworden!

Er bewegte sich schnell, hielt sich geduckt und im Dunkeln, während um ihn herum Lichter angingen und Stimmen laut wurden. Die besorgten Fragen der Anwohner würden die Polizisten aufhalten und ganz bestimmt würden sie nicht über Zäune springen und widerrechtlich anderer Leute Grundstücke betreten. Roman rannte noch ein paar Straßenzüge weiter, bevor er langsamer wurde, um wieder zu Atem zu kommen.

Das Hundegebell war inzwischen verstummt. Er hörte ein Auto und duckte sich hinter eine Ligusterhecke. Der Streifenwagen überquerte die Kreuzung und fuhr in schnellem Tempo in Richtung Santa Monica Boulevard davon. Vielleicht hatte er sie nun endlich abgeschüttelt. Doch er wollte sein Glück nicht noch einmal herausfordern, darum wartete Roman noch einige Minuten ab, bevor er sich wieder auf den Gehweg wagte.

Er brauchte eine Stunde, um zu seinem BMW zu kommen. Nachdem er sich ans Steuer gesetzt hatte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, in Richtung Osten zu fahren und sein Werk zu bewundern.

Die Eingangstür der Bank wäre wahrscheinlich bis mittags gereinigt, aber das Kunstwerk am gegenüberliegenden Gebäude würde länger erhalten bleiben. The Bird hatte im Laufe der vergangenen Jahre eine Art traurige Berühmtheit erworben, sodass einige Hausbesitzer seine Graffiti nicht antasteten. Roman hoffte nur, dass es auch bei diesem der Fall sein würde, denn heute war es besonders knapp gewesen. Er wäre beinahe geschnappt worden, und es täte ihm in der Seele weh, wenn sein Kunstwerk entfernt werden würde und in einigen Tagen in Vergessenheit geraten wäre.

Der Verkehr auf der Schnellstraße hatte zugenommen. Um gegen die Erschöpfung anzukämpfen, schaltete Roman die Klimaanlage ein. Der kalte Luftzug würde ihn auf seiner Fahrt nach Topanga Canyon wachhalten. Er fühlte sich ausgelaugt und auch ein wenig deprimiert. Eigentlich hätte er nach seinem erfolgreichen nächtlichen Ausflug in Hochstimmung sein müssen, doch er kam sich eher vor wie ein alter Mann, der dringend seinen Sessel brauchte.

Roman bremste und bog in die gekieste Einfahrt seines Hauses ab. Mit einem Knopfdruck öffnete er das Garagentor. Am Ende seiner Kraft, schaltete er den Motor ab und blieb noch ein paar Sekunden am Steuer sitzen, während sich das Tor hinter ihm lautlos schloss.

Als er aus dem Auto aussteigen wollte, erfasste ihn eine bleierne Schwere. Er blieb noch eine Minute sitzen und wartete darauf, dass das seltsame Gefühl abflaute. Doch auf dem Weg zur Hintertür überfiel es ihn erneut. Taumelnd stürzte er auf die Knie, stützte sich mit einer Hand auf dem Betonfußboden ab und hielt den Kopf gesenkt.

Nachdem die Übelkeit nachgelassen hatte, erhob sich Roman langsam. Er brauchte dringend Schlaf. Das war alles. Ein paar Stunden Schlaf und alles wäre wieder in Ordnung. Totenstille empfing ihn, als er die Hintertür öffnete.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer zog er sein Kapuzenshirt aus. Er war zu müde, um noch unter die Dusche zu springen, zu müde, um die Klimaanlage herunterzuschalten, zu müde, um einen Happen zu essen, obwohl sein Magen knurrte. Schnell legte er seine Kleider ab und ließ sich auf sein ungemachtes Bett fallen. Vielleicht hatte er heute Glück und würde von den Albträumen über seine Zeit im Tenderloin verschont bleiben, die normalerweise auf seine nächtlichen Ausflüge folgten. White Boy ließ ihm einfach keine Ruhe.

Der Morgen kündigte sich bereits mit den ersten Sonnenstrahlen an, als Roman die Augen schloss. Alles in ihm sehnte sich nach Dunkelheit.

***

Grace Moore stand früh auf, denn sie wusste, dass sie viel Zeit brauchen würde, um das Tal zu durchqueren und an ihrem ersten Tag pünktlich bei ihrer neuen Arbeitsstelle zu erscheinen. Ob der Lohn für eine kleine Wohnung für sie und ihren Sohn Samuel reichen würde, wusste sie nicht, aber immerhin war es ein Anfang. Je länger sie bei den Garcias wohnte, desto schwieriger würde es werden, wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

Selah und Ruben hingegen würden sie am liebsten noch länger bei sich behalten, denn Selah hoffte immer noch, dass Grace ihre Meinung ändern und die Adoptionspapiere doch noch unterzeichnen würde. Grace wollte ihr auf keinen Fall falsche Hoffnungen machen, aber sie wusste nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Doch mit jedem Tag, der verging, verstärkte sich der Wunsch in ihr, endlich wieder unabhängig zu sein.

Seit sie vor einem Jahr ihre Arbeitsstelle verloren hatte, hatte sie Dutzende Bewerbungen geschrieben, aber nur wenige Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch erhalten – von einem Stellenangebot ganz zu schweigen. Jeder Arbeitgeber erwartete heutzutage einen College-Abschluss, aber sie hatte nur eineinhalb Jahre studiert, bevor sie ihr Studium abgebrochen hatte, um ihren Mann Patrick bei seinem zu unterstützen.

Rückblickend fragte sie sich, ob Patrick sie überhaupt jemals geliebt hatte. Er hatte alle seine Versprechen ihr gegenüber gebrochen und sie nur ausgenutzt. Das war eine Tatsache.

Tante Elizabeth hatte recht – sie war ziemlich dumm.

Grace bemerkte, dass Samuel aufwachte und nahm ihn vorsichtig aus seinem Kinderbettchen. Sie war froh darüber, dass er schon wach war, denn so konnte sie ihn noch stillen und seine Windel wechseln, bevor sie ihn in Selahs Obhut gab. „Guten Morgen, mein kleiner Schatz“, sagte Grace leise. Sie atmete seinen Babyduft ein und setzte sich auf die Kante des Doppelbetts, das sie gerade gemacht hatte. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf und legte Samuel an ihre Brust.

Die Umstände seiner Zeugung und die Schwierigkeiten, die er in ihr Leben gebracht hatte, waren in jenem Augenblick in den Hintergrund getreten, als sie Samuel das erste Mal in den Armen gehalten hatte. Er war kaum eine Stunde auf der Welt gewesen, als Grace bewusst geworden war, dass sie ihn niemals zur Adoption würde freigeben können – egal, wie viel besser sein Leben bei den Garcias auch wäre. Das hatte sie Selah und Ruben auch ganz deutlich gesagt, aber jeder Tag brachte neue Sorgen mit sich, und Selah kümmerte sich um Samuel, während Grace auf Arbeitssuche war, um für sich und ihren Sohn sorgen zu können.

Andere schaffen es doch auch, Herr. Warum ich nicht?

Andere hatten eine Familie. Sie hatte nur Tante Elizabeth.

Vater, bitte sorge dafür, dass es mit dieser Stelle klappt. Hilf mir, Herr. Bitte! Ich weiß, ich habe es nicht verdient, aber ich bitte dich trotzdem darum. Ich flehe dich an!

Das Vorstellungsgespräch bei der Zeitarbeitsfirma war zum Glück gut gelaufen. Grace hatte alle Tests bestanden, war auf die Liste gesetzt worden und am Ende hatte Mrs Sandoval auch tatsächlich eine Stelle für sie gefunden. „Ich habe diesem Mann bereits vier hoch qualifizierte Arbeitskräfte geschickt, aber er hat sie alle abgelehnt. Eine andere Arbeit kann ich Ihnen im Augenblick leider nicht anbieten.“

Doch Grace hätte in diesem Moment so gut wie jede Arbeit angenommen – Hauptsache, sie bekam regelmäßig einen Gehaltsscheck.

***

Das Läuten der Glocken riss Roman aus einem tiefen Schlaf. Hatte er etwa von Westminster Abbey geträumt? Er drehte sich auf die andere Seite. Sein Körper hatte sich gerade wieder entspannt, als das Glockenläuten erneut einsetzte. Offenbar klingelte jemand an der Tür. Wenn er nur den Vorbesitzer seiner Villa in die Finger bekäme, der dieses verflixte Glockenspiel als Klingel eingebaut hatte! Fluchend zog Roman sich ein Kissen über den Kopf, in der Hoffnung, dadurch die Lautstärke der Melodie zu dämpfen, die durch jeden Raum seines knapp 500 Quadratmeter großen Hauses hallte.

Plötzlich kehrte wieder Stille ein. Der Störenfried hatte die Botschaft wohl verstanden und war gegangen.

Roman versuchte wieder einzuschlafen. Doch als das Glockengeläut erneut einsetzte, schrie er frustriert auf und verließ das Bett. Ein plötzlicher Schwächeanfall ließ ihn taumeln. Er stieß den Wecker vom Nachttisch und fing sich gerade noch rechtzeitig ab, bevor er mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlagen konnte. Das war ihm nun schon dreimal in weniger als 24 Stunden passiert. Vielleicht sollte er sich Tabletten verschreiben lassen, um endlich den Schlaf zu bekommen, den er so dringend brauchte. Doch im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als den Störenfried seinen Zorn spüren zu lassen.

Er zog sich eine Jogginghose an, hob ein zerknittertes T-Shirt vom Teppich auf und lief barfuß durch den Flur. Wer auch immer auf der anderen Seite seiner Haustür stand, würde sich noch wünschen, dass er nie einen Fuß auf sein Grundstück gesetzt hätte. Die Glocken begannen gerade erneut zu läuten, als Roman die Tür aufriss. Eine junge Frau blickte ihn verblüfft an und wich zurück, als er über die Schwelle trat.

„Können Sie nicht lesen?“ Er zeigte mit dem Finger auf das Schild, das neben seiner Haustür angebracht war. „Betteln und hausieren verboten!“

Mit weit aufgerissenen Augen hob sie abwehrend die Hände.

Ihre dunklen lockigen Haare waren kurz geschnitten und ihr schwarzer Blazer, die weiße Bluse und die Perlenkette ließen sie wie eine Sekretärin aussehen. Eine schwache Erinnerung flackerte in seinem Kopf auf, aber Roman schob sie beiseite. „Verschwinden Sie!“ Er wich zurück und knallte die Tür zu. Er war noch nicht weit gekommen, als er sie leise klopfen hörte. Erneut riss er die Tür auf und funkelte sie mit bösen Augen an. „Was wollen Sie noch?“

Sie wirkte so verschreckt, als wolle sie am liebsten die Flucht ergreifen, doch sie schien gegen diesen Impuls anzukämpfen. „Sie haben mich doch herbestellt, Mr Velasco.“

Er hatte sie herbestellt? „Wieso sollte ich so früh am Morgen eine fremde Frau in mein Haus bestellen?“

„Mrs Sandoval von der Zeitarbeitsagentur sagte mir, ich solle um neun Uhr hier sein. Mein Name ist Grace Moore.“

Roman stieß ein Schimpfwort aus, worauf ihre Augen zuckten und sich ihre Wangen röteten. Sein Zorn löste sich augenblicklich in Luft auf. Na prima! „Ich habe vergessen, dass ich Sie herbestellt habe.“

Sie machte den Eindruck, als wäre sie in diesem Moment überall lieber als hier – was Roman ihr wirklich nicht verübeln konnte. Für einen kurzen Moment zog er es in Erwägung, ihr zu sagen, sie solle morgen wiederkommen, aber ihm war klar, dass sie keinen zweiten Anlauf nehmen würde. Und nachdem er jetzt schon mal wach war, konnte er genauso gut aufbleiben. Entschlossen hielt er ihr die Tür auf und deutete mit dem Kopf ins Haus. „Kommen Sie rein.“

Im vergangenen Monat hatte er bereits vier Zeitarbeitskräfte vergrault. Doch Mrs Sandoval verlor offenbar noch schneller die Geduld als er. „Ich mache noch einen Versuch, Mr Velasco“, hatte sie gesagt, „und wenn es dieses Mal nicht klappt, dann gebe ich Ihnen die Nummer einer anderen Zeitarbeitsagentur.“

Roman suchte jemanden, der seine Anrufe entgegennahm, seine Korrespondenz erledigte, sich um seine Rechnungen kümmerte und seinen Terminkalender verwaltete. Was er ganz bestimmt nicht suchte war ein Feldwebel, eine alte Jungfer oder eine Hobbypsychologin, die seine Künstlerseele analysierte. Und er brauchte auch keine kurvenreiche Blondine mit tief ausgeschnittener Bluse, wie es die letzte Bewerberin gewesen war, die die Papiere von einer Seite zur anderen geschoben hatte, ohne zu wissen, wo sie abgelegt werden mussten. Stattdessen hatte die Dame ziemlich genaue Vorstellungen davon gehabt, was ein Künstler außerhalb des Büros wohl noch alles brauchte. Er hätte ihr Angebot vielleicht sogar angenommen, wenn er nicht schon genügend Erfahrung mit Frauen wie ihr gemacht hätte. Drei Tage hatte sie durchgehalten.

Da er keine Schritte hinter sich hörte, blieb Roman stehen und wandte sich um. Die junge Frau stand noch immer draußen. „Worauf warten Sie? Auf eine schriftliche Einladung?“

Sie trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Sie wirkte noch immer, als wolle sie jeden Moment die Flucht ergreifen.

Entschuldigend lächelte er sie an. „War eine kurze Nacht.“

Sie murmelte etwas, das er nicht verstand, aber er beschloss, nicht nachzufragen. Bei ihm kündigten sich gerade Kopfschmerzen an und das Klicken ihrer hohen Absätze auf den Steinfliesen war in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Außerdem hatte er großen Durst. Er brauchte dringend Koffein und deshalb ging er in die Küche neben dem Wohnzimmer. Sie dagegen blieb vor der Treppe zu seinem tiefer liegenden Wohnbereich stehen, starrte zu der an eine Kathedrale erinnernden Decke hinauf und bewunderte den Ausblick durch die Fensterfront auf den Topanga Canyon. Das durch die Fenster strömende Sonnenlicht erinnerte ihn daran, dass die meisten Menschen mittlerweile im Büro saßen und ihrem geregelten Job nachgingen.

Roman öffnete den Edelstahlkühlschrank und nahm eine Flasche Orangensaft heraus. Er schraubte den Deckel ab und trank einen großen Schluck aus der Flasche. „Wie war noch mal Ihr Name?“

„Grace Moore.“

Sie besaß auf jeden Fall das richtige Aussehen für diese Arbeit – kühl, ruhig, gefasst. Attraktiv, Mitte 20, schlank und fit – aber trotzdem nicht sein Typ. Er bevorzugte üppige Blondinen, die wussten, wo es langgeht.

Sie spürte seinen prüfenden Blick und schaute ihn an. Das taten Frauen immer, jedoch nie mit einer solchen Vorsicht wie sie. „Das ist eine atemberaubende Aussicht, Mr Velasco.“

„Nun ja, irgendwann gewöhnt man sich an alles.“ Er stellte die Flasche mit dem Orangensaft auf die Arbeitsfläche. Sie schien sich unwohl zu fühlen, was angesichts seiner wenig freundlichen Begrüßung mehr als verständlich war. Er lächelte schwach, doch sie blickte ihn nur ausdruckslos an. Gut so! Er brauchte schließlich eine fleißige Arbeitsbiene und keine Freundin. Würde er sie mit seiner ersten Aufgabe wohl beleidigen?

„Können Sie Kaffee kochen?“

Ihr Blick wanderte zu der vollautomatischen Kaffeemaschine, die mit einem Knopfdruck die Kaffeebohnen mahlte, Milch erhitzte und in weniger als 60 Sekunden einen Latte macchiato zubereitete.

„Ich meine nicht eine Tasse. Eine ganze Kanne richtigen Kaffee.“ Er überließ ihr die Küche. „Nehmen Sie die normale Kaffeemaschine.“

„Wie mögen Sie Ihren Kaffee? Stark oder schwach?“

„Stark.“ Er ging durch den Flur. „Wir unterhalten uns weiter, wenn ich angezogen bin.“

Roman stieg in die geräumige Dusche und seifte sich ein. Zusätzlich zu dem Duschkopf über seinem Kopf aktivierte er noch die seitlichen Massagedüsen. Hätte er nicht einen so schlechten ersten Eindruck auf Grace Moore gemacht, würde er sie jetzt ein wenig warten lassen und sich eine 20-minütige Ganzkörpermassage gönnen. Doch so stellte er die Dusche ab, stieg heraus und schnappte sich das letzte frische Handtuch aus dem Schrank. Obwohl der Wäschekorb bereits überquoll, fand er irgendwo auch noch eine saubere Jeans. Während er sich ein schwarzes T-Shirt überstreifte, suchte er nach seinen Schuhen. Die Sneakers, die er in der vergangenen Nacht getragen hatte, standen in der Ecke, allerdings hatte er kein einziges Paar saubere Socken mehr in der Schublade.

Er ging in die Küche, aus der bereits köstlicher Kaffeeduft strömte. Grace räumte gerade das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. „Ich habe Sie nicht darum gebeten, die Küche sauber zu machen.“

Sie richtete sich auf. „Soll ich es lieber sein lassen?“

„Machen Sie nur weiter.“

Nachdem sie die unteren Küchenschränke erfolglos durchsucht hatte, richtete sie sich erneut auf. „Wo bewahren Sie das Spülmaschinenpulver auf?“, fragte sie ein wenig ratlos.

„Das ist leer.“

„Haben Sie eine Einkaufsliste?“

„Sie sind doch ab heute meine Assistentin. Fangen Sie eine an.“

Die Granitarbeitsfläche war bereits sauber gewienert. Seit seinem Einzug hatte sie nicht mehr so geglänzt. „Wo ist der Orangensaft?“

„Sie haben gesagt, Sie möchten Kaffee.“ Sie füllte einen Becher und stellte ihn vor ihm ab. „Wenn Sie Milch oder Zucker möchten, müssen Sie mir sagen, wo Sie beides versteckt haben.“

In ihrer Stimme schwang kein Sarkasmus mit und ihr vorsichtiges Lächeln gefiel ihm. „Ich trinke meinen Kaffee schwarz.“ Er nahm den ersten Schluck und beschloss, dass sie den Test bestanden hatte. „Nicht schlecht.“ Eigentlich schmeckte der Kaffee sogar besser als der bei Starbucks, aber Roman wollte sie nicht vorschnell mit Komplimenten verwöhnen. Bei diesem Job ging es um mehr als Kaffeekochen – um sehr viel mehr sogar. Er hoffte nur, dass sie für die vielfältigen Aufgaben offener war als die anderen Damen, die Mrs Sandoval ihm bisher geschickt hatte. Eine von ihnen hatte ihm doch tatsächlich gesagt, dass er sich seinen Kaffee gefälligst selbst kochen solle.

„Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihren Arbeitsplatz.“ Er führte sie durch den Ostflügel und öffnete eine Tür. „Das ist Ihr Reich.“ Er brauchte nicht hineinzusehen, um zu wissen, was sie in dem Raum erwartete. Alle anderen Zeitarbeitsdamen hatten einen flotten Spruch auf den Lippen gehabt, aber keine Idee, wie oder wo sie anfangen sollten. Ob sie wohl der Aufgabe gewachsen war?

Grace Moore blieb kurz stehen und trat schließlich vorsichtig an ihm vorbei. Auf Zehenspitzen suchte sie sich ihren Weg in die Mitte des Raumes und betrachtete die Papierstapel. Die geöffneten Schranktüren gaben den Blick auf etliche, überwiegend unbeschriftete Kartons frei.

Roman überlegte, ob er gehen sollte, aber er wusste, dass die unvermeidlichen Fragen kommen würden. „Denken Sie, Sie können Ordnung in mein Chaos bringen?“ Die junge Frau schwieg so lange, dass er sich in die Defensive gedrängt fühlte. „Bekomme ich heute noch eine Antwort?“, fragte er schließlich.

„Ich werde länger als eine Woche brauchen, um das alles zu ordnen.“

„Ich habe nie gesagt, dass in einer Woche alles erledigt sein muss.“

Sie schaute ihn an. „Länger ist aber keine Assistentin bei Ihnen geblieben, oder?“

Die Chefin der Zeitarbeitsagentur schien sie vorgewarnt zu haben. „Ja, das stimmt. Die letzte ist nach drei Tagen wieder verschwunden, aber sie ist auch davon ausgegangen, dass ein Künstler vor allem ein Aktmodell braucht.“

Grace Moores Gesicht wurde von einer dunklen Röte überzogen. „Ich werde Ihnen auf keinen Fall Modell stehen!“

„Kein Problem.“ Roman musterte sie von oben bis unten und lehnte sich an den Türrahmen. „Ich bin auch nicht auf der Suche nach einem Modell.“ Er spürte ihre erneute Nervosität und wollte sie auf keinen Fall verschrecken. „Ich brauche jemanden, der Ordnung schaffen kann und einen Blick fürs Detail hat.“

„Haben Sie bestimmte Vorstellungen, wie Sie Ihre –“, mit den Händen beschrieb sie einen Kreis durch den Raum, „– Unterlagen sortiert haben möchten?“

„Wenn das so wäre, würde hier nicht ein solches Chaos herrschen.“

Mit gerunzelter Stirn blickte sie sich um. „Sie wünschen sich bestimmt ein System, das leicht nachzuvollziehen ist, richtig?“

„Falls es so etwas überhaupt gibt. Denken Sie, Sie schaffen das?“

„Ich weiß es nicht, aber ich würde es gerne probieren. Wenn ich erst einmal alles durchgesehen habe, werde ich eine bessere Vorstellung davon haben, was für Sie hilfreich sein könnte.“

Romans Anspannung löste sich. Sie war offen und ehrlich – das gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, dass diese junge Frau genau wusste, was zu tun war, und dass sie die Arbeit auch schnell erledigen würde. „Dann überlasse ich Sie jetzt Ihrer Arbeit.“ Er trank seinen Kaffee aus. „Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass Sie länger bleiben als die anderen.“ Er schenkte ihr ein, wie er hoffte, ermutigendes Lächeln und wandte sich in Richtung Flur.

Sie kam hinter ihm her. „Mr Velasco, wir müssen erst ein paar wesentliche Dinge klären.“

Er blieb stehen und hoffte nur, dass sein Hochgefühl jetzt nicht getrübt werden würde. „Wesentliche Dinge?“

„Für den Anfang brauche ich einen Schreibtisch und einen Bürostuhl. Außerdem Aktenschränke, ein Telefon und alles andere, was man in einem standardmäßigen Büro sonst noch vorfinden sollte.“

Einen Blick fürs Detail, hatte er ihr gesagt. „Ich bin Künstler, für den Fall, dass man Ihnen das nicht gesagt hat. Ich habe nichts übrig für Standardmäßiges. Und das sind eine Menge Dinge, die Sie an Ihrem ersten Arbeitstag verlangen.“

„Ich kann nicht acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche auf einem Klappstuhl sitzen, und ich brauche einen richtigen Schreibtisch, um daran zu arbeiten, keinen kleinen Beistelltisch. Und auch auf dem Boden ist kaum Platz.“ Sie blickte in den Raum zurück. „Gibt es dort drin irgendwo ein Telefon?“

„Ja. Und auch einen Laptop, falls die letzte Dame von der Zeitarbeitsagentur ihn nicht mitgenommen hat.“

„Ich werde die Geräte schon finden.“

„Brauchen Sie das alles wirklich?“

„Ja, wenn Sie wollen, dass das ganze Zeug ordentlich abgeheftet wird – und nicht in Kartons gestopft oder aufgetürmt wie ein Staudamm.“

Seine Euphorie bekam einen Dämpfer. „Das sind Verträge, Probeskizzen, Recherchebriefe – das Zeug ist meine Arbeit.“ Wenn Roman nicht sicher gewusst hätte, dass die Chefin der Zeitarbeitsagentur ihn hängen lassen würde, hätte er Grace Moore an dieser Stelle gesagt, wo sie sich ihre Liste mit wesentlichen Dingen hinstecken könne. Doch leider konnte er Mrs Sandovals Reaktion genau voraussagen, und er wusste, dass er dann mit seiner endlosen Suche nach einer Assistentin, die in der Lage war, diese Aufgabe zu meistern, wieder am Anfang stehen würde. Und Talia Reisners Idee, eine Hilfskraft einzustellen, die sich um die alltäglichen Dinge in seinem Leben kümmern sollte, damit er sich auf seine Kunst konzentrieren konnte, hatte ihm eigentlich gut gefallen.

Die junge Frau schwieg, entschuldigte sich aber nicht. Hatte er überhaupt das Recht, eine Entschuldigung zu erwarten?

„Besorgen Sie sich, was immer Sie brauchen.“

„Wo kaufen Sie Ihre Büroutensilien?“

„Keine Ahnung.“ Er hob den Becher an die Lippen und merkte, dass er seinen Kaffee bereits ausgetrunken hatte. „Suchen Sie den Computer und finden Sie es heraus.“ Er brauchte dringend noch eine zweite Tasse Kaffee, bevor er irgendetwas anderes machte.

„Und wohin gehen Sie?“

„In mein Atelier!“

„Und das finde ich wo?“

„Am Ende des anderen Flurs, die Treppe hinauf auf der rechten Seite.“ Er hielt inne und schaute sie an. „Machen Sie ruhig erst einmal einen Rundgang durchs Haus und orientieren Sie sich.“ Damit ließ er sie im Flur stehen. Mit der Thermoskanne bewaffnet, verzog er sich in sein Atelier.

Genau zwei Stunden hatte Roman Ruhe vor seiner neuen Assistentin. Dann klopfte sie leise an den Türrahmen und wartete auf die Erlaubnis einzutreten. Sie hatte den Laptop inzwischen gefunden. „Ich habe eine Liste mit Preisen zusammengestellt. Wenn Sie eine Kreditkarte haben, kann ich die Bestellung aufgeben und alles bis morgen Nachmittag liefern lassen.“

„Dann bringen wir es hinter uns.“ Roman ließ seinen Bleistift fallen und fasste in seine Gesäßtasche. Sie war leer. Er stieß ein Schimpfwort aus. „Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin gleich wieder da.“ Aber er fand seine Brieftasche weder im Schrank noch auf seinem Nachttisch. Aufgebracht durchwühlte er die Hosentaschen seiner Schmutzwäsche, bis ihm einfiel, dass er die Karte gestern Abend ins Handschuhfach seines Autos gelegt hatte. Schimpfend stapfte er in die Garage, um sie zu holen.

Als er zurückkam, stand Grace Moore noch immer an derselben Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte. Doch statt die Kreditkarte zu nehmen, die er ihr reichte, hielt sie ihm den Laptop hin. „Wenn Sie alles, was ich aufgelistet habe, genehmigen, können Sie Ihre Kreditkartennummer eingeben.“

„Übernehmen Sie das!“

Sie zuckte zusammen und atmete leise aus. „Sie können mir doch nicht Ihre Kreditkartendaten geben.“

„Mit denen müssen Sie doch sowieso arbeiten, wenn Sie Ihre Aufgaben erfüllen wollen.“ Er nahm ihr den Laptop ab, doch als er die Endsumme sah, fluchte er erneut. Sie drehte sich um und marschierte zur Tür. „Wo wollen Sie hin?“

„Es tut mir leid, aber ich kann nicht für Sie arbeiten.“ Ihr Ton klang entschuldigend, aber dennoch fest entschlossen.

„Warten Sie!“ Er stellte den Laptop auf seinem Skizzentisch ab und lief ihr nach. Sie eilte bereits die Treppen hinunter.

„Einen Augenblick.“ Er folgte ihr zum Büro, wo sie ihre Tasche holte und sich über die Schulter hängte. Mit blassen Wangen und dunklen Augen blickte sie ihn an. Hatte er sie etwa so sehr verschreckt?

Sie machte einen Schritt nach vorn. Ihre Hand umklammerte den Lederriemen ihrer Handtasche. „Bitte lassen Sie mich durch.“

Roman bemerkte, dass sie sich auf dem Beistelltisch bereits Platz zum Arbeiten geschaffen und die Unterlagen in ordentliche Stapel sortiert hatte. Er wollte nicht, dass diese Frau ging. „Sagen Sie mir doch, warum Sie nicht bleiben wollen.“

„Ich könnte Ihnen eine ganze Liste von Gründen nennen.“

Entschuldigend hob er die Hände. „Sie haben mich an einem schlechten Tag erwischt.“

„Mrs Sandoval sagte, dass es bei Ihnen keine guten Tage gebe.“ Sie holte zitternd Luft und schaute ihn an.

Offensichtlich bereute sie ihre spontane Bemerkung sofort, aber er konnte ihr nicht widersprechen. „Nun, die Bewerberinnen, die sie mir geschickt hat, passten einfach nicht. Die ganze Sache war bisher mehr als frustrierend.“

„Das ist nicht meine Schuld, Mr Velasco.“

„Das habe ich auch nicht gesagt.“

Sie wich einen Schritt zurück. „Ich möchte Sie nicht weiter verärgern.“

War es das damit etwa schon gewesen? „Ich bin nicht verärgert. Ich bin nur –“ Er fluchte leise vor sich hin. „Ich weiß nicht, was ich will, aber ich denke, Sie sind das, was ich brauche.“

Bestimmt kam sie aus geordneten Verhältnissen. Zwei Elternteile, ein schönes Zuhause in einem netten Vorort, Privatschule, College – ein echtes Bilderbuchleben. Er hatte doch nur mit ein paar Schimpfwörtern um sich geworfen, die sie in jedem Einkaufszentrum zu hören bekam, aber das schien ihr bereits zu viel gewesen zu sein. Wenn er Grace Moore halten wollte, musste er sich zusammenreißen. „Sie arbeiten in diesem Büro, ich in meinem Atelier. Wir werden nicht viel miteinander zu tun haben.“

„Eine persönliche Assistentin muss eng mit ihrem Vorgesetzten zusammenarbeiten. Das bringt diese Aufgabe nun mal so mit sich.“

„Nun ja, persönlich ist ein ziemlich belastetes Wort.“ Sein Lächeln wurde zweideutig. Als er merkte, dass das nicht gut ankam, bemühte er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. „Vielleicht sollte ich Sie einfach anders nennen.“

„Sie können Miss Moore zu mir sagen.“

Sie kam ihm entgegen, hielt aber an ihren Grenzen fest. Das respektierte er. „Miss Moore also.“ Er konnte sich ihr gegenüber respektvoll benehmen – wenn es die Situation erforderte. Sie runzelte die Stirn und musterte ihn wie einen Käfer unter einem Mikroskop.

„Bitte geben Sie mir wenigstens zwei Wochen, bevor Sie kündigen.“

Sie sackte leicht in sich zusammen. „Also gut, zwei Wochen.“ Aus ihrem Mund klang es wie lebenslang, aber sie nahm trotzdem ihre Tasche von der Schulter. „Ich werde mich aber nicht von Ihnen beschimpfen lassen.“

„Wenn ich Schimpfwörter benutze, dann meine ich damit nicht Sie. Aber ich werde trotzdem versuchen, mich in Ihrer Nähe zusammenzureißen. Abgemacht?“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie biss sich auf die Lippe, reichte ihm dann aber ihre Hand. Sie war kalt und zitterte leicht und sie zog sie sogleich wieder zurück.

„Ich mache mich jetzt besser an die Arbeit.“

Er verstand den Hinweis. Wenn sie so effizient arbeitete, wie es den Anschein hatte, dann könnte es dieses Mal wirklich funktionieren. Er wurde neugierig. „Warum arbeiten Sie eigentlich für eine Zeitarbeitsagentur?“

„Eine andere Beschäftigung habe ich nicht gefunden.“ Sie errötete.

Das gab ihm Sicherheit. „Es ist gut zu wissen, dass Sie den Job genauso dringend brauchen wie ich eine Assistentin.“ Sie schwieg. Er legte den Kopf zur Seite und musterte sie. „Wo haben Sie gearbeitet, bevor Sie bei der Zeitarbeitsagentur angefangen haben?“

„In einer Werbeagentur.“

„Und warum sind Sie dort weggegangen?“

„Ich wurde überflüssig, wie man auf die feine englische Art sagen würde.“ Sie blickte ihn an. „Ich habe ein Zeugnis, falls Sie es sehen wollen.“

„Ich bin sicher, Mrs Sandoval hat es bereits überprüft.“

Sie atmete tief durch. „Ich brauche diesen Job wirklich, Mr Velasco, aber Sie verstehen sicher, dass ich eine bessere Stelle suche als die bei einer Zeitarbeitsagentur. Doch solange ich hier bin, werde ich mein Bestes geben.“ Sie zuckte leicht mit den Achseln, so, als habe sie keine große Hoffnung, dass ihr Bestes gut genug wäre. „Sie sind ganz anders als mein letzter Vorgesetzter.“

„Wieso? War er ein Spießer?“ Und wieder errötete sie. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Frau kennengelernt zu haben, die errötete, geschweige denn dreimal innerhalb weniger Stunden.

„Er war ein Gentleman.“

Das bedeutete wohl, dass Roman keiner war. Er hatte es jedoch gelernt, diese Rolle zu spielen, wenn es nötig war. „Warum sind Sie dann nicht mehr bei ihm?“

„Er ist in den Ruhestand gegangen und hat sein Geschäft an eine andere Firma abgegeben. Ich wurde nicht mehr gebraucht.“

Roman musterte sie erneut. Er war nicht sicher, ob es ihm gefiel, dass jemand anderes in seinem Haus Regeln aufstellte, aber andererseits hatte sie in nur zwei Stunden mehr geschafft als die anderen vier Assistentinnen in der gesamten Zeit, die sie bei ihm verbracht hatten. Er konnte nicht sagen warum, aber irgendwie mochte er diese Frau. Vielleicht war es ihr deutliches Desinteresse an ihm als Mann. Er empfand es als angenehm, jemanden um sich zu haben, der seine Arbeit erledigte, ohne viele Fragen zu stellen.

„Dann sind wir uns also einig?“

„Für zwei Wochen.“

Er lachte leise. „Okay. Es wartet jede Menge Arbeit auf uns. Kümmern wir uns also um die Bestellung, damit Sie sich an die Arbeit machen können.“

Kapitel 2

Während der langen Heimfahrt fragte sich Grace, ob dieser Zeitarbeitsjob wohl ein Geschenk des Himmels war oder ob er am Ende nur großen Ärger mit sich bringen würde. Mrs Sandoval hatte sie über den temperamentvollen Roman Velasco aufgeklärt – er war eben ein echter Künstler. Was sie ihr allerdings nicht gesagt hatte, war, dass der Mann selbst als Kunstwerk durchgehen würde. Sogar unrasiert, barfuß und in einer zerknitterten Jogginghose hätte er glatt als Model für ein Männermagazin arbeiten können. Lange dunkle Haare, gebräunte Haut und jede Menge Muskeln – es war nicht ein einziges Gramm Fett an ihm. Sobald er die Tür geöffnet hatte, war sie in Abwehrhaltung gegangen, denn er hatte sie sofort an Patrick erinnert.

Ihre Hände rutschten nervös über das Lenkrad. Erinnerungen auszugraben, die besser begraben blieben, war keine gute Idee.

Dieser erste Tag war holprig gestartet, aber es war immerhin ein Anfang. Bereits nach fünf Minuten in Roman Velascos Haus war ihr klar geworden, dass er wirklich dringend eine Assistentin brauchte, die Ordnung in sein Chaos brachte. Ihre erste Aufgabe, das Kaffeekochen, war keine große Herausforderung gewesen; die Suche nach dem Kaffee und den Filtertüten, die sie schließlich in der Schublade mit Töpfen und Pfannen entdeckt hatte, schon eher.

Die darauffolgende Besichtigungstour durch das Haus hatte ihr die Augen geöffnet. Das Badezimmer neben dem Büro war mit wunderschönem cremefarbenem Marmor ausgelegt, die Armaturen bestanden aus poliertem Nickel und weißen Stuckleisten. Die extravagante Toilette mit dem beheizbaren Toilettensitz und die luxuriöse Dusche machten deutlich, dass dieses Haus niemals für einen Junggesellen entworfen worden war.

Auch die anderen Räume des knapp 500 Quadratmeter großen Hauses, in dem jeder Schritt nachhallte, waren ähnlich prachtvoll ausgestattet. In einem Zimmer fand sie einen Heimtrainer, in einem anderen ein großes Bett, einen Schrank und zwei Nachttische. Der rote Marmorfußboden war übersät mit benutzten Handtüchern und schmutziger Kleidung. Die anderen Schlafzimmer waren unmöbliert und wirkten eher wie große weiße Zellen. Jedes Schlafzimmer verfügte über ein eigenes Bad mit polierten Nickel- oder Kupferarmaturen.

Roman Velascos Atelier allerdings war die größte Überraschung gewesen. Er hatte den Raum, der wahrscheinlich einmal als Elternschlafzimmer gedacht gewesen war, zu seinem Atelier umfunktioniert. Durch die große Fensterfront drang viel Licht ins Zimmer, und zweifellos war genau das der Grund gewesen, warum er es als Atelier gewählt hatte. Der wunderschöne Holzboden dagegen war unter den Farbspritzern kaum noch zu erkennen. Zerknüllte Blätter, die an riesige Wollmäuse erinnerten, lagen überall im Raum verteilt. Besaß dieser Mensch denn keinen Papierkorb?

Es roch nach Farbe, Öl und Terpentin. Auf einem einfachen Bücherregal standen Dutzende Kunstbücher, Skizzenblöcke und Biografien berühmter Maler. Pinsel in unterschiedlichen Größen füllten mehrere Kaffeedosen. Farbeimer und Spraydosen standen auf provisorischen Regalen, die aus Ziegelsteinen und einfachen Holzbrettern zusammengebaut worden waren. Im Inneren des Raumes befanden sich mehrere Staffeleien und jedes der darauf platzierten Gemälde wirkte auf Grace wie eine sinnlose, moderne Pinselei. Doch nirgendwo im Haus hatte sie ein gerahmtes Gemälde entdeckt. Auch wenn ihr nicht gefiel, was er malte, so sollte er doch stolz auf seine Arbeit sein.

Und warum bemalte ein Künstler eine komplette Wand in seinem Atelier, nur um sein Kunstwerk am Ende wieder mit einem schlammigen Farbton zu überdecken? Ein 20-Liter-Eimer stand in der Ecke, zusammen mit einem Tablett voll eingetrockneter Farbrollen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine Abdeckung zu verwenden.

Den ganzen Tag über hatte Roman Velasco drei persönliche Anrufe erhalten. Alle kamen von Frauen, doch mit keiner von ihnen wollte er sprechen. Eine legte einfach auf, zwei hinterließen eine Nachricht.

Der erste geschäftliche Anruf kam von Talia Reisner, einer Galeriebesitzerin in Laguna Beach, die wissen wollte, ob Roman arbeitete oder nur herumspielte.

„Mr Velasco hält sich in seinem Atelier auf.“

„Gott sei Dank, dass Sie jetzt da sind. Ich liege dem Jungen schon seit Monaten damit in den Ohren, dass er sich endlich eine Assistentin zulegen soll!“

Grace hätte beinahe laut gelacht – den „Jungen“ schätzte sie auf mindestens 30 Jahre.

Talia sprach schnell weiter. „Er erstickt in all dem Kleinkram. Wir wollen doch nicht, dass er durch solche Nichtigkeiten in seinem Arbeitseifer gebremst wird. Im Augenblick ist er äußerst angesagt und seine Beliebtheit steigt. Meiner Meinung nach hat er erst einen Bruchteil seines Talents gezeigt. Erst gestern habe ich sein letztes Gemälde verkauft, und heute Morgen hatte ich schon zwei Anrufer, die fragten, wann er denn endlich mal eine Ausstellung machen werde. Malt er gerade? Ich sage ihm immer wieder, dass er malen soll!“

Während Talia noch redete, machte sich Grace bereits auf den Weg zum Atelier. In einem Haus dieser Größe musste es eigentlich eine Gegensprechanlage geben, aber sie wusste nicht, wo diese zu finden war, und sie bezweifelte, dass Roman sie darüber aufklären konnte. Sie hatte bereits die Anschaffung einer neuen Telefonanlage vorgeschlagen, bei der der Anrufer in der Warteschleife hing, während sie mit ihm Rücksprache hielt.

Als sie sein Reich betrat, warf er ihr nur einen flüchtigen Blick zu. „Einen Augenblick, bitte.“ Sie hielt ihm den Telefonhörer hin. „Talia Reisner. Sie sagt, sie sei Ihre Geschäftspartnerin.“

Roman nahm das Telefon, unterbrach die Verbindung und warf es ihr wieder zu. „Ich bin nicht ihr Angestellter. Wenn sie noch mal anruft, sagen Sie ihr, dass ich arbeite. Das wird ihr gieriges kleines Herz glücklich machen. Wenn Hector Espinoza anruft – ihn will ich sprechen. Alle anderen können zur –“ Mit einem verlegenen Lächeln brach er mitten im Satz ab.

Was für ein erster Arbeitstag!

Der Verkehr vor ihr kam beinahe zum Erliegen. Grace war um 17 Uhr losgefahren, aber es würde weit nach 18 Uhr werden, bis sie Burbank erreichte. In dieser Woche hatte sie ihr Auto schon zweimal volltanken müssen, und somit war nicht mehr viel Geld übrig, das sie zurücklegen konnte. Wie sollte sie sich jemals eine eigene Wohnung leisten können? Sie kämpfte gegen die Tränen an und bemühte sich, sich nicht von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen. Im vergangenen Jahr hatte sie so viele Tränen vergossen, dass ein Boot darauf hätte segeln können.

Werde erwachsen, Grace. Dieses Chaos hast du selbst verursacht. Damit musst du jetzt leben!

Vielleicht war dies ja wirklich eine Strafe Gottes. Er hätte jedes Recht dazu, wenn man bedachte, wie sie sich nach der Scheidung verhalten hatte.

Ruben hob grüßend die Hand, als sie durch die Haustür trat, löste aber den Blick nicht vom Bildschirm des Fernsehers. Alicia, die erst seit Kurzem die Highschool besuchte, und Javier, der bereits sein zweites Highschooljahr absolvierte, waren in ihren Zimmern und erledigten ihre Hausaufgaben. Selah hatte Samuel bereits zu Bett gebracht.

„Er war so quengelig, deshalb habe ich ihn schon früher hingelegt.“ Lächelnd stellte sie die letzten Gläser in den Geschirrspüler. „Dein Abendessen steht im Ofen, Chiquita. Es ist noch warm. Wie ist es gelaufen?“

„Prima.“ Grace hatte beschlossen bei ihm zu bleiben, bis sie eine bessere Stelle gefunden hatte. „Ich schaue noch kurz nach Samuel.“

„Er schläft schon. Du solltest ihn in Ruhe lassen.“

„Nur eine Minute.“

„Setz dich und iss zu Abend.“

Doch Grace tat so, als habe sie Selah nicht gehört. Sie war den ganzen Tag von ihrem Sohn getrennt gewesen und wollte ihn nur für ein paar Minuten im Arm halten.

Samuel lag auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgebreitet. Er sah so friedlich aus, dass sie ihn nicht wecken wollte. Sie zog die weiche Decke gerade und beugte sich über ihn. „Ich liebe dich, mein kleiner Schatz, und habe dich heute vermisst.“ Sie küsste seine warme Stirn, blieb vor seinem Bettchen stehen und sah ihm einfach nur beim Schlafen zu. Bevor sie in die Küche zurückging, wischte sie ihre Tränen ab. Selah hatte inzwischen einen Teller mit Reis, Krautsalat und einer dicken Käse-Enchilada auf den Tisch gestellt. Sie dankte ihr und nahm am Küchentisch Platz. Selah verschwand im Wäscheraum.

Grace aß alleine zu Abend, räumte ab und spülte ihr Geschirr. Anschließend gesellte sie sich zu Selah und fing an, Samuels Wäsche zu falten. Doch Selah nahm ihr den Strampelanzug aus der Hand und winkte sie fort. „Das mache ich schon, Chiquita. Geh und setz dich zu Ruben.“

Es waren nicht die Worte selbst, die Grace verletzten, sondern deren Bedeutung. Alles, was mit Samuel zu tun hatte, wollte Selah ohne sie machen. Grace beobachtete, wie sie den Strampelanzug zusammenfaltete und auf den Stapel zu den anderen legte, die sie gekauft hatte. Ohne Grace weiter zu beachten, nahm sie das nächste kleine Kleidungsstück.

Doch Grace wollte sich nicht ärgern. Die Garcias waren freundlich und halfen ihr, wo sie nur konnten, und das bereits seit Monaten. Aber als Grace ihnen mitgeteilt hatte, dass sie ihre Meinung geändert habe und Samuel bei sich behalten wolle, hatte Selah ihr geantwortet, dass sie in Ruhe darüber nachdenken solle. Selah war niemals unfreundlich zu ihr, aber sie wollte Grace deutlich zeigen, dass sie die bessere Mutter für Samuel wäre.

Herr, ich bin dankbar. Wirklich.

Ruben blickte auf, als sie das Wohnzimmer betrat. „Wie war dein erster Tag? Kann daraus eine längerfristige Beschäftigung werden?“

„Schwierig zu sagen. Er ist Künstler und lebt in Topanga Canyon.“

„Kein Wunder, dass du heute so spät nach Hause gekommen bist.“ Im Fernsehen liefen bereits die Nachrichten. „Am Mittwochabend hat Alicia ein Volleyballspiel, wir müssen um 18 Uhr losfahren.“

Grace verstand die Botschaft. Falls sie nicht rechtzeitig zu Hause sein sollte, würden sie Samuel mitnehmen, und sie würde einen weiteren Abend ohne ihren Sohn verbringen.

***

Romans Leben wurde einfacher, nachdem Grace Moore ihre Arbeit bei ihm aufgenommen hatte. Sie stand jeden Morgen pünktlich um neun Uhr vor der Tür, kochte Kaffee für ihn und machte sich dann im Büro an die Arbeit. Ihre Aufgabe war es, seine Anrufe entgegenzunehmen, und er erklärte ihr, mit wem er sprechen wollte und mit wem nicht. Häufig riefen Leute an, die eine Wandmalerei in Auftrag geben wollten. Er war unschlüssig, ob er solche Aufträge noch annehmen sollte, denn sie waren sehr zeitintensiv und brachten weniger ein als seine Arbeiten auf Leinwand.

Roman fühlte sich getrieben und wusste nicht, was er wollte. Sollten seine Werke in einem Privathaus verschwinden oder wollte er sie lieber der Öffentlichkeit präsentieren? Die Wandmalereien waren Auftragsarbeiten und damit legal, allerdings setzte er dabei die Ideen anderer um, nicht seine eigenen. Durch die Graffiti von The Bird tat er gelegentlich noch seine eigene Meinung kund, aber dieses „Spiel“ war inzwischen sehr gefährlich für ihn geworden.

Roman rieb sich die Stirn und versuchte, sich auf die Wandmalerei zu konzentrieren. Er hatte einen festen Abgabetermin, der von Tag zu Tag näher rückte. Denk nicht nach. Konzentriere dich auf die Arbeit und kassiere am Ende den Scheck dafür.

Seitdem er Hector Espinoza eingestellt hatte, war der Druck nicht mehr ganz so stark, weil er fortan nicht mehr alles selbst machen musste. Hector würde die vorbereitenden Arbeiten für Romans Wandgemälde im Eingangsbereich eines neuen Hotels übernehmen, das in der Nähe des Zoos von San Diego lag. Die Hoteldirektion hatte Roman den Auftrag gegeben, eine afrikanische Savanne mit Tieren zu malen. Roman hatte den Entwurf auf Schablonen übertragen, sodass Hector schon mal mit der Arbeit beginnen konnte. Sobald er die Skizzen auf die Wand übertragen hatte, würde Roman hinfahren und die Feinarbeiten übernehmen, die dem Wandbild Leben einhauchten.

Roman legte den Bleistift aus der Hand und streckte seine verkrampften Finger aus. Wie lange lag seine letzte Pause schon zurück? Seit Sonnenaufgang hatte er hoch konzentriert gearbeitet. Er schob seinen Hocker zurück, stand auf und streckte sich, während er zum Fenster ging. Sein Blick wanderte über den Canyon hinweg. Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, und er entdeckte einen Hasen, der vorsichtig über den Weg hinunter zu dem kleinen Gästehaus hoppelte. Die Vorbesitzer hatten es für ein Elternteil gebaut, das dann aber noch vor dem Einzug gestorben war.

Roman hatte das Gästehaus bisher nur einmal betreten, und zwar beim letzten Rundgang über das Anwesen, kurz vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages. Es war genauso groß wie das kleine Haus am Strand von Malibu, für das er eine unglaublich hohe Summe bekommen hatte, wovon der Großteil nun in dieser Festung steckte.

Bobby Ray Dean hätte sich nicht weiter vom Tenderloin entfernen können. Aber er wusste ohnehin nicht mehr, wer er war. Bobby Ray Dean war irgendwo zwischen The Bird und Roman Velasco auf der Strecke geblieben.

Am Ende der zweiten Woche hatte Grace das Büro aufgeräumt. Sie war froh, wenn sie etwas zu tun hatte. Ihre aktive, aber geräuschlose Gegenwart in seinem Haus gefiel ihm. An diesem Morgen hatte sie allerdings erklärt, dass sie ihn in das neue Ablagesystem einführen wolle. Da er zu wissen glaubte, was dahintersteckte, hatte er gesagt, er habe keine Zeit.

Ein leises Klopfen an der Ateliertür veranlasste ihn, sich umzudrehen.

„Haben Sie jetzt Zeit für mich, Mr Velasco?“

„Nun, es kommt ganz darauf an, worüber Sie reden wollen.“ Er sah sie vielsagend an. „Denken Sie nicht einmal daran zu kündigen!“

„Ich habe gesagt, dass ich Ihnen zwei Wochen gebe. Sie brauchen keine Assistentin, die Vollzeit für Sie arbeitet.“

„Mir gefällt aber, wie reibungslos alles läuft, seit Sie da sind.“

„Ich habe oft nichts zu tun.“

„Sie könnten andere Aufgaben für mich übernehmen.“ Er bemerkte die Wachsamkeit in ihrem Blick. Sie vertraute ihm immer noch nicht, aber schließlich kannten sie sich ja auch noch nicht gut. Seit dem ersten Tag hatten sie nur geschäftlich miteinander zu tun gehabt – genau so, wie beide es wollten. „Ich denke zum Beispiel an kochen, Wäsche waschen und putzen.“

„Sie ernähren sich von Tiefkühlkost, Mr Velasco. Jeden Dienstag kommt der Reinigungsservice, um Ihre Wäsche abzuholen. Und es dürfte wohl kaum ein Problem sein, jemanden zu finden, der Ihre Bettwäsche wechselt und Ihr Bett macht.“

Er hörte ihren kritischen Unterton heraus. „Normalerweise empfange ich keinen Frauenbesuch.“ Für ihn war es leichter, die Wohnung einer Frau zu verlassen, als sie aus seinem Heim rauswerfen zu müssen.

„Ihr Privatleben interessiert mich nicht, Mr Velasco.“

Und doch wusste Grace bereits mehr über ihn als jede andere Frau, obwohl nichts davon in seinen Unterlagen stand. „Können wir das Mister weglassen? Nennen Sie mich Roman.“ Anfangs hatte ihm die formelle Anrede gefallen, doch inzwischen ärgerte sie ihn. „Wie wäre es, wenn Sie für mich Einkaufen fahren würden? Im Augenblick habe ich keine Zeit dafür. Das Benzingeld erstatte ich Ihnen selbstverständlich.“

„Dann brauche ich eine Einkaufsliste.“

Er lachte leise. „Sie brauchen für alles eine Liste, nicht wahr?“

Ihre Schultern entspannten sich und sie lächelte ihn an. „Sie sagten doch, Sie brauchen eine Assistentin, die detailorientiert ist.“

„Vermutlich wissen Sie besser als ich, was ich brauche.“ Er drückte ihr 200 Dollar in die Hand und erklärte ihr den Weg zum nächsten Supermarkt in Malibu.

Während ihrer Abwesenheit läutete mehrmals das Telefon, aber Roman machte sich nicht die Mühe, die Anrufe entgegenzunehmen. Er ignorierte auch das Läuten der Türglocke, bis ihm aufging, dass es Grace sein könnte. Als er die Tür öffnete, nahm er ihr zwei Tüten mit Lebensmitteln ab. „Haben Sie noch mehr?“ Sie winkte ab und ging zu ihrem Wagen zurück.

Roman setzte sich an die Küchentheke und beobachtete, wie sie zurückkam und die wiederverwertbaren Einkaufstüten ausleerte. Die Pizzen und die Tiefkühlkost verstaute sie im Gefrierschrank, den Salat räumte sie in den Kühlschrank. Auch Eier, Orangensaft, Frischkäse und zwei Gläser Pfirsiche hatte sie mitgebracht, obwohl er ganz vergessen hatte, dass er all das brauchte. Sie schien zu wissen, was er mochte.

Als sie einen Blick auf ihre Uhr warf, begann sie hastig die Tüten zusammenzufalten. „Ich muss jetzt gehen, sonst gerate ich in den Feierabendverkehr.“ Sie wirkte sehr angespannt und es war schon fast halb sechs.

„Während Ihrer Abwesenheit sind einige Anrufe hereingekommen. Ich habe alle auf den Anrufbeantworter umgeleitet, aber das kann bis morgen warten.“

„Sind Sie sicher?“

„Fahren Sie nur.“

Und das tat sie. Als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, spürte Roman, wie sich Stille im Haus ausbreitete.

Kapitel 3

Bobby Ray, 15 Jahre

Der neue Junge mit den dunklen Haaren, den braunen Augen und der olivfarbenen Haut, die seine Abstammung offenbarte, wurde schnell zum Schwarm aller Mädchen. Die Jungen merkten, dass ihre Freundinnen Bobby Ray Dean mit ihren Blicken folgten, begriffen aber schnell, dass er nie vor einem Kampf zurückscheute – geschweige denn in einem unterlag. Er folgte seinen eigenen Regeln: Provoziere niemals eine Auseinandersetzung, aber schlag fest zu, wenn sie sich nicht vermeiden lässt; prügle auf deinen Feind ein, bis er auf dem Boden liegt; pass auf, was sich hinter deinem Rücken abspielt.

Jugendbanden zogen Bobby Ray magisch an. Sie hielten sich nicht an Regeln und folgten ihren eigenen Gesetzen. Niemand belästigte sie und sie hatten immer Geld in den Taschen. Nach außen wirkten sie wie eine große Familie – und sie verhielten sich auch so. Als Reaper, einer der älteren Jungen, ihm 50 Dollar bot, wenn er ein Päckchen in einen Klub am Broadway ablieferte, willigte Bobby Ray ohne zu zögern ein. Er ging nämlich davon aus, dass dies ein Test war, der ihm den Weg in die Gang ebnen würde.

Doch noch bevor er einen Straßenzug weit gekommen war, merkte Bobby Ray, dass dieser Auftrag eine Falle war – jemand hatte die Bullen alarmiert. Anstatt das Päckchen fallen zu lassen, tat Bobby Ray das, was er seit jenem ersten Abend in der Pflegefamilie immer getan hatte: Er rannte durch die Straßen von San Francisco. Mittlerweile kannte er jede Straße, jede Gasse, jeden Park. Er wusste, wie er von einem Dach aufs nächste kam, welche Feuerleiter er hinunterklettern musste und welchen Maschendrahtzaun er überwinden konnte. Am Ende lieferte er das Päckchen wie gefordert ab.

Am nächsten Tag suchte er Reaper in der Schule auf, um seine 50 Dollar einzufordern – und sah dafür Respekt in Reapers Augen aufleuchten. Er bekam das Geld und wurde zu einer Party eingeladen, auf der er die anderen Gang-Mitglieder kennenlernte. Der 16-jährige Wolf sah aus wie Denzel Washington und hatte in jedem Arm ein Mädchen. Lardo wog mehr als 100 Kilo und hatte ein nervöses Lächeln auf den Lippen. White Boy nickte ihm nur grüßend zu, ohne den Blick von seinem Computerspiel abzuwenden. Und Bouncer wippte auf den Fußballen, als wäre er jederzeit für einen Kampf bereit.

Es dauerte nicht lange, bis er in der Gang akzeptiert wurde. Das Problem war nur, dass Bobby Ray nicht als Drogenkurier arbeiten wollte, denn Drogen hatten seine Mutter umgebracht. Nach jeder Lieferung träumte er von ihr. Mit ausgemergeltem Körper saß sie auf zerknitterten Laken in einem schäbigen Hotelzimmer, ihr Gesicht von Schuld und Scham gezeichnet. Weinend streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Du weißt, dass ich dich liebe, mein Schatz. Du weißt, dass ich wiederkommen werde. Das weißt du doch, oder? Daraufhin wachte er jedes Mal schweißgebadet, mit klopfendem Herzen und tränennassen Wangen auf.

Nachdem er zum wiederholten Male von ihr geträumt hatte, setzte sich Bobby Ray auf die Bettkante, raufte sich die Haare und kämpfte gegen die Übelkeit an. Wenn er sich jetzt weigerte, weiter als Drogenkurier zu arbeiten, würde Reaper seine Autorität infrage gestellt sehen. Und Bobby Ray könnte keine plausible Erklärung für seine Weigerung liefern, denn das würde man ihm nur als Schwäche auslegen. Bei den Jungs, mit denen er im Augenblick seine Zeit verbrachte, kam das nicht infrage. Er wünschte sich ihren Respekt, jedoch zu seinen eigenen Bedingungen. Wie konnte er das erreichen?

Bobby Ray musste unbedingt nachdenken, und das konnte er am besten, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen streifte. Als er die Vorhänge zur Seite schob, um aus dem Fenster der Wohnung seiner Pflegeeltern zu steigen, beobachtete er einen Jungen, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war und die Mauer auf der anderen Straßenseite besprühte. Bobby Ray schnaubte. Einen Buchstaben und eine Zahl? Mehr brachte er nicht zustande?

Er betrachtete das Werk des Sprayers, und sofort wirbelten Ideen durch seinen Kopf, was er an seiner Stelle an diese Mauer sprühen würde.

Plötzlich kam ihm die zündende Idee. Aufgeregt begann er, Pläne zu schmieden, denn endlich sah er eine Möglichkeit, in der Gang bleiben zu können und trotzdem nicht mehr als Drogenkurier arbeiten zu müssen.

Bobby Ray klammerte sich an der Wand fest und schob sich vorsichtig über den schmalen Fenstersims. Er kletterte am Fallrohr nach oben, zog sich an der Dachrinne hoch und schwang die Beine auf das Dach. Mit Anlauf sprang er über den Spalt hinweg auf das Dach des Nachbarhauses und kletterte über die Feuerleiter hinunter auf die Straße. Dann begann er, die Graffiti an den Fassaden in seinem Viertel zu studieren. Die meisten waren nicht gut und augenscheinlich in höchster Eile fabriziert worden. Ein paar wenige beeindruckten ihn, aber er wusste, dass er es besser konnte.

Seine Ideen würden jede Menge Aufsehen erregen. Er würde seine Graffiti in schwindelerregender Höhe anbringen, dort, wo sie nicht so leicht wieder entfernt werden konnten.

Mit ein paar Dosen Sprühfarbe würde Bobby Ray Reaper zeigen, was ein echter Sprayer bewirken konnte. Bobby Rays Tage als Drogenlieferant waren gezählt. Auf diese Art würde er sich in die Gang einbringen können, ohne sich am eigentlichen Geschäft beteiligen zu müssen.

***

In seiner Kletterausrüstung hing Bobby Ray an der Fassade des Gebäudes und zog eilig eine Dose mit roter Farbe aus seinem Rucksack. Es musste schnell gehen. Lardo lief auf dem Dach hin und her und behielt die Straßen im Auge. Er fluchte. „Musstest du dir denn ausgerechnet eine Wand aussuchen, an der du für alle zu sehen bist?“

Bobby Ray lachte. Wenn er sich einen Namen machen wollte, musste er Risiken eingehen – je größer, desto besser. „Gib mir noch zwei Minuten.“

„Da sind die Bullen! Zwei Straßenzüge weiter!“ Lardo zog am Seil.

Bobby Ray keuchte und fluchte, als die Haltegurte in seine Leiste einschnitten. „Warte!“ Er schwang zur Seite und hielt sich an einem Fallrohr fest. Reglos drückte er sich an die Mauer. Er war nicht ohne Grund von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Niemand, der nicht suchend hochschaute, würde ihn so entdecken. Die Bullen konzentrierten sich normalerweise auf die Straße und schauten nicht an den Wänden hoch. Er überschlug, wie lange es dauern würde, bis Lardo ihn auf das Dach hochgezogen und er die Ausrüstung und die Farbdosen im Rucksack verstaut hätte. Vorsichtig schaute er nach unten. Der Streifenwagen bremste ab und ein Lichtstrahl streifte die Mauer.

Bobby Ray fluchte. „Zieh mich hoch!“ Er biss die Zähne zusammen, als die Haltegurte in sein Fleisch schnitten, während Lardo am Seil zog. Eine Farbdose fiel aus seinem Rucksack und knallte direkt vor dem Streifenwagen auf die Straße. Sofort wanderte der Lichtstrahl an der Fassade nach oben, doch bevor der Lichtkegel ihn erfassen konnte, drehte er sein Gesicht zur Seite. Lardo zog mit aller Kraft und schließlich erreichte Bobby Ray den Mauerrand und schwang sich auf das flache Dach.

Er löste die Gurte und griff nach seinem Rucksack. „Vergiss es!“, stöhnte Lardo. „Komm mit!“ Er rannte in Richtung Treppe, blieb dann aber stehen und wandte sich um.

Bobby Ray ermahnte ihn, ruhig zu bleiben. „Dich haben sie gar nicht gesehen, Bruder.“ Er packte in aller Ruhe seine Ausrüstung in den Rucksack und warf ihn auf das gegenüberliegende Dach. Dann nahm er Anlauf und sprang selbst hinüber. Er kam hart auf, rollte sich ab und sprang sofort wieder auf.

Unten auf der Straße hatten sich die beiden Polizeibeamten inzwischen Lardo geschnappt und fragten ihn aus. Doch da sie nichts gegen ihn in der Hand hatten, mussten sie ihn wohl oder übel gehen lassen. Anschließend suchten sie die Straße noch eine ganze Weile mit ihren Taschenlampen ab. Als der Streifenwagen endlich losfuhr, wagte sich Bobby Ray auf das andere Dach zurück. Da Lardo nicht mehr bei ihm war, knotete er das Seil an einer sicheren Stelle fest und kletterte an der Fassade herunter. In aller Ruhe stellte er sein Graffito fertig und schrieb mit dem schwarzen Markierstift, den er sich aus einem Plastikrohr gebastelt hatte, die Initialen BRD auf die Fassade.

„Ich wusste doch, dass du es zu Ende bringen würdest“, rief Lardo von unten.

Bobby Ray kletterte wieder nach oben und verstaute das Seil in seinem Rucksack. Das Graffito war groß genug, um Aufmerksamkeit zu erregen, klein genug, um es in der Kürze der Zeit sauber auf die Wand bringen zu können, und an einer Stelle angebracht, an der es freiwillig so schnell keiner entfernen würde, weil es schlicht und ergreifend lebensgefährlich wäre.

In diesem Moment sah er, dass im Apartmenthaus auf der anderen Straßenseite jemand am Fenster stand. Würde der Kerl ihn am Ende verpfeifen oder das Graffito als Verbesserung betrachten? Bobby Ray schulterte seinen Rucksack und stieg über die Feuerleiter nach unten, wo Lardo ihn bereits erwartete.

Das einsetzende Heulen einer Polizeisirene trieb Bobby Rays Pulsschlag in die Höhe. Lardo rannte los. Er hatte die Größe eines Footballspielers und konnte jeden über den Haufen rennen, der ihm in den Weg trat. „Lauf nach rechts!“, rief Bobby Ray ihm nach. Lardo verstand die Botschaft und bog nach links in eine kleine Gasse ab. Bobby Ray wartete, bis die Bullen ihn entdeckt hatten, um sie anschließend an der Nase herumzuführen und kreuz und quer durch das Viertel zu scheuchen. Adrenalin schoss durch seinen Körper und schärfte seine Sinne.