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Kalifornien, 1875: Verstoßen von ihrem wohlhabenden Stiefvater, reist Kathryn Walsh in die raue Bergarbeiterstadt Calvada nahe der Sierra Nevada. Dort tritt sie das Erbe eines Onkels an, den sie nie persönlich kennengelernt hat - ein heruntergekommenes Zeitungsbüro, umgeben von Saloons und Bordellen, sowie eine vermeintlich wertlose Mine. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Neustart ... Doch Kathryn ist klug, selbstbewusst und mutig. Sie erweckt die Zeitung "The Voice" zu neuem Leben und nimmt hinsichtlich der Zustände vor Ort kein Blatt vor den Mund. Damit macht sie sich keine Freunde. Einzig dem Saloon-Besitzer Matthias Beck gelingt es, Kathryns Vertrauen zu gewinnen. Schon bald kann er sich dem Charme des wilden Rotschopfs nicht mehr entziehen …
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Seitenzahl: 655
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Über die Autorin
Francine Rivers war bereits eine bekannte Bestsellerautorin, als sie sich wieder dem christlichen Glauben ihrer Kindheit zuwandte. Danach schrieb sie 1986 ihr bekanntestes Buch Die Liebe ist stark, dem noch rund 20 weitere Romane folgten. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Nordkalifornien und genießt es, Zeit mit ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern zu verbringen und ihre Enkel zu verwöhnen.
Für meinen besten Freund und die Liebe meines Lebens, Rick Rivers.Das Leben mit dir ist immer noch ein Abenteuer.
Rein und vorbildlich Gott, unserem Vater, zu dienen bedeutet, dass wir uns um die Sorgen der Waisen und Witwen kümmern und uns nicht von der Welt verderben lassen.
Jakobus 1,27
Übernächtigt und mit schmerzenden Gliedern klammerte sich Kathryn an der Sitzbank fest, als die Postkutsche wieder einmal über ein unebenes Straßenstück holperte. Im Vergleich zu dieser im wahrsten Sinn des Wortes erschütternden Fahrt in eine ungewisse Zukunft war die Reise in der zweiten Klasse der Eisenbahn quer durch den Kontinent durchaus angenehm gewesen. Zwei anstrengende Tage in der engen Kutsche lagen nun hinter ihr, zudem zwei Nächte in Poststationen, wo ihr als Bett nur ein Holzbrett mit einer abgenutzten Decke zur Verfügung gestanden hatte, man ihr zum Abendessen ein undefinierbares Etwas serviert hatte, das an Eintopf erinnerte – wobei die Betreiber der Herberge nicht bereit gewesen waren, ihr mitzuteilen, was für Fleisch sie dafür verwendet hatten –, und es zum Frühstück wässrigen Haferbrei gegeben hatte.
Vielleicht wäre es tatsächlich klüger gewesen, ihren Aufenthalt in Truckee, wo sie aus dem Zug ausgestiegen war, um ein paar Tage zu verlängern, anstatt sofort die letzte Etappe ihrer Reise anzutreten. Aber im Grunde hatte Kathryn kaum eine Wahl gehabt: Wenn sie nicht unverzüglich in diese Postkutsche eingestiegen wäre, hätte sie eine ganze Woche auf die nächste warten müssen, und der Aufenthalt in der kleinen Bergarbeiterstadt, in der es mehr Saloons als Hotels gab, hätte ein zu tiefes Loch in ihre Reisekasse gerissen.
Außerdem hatte die Stadt sie schockiert. Die Bewohner waren vor allem Bergarbeiter, Holzfäller und Eisenbahnleute, und es gab dort erschreckend wenige Frauen. Noch nie zuvor hatte Kathryn einen Chinesen zu Gesicht bekommen, doch sie hatte davon gelesen, dass chinesische Arbeitskräfte zu Tausenden über den Pazifik gekommen waren, bereit, für einen Hungerlohn und unter Einsatz ihres Lebens Eisenbahntunnel in die Berge der Sierra Nevada zu sprengen. Nachdem dieses Mammutprojekt nun abgeschlossen war, suchten diese von niemandem geliebten Einwanderer andere Wege, um sich das Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Etliche von ihnen hatten Kathryn umringt, kaum dass sie aus dem Zug ausgestiegen war. Einen hatte sie beauftragt, ihr Gepäck zu einer geeigneten Unterkunft zu bringen. Der kleine, drahtige Mann hatte ihren gesamten Besitz im Eiltempo auf seinen klapprigen Karren gehievt und war losgestürmt, sodass sie kaum mit ihm hatte Schritt halten können.
Während sie ihm hinterhereilte, wich Kathryn dampfendem Pferdemist aus und sprang über Pfützen. Ihr war nicht wohl dabei, dass sie so viel Aufmerksamkeit erregte. Die Männer starrten sie an. Sie sah nur wenige Frauen, darunter keine, die so gut gekleidet war wie sie selbst, und auch sie folgten ihr mit den Blicken.
Erst vor dem Eingang des kleinen Hotels am Flussufer gelang es Kathryn, zu ihrem Gepäckträger aufzuschließen. Als sie durch die Eingangstür trat, verstummten die Männer in der Lobby schlagartig. Kathryn ignorierte sie, begab sich geradewegs zur Rezeption und buchte ein Zimmer. Wie sehr sie sich nach ein wenig Privatsphäre, einem heißen Bad, einem anständigen Essen und einem warmen, weichen Bett sehnte! Sieben Tage war sie im Zug unterwegs gewesen, und ihre Ohren schmerzten immer noch von dem unablässigen Kreischen der Räder auf den Metallschienen. Asche und glühende Funken aus dem Schornstein der Lokomotive hatte der Fahrtwind zum Fenster hereingeweht, und sie hatten kleine Löcher in ihr dunkelgrünes Reisekostüm gebrannt. Der Zug hatte nur haltgemacht, um Kohlen und Wasser nachzufüllen, und es war kaum Zeit gewesen, sich irgendwo in einem Restaurant etwas zu essen zu bestellen.
Ihr Gepäckträger wuchtete ihr Gepäck die Treppe hoch und stellte es in ihrem Zimmer ab. Der Raum war winzig und enthielt nur Bett, Tisch und einen Waschkrug samt Waschschüssel. Überwältigt von ihrer Enttäuschung, jedoch viel zu müde, um noch einmal nach unten zu gehen und nach einem besseren Zimmer zu fragen, löste Kathryn die Bänder ihres Hutes, nahm ihn ab, ließ sich auf das Bett fallen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Sie träumte, sie wäre wieder in Boston und stünde in der Tür zu einem der oberen Zimmer in der Villa der Hyland-Pershings. Ihre Mutter, strahlend vor Glück, hielt den neugeborenen Sohn im Arm, während Kathryns Stiefvater am Fuß des Baldachinbettes saß, ein stolzes Lächeln in seinem sonst so finsteren Gesicht. Kathryn sagte etwas, doch niemand hörte ihr zu. Sie, die kürzlich verstoßene Tochter, stand im Türrahmen, eine stille Beobachterin ihrer Freude. Hatte ihre Familie sie bereits vergessen?
Mit Tränen in den Augen erwachte sie. Benommen und desorientiert richtete sie sich auf und sah sich um. Der Morgen dämmerte schon, und der erste rötliche Schimmer des Sonnenaufgangs fiel in den Raum. Ihre Kleidung war zerknittert, das Haar zerzaust. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte.
Kathryn goss das eiskalte Wasser aus dem Krug in eine Schüssel und wusch sich das Gesicht. Wie sie sich nach einem heißen Bad sehnte! Doch es wäre wohl zu teuer, sich einen Zuber und warmes Wasser nach oben bringen zu lassen. Schnell legte sie ihr Reisekostüm ab und schlüpfte in das elegante Kleid, das geliefert worden war, kurz bevor man ihr mitgeteilt hatte, dass sie nach Kalifornien reisen würde.
Der Speiseraum des Hotels war bereits geöffnet und fast leer. Kathryn bestellte Rühreier, Speck, Bratkartoffeln und Brötchen mit Marmelade. Nachdem sie sich satt gegessen hatte, sprach sie mit dem Rezeptionisten, der ihr erklärte, die gewünschte Dienstleistung werde im Badehaus nebenan angeboten. Doch beim Anblick der vielen wartenden Männer vor dem Gebäude wurde ihr klar, dass dies sicher kein geeigneter Ort für eine Frau wäre. Bestürzt machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof, um ihre Weiterreise nach Calvada zu organisieren.
Vor dem Bahnhof stand eine Postkutsche. Die Pferde wurden gerade angespannt.
„Calvada?“ Der Postangestellte schüttelte den Kopf. „Noch nie gehört.“
Ein Anflug von Panik machte sich in Kathryn breit. „Dort gibt es auch eine Poststation.“
„In den Sierras gibt es bestimmt hundert oder noch mehr Minenstädte, Miss. Manche haben nicht mal einen Namen. Calvada … Klingt nach einer Grenzstadt. Aber Sie müssen schon wissen, ob Sie in den Norden oder in den Süden wollen.“
Der Brief, der zusammen mit Onkel Caseys Testament gekommen war, hatte noch zwei andere Städte erwähnt. Kathryn kramte ihn aus ihrem Gepäck hervor und reichte ihn dem Angestellten, der ihn überflog und anschließend nickte. „Richtung Süden also. Dauert drei Tage bis dorthin, wenn es unterwegs keine Pannen gibt. Sie haben Glück. Die Postkutsche fährt in einer Stunde los. Wenn Sie die verpassen, müssen Sie eine Woche auf die nächste warten.“
Die Kutsche machte einen Satz nach vorn und holte Kathryn, deren bereits schmerzendes Gesäß unsanft auf der harten Sitzbank aufkam, in die Gegenwart zurück. Ein groß gewachsener, raubeiniger Mann aus den Bergen mit Namen Cussler lenkte das Gefährt, und gerade schleuderte er Flüche auf sein Gespann aus sechs Pferden herunter, während die Kutsche in atemberaubendem Tempo über die Bergstraße schoss. Unwillkürlich fragte sich Kathryn, was sie wohl in Calvada erwarten würde.
Während sie weiter heftig durchgeschüttelt wurde, dachte sie zurück an den Abend vor ihrer Abreise aus Boston. Ihre Eltern waren mit Freunden ins Theater gegangen. Kathryn hatte zusammen mit dem Personal in der Küche zu Abend gegessen. Der Abschied von den Menschen, die sie liebte, fiel ihr sehr schwer. Und jede Hoffnung, ihre Mutter doch noch umstimmen zu können, zerschlug sich am nächsten Morgen, als ihr Stiefvater, Richter Lawrence Pershing, in der Eingangshalle auf sie zutrat und sie darüber informierte, dass er sie persönlich zum Bahnhof begleiten würde. Vermutlich wollte er sicherstellen, dass sie tatsächlich in den Zug einstieg und auch darin blieb.
Auf dem Weg zum Bahnhof sprach er kein Wort mit ihr. Am Bahnsteig angekommen, nahm er einen Umschlag aus seiner Jackentasche. „Durch dieses Dokument wird das Recht deiner Mutter an dem Erbe auf dich übertragen. Der Besitz deines Onkels gehört jetzt dir. Allerdings bezweifle ich, dass es genug zum Leben ist. Ich habe noch etwas Geld beigelegt, um dir einen Neuanfang zu ermöglichen. Wenn du bescheiden lebst und klug wirtschaftest“, fügte er mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme hinzu, „wird es reichen, bis du eine passende Beschäftigung gefunden hast. Die Fahrkarte nach Truckee ist bezahlt. Von dort aus musst du selbst für deine Weiterreise nach Calvada sorgen.“
Eine passende Beschäftigung. Was das wohl sein könnte? Zwar hatte Kathryn mehr Bildung als die meisten anderen Frauen genossen, was sie vor allem der Tatsache verdankte, dass sie sich so oft in die Bibliothek des Richters geschlichen und Bücher stibitzt hatte. Aber mit dem, was sie daraus gelernt hatte, konnte sie auf keinen Fall ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Die Postkutsche schlenkerte gefährlich, und Kathryn wurde von ihrem Sitz hochgeschleudert und landete gleich darauf wieder hart auf der Bank. Sie stieß einen ganz und gar nicht damenhaften Grunzer aus, während Cussler einen weiteren Schwall unflätiger Schimpfworte von sich gab und die Peitsche knallen ließ. Die Kutsche geriet ins Wanken, und Kathryn hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ihr Kopf juckte trotz des Hutes, der ihre Haare bedeckte. Wie lange noch bis zur nächsten Station? Sie war ausgedörrt und bemühte sich verzweifelt, den Gedanken daran zu verdrängen, wie gut jetzt doch ein Glas kaltes Wasser tun würde.
Vier weitere Passagiere waren am ersten Tag mit ihr in die Kutsche gestiegen, hatten diese aber mittlerweile an den unterschiedlichsten Stationen wieder verlassen. Henry Call, ein bebrillter Herr Anfang dreißig, war erst an der letzten Station dazugestoßen. Er hatte sich in der Poststation zu ihr gesetzt und ihr beim Verzehr des fragwürdigen Eintopfs Gesellschaft geleistet. Kathryn hatte den Eindruck gehabt, es sei Hühnchen, aber Cussler hatte eher auf Klapperschlange getippt. Sie hatte gar nicht wissen wollen, wer von ihnen recht hatte. Außerdem war sie viel zu hungrig gewesen, als dass es sie wirklich interessiert hätte.
Mr Call hatte ihr anschließend in die Kutsche geholfen. Ein Gespräch wollte jedoch nicht in Gang kommen, denn beiden war klar, dass sie bei dem Versuch, sich miteinander zu unterhalten, jede Menge Straßenstaub schlucken würden. Der junge Mann hatte daraufhin seine Umhängetasche geöffnet und eine Aktenmappe herausgenommen. Von Zeit zu Zeit zog er die Brille ab, um die Gläser zu reinigen.
„Hooa!“, rief Cussler, und die Kutsche kam zum Stehen. Er brüllte etwas und verwendete Worte, die Kathryn nicht verstand, bei denen Mr Call aber die Röte in die Wangen stieg.
„Was machst du Idiot hier mitten auf der Straße?“
„Wie sonst soll ich wohl eine Mitfahrgelegenheit finden, hm?“, erwiderte eine barsche Stimme und lachte.
„Na, kauf dir gefälligst eine Fahrkarte, wie alle anderen auch!“
„Nimmst du mich nun mit oder lässt du mich als Bärenfutter hier stehen?“
Alarmiert sah Kathryn Mr Call an. „Gibt es hier etwa Bären?“
„Allerdings, Ma’am. In den Bergen gibt es jede Menge Grizzlys.“
Als ob die Überzahl an Männern in dieser Gegend nicht schon beängstigend genug wäre! Musste Kathryn jetzt auch noch wilde Tiere fürchten?
Die Tür der Postkutsche wurde aufgerissen, und ein alter Mann mit einem von Schweißflecken übersäten Hemd und einem ziemlich ramponierten Hut auf dem Kopf stieg ein. Als er sein bärtiges Gesicht hob, fiel sein Blick auf Kathryn. „Heiliger Joschafat, eine junge Lady!“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem geröteten, faltigen Gesicht aus. Er versuchte, so etwas wie eine Verbeugung zustande zu bringen, und nahm den Hut ab. „Bitte entschuldigen Sie, Ma’am. Hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden wie Sie anzutreffen!“
Kathryn hätte umgekehrt das Gleiche von sich behaupten können.
Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Der Alte konnte sich nicht halten, wurde zur Seite geschleudert und landete unsanft neben Mr Call. Verärgert stieß er ein Schimpfwort aus, das Kathryn in den vergangenen achtundvierzig Stunden sicher schon hundertmal von Cussler gehört hatte. Missmutig streckte er den Kopf zum Fenster hinaus. „Hey, Cussler, wann lernst du endlich zu fahren? Willst du mich umbringen?“
„Ich hätte dich einfach überrollen und deine sterblichen Überreste auf der Straße liegen lassen sollen“, gab Cussler zurück.
Nicht im Mindesten beleidigt, lachte der Neuankömmling und setzte sich auf seinen Platz. „Verzeihen Sie, Ma’am. Das war nicht ernst gemeint. Ich und Cussler, wir beide kennen uns schon ewig.“
Kathryn warf ihm ein gequältes Lächeln zu und schloss die Augen. Inzwischen verspürte sie einen stechenden Kopfschmerz, ganz abgesehen von den ohnehin schon heftigen Schmerzen in ihren Gliedern und ihrem Gesäß. Beim letzten Halt hatte sie all ihre Willenskraft aufbringen müssen, um sich nicht das Hinterteil zu reiben, als sie aus der Kutsche ausgestiegen war.
Der Alte kratzte sich den weiß gesprenkelten Bart. „Ich such mir immer ’ne Mitfahrgelegenheit, bevor die Straße zu schmal wird. Einmal, da hab ich laufen woll’n und musst’ mich an ’nem Ast über mir festklammern, sonst wär ich überfahren worden.“
Kathryn warf einen Blick aus dem Fenster und zuckte unwillkürlich zurück.
„Wenn Sie in der nächsten Kurve rausschauen, können Sie unten am Abhang ’ne Kutsche liegen sehen. Hat es wohl zu eilig gehabt, der Fahrer. Passiert schon mal“, sagte der Mann.
Wie auf Kommando knallte Cussler erneut mit der Peitsche und trieb die Pferde an. Kathryn schluckte.
„Man weiß nie, wann das Leben zu Ende ist.“ Der Alte wurde philosophisch. „Aber wir schaffen’s schon. Kommt drauf an.“
„Kommt worauf an?“, wagte Kathryn zu fragen.
„Wie viel Cussler an der letzten Station getrunken hat.“
Kathryns Blick wanderte zu Henry Call. Der zuckte nur die Schultern. Was wohl in dem großen Humpen gewesen war, den der Gastwirt Cussler gereicht hatte?
Sie wappnete sich innerlich, als die Kutsche wieder um eine Kurve schlenkerte. Doch dann konnte sie nicht länger widerstehen und schaute zum Fenster hinaus. Im selben Moment machte das Gefährt einen Satz, und die Tür flog auf.
Kathryn schrie auf, als sie nach vorn geschleudert wurde. Sie spürte, wie jemand sie am Rock packte und zurückzog. Der alte Mann verriegelte die Tür. Wortlos starrten sich die drei Passagiere an. Kathryn wusste nicht, wem sie danken sollte, und scheute sich davor zu fragen.
Henry Call räusperte sich. „Man sagte mir, Cussler sei der beste Fahrer auf dieser Route. Wir müssen sicher keine Angst haben.“
Der Alte schnaubte verächtlich und steckte sich etwas in den Mund. Seine Kiefer mahlten wie die eines wiederkäuenden Maultiers, während er Kathryn von unten bis oben musterte – von ihren geknöpften Stiefeletten bis zum Rand ihres mit Bändern verzierten Hutes mit den beiden staubigen Federn. „Was für’n Vogel musste die denn lassen?“
„Ein Strauß.“
„Ein was?“
„Ein Strauß. Das ist ein großer afrikanischer Vogel.“
„Muss Sie ’n hübsches Sümmchen gekostet haben.“ Er beugte sich zum Fenster hinaus und spie einen Schwall braune Brühe aus.
Kathryn hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Doch der Mann war offenbar noch nicht fertig mit seiner Begutachtung. Verärgert musterte sie ihn nun ihrerseits; seinen dreckigen Hut, das zerschlissene karierte Hemd, den wettergegerbten Ledermantel, die abgetragene Hose und die ausgetretenen Stiefel. Der Kerl stank wie eine Bisamratte – zumindest stellte Kathryn sich vor, dass eine Bisamratte so roch. Aber andererseits: Welches Recht hatte sie, die Nase zu rümpfen? Seit ihrer Abreise aus Boston hatte sie kein Bad mehr genommen. Das Fischbeinkorsett zwickte. Schlimmer noch: Ihre Haut darunter juckte. Und die Tournüre an ihrem unteren Rücken war schwer wie Blei.
Die Postkutsche glitt eine Zeit lang einigermaßen sanft dahin, und Kathryn hatte sich gerade ein wenig entspannt, als Cussler rief: „Aufpassen, Leute! Waschbrett voraus!“
Bevor sie ihre beiden Mitfahrer fragen konnte, was er wohl damit meinte, stemmte der Alte die Stiefel gegen ihre Sitzbank und klammerte sich mit den Händen fest an seine. Die Kutsche schoss in die Höhe, und Kathryn mit ihr. Allein Kathryns Hut verhinderte, dass sie mit dem Kopf gegen die Holzdecke schlug. Mit einem lauten Plumps und einem schmerzerfüllten „Uff“ landete sie hart auf ihrem Sitz. Diesem ersten Aufprall folgte in schneller Abfolge eine Reihe weiterer. „Ah … ah … ah … ah …“ Kathryn klammerte sich verzweifelt an der Sitzbank fest. Ihr Hinterteil wurde schlimm malträtiert.
So unerwartet, wie die Tortur begonnen hatte, endete sie auch wieder.
Die Straußenfeder baumelte vor Kathryns Gesicht. Ihre Tournüre hatte sich nach unten verschoben. Kathryn rutschte auf ihrem Sitz herum, aber das machte alles nur noch schlimmer. Die Männer fragten, ob alles in Ordnung sei. „Ja, natürlich. Wie lange noch bis Calvada?“
„Nicht mehr lange, denke ich. Auf jeden Fall vor Sonnenuntergang. Cussler ist gut unterwegs.“
Kathryn fügte sich in ihr Schicksal.
Henry Call steckte seine Papiere weg. „Das ist eine lange Reise für eine junge Dame, so ganz allein, Miss Walsh. Sie vermissen Boston doch bestimmt.“
„Allerdings.“ Bisher hatte die Reise nur zu einem gedient: ihr vor Augen zu führen, welche Konsequenzen es hatte, wenn man zu seinen Überzeugungen stand.
Der ältere Mann strahlte. „Boston! Hab mir schon gedacht, dass Sie aus dem Osten kommen. Sie ha’m so was an sich, wissen Sie. Gibt nich’ viele von Ihrer Sorte hier draußen.“ Die zerdrückten und zerbrochenen Federn schienen ihn zu faszinieren. „Von der anderen allerdings genug.“
Henry Call räusperte sich.
Mit Inbrunst kauend blickte der alte Mann ihn an. „Wird sie bald genug selbst ’rausfinden, was?“ Er wandte sich wieder an Kathryn. „Wieso sind Sie hier?“
„Familienangelegenheiten, Sir.“ Als ob ihn das etwas anginge.
Die Augenbrauen des Alten schossen in die Höhe, und er musterte sie erneut. „So hat mich noch niemand genannt. Mit vielen anderen Namen bedacht, das schon, aber nicht Sir. Nein, ganz sicher, Lady, in Calvada gibt’s niemanden wie Sie. Nehmen Sie’s nicht übel, dass ich das sage. Ist das reine Kompliment.“
„Dort, wo ich herkomme, gibt es auch niemanden wie Sie, Mr …“
„Nicht Mister. Einfach Wiley. Wiley Baer.“
Mr Call nahm seine Brille ab und reinigte sie erneut, bevor er sie in seine Brusttasche steckte. „Haben Sie Familie in Calvada, Miss Walsh?“
„Einen Onkel. Er ist gestorben und hat ein Erbe hinterlassen.“
„In Calvada?“ Wiley schnaubte erneut. „Viel Glück damit.“ Seine Augen verengten sich. „Falls es was wert ist, dann hat sich’s schon jemand unter den Nagel gerissen.“
„Vielleicht kann ich behilflich sein“, warf Call ein. „Ich bin Rechtsanwalt. Wenn Sie Hilfe brauchen, um Ihren rechtlichen Anspruch geltend zu machen, kommen Sie gern zu mir.“
„Das ist überaus freundlich, Mr Call.“
Wiley schob ein weiteres Stück Tabak in seine Wange. Sein Blick hing an Henry Call. „Da könn’n Sie gleich wieder umkehren, Mister. Ist ’ne reine Zeitverschwendung, Ihr Kanzleischild in Calvada aufzuhängen. Wir ha’m da schon mehr Rechtsanwälte als Hunde Flöhe ha’m. Und die sind etwa genauso willkommen.“
„Ich habe einen Auftrag, Wiley. Ich werde nur ein paar Monate in Calvada bleiben, dann gehe ich zurück nach Sacramento.“
„Wer ist Ihr Boss? Morgan Sanders?“ Wiley legte seinen Stiefel wieder auf den Sitz. „Er ist ein gemeiner …“ – sein Blick wanderte zu Kathryn – „Windhund.“
„Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen.“
„Nun, in Calvada gibt’s nur zwei Männer, die genügend Geld haben, um sich ’nen Anwalt aus Sacramento kommen zu lassen, oder von wo auch immer Sie kommen. Sanders oder Beck. Und ich würd’ da nich’ zwischen die Fronen geraten wollen.“
„Wer ist das, Wiley?“ Kathryn wollte etwas über die Stadt erfahren, die bald ihre Heimat werden würde.
„Morgan Sanders. Dem gehört die Madera-Mine. Vermietet Bruchbuden an seine Arbeiter. Hat auch noch den Laden, wo sie ihre Einkäufe machen müssen. Beck kam erst kürzlich und hat sich mit Paul Langnor als seinem Partner zusammengetan. Guter Mann, dieser Langnor. Hat seinen Whisky nie mit Wasser gestreckt. Beck is’ gut im Geschäft mit dem Saloon und dem Casino, seit Langnor tot ist. Und hat noch ’n Hotel eröffnet. Hat den Elefanten gesehen und hatte genug davon, vor dem Tiger zu buckeln. Und der Mann war clever genug, was anderes zu tun zu finden, das ihm jetzt gutes Geld einbringt.“
„Elefanten und Tiger?“ Kathryns Beklommenheit wuchs.
Henry Call lächelte. „Den Elefanten sehen, bedeutet, das Leben auf die harte Tour lernen, Miss Walsh. Vor dem Tiger buckeln bedeutet, Faro zu spielen. Dieses Spiel kommt aus Europa, und dort wurden Karten mit Bildern von ägyptischen Pharaonen auf der Rückseite verwendet.“
„Ich spiel’s, seit ich ’49 in den Westen gekommen bin“, gestand Wiley mit blitzenden Augen.
„Sie meinen Glücksspiel.“ Kathryn verstand jetzt, warum der Mann nichts weiter zu besitzen schien als seine zerschlissene Kleidung und seine abgewetzten Stiefel.
„Das Leben is’n Glücksspiel, oder nich’? Steckt überall ’n Risiko drin, egal, was man tut.“
Wiley, der Weise. „Was können Sie mir über Calvada erzählen?“
„Na ja, es is’ ganz bestimmt nicht Boston!“ Er schnaubte. „So viel kann ich Ihnen sagen.“
„Arbeiten Sie in der Madera-Mine, Wiley?“
„Für Sanders arbeiten? Bin doch nicht verrückt. Wenn man in diese Schächte erst mal eingefahren ist, kommt man nich’ mehr raus. Hab selbst ’ne Mine in den Bergen. Aber ich arbeite allein. Eingetragen hab ich sie damals ’52. Und ich hab Papiere, die das belegen. Zum Glück, weil die Registratur ’54 abgebrannt ist. Und ’58 noch mal. Ich hole aus dem Boden, was ich zum Leben brauche. Das Erz wird mir fürs Leben ausreichen.“ Misstrauisch beäugte er Henry Call. „Weiß niemand außer mir, wo sie liegt.“ Er kaute noch eine Weile, bevor er den Tabak erneut aus dem Fenster spuckte. „Aber ab und zu muss der Mensch mal in ein Städtchen fahren.“ Er blinzelte Henry zu. „Das Problem ist, ich glaub’, ich habe mir Läuse geholt …“
„Läuse?“ Allein beim Gedanken daran juckte es Kathryn am ganzen Körper.
„Könn’n Se drauf wetten, Madam. Manche sind fast ’nen Zentimeter groß.“
Mr Call schüttelte den Kopf. „Ein Märchen, Miss Walsh.“
„Wer sagt das?“ Wiley funkelte Call an, bevor er Kathryn unschuldig anlächelte. „Woll’n Sie ’nem Anwalt eher glauben als ’nem ehrlichen Kerl, der schon seit mehr als zwanzig Jahren in diesen Bergen lebt? Ich sag Ihnen was, bei uns gibt’s Zecken, die können Sie satteln und reiten. Die Moskitos tragen Ziegelbrocken unter ihren Flügeln, um daran ihren Stachel zu schärfen. Aber keine Sorge, Lady, keine Sorge. Es gibt ’nen sicheren Weg, sie loszuwerden. Ich hab ’nen Scheitel gezogen, die Haare auf der einen Seite abrasiert, die andere mit Benzin getränkt und ein Streichholz drangehalten. Die Biester sind zur geschorenen Seite gerannt, und da hab ich sie mit meinem Jagdmesser abgestochen.“ Er zog ein Messer aus dem Futteral an seinem Gürtel und hielt es hoch, um ihr die breite Klinge zu zeigen.
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. „Dann sollten Sie aber gut zielen können.“
Wiley lachte. „Da könn’n Sie drauf wetten.“ Er zwinkerte erneut.
„Gibt es viele Frauen in Calvada, Wiley?“
„Frauen? Jawohl, Sir. Etwa zwanzig, würd’ ich meinen, wenn’s noch so viele sind wie bei der letzten Zählung. Damen allerdings nicht so viele, und keine wie Sie, das is’ mal sicher.“ Er musterte sie erneut. „Sind Sie bereits versprochen?“
„Verzeihung?“ Kathryn errötete und wunderte sich darüber, dass er eine so persönliche Frage stellte.
„Ob Sie verlobt sind oder verheiratet?“ Er sprach lauter, als hätte sie seine Frage bei dem Lärm der Geschirre und der donnernden Hufe nicht verstanden.
„Nein.“
„Nun, diese gute Nachricht wird sich verbreiten wie ein Buschfeuer.“ Er grinste. „Wenn Sie ’nen Ehemann suchen, nun, bis zum Einbruch der Dunkelheit können Sie einen haben.“
War das ein Heiratsantrag kalifornischer Art? „Nein, danke.“
„Die Männer hier draußen gieren nach Frauen. Und Sie seh’n aus wie ’ne prima Kandidatin.“
Das sollte wohl ein Kompliment sein, aber sie kam sich vor wie ein saftiges Steak auf einem Teller. „Ich bin nicht hergekommen, um mir einen Ehemann zu suchen. Ich bin hergekommen, um mein Erbe einzufordern und selbstbestimmt leben zu können.“
„Da werden Sie wohl Schutz brauchen.“
War das ein Angebot? „Ich werde mir ein Gewehr kaufen.“
Die Postkutsche schwankte heftig, und Kathryn klammerte sich am Fensterrahmen fest. Jeder Muskel in ihrem Körper schrie nach einem Ende dieser Qual.
„Aufwachen, Leute!“, rief Cussler. „Wir sind jetzt gleich in Calvada.“
Mr Call überprüfte seine Aktentasche. „Werden Sie erwartet, Miss Walsh?“
„Ich soll mich bei meiner Ankunft mit einem Mr Neumann in Verbindung setzen.“
Wiley spuckte den Tabak aus dem Fenster. „Herr Neumann?“
„Ja. Kennen Sie den Herrn?“
„Hätte bei meinem letzten Besuch in seinem Barbiersalon beinahe das Ohr verloren.“
Nach der Länge von Wiley Baers Haaren zu urteilen, musste dieser Besuch bereits einige Jahre zurückliegen.
„Lausiger Barbier. Aber ’n guter Mann. In nüchternem Zustand. Wenn er nich’ in seinem Laden ist, finden Sie ihn in Becks Saloon.“
Es knallte mehrmals, und Kathryn zuckte zusammen. „Waren das Schüsse?“
„Ja.“ Wiley kratzte sich den Bart. „Klingt wie ’ne Smith & Wesson. Schüsse sind in Calvada an der Tagesordnung, wissen Sie. Die Männer schütten sich zu viel Whisky hinter die Kehle, und dann werden sie streitsüchtig.“ In einer Kurve beugte er sich aus dem Kutschenfenster. „Aber ich sehe keine Toten auf der Straße liegen.“ Zufrieden lehnte er sich zurück. „Hätte schlimmer sein können. Hab mal beobachtet, wie sechs Männer einen Hund über die Chump Street gejagt haben. Die waren so voll, dass keiner ihn getroffen hat. Aber ein unschuldiger Kerl in der Textilhandlung, der nichts Böses im Sinn hatte, der hat ’ne Kugel in den Kopf gekriegt.“
Kathryn wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Dieses Mal behauptete Henry Call nicht, das sei ein Märchen. Was war das für ein Ort, dieses Calvada? „Hat der Sheriff die Männer verhaftet?“
„’n Sheriff gab’s nich’.“
„Aber bestimmt gibt es doch Gesetze …“
„Klar. Die Männer trafen sich im Saloon, besprachen die Angelegenheit. Kamen zu dem Schluss, dass sein Tod ein Akt Gottes war. Sehr schade, aber wir alle müssen eines Tages gehen.“
Kathryn starrte ihn an. „Und mehr haben sie wegen des Verstorbenen nicht unternommen?“
„Nee. Sie hoben ein paar Drinks in seinem Namen, legten zusammen und ließen ihn am nächsten Tag in einem neuen Anzug beerdigen.“
Gerade als Kathryn eine Bemerkung dazu machen wollte, stieg ihr ein entsetzlicher Gestank in die Nase, so übel, dass sie zu würgen begann. „Was um Himmels willen ist das für ein fürchterlicher Gestank?“
Wiley Baers angedeutetes Lächeln erstarb. „Wie ich schon sagte, Calvada is’ nich’ Boston. Dauert nur ’n paar Tage und Sie haben sich an den Gestank gewöhnt.“ Drei weitere Schüsse ertönten, und die Postkutsche kam abrupt zum Stehen. War Cussler oder eines der Pferde etwa von einer verirrten Kugel getroffen worden? Wiley öffnete die Tür und sprang hinaus. Er schaute sich um und steckte den Kopf wieder in die Kutsche. „Scheint wieder geregnet zu haben. Der Schlamm reicht mir bis zu den Knöcheln. Sie steigen besser auf der anderen Seite aus, Ma’am. In der Stadt gibt’s Schlaglöcher, die sind so tief, dass Männer darin verschwunden und jetzt Teil der Straße sind.“
Der Geruch nach Abwasser, Schlamm und Pferdemist hing schwer in der Luft. Ein weiterer Schuss ertönte. Glas schepperte. Männer schrien. Es hörte sich an, als wäre es im Saloon auf der anderen Straßenseite zu einem Tumult gekommen. Wiley pflügte durch den Matsch. „Das kommt aus Becks Saloon. Die Schießerei ist vorbei, denk’ ich.“
Mr Call stieg aus der Kutsche und blieb auf dem Brettersteg stehen. Er reichte Kathryn die Hand. Zitternd und mit weichen Knien sprang sie auf die Planken, wo Wiley Baer sich pfundweise den stinkenden Schlamm von den Stiefeln kratzte. Auf der anderen Straßenseite gingen die Schwingtüren auf, und ein Mann flog heraus. Er fiel rückwärts auf die Bretter und rutschte weiter bis mitten auf die Straße. Ein großer, breitschultriger Mann mit dunklen Haaren kam ihm durch die Türen nach.
„Das ist Matthias Beck. Sieht ziemlich aufgebracht aus, der Gute.“
Kathryn beobachtete, wie er von dem Brettersteg auf die Straße trat und den Mann aus dem Schlamm hochzerrte. Bei jedem Faustschlag zuckte sie zusammen – einmal, zweimal und noch einmal, bevor er den armen Kerl losließ und der wieder in den Schlamm fiel. Männer drängten aus dem Saloon und feuerten Beck vom Brettersteg aus an. Er packte den Mann am Kragen, zerrte ihn zu einer Pferdetränke und drückte seinen Kopf unter Wasser. Würgend kam der Mann wieder hoch. Mehrmals wiederholte Beck diesen Vorgang mit dem armen Kerl, als würde er Wäsche waschen.
Voller Entsetzen schaute Kathryn zu. „Warum lachen diese Männer? Sollte nicht jemand diesen Rüpel stoppen, bevor er den armen Mann noch ertränkt?“
Henry Call schüttelte den Kopf. „Aus so etwas hält man sich am besten heraus, wenn man die Gründe nicht kennt.“
Ihr Blick wanderte zu Wiley, doch der hob die Hände. „Sie brauchen mich gar nich’ anzusehen. Ich misch mich bestimmt nicht ein.“
„Männer!“, murmelte Kathryn und trat an den Rand des Bohlenwegs. „Aufhören, sofort! Lassen Sie diesen Mann in Ruhe!“
Jeder einzelne der Männer vor dem Saloon schaute zu ihr herüber, aber Beck machte unbeirrt weiter und warf nicht einmal einen Blick in ihre Richtung. Der Mann ruderte mit den Armen, als Beck ihn erneut untertauchte, dann hochzog und über den Rand der Tränke hängte, damit er sich übergeben konnte. Nachdem der Magen des Übeltäters geleert war, packte ihn Beck am Hemd und redete auf ihn ein.
Dem verprügelten Mann gelang es, aus dem Trog zu klettern, doch er rutschte aus und landete mit dem Gesicht im Schlamm. Nachdem er sich hochgerappelt hatte, kroch er zum Brettersteg. Beck drehte sich um und richtete seinen Blick auf Kathryn.
Oh wei. Sie schluckte.
„Oh nein!“, stöhnte Wiley. „Jetzt kommt er her. Viel Glück. Und war nett, Sie kennengelernt zu haben.“ Glucksend sprang er auf die schlammige Straße und half einem jungen Mann, die Pferde auszuspannen.
Kathryns Herzschlag beschleunigte sich mit jedem Schritt, den Matthias Beck auf sie zukam. Instinktiv wich sie zurück, als er den Brettersteg erreichte. Um sich Mut zu machen, rief sie sich in Erinnerung, wie viele Male sie im Lauf der Jahre Richter Lawrence Pershing gegenübergetreten war. Beck sagte keinen Ton. Er blickte sie einfach nur an. Sie spürte einen Druck in den Lungen und strich sich unwillkürlich mit der Hand über den Bauch. Verwirrt durch ungewohnte Gefühle, die sie durchströmten, wandte sie sich schnell ab und sah sich nach ihrem Gepäck um.
„Oho, Henry …“ Beck sprach mit ausgeprägtem Südstaatendialekt. „Du hast mir ja gar nicht gesagt, dass du eine Lady mitbringst.“
Kathryn erstarrte, wandte sich um und sah hoch. „Ich bin nicht seine Lady.“
„Umso besser.“ Er grinste auf eine Weise, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte, vor allem da sie spürte, dass sie errötete.
Henry räusperte sich. „Matthias, das ist Miss Kathryn Walsh. Sie ist hier, um …“
„Ich bin sicher, Mr Beck interessiert sich nicht im Mindesten für meine Angelegenheiten.“
„Oh, mich interessiert alles an Ihnen.“
Kathryn ignorierte ihn.
„Aus Boston, die Lady“, fühlte sich Wiley bemüßigt zu erklären.
„Das sieht man.“ Becks Blick wanderte über sie hinweg und blieb an der Straußenfeder hängen, die vor ihrem Gesicht baumelte. Nur mühsam unterdrückte sie den Drang, ihren Hut abzunehmen und damit nach ihm zu schlagen.
„Hat ’nen Brief von Neumann gekriegt, geht um ’n Erbe“, schob Wiley nach.
„Wiley Baer!“, protestierte sie. Warum nur waren ihre beiden Mitpassagiere der Meinung, ihre Angelegenheiten gingen Beck etwas an?
„Ich fürchte, Herr Neumann ist im Augenblick nicht in der Lage, etwas Geschäftliches oder überhaupt etwas zu besprechen“, informierte Beck sie.
Kathryn senkte das Kinn und fragte ruhig: „Und woher wissen Sie das, Sir?“
„Vor einer Stunde ist er in meiner Bar umgekippt. Ich musste ihn nach Hause bringen lassen. Bestimmt schläft er bis morgen früh durch. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja in der Zwischenzeit weiterhelfen?“ Das klang ernst gemeint.
„Danke, aber das glaube ich nicht.“
„Sie scheinen Vorbehalte gegen mich zu haben, Eure Ladyschaft.“
Die Anrede ärgerte sie. „Ich kenne Sie nicht und weiß nur, dass Sie dieses Lokal da drüben besitzen und diesen armen Mann zusammengeschlagen und in der Tränke beinahe ertränkt haben.“
„Er meinte, einen Sieg am Farotisch feiern zu müssen, indem er wild um sich schießt. Zum Glück hat er niemanden getroffen.“
Diese Information änderte die Situation, aber eine Prügelei in der Öffentlichkeit als Reaktion darauf konnte sie trotzdem nicht billigen. „Wäre es nicht besser gewesen, ihn wegen Ruhestörung den Behörden zu übergeben?“
„Boston“, erklärte Wiley. „Habt ihr denn inzwischen hier ’nen Sheriff, Matthias?“
„Noch nicht.“
Wiley kratzte sich an der Brust. „Es war nett, mit Ihnen zu reisen, Miss, aber ich brauch jetzt ’nen steifen Drink, ’n Bad, ’ne anständige Mahlzeit und ’nen Besuch im Puppenhaus.“ Damit drehte er sich um und machte sich auf den Weg zu Becks Saloon.
Kathryn runzelte die Stirn. Puppenhaus?
„Walsh.“ Beck runzelte die Stirn. „Sie sind nicht zufällig verwandt mit City Walsh?“
Kathryn schaute zu ihm hoch. „City? Der Name meines Onkels war Casey Teague Walsh.“ Casey Teague. C. T. Vielleicht nannten diese Leute hier ihn City.
Das Gesicht des Mannes wurde ernst. „Ich sage das ja nur ungern, Ma’am, aber es gibt hier keinen Glückstopf am Ende des Regenbogens.“
Sie blinzelte und spürte, wie ihr schwer ums Herz wurde. So viel zu den großen Träumen, die sie vielleicht gehabt hatte. Aber eigentlich hatte sie ja gar keine gehabt. Ganz bestimmt hätte der Richter ihr keine Goldmine überlassen.
„Nun, was immer da ist, wird ausreichen müssen.“ Sie nickte Henry zu. „Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr Call. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, meine Herren.“ Sie ging ins Postkutschenbüro und fragte, ob sie ihren Koffer hier lagern und wo sie ein Hotel finden könnte.
„Mein Hotel auf der anderen Straßenseite ist das beste in der Stadt“, rief Beck ihr nach.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie hielt den Blick fest auf den Postangestellten gerichtet. „Es muss doch noch ein anderes Hotel geben …“
„Das Hotel von Sanders liegt ein paar Straßen weiter auf der rechten Seite, aber das würde ich einer Dame wie Ihnen nicht empfehlen.“ Beck stand im Türrahmen.
„Aber einen Saloon halten Sie für angemessen?“
„Der Saloon ist unten, Eure Ladyschaft. Die Gästezimmer befinden sich oben, sind voll möbliert und alle mit einem Schloss ausgestattet. Unter meinem Dach sind Sie sicher.“
Das Blitzen seiner Augen ließ sie etwas anderes vermuten. „Nein, danke, Mr Beck.“ Sie nahm ihre Reisetasche, drehte sich um und ging zur Tür. Er rührte sich nicht.
„Ich werde dafür sorgen, dass Herr Neumann ausgenüchtert wird, während Sie sich einrichten.“
Ihr Magen knurrte laut, und sie errötete.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Und ich zeige Ihnen, wo Sie gut essen können.“
„Bitte treten Sie zur Seite, Sir.“
Sein Lächeln erstarb. „Sie werden nicht zu Sanders’ Hotel gehen.“
Diesen herrischen Tonfall kannte sie zur Genüge von ihrem Stiefvater, und das hatte sie schon immer unglaublich wütend gemacht. Ihr freiheitsliebendes Herz entschied gern für sich selbst, was sie tat oder nicht. Sie schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Machen Sie so Werbung für Ihr Hotel, Mr Beck? Indem Sie Frauen an der Poststation belästigen?“
Beck trat zur Seite und verbeugte sich spöttisch vor ihr. Sie spürte die Hitze seines Körpers, obwohl sie mit möglichst weitem Abstand an ihm vorbeiging.
„Sie wären im Haus Ihres Onkels besser aufgehoben“, sagte er, als sie ein paar Schritte gegangen war.
Hoffnung stieg in ihr auf. „Es gibt ein Haus?“
„Nicht wirklich.“
„Könnten Sie mir freundlicherweise sagen, wo ich das finde?“
„Nichts lieber als das.“ Er deutete mit dem Kopf in eine Richtung. „Ein paar Türen weiter auf der linken Seite. Zwischen Bear’s Head Saloon und José Barreras Tanzhalle.“
Sie starrte ihn an, schluckte und nickte leicht. „Vielen Dank, Mr Beck.“ Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, während sie seiner Wegweisung folgte.
„Grüßen Sie Scribe von mir“, rief er ihr hinterher.
Kathryn blieb stehen und drehte sich um. „Scribe?“
„Der Junge hat für Ihren Onkel gearbeitet. Seit Citys Tod wohnt er in seinem Haus. Er weiß nicht, wo er sonst hinsoll. Sagen Sie ihm, er kann zu mir kommen.“ Beck drehte sich zu Henry um, flüsterte ihm etwas zu und begleitete ihn über die Straße zu seinem Hotel.
Kathryn straffte die Schultern und lief weiter über den Brettersteg. Ihr Magen rebellierte wegen des furchtbaren Gestanks. Zutiefst erschöpft und mit schmerzenden Gliedern schaute sie sich um. Diese Stadt sollte ihr neues Zuhause werden? Oh Herr, hilf mir. Vielleicht sah alles anders aus, wenn sie erst mal eine Nacht geschlafen hatte.
Die gebrochenen Straußenfedern winkten vor ihrem Gesicht. Rechts von ihr lag ein Schuhgeschäft. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie drei Saloons: die Crow Bar, das Iron Horse und What the Diggings. Da waren ein Gemischtwarenladen, ein Gutachterbüro für den Erzabbau, ein kleines Haus mit einer roten Laterne im Fenster. Ein Mann ritt an ihr vorbei. Er starrte sie so fasziniert an, dass er prompt mit zwei anderen Männern kollidierte, die die Straße überquerten. Ein Streit entstand. Aus dem Bear’s Head Saloon drang Musik. Jemand hämmerte auf dem Klavier herum. Vorsichtig warf sie einen Blick hinein. Das Lokal war voll. Ein Mann entdeckte sie. „Heiliger Joschafat! Seht euch das an!“ Alle Köpfe wandten sich zu ihr um. Stühle wurden zurückgeschoben, Stiefelabsätze stampften über den Holzboden wie eine wild gewordene Herde Bisons über die Prärie.
Kathryn eilte weiter und versuchte zu ignorieren, dass die Schwingtüren hinter ihr aufflogen und Männerstimmen ertönten.
„Wo kommt die denn her?“
„Himmel!“
„Vielleicht hat Fiona ’ne neue Puppe hergeholt.“
„Du hast doch ein Spatzenhirn, Cody. Das ist eine Lady.“
Kurz hinter dem Bear’s Head stand eine heruntergekommene Bretterhütte, deren beide Fenster an der Front so dreckig waren, dass Kathryn nicht hineinschauen konnte. Zum Glück wirkte die Tür solide. Ein nervöser Blick zurück bestätigte, dass die Gruppe der Männer auf dem Brettersteg stetig anwuchs. Alle warfen sich fragende Blicke zu und redeten aufgeregt durcheinander. Sie kam sich vor wie ein Fuchs, der von einer Hundemeute gejagt wurde. Kathryn klopfte dreimal und betete, der Junge möge die Tür schnell öffnen, damit sie hineinhuschen könnte.
Keine Reaktion. Kein Lebenszeichen von innen.
„Er ist aber da!“, rief jemand.
Andere Männer überquerten die Straße, um zu sehen, was dieser Menschenauflauf zu bedeuten hätte. Panik stieg in ihr hoch, und Kathryn klopfte erneut, wie ein Specht ein Loch in einen Baumstamm hämmert. Sie hielt ihr Ohr an die Tür und wäre beinahe gestürzt, als die Tür schließlich aufschwang. Hastig richtete sie sich wieder auf und stand einem Jungen gegenüber, der nur ein paar Jahre jünger war als sie, aber etliche Zentimeter größer. Schlaksig, mit erstem Pfirsichflaum im Gesicht und braunen geröteten Augen stand er schwankend vor ihr. Er trug nichts weiter als eine lange rote Unterhose. Sein Mund öffnete sich verblüfft. Blinzelnd rieb er sich das Gesicht und starrte sie an.
„Mr Scribe?“, fragte sie leise.
„Wer sind Sie?“
„Das würden wir auch gern wissen!“, rief jemand von hinten.
Kathryn packte der Zorn, sie wandte sich um und funkelte die versammelte Männertruppe an. „Geht zurück in die Bar, Jungs, und lasst mich meine Geschäfte erledigen.“
„Das is’ ’ne wirkliche Lady.“ Die meisten verzogen sich.
Sie atmete einmal durch und drehte sich zu dem jungen Mann um. Sein Aufzug war ihr peinlich. „Vielleicht könnten Sie etwas … Angemesseneres anziehen?“
Sein Gesicht rötete sich. „Oh! Entschuldigung!“ Er schnappte sich eine zerknitterte Baumwollhose und schob ein Bein hinein. An einen Tisch gelehnt, steckte er auch das zweite Bein hinein und machte sie zu. Seine Hosenträger ließ er so fest schnappen, dass er beinahe umgefallen wäre.
Voller Entsetzen wurde Kathryn klar, dass sie die ganze Show mit angesehen hatte, ohne mit den Wimpern zu zucken.
Scribe machte eine ausladende Bewegung des Willkommens. „Kommen Sie rein und sagen Sie mir, wer Sie sind, wie Sie hergekommen sind, was ich für Sie tun kann und wo Sie herkommen.“
„Ich bin Kathryn Walsh, Casey Teague Walshs Nichte. Man hat mich von Boston hergeschickt, um das Erbe zu beanspruchen.“
Scribe starrte sie sekundenlang an. Dann sackten seine Schultern zusammen. „Nun, das war’s dann wohl. Citys Lebenswerk geht den Bach runter.“ Mit seiner Armbewegung schloss er den ganzen Raum ein, ein Häufchen Elend, das aus jeder Pore seines mit Alkohol durchtränkten Körpers Jammer verströmte. „Das gehört alles Ihnen, Miss Walsh.“
Kathryn trat ein und stieg über die zerbrochene Whiskyflasche und den kleinen Rest Whisky, der noch in der Flasche gewesen war, bevor sie zu Boden geschleudert worden war und sich in einer Pfütze gesammelt hatte, hinweg. Drinnen stank es nach Whisky, Männerschweiß und einem gefüllten Nachttopf. Apfelkisten, vollgestopft mit Papieren, stapelten sich an einer Wand. Das Zimmer war ausgestattet mit einem Sofa, auf dem eine zerwühlte Decke lag, einem großen Eichentisch, einem Stuhl aus Kiefernholz und einem Spucknapf. Hinten in der Ecke befand sich ein massives, mit einer Plane abgedecktes Objekt. Ganz hinten entdeckte sie die Tür zu einem zweiten Raum, vermutlich einer kleinen Wohnung. Sie stand offen. Und das sollte ihr Heim werden? Mit beiden Händen umklammerte sie ihre Reisetasche, denn sie brauchte dringend etwas, woran sie sich festhalten konnte.
„Was für ein Geschäft hat mein Onkel betrieben?“
„Spielt keine Rolle mehr. Kein Gewerbe für eine Frau.“ Scribe deutete mit dem Kopf zur geöffneten Tür. „Wollen Sie den Rest sehen? Alles, was City besessen hat, ist da hinten drin.“
Kathryn folgte dem Jungen in eine kalte, feuchte und staubige Kammer, in der es nach Tabak und Whisky roch. Freude durchzuckte sie beim Anblick eines Bücherregals voller Bücher. Das Bett war nicht gemacht. Keine Bettwäsche, nur einige indianische Decken und ein Nachttopf unter dem Bett, der zum Glück mit einem passenden Deckel ausgestattet war. In dem grob gezimmerten Kleiderschrank hingen einige Männerhemden, Hosen und ein schwerer Mantel, abgewetzte Stiefel standen auf dem Boden, und eine alte Tweedmütze lag auf der Ablage. Keine Wärme drang aus dem mit Asche gut gefüllten Ofen. Zwei Stühle standen sich an einem kleinen Tisch gegenüber, darauf war ein Solitärspiel aufgebaut. Schmutzige Pfannen und Zinnteller stapelten sich auf einer verdreckten Arbeitsfläche, ein leerer Wassereimer stand neben der Hintertür.
„Ich habe City in seinem besten Sonntagsanzug und seinen guten Stiefeln begraben lassen.“ Scribes Augen füllten sich mit Tränen. Er wandte sich ab, fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und räusperte sich. „Ich behalte die Mütze, wenn ich darf.“
Kathryn nahm sie von der Ablage und überreichte sie ihm feierlich. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, während sie sich in dem armseligen Raum umsah, der von nun an ihr Heim sein würde. Auch wenn Scribe neben ihr stand, fühlte der Raum sich leer an. Hier würde sie also leben. Allein. Auch in ihren Augen brannten Tränen.
„Sie wirken zu Tode erschöpft, Miss Walsh.“ Scribe rückte einen Stuhl für sie zurecht. „Setzen Sie sich doch.“
Kathryn ließ sich auf den Stuhl sinken und ihre Reisetasche zu Boden fallen. Es dauerte eine Weile, bevor sie ihre Stimme wiederfand. „Du hast für meinen Onkel gearbeitet?“
„City hat mich aufgenommen, als ich sieben war. Hat mir alles beigebracht, was ich weiß.“
„Wie alt bist du jetzt, Scribe?“
„Sechzehn.“ Er blickte sie an. „Sie scheinen nicht viel älter zu sein.“
Sie schenkte ihm ein vages Lächeln. Auf keinen Fall würde sie ihm ihr Alter verraten. „Was ist mit deinen Eltern, wenn ich fragen darf?“
„Ich hab nichts zu verbergen. Ma ist an einem Fieber gestorben, Pa bei einem Minenunfall.“
Ein Waisenjunge. Und sie vertrieb ihn aus dem einzigen Heim, das er kannte. Konnte es noch schlimmer kommen? „Das tut mir leid.“ Warum hatte ihr Onkel dieses Haus nicht Scribe vermacht?
„Das ist schon lange her. Ich erinnere mich kaum noch an sie“, fuhr Scribe fort, der nicht verstand. Er wandte den Blick wieder ab, presste die Lippen zusammen. Worte waren überflüssig. Kathryn entdeckte den Kummer in seinem jungen Gesicht. Der Onkel, den sie nie kennengelernt hatte, war die einzige Familie gewesen, die dieser Junge je gekannt hatte.
„Ist Scribe dein richtiger Name?“
„So werde ich von allen genannt.“
„Wie Wiley“, murmelte sie.
Scribe lachte überrascht. „Sie kennen diesen alten Halunken? Woher?“
„Wir haben uns in der Postkutsche kennengelernt. Mr Cussler hat ihn unterwegs aufgesammelt.“
„Er hat hier irgendwo eine Mine.“ Der Junge wirkte müde und krank.
„Ich hätte bis morgen warten sollen, statt dich heute so zu überfallen.“ Kathryn erhob sich und umklammerte den Schildpattgriff ihrer Reisetasche. „Ich werde heute in einem Hotel übernachten und morgen früh wiederkommen.“ Von Schuldgefühlen geplagt, biss sie sich auf die Lippen. „Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber …“
„Ich kann hier nicht wohnen bleiben“, beendete er den Satz für sie.
Sie blinzelte die Tränen weg. „Mr Beck meinte, du könntest in seinem Hotel unterkommen.“
„Ich hoffe nur, dass er mir auch einen Job gibt.“
„Es tut mir so leid, dich auf die Straße zu setzen, Scribe.“
Er straffte die Schultern. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komm’ schon zurecht.“
In der Tür blieb sie noch mal stehen und blickte den Jungen an. „Nenn mich bitte Kathryn. Wir sind ja praktisch Familie. Ich hoffe, wir können uns mal zusammensetzen und über meinen Onkel reden. Ich hatte ja nie das Vorrecht, ihn kennenzulernen. Du kannst mir von ihm erzählen.“ Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie einen Onkel hatte, bis der Richter sie über das unerwartete Erbe unterrichtete.
Scribe starrte sie düster an. „Ich weiß nicht viel mehr als alle anderen. Die meisten Männer reden nicht darüber, wo sie waren, bevor sie nach Kalifornien kamen. Ich weiß eigentlich nur, dass City ’49 hergekommen ist, wie Tausende andere, um Gold zu suchen. Er hat einige Jahre an den Flüssen geschürft. Das einsame, harte Leben sei nichts für ihn gewesen, hat er gesagt. Darum hat er den Laden hier aufgemacht. Er sagte, ein Mann müsse ein Ziel haben, sonst sei er nichts wert.“ Scribe lachte leise und bekümmert. „Zu den Dingen, die City liebte, gehörte es, ein Ziel zu haben, und um es zu erreichen, scheute er auch einen anständigen Kampf nicht.“
Kathryn lächelte. Vielleicht hatte sie doch etwas gemeinsam mit City Walsh.
Scribes Kinn begann zu zittern. „Ich war im Gemischtwarenladen, um ein paar Vorräte zu besorgen, und ich hab mich mit einem Freund festgequatscht. Als ich zurückkam, fand ich City hier vorn auf dem Boden.“ Er deutete zum vorderen Raum.
„Dann war es ein plötzlicher Tod.“
„So plötzlich, wie Mord sein kann.“
„Mord?“ Kathryns Hand fuhr unwillkürlich an ihre Kehle.
„Das wussten Sie nicht?“ Er fluchte leise. „Na ja, woher auch? Tut mir leid, dass ich so damit herausgeplatzt bin.“ Eine Fülle von Emotionen zog über sein Gesicht – Trauer, Zorn, Frustration, Furcht.
„Wurde der Täter gefasst?“
„Nein.“ Zorn machte sein junges Gesicht hart. „Wenn ich wüsste, wer es getan hat, würde ich ihn höchstpersönlich zur Rechenschaft ziehen!“ Seine Trauer ließ ihn wieder sehr jung erscheinen. „Niemand redet mehr darüber. City hat sich einige Feinde gemacht. Am Ende hatte er einen Mann ins Visier genommen, hat aber nie gesagt, wer das war. Meinte, er müsse erst alle Fakten sammeln, bevor er den Mund aufmache.“
Kathryn war genauso aufgebracht wie Scribe, obwohl sie City Walsh gar nicht gekannt hatte. „Es sollten doch Recht und Ordnung herrschen …“
„Ja, richtig, City hat das auch gesagt, aber so bald wird das nicht passieren. Die Leute schreien etwa eine Woche lang nach Gerechtigkeit. Viele haben Fragen gestellt, aber niemand hatte irgendwelche Antworten, und niemand hat beobachtet, wer hier reingegangen oder rausgekommen ist.“ Scribe fuhr sich mit den Fingern durch seine dreckigen, verfilzten Haare. „Der größte Teil der Leute hier ist sowieso betrunken, wenn es dunkel wird …“ Mit hängenden Schultern ließ er sich auf einen Stuhl sinken. „Ich werde packen und bis morgen früh hier verschwunden sein.“
Kathryn widerstrebte es, diesen armen Jungen auf die Straße zu setzen, aber welche Wahl hatte sie? Sie hoffte nur, dass Matthias Beck Wort hielt. „Danke, Scribe.“ Sie trat hinaus auf den Brettersteg und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.
Immer noch drangen Klaviermusik und Männerstimmen aus dem Bear’s Head zu ihr hinaus. Kathryn straffte die Schultern, und in ihr wuchs die Entschlossenheit, sich der Herausforderung zu stellen.
Matthias führte Henry Call in seinem Saloon zu einem Tisch am Fenster. Noch gestern hatte er ungeduldig auf seine Ankunft gewartet, um mit ihm über das Projekt zu sprechen, das sie in Sacramento geplant hatten. Sie waren sich zufällig begegnet, beide waren Kriegsveteranen, und was sie verband, war eine gemeinsame Unzufriedenheit. Doch im Augenblick interessierte er sich mehr dafür, was City Walshs Nichte wohl trieb. Er gab Brady, seinem Barkeeper, ein Zeichen und sah aus dem Fenster.
„Sie erregt Aufmerksamkeit“, bemerkte Henry. „Ich bin nicht sicher, ob ein Mädchen wie Miss Walsh in diesem Ort sicher ist.“
„Bestimmt nicht.“
Brady stellte eine Flasche Whisky und zwei Gläser auf den Tisch. Er beugte sich vor, warf einen Blick aus dem Fenster und stieß einen leisen Pfiff aus. „Ich hab mich schon gefragt, wen ihr da draußen so faszinierend findet.“ Matthias warf ihm einen Blick zu, und Brady verzog sich hinter die Bar.
Scribe erschien in seiner Unterhose in der Tür. Matthias lachte kurz und rechnete damit, dass Miss Walsh sofort den Rückzug antreten würde. Doch sie ließ sich nicht beirren, drehte sich um und sprach zu den Männern. Was immer sie gesagt hatte, veranlasste die meisten, in die Bar zurückzukehren.
„Miss Walsh scheint gut allein zurechtzukommen“, bemerkte Henry.
„Das bezweifle ich.“ Matthias beobachtete, wie sie das Haus betrat. „Was weißt du über sie?“
„Etwa so viel wie du.“
„Sie hat sich während der Fahrt nicht mit dir unterhalten?“
Henry lachte. „Wir waren zu sehr damit beschäftigt, uns festzuhalten. Sie hat Wiley nach Calvada gefragt und war ziemlich schockiert, als wir hier ankamen. Schüsse, deine Prügelei auf der Straße …“
Citys Tür öffnete sich, aber es war nicht Scribe, der herauskam. Kathryn Walsh verließ das Haus und ging zur Poststation. Als sie daran vorbeikam und weiterging, fluchte Matthias verhalten.
„Willst du ihr nachgehen?“
„Ich habe ihr eine sichere Unterkunft angeboten.“ Er goss Whisky in die Gläser. „Manche Leute müssen es auf die harte Tour lernen.“ Männer kamen aus den Saloons und gafften ihr hinterher. Und warum auch nicht? Gaffte er nicht auch? Sie war eine Schönheit und hier so fehl am Platze wie ein Vollblut unter einer Herde Mustangs. „Ich wette um fünf Dollar mit dir, dass sie morgen wieder im Postkutschenbüro steht und eine Fahrkarte nach Hause kauft.“
Henry schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie in nächster Zeit hier weggeht.“
„Warum meinst du?“
„Ist nur so eine Ahnung. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie freiwillig hergekommen ist. Sie wurde geschickt.“
„Ein Telegramm, und ihre Familie wird sie nach Hause holen. Vermutlich hatten sie gehofft, City hätte ein Hotel und eine Goldmine besessen.“
„Aber warum schicken sie dann eine Frau?“
Und dazu noch ohne Begleitung. So etwas tat man nicht. Das warf Fragen auf.
Henry beobachtete sie. „Ich bin zwar erst kurz hier und konnte mich noch nicht umschauen, aber ich denke, eine Lady wie Miss Walsh würde Calvada guttun.“
„Eines Tages vielleicht, aber nicht jetzt. Calvada ist kaum mehr als ein Bergarbeiterlager, mit all dem Elend, das damit einhergeht.“ Matthias fragte sich, was die Lady in Citys Haus wohl vorgefunden hatte. Scribe trauerte seit dem Tod des Mannes, und irgendwer gab ihm immer Whisky, damit er seinen Kummer darin ertränken konnte. Ihren Gesichtsausdruck, als sie diese Hütte betrat, konnte er sich lebhaft vorstellen. Er sah es förmlich vor sich, wie sie ihre unglaublich grünen Augen aufriss, wie diese milchig weiße Haut noch blasser wurde, wie die Enttäuschung diese süßen Lippen nach unten zog. Wenn eine Nacht in Sanders Hotel nicht ausreichte, damit sie die Flucht ergriff, dann ganz bestimmt ein paar Nächte in dieser armseligen kleinen Hütte zwischen einem Saloon und einem Tanzsaal. Sie würde den Schuppen nur allzu gern verkaufen und aus diesem Drecksloch von einer Stadt verschwinden.
In Citys Nachlass gab es nur ein Objekt, das Matthias gern haben wollte. Und er würde Kathryn Walsh so viel dafür bieten, dass sie nach Sacramento oder San Francisco oder wohin auch immer reisen könnte, wo irgendein aufstrebender Geschäftsmann sie heiraten würde.
Kathryn Walsh war mittlerweile aus seinem Blickfeld verschwunden. Er trank seinen Whisky aus. Genau wie ihr Onkel schien sie ein Sturkopf zu sein. Matthias stellte fest, dass ihn das neugierig machte. City hatte nie eine Familie erwähnt und schon gar nicht eine Nichte in Boston. Wie konnte ein irisch-katholischer Einwanderer mit einem Protestanten aus Bostons Upper Class verwandt sein? Denn darauf ließ ihre Aufmachung schließen, ihre hochgeknöpften Stiefeletten, das teure Reisekostüm und noch dazu dieser lächerliche Hut, der vermutlich mehr gekostet hatte, als einer von Sanders’ Minenarbeitern im Jahr verdiente. Aber er musste zugeben, dass eine auffallende Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem Freund bestand. City und dieses Mädchen waren also tatsächlich miteinander verwandt? Dahinter steckte eine Geschichte, und niemand konnte besser darüber Aufschluss geben als Ihre königliche Hoheit, die zu einem Ort unterwegs war, wo sie vermutlich das eine oder andere zu hören oder sehen bekommen würde.
Matthias machte Anstalten, sich zu erheben, ließ es dann aber doch bleiben. Sie hatte Nein gesagt. Ihre Meinung über ihn hatte sie sich bereits gebildet. Einen solchen Blick hatte er schon mal gesehen. Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer, während er beobachtete, wie sich eine Horde Männer auf dem Brettersteg in Bewegung setzte. Matthias unterdrückte den Beschützerinstinkt, der sich in ihm nach oben kämpfte. Sie ging ihn nichts an. Aber auf der anderen Seite war City einer seiner engsten Freunde gewesen. Um sie einzuholen, würde er rennen müssen, und was dann? Sollte er sie sich über die Schulter werfen und hierher zurückbringen?
Henry lachte leise. „Sie hat’s dir angetan, was?“ Ernst fuhr er fort: „Ist das Hotel von Sanders wirklich so schlimm?“
„Bestimmt wird sie kurz nach dem Einchecken eine Begegnung mit dem Eigentümer haben.“ Sanders war Junggeselle, wie 95 Prozent der Einwohner Calvadas, und in dem richtigen Alter, um Ausschau zu halten nach einer hübschen jungen Frau, die ihm einen Erben für seinen Besitz schenkte. Dieses Hotel würde ihr nur gut bekommen, falls Sanders rasch genug von ihrer Ankunft erfuhr – und das würde er, daran zweifelte Matthias nicht.
Henry trank einen Schluck Whisky, und seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Guter Kentucky Bourbon.“
„Ich gebe den Männern, wofür sie bezahlen, kein gepanschtes Zeug. Das ist mit ein Grund dafür, warum ich so gut zurechtkomme.“ Er deutete mit dem Kopf zur Bar, an der sich die Männer mit ihren Drinks drängten. Die Faro- und Pokertische waren gut besetzt. „Der beste Whisky, ehrliche Tische, gute Unterbringung.“
„Jetzt brauchst du nur noch ein Restaurant.“
„Ich hab ernsthaft drüber nachgedacht, mich dann aber dagegen entschieden.“ Ronya Vanderstroms Restaurant würde leiden, wenn er auch eines eröffnete. Seit er vor sechs Jahren in die Stadt gekommen war, aß er bei ihr. Guten Frauen sollte man helfen und sie nicht durch unnötige Konkurrenz behindern.
Was immer da ist, wird ausreichen müssen. Was hatte Kathryn Walsh damit gemeint? Das hörte sich nicht nach einer flapsigen Bemerkung einer Person an, die andere Möglichkeiten hatte. Womit sollte eine junge Frau wie sie in einer Stadt wie dieser ihren Lebensunterhalt verdienen? Berufliche Möglichkeiten für Frauen gab es so gut wie gar nicht. Es gab kaum Kinder, also wurde auch keine Lehrerin gebraucht. Die wenigen, die da waren, unterrichtete die Frau des Pastors.
Falls Herr Neumann mehr gewusst hatte, hätte Matthias in der Bar davon gehört.
Eines wusste Matthias ganz sicher: City Walsh hätte sein Geschäft niemals an eine junge Frau übergeben. Er fragte sich, warum City nicht alles Scribe hinterlassen hatte. Der Junge stand ihm so nahe wie ein eigener Sohn. Aber andererseits hatte City immer Gründe für sein Handeln.
Ein einziges Stück aus Citys Besitz wollte Matthias haben. Und er hatte vor, es ihr morgen abzukaufen. Matthias trank seinen Bourbon aus und stellte das Glas auf den Tisch. „Jetzt sollten wir dich erst mal unterbringen, Henry. Wir können später zusammen essen und morgen das Geschäftliche besprechen.“
Matthias überquerte die Straße, um nach Scribe zu sehen. Der Junge öffnete beim zweiten Klopfen. Das Zimmer sah schlimmer aus, als Matthias erwartet hatte. Das Haus zu reinigen könnte zu viel sein für ein Mädchen, das eher daran gewöhnt zu sein schien, den Dienstboten Anweisungen zu erteilen, als selbst mit anzupacken. Gut. „Lass alles so, wie es ist, und komm rüber. Ich habe ein Zimmer und Arbeit für dich.“
„Danke.“ Scribe wirkte eher niedergeschlagen als dankbar.
„Hat Miss Walsh etwas über deine hauswirtschaftlichen Fähigkeiten gesagt?“
„Nein. Aber sie meinte, wir seien doch praktisch Familie.“
Der Junge hatte bereits einen Narren an dem Mädchen gefressen. „Mach dir nur keine Hoffnungen.“ Matthias öffnete die Tür und deutete mit dem Kopf nach draußen. „Lass uns gehen, Gigolo.“
Das Südende von Calvada schien nicht besser zu sein als der Norden. Ein Saloon reihte sich an den nächsten, doch zum Glück entdeckte sie auch einen Gemischtwarenladen, einen Lebensmittelhändler, ein Badehaus, ein Textilgeschäft, ein Expressbüro, einen Drugstore, eine Eisenwarenhandlung und eine Metzgerei. Vorsichtig und mit gerafftem Rock bahnte sie sich ihren Weg über die schlammige Straße zum Hotel von diesem Sanders. Angewidert säuberte sie ihre hochgeknöpften Stiefeletten, bevor sie das Hotel betrat. Links befand sich eine Bar, über der das überlebensgroße Bild einer Frau hing, die nichts trug außer einem provokativen Lächeln. Darunter hockten zwei junge Frauen in schockierend kurzen und tief ausgeschnittenen Kleidern. Mit hochrotem Kopf wandte Kathryn rasch den Blick ab. Kurz bereute sie, Matthias Becks Zimmerangebot nicht angenommen zu haben, aber vermutlich ging es in seinem Etablissement ähnlich zu wie in diesem.
Ein junger Rezeptionist mit Bart starrte sie sprachlos an, als sie an die Rezeption trat. „Haben Sie noch ein freies Zimmer, Sir?“
„Ja, allerdings.“ Er musterte sie von oben bis unten. „Drei Dollar die Nacht. Abendessen für einen weiteren Dollar.“ Er drehte das Gästebuch um und schob ihr Feder und Tintenfass hin.
Sie war zu müde und niedergeschlagen, um über den Preis zu verhandeln. „Gibt es in Ihrer Unterkunft ein Bad?“
„Nein, Ma’am, aber wir können einen Badezuber nach oben bringen. Es dauert eine Weile, um das Wasser dafür zu erhitzen, und es kostet extra.“
„Wie viel zusätzlich?“
Er musterte sie erneut. „Einen Dollar.“
Nach einer Woche im Zug und drei Tagen in einer Postkutsche sehnte sie sich mehr nach einem Bad als nach einer Mahlzeit. Und was blieb ihr anderes übrig außer einem Besuch im öffentlichen Badehaus in einer Stadt, in der es bei Weitem mehr Männer gab als Frauen? Sobald Scribe aus ihrem bescheidenen kleinen Heim ausgezogen und sie eingezogen war, würde sie im Gemischtwarenladen einen Badezuber kaufen.
Der Rezeptionist las ihren Namen. „Walsh!“ Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Mit City Walsh verwandt?“
„Seine Nichte.“
Er lachte, als hätte sie einen großartigen Witz gemacht. „City Walshs Nichte übernachtet bei uns? Mr Sanders wird wollen, dass Sie das beste Zimmer im Haus bekommen. Bestimmt wird er herunterkommen und Sie in der Stadt willkommen heißen.“ Er wies nach links. „Das Restaurant ist gleich da hinten, aber es öffnet erst um sechs. Haben Sie Gepäck?“ Er schnippte mit den Fingern, und ein kleiner dunkelhaariger Junge erschien und nahm ihre Reisetasche.
In dem „besten Zimmer im Haus“ gab es keinen Kamin – nur ein Bett, eine Kommode, eine Petroleumlampe und einen Stuhl am Fenster, das einen alles andere als inspirierenden Blick auf Calvadas Hauptstraße bot. Sie beobachtete, wie der Junge über die Straße flitzte und den Hügel hochlief, wo mehrere große Häuser in einer Reihe standen. Offensichtlich gab es sogar in Calvada ein Viertel der Wohlhabenden. Kathryn zog die Vorhänge zu, hob ihren Rock und die Petticoats hoch, löste die Bänder und legte ihre Tournüre ab. Das verformte Gerippe schien sich nicht mehr reparieren zu lassen.
Der Badezuber war so klein, dass sie kaum darin sitzen konnte. Zwei Eimer mit dampfendem Wasser füllten ihn nur zur Hälfte. Da sie kein Handtuch und keine Seife finden konnte, ging sie nach unten, um danach zu fragen. Der junge Mann an der Rezeption berechnete 25 Cent dafür und noch einmal zehn Cent für ein Stück bereits häufig benutzter Seife ohne Duft. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, war das Wasser nur noch lauwarm. Mit klappernden Zähnen stand sie im Badezuber und wusch sich in aller Eile. Ein wenig erfrischt zog sie frische Unterwäsche, einen frischen Rock und eine Hemdbluse an. Nicht einmal der Gestank von der Straße unten konnte ihren Hunger dämpfen.
Ein gut gekleideter Herr saß allein an einem Tisch hinten in der Ecke. Er erhob sich, als hätte er auf sie gewartet. „Miss Walsh, ich bin Morgan Sanders. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir gestatten würden, heute Abend Ihr Gastgeber zu sein.“ Er zog einen Stuhl für sie zurecht.