Ein verzehrendes Geheimnis - Francine Rivers - E-Book

Ein verzehrendes Geheimnis E-Book

Francine Rivers

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Beschreibung

Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich schottische Einwanderer in den Appalachen im Osten Nordamerikas nieder. Der Tradition entsprechend gibt es dort einen "Sühnemann", der immer dann ins Tal gerufen wird, wenn jemand gestorben ist, damit er in einer rituellen Handlung die Sünden des Verstorbenen auf sich nimmt. Bei der Beerdigung ihrer Großmutter erhascht die zehnjährige Cadi einen Blick auf diesen mysteriösen Mann, was streng verboten ist. Fortan hat das Mädchen den verzweifelten Wunsch, den Sühnemann zu finden und ihn zu bitten, auch ihre Schuld auf sich zu nehmen. Als sie auf das düstere Geheimnis hinter der Tradition stößt, riskiert sie ihr Leben, um die Wahrheit ans Licht zu bringen ... Ein packender historischer Roman um Schuld und die heilende Kraft der Vergebung. Der Klassiker als überarbeitete Neuauflage.

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Über die Autorin

Francine Rivers war bereits eine bekannte Bestsellerautorin, als sie sich dem christlichen Glauben ihrer Kindheit wieder zuwandte. Danach schrieb sie 1986 ihr bekanntestes Buch, Die Liebe ist stark, dem noch rund 20 weitere großartige Romane folgten. Heute lebt Francine mit ihrem Mann in Nordkalifornien und genießt es, Zeit mit ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern zu verbringen und ihre Enkel zu verwöhnen.

Meinem Mann Rick in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Du bist Gottes Geschenk an mich.

Danke

Gott hat mich mit einer wunderbaren Familie und vielen Freunden gesegnet, die mir immer wieder Mut gemacht haben bei meinen Büchern. Mein Mann Rick, meine Literaturagentin Jane Jordan Browne und meine Lektorin Karen Ball haben mich intensiv durch jedes von ihnen begleitet. Danke, dass ihr immer da wart.

Peggy Linch: Danke für dein geduldiges Zuhören und deine so zum tieferen Nachdenken anregenden Fragen.

Liz und Bill Higgs: Danke für das Material, das ihr mir geschickt habt!

Loveknotters: Danke für euer Zuhören, Beraten, Anteilnehmen und Beten.

Vorbemerkung der Autorin

Der Sühnemann (engl. sin eater) war jemand, der ein Entgelt oder Essen dafür bekam, dass er die Sünden der Verstorbenen und ihre Folgen im Leben nach dem Tod auf sich nahm. Sühnemänner waren im frühen 19. Jahrhundert in England, in den Lowlands von Schottland und im Grenzgebiet zwischen England und Wales weitverbreitet. Auswanderer trugen die Sitte nach Amerika, wo sie in entlegenen Gebieten in den Appalachen praktiziert wurde.

Dies ist eine frei erfundene Geschichte über einen Sühnemann.

Durch das Los wird entschieden, welcher der beiden Böcke für mich, den Herrn, und welcher für Asasel bestimmt ist. Den Ziegenbock, der mir gehört, bringt Aaron als Sündopfer dar. Der andere Bock, der durch das Los dem Asasel zugefallen ist, wird zum Heiligtum gebracht. Von dort aus soll er in die Wüste zu Asasel geschickt werden, damit das Volk mit mir versöhnt wird.

3. Mose 16,8–10

„Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, und ich bin das Leben! Ohne mich kann niemand zum Vater kommen.“

Jesus Christus in Johannes 14,6

Kapitel 1

In den Great Smoky Mountains (Appalachen), Mitte der 1850er-Jahre

Das erste Mal sah ich den Sühnemann an dem Abend, an dem sie Oma Forbes in ihr Grab trugen. Ich war damals noch klein und Oma war meine liebste Freundin gewesen und ich war traurig und aufgewühlt.

„Schau den Sühnemann nicht an, Cadi“, hatte mein Papa gesagt, „und frage nichts.“

Es war eine strenge Ermahnung und ich versuchte zu gehorchen. Mama schimpfte immerzu über meine „elende Neugierde“. Auch Papa sagte, dass ich viel zu neugierig war und meine Nase in alles hineinsteckte. Nur Oma, die ein Herz für mich hatte, hatte mich verstanden.

Selbst meine einfachsten Fragen wurden abgewimmelt. Wenn du größer bist … Das ist nichts für kleine Mädchen … Warum fragst du so was Dummes? In dem Sommer, bevor Oma starb, hatte ich aufgehört mit dem Fragen. Wenn ich Antworten finden wollte, musste ich sie mir wohl selber suchen.

Oma war die Einzige, die mich zu verstehen schien. Sie sagte immer, dass ich Ian Forbes’ Forscherkopf hatte. Er war mein Großvater, und Oma sagte, dass sein Kopf ihn über das Meer getrieben hatte. Aber vielleicht war das noch nicht die ganze Wahrheit, denn ein anderes Mal sagte sie, dass er wegen der Landbereinigungen in Schottland ausgewandert war.

Papa sagte das auch. Sie hatten Opa von seinem Land gejagt und auf ein Schiff verfrachtet, damit die Schafe mehr Weideland hatten. Hatte er jedenfalls gehört. Mir wollte das nicht in den Kopf gehen. Wie konnten Tiere wertvoller sein als Menschen? Was Oma betraf, so war sie die vierte Tochter eines armen Kesselflickers aus Wales, und Amerika war ihre einzige Wahl gewesen. Als sie dort ankam, arbeitete sie zuerst für einen reichen Herrn in einem noblen Haus in Charleston; sie pflegte seine schöne, aber kränkelnde Frau, die er aus Caerdydd mitgebracht hatte.

Es war die Frau, die Oma so lieb gewann. Sie kam aus Wales, wie Oma auch, und hatte solches Heimweh. Oma war damals noch jung, wohl siebzehn. Leider hatte sie ihre Stelle nicht lange, denn die Dame starb im Kindbett und nahm ihr kleines Baby mit. Der Herr brauchte kein Kammermädchen mehr, und die Dienste, die er wünschte, wollte Oma ihm nicht leisten. Sie sagte nie, was für Dienste das waren, nur dass der Mann ihren Vertrag löste und Oma mitten im Winter sich selber überließ.

Es waren harte Zeiten. Oma nahm jede Arbeit an, die sie kriegen konnte, um Leib und Seele zusammenzuhalten, und dabei lernte sie Großvater kennen. Sie heiratete Ian Forbes „trotz seiner Art“. Da ich meinen Großvater nie kennengelernt habe, konnte ich diese Bemerkung nicht beurteilen, aber einmal hörte ich, wie meine Onkel über seine Hitzköpfigkeit lachten. Onkel Robert sagte, dass Großvater vor der Tür stand und auf Papa schoss – nicht einmal, sondern zweimal hintereinander. Zum Glück war er damals betrunken, und Papa war flink auf den Beinen, sonst wäre ich nie geboren worden.

Opa Forbes starb in einem Winter, bevor ich geboren wurde. Er verirrte sich in einem Schneesturm. Wo er gewesen war, sagte Oma nicht. Das war so etwas, was ich überhaupt nicht mochte – nur einen Teil der Geschichte erzählt zu bekommen und nicht alles. Ich brauchte Jahre, um mir alles zusammenzureimen, und ich erzähle lieber nicht alles.

Als ich Oma fragte, warum sie solch einen wilden Mann geheiratet hatte, sagte sie: „Er hatte Augen, so blau wie der Abendhimmel, Schätzchen. Du hast sie geerbt, Cadi, und dein Papa auch. Und du hast Ians inneren Hunger, Gott helfe dir.“

Oma sagte dauernd Sachen, die ich nicht verstand. „Papa sagt, ich schlage dir nach“, sagte ich.

Sie strich mit ihrem Handrücken über meine Wange. „Das stimmt.“ Sie lächelte traurig. „Hoffentlich nicht in allem.“ Mehr wollte sie nicht sagen zu dem Thema; manche Fragen beantwortete man wohl lieber nicht.

An dem Morgen, als sie starb, saßen wir zusammen und schauten in das Tal hinein. Auf einmal lehnte Oma sich auf ihrem Stuhl zurück und rieb ihren Arm, als ob er ihr wehtat. Mama war im Haus beschäftigt. Oma kniff die Augen zusammen, sog die Luft ein und sah mich an. „Gib deiner Mama Zeit.“

Wie vier Worte verletzen konnten. Sie ließen all das aufleben, was gewesen war und die Mauer zwischen Mama und mir gebaut hatte. Manche Dinge lassen sich nicht mehr ändern.

Ich war erst zehn Jahre alt und schon sah meine Zukunft grau aus. Ich legte meinen Kopf an Omas Knie, sagte nichts und überließ mich dem tröstlichen Gefühl, dass sie bei mir war; ich wusste nicht, wie bald ich selbst das verlieren würde. Aber wenn ich heute noch einmal zurückgehen und mein Elend von damals ungeschehen machen könnte – nein, ich würde es nicht tun. Denn Gottes Hand war über mir, obwohl ich noch nicht wusste, wer er war, ja, dass es ihn überhaupt gab.

Im letzten Jahr hatte ich gelernt, dass Tränen nichts brachten. Mancher Schmerz ist einfach zu tief. Man kann ihn nicht wegspülen, wie der Regen den Staub vom Dach spült. Kummer kennt kein Abwaschen, kein Besserwerden … kein Ende.

Oma legte ihre Hand auf meinen Kopf und begann, mich zu streicheln, als ob ich einer der Hunde wäre, die unter unserer Veranda schliefen. Ich mochte das. Manchmal wünschte ich mir, einer der Hunde zu sein, die Papa so liebte. Mama rührte mich nicht mehr an und Papa auch nicht. Sie redeten kaum miteinander und mit mir noch weniger. Nur mein Bruder, Iwan, war nett zu mir, aber auch nicht oft. Er musste Papa zu viel auf den Feldern helfen, und in dem bisschen Zeit, das übrig blieb, himmelte er Cluny Byrnes an.

Oma war meine einzige Hoffnung und sie hatte nicht mehr lange zu leben.

„Ich liebe dich, Kind. Denk dran, wenn der Winter kommt und alles kalt und tot aussieht. Es wird nicht ewig so bleiben.“

Im letzten Sommer war der Winter in Mamas Herz gekommen, und was mich betraf, war sie immer noch eine Eiswüste.

„In der Bärensuhle wuchs das Tellerkraut immer wie eine Lavendeldecke. Wenn ich mir jetzt etwas wünschen könnte, dann einen Strauß Tellerkraut.“

Das sagte Oma immer wieder: Wenn ich mir etwas wünschen könnte … Ihre Wünsche hielten mich beschäftigt, aber ich erfüllte sie ihr gern. Sie war zu alt, um weit hinauszugehen. Das Weiteste, was sie sich traute, war Elda Kendrics Haus; sie war unsere nächste Nachbarin und fast so alt wie Oma. Aber Omas Gedanken konnten über Ozeane und Berge und Täler wandern, und sie taten es oft – für mich. Es war Oma, die mir vergessene Pfade und verwunschene Plätzchen zeigte, die ich auf eigene Faust nicht so bald entdeckt hätte. Für sie stöberte ich in unseren hohen Bergen herum, sammelte liebe Erinnerungen. Und es half mir, von zu Hause wegzukommen, weg von Mamas Kummer und verschlossenem Herzen.

Es war Oma, die mich im Frühling auf den Weg nach Bloomfield schickte, um einen Korb Gänseblümchen und Engelsaugen zu sammeln. Sie zeigte mir, wie man einen Kranz daraus flocht, und legte ihn mir auf den Kopf. Sie sagte mir auch, wo der Drachenzahn lag, wo die grünen Steine wuchsen, wie in Schottland – hatte Ian Forbes jedenfalls gesagt.

Mehr als einmal war ich dort gewesen. Ich brauchte den ganzen Tag, um den Berg hinaufzusteigen und ein Stück von dem grünen Stein für Oma zu holen. Ich kam zu Seen, die von Sonnenfischen wimmelten, und zu Senken, in denen die Frösche musizierten. Ich fand sogar die Eiche, die so alt war wie die Zeit – oder zumindest so alt wie Oma.

Oma war voller Geschichten. Sie nahm sich immer Zeit dazu, goss die Worte aus wie Honig an einem kühlen Morgen, süß und schwer. Sie kannte jeden, der sich in den Felsen, Wiesen und Senken unseres hügeligen Landes niedergelassen hatte. Die Familie Forbes war früh in dieses weite graue Hochland gekommen, auf der Suche nach Land und Zukunft. Die Berge hatten Großvater an Schottland erinnert. Laochailand Kai hatte den Treck angeführt. Elda Kendric war mit ihrem Mann gekommen, der schon so lange tot war, dass Oma seinen Namen vergessen hatte. Vielleicht hatte auch Miz Elda ihn vergessen, denn sie sagte immer, dass sie nicht über ihn reden wollte. Dann waren die Odaras und Trents und Sayres und Kents gekommen. Auch die Connors und Byrneses und Smiths hatten Land gerodet. Oma sagte, wenn Opa Ian nicht gestorben wäre, wäre er mit seiner Familie nach Osten weitergezogen, nach Kentucky.

Sie hatten alle einander geholfen, wo sie konnten, hatten gegen die Wildnis, ja, gegen Gott zusammengehalten und sich eine Heimat gebaut. Stets waren sie auf der Hut vor Indianern. Wer nicht zu den anderen hielt, war auf sich allein gestellt und kam meistens um. Ein paar heirateten später hinein, bis wir ein vermischter Haufen waren, lauter Leute, die sonst keiner haben wollte.

„Wir hatten alle unsere guten Gründe, in diesen Bergen Wurzeln zu fassen und den Nebel über unsere Köpfe zu ziehen“, sagte Oma einmal. Einige kamen, um zu bauen, andere, um sich zu verstecken, und jeder tat, was er konnte, um zu überleben.

An diesem Morgen – dem Morgen, als Oma starb – ging ich zur Bärensuhle, um Tellerkraut zu pflücken. Sie wollte so gern welches haben und das war Grund genug für mich zu gehen. Es wuchs tatsächlich wie eine Lavendeldecke, und ich pflückte einen Korb voll und trug ihn zu ihr. Sie schlief in ihrem Stuhl auf der Veranda – so sah es jedenfalls aus, bis ich näher kam. Sie war weiß wie eine Hartriegelblüte, ihr Mund und ihre Augen waren weit offen. Als ich die Blumen in ihren Schoß legte, reagierte sie nicht.

Und da wusste ich, dass sie von mir gegangen war.

Es ist schrecklich, wenn man als Kind dem Tod so direkt gegenübertreten muss. Ich hatte ihn schon einmal geschmeckt, aber diesmal war es ein langer, langer Schluck der Trostlosigkeit, der mir bis in die Knochen ging.

Während ich fort gewesen war, war etwas von Oma fortgegangen oder ihr gestohlen worden. Ihre Augenlider rührten sich nicht, kein Atem kam aus ihren offenen Lippen. Sie sah überhaupt nicht mehr wie sie selber aus, sondern wie eine verschrumpelte Spelze – eine Puppe, die wie Oma Forbes aussah, aber nicht Oma war. Sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Ich verstand zu viel in diesem Augenblick und doch nicht genug, und das, was ich begriff, tat so tief und höllisch weh, dass ich glaubte, daran sterben zu müssen. Eine Zeit lang tat ich das auch; jedenfalls ließ ich das bisschen Hoffnung, das den Sommer überlebt hatte, fahren.

Mama hielt die Uhr auf dem Kaminsims an und verhüllte den Spiegel, wie es bei uns Sitte war. Papa läutete die Totenglocke. Siebenundachtzigmal läutete er sie – für jedes Lebensjahr von Oma einmal. Mein Bruder, Iwan, wurde rausgeschickt, um unseren Verwandten die traurige Nachricht zu sagen. Bis zum nächsten Tag hatten sich die meisten vom Forbes-Clan mit all seinen Ablegern und aufgepfropften Zweigen versammelt, um Oma zu ihrer letzten Ruhestätte am Hang zu tragen.

Gervase Odara, die Heilerin, kam als Erste. Sie brachte Elda Kendric mit, die jetzt die älteste Frau in unserem Hochland war. Papa nahm die Tür aus den Angeln und legte sie über zwei Stühle, und darauf legten sie Oma. Zuerst zogen die Frauen ihr die Kleider aus und Gervase Odara brachte sie zum Waschen nach draußen. Über dem Feuer drinnen machten sie Wasser heiß, und Mama schöpfte etwas davon in ein Becken und wusch damit Omas Leichnam.

„Gorawen“, sagte Elda Kendric und strich über Omas langes weißes Haar, „jetzt bin ich die Letzte von den Ersten.“

Mama sagte nichts. Sie und Elda Kendric arbeiteten stumm weiter. Die alte Frau sah Mama an, aber Mama sah kein einziges Mal von ihrer Arbeit hoch und sagte zu niemand ein Wort. Als Gervase Odara wieder ins Haus kam, half sie Mama.

„Vor ein paar Tagen sagte sie mir, dass sie gehört hatte, wie die große Stimme vom Berg sie rief.“ Gervase Odara wartete und sah Mama verstohlen an. Als diese immer noch nichts sagte, fuhr die Heilerin fort: „Sie sagte mir, dass sie wegen Cadi noch wartete.“

Jetzt hob Mama ihren Kopf und sah Gervase Odara bestimmt in die Augen. „Es tut mir auch so weh, ohne dass du die alte Wunde erneut aufreißt.“

„Manchmal tut es gut, sie aufzuschneiden.“

„Dies ist nicht die Zeit dafür.“

„Und wann wird es das sein, Fia?“

Mama drehte sich etwas, und ich merkte, dass sie mich suchte. Ich drückte mich so weit wie möglich in den Schatten in der Ecke, zog meine Knie an, legte den Kopf darauf und wünschte mir, noch kleiner oder unsichtbar zu sein.

Es klappte nicht. Mamas Augen bohrten sich in mich. „Geh nach draußen, Cadi, das ist hier nichts für dich.“

„Fia …“, begann Gervase Odara.

Ich wartete nicht darauf, was sie sagen wollte, sondern schrie: „Lass sie in Ruhe!“ Ich konnte ihn nicht ertragen, den Blick in den Augen meiner Mutter; er war wie der eines verwundeten Tieres in einer Falle. „Lass sie!“, rief ich wieder, und dann sprang ich auf und rannte zur Tür hinaus.

Es waren noch nicht alle gekommen, und dafür war ich dankbar, denn sonst hätte ich jetzt ihre Blicke und ihr Geflüster ertragen müssen. Ich ging Papa suchen. Er war dabei, ein Stück vom Haus weg eine Zeder zu fällen. Ich stand lange hinter einem Baum und sah ihm zu. Wie lange war es her, dass ich ihn das letzte Mal lachen gehört hatte? Sein Gesicht war grimmig. Einmal machte er eine Pause, um sich den Schweiß abzuwischen. Er drehte sich um und sah mich an. „Hat Mama dich nach draußen geschickt?“

Ich nickte.

Papa nahm wieder die Axt und schlug die nächste Kerbe in den Baumstamm. „Hol den Eimer und tu die Späne rein und dann trag ihn zu ihr. Das ist gut gegen den Gestank im Haus.“

Um den Gestank hatten die Frauen sich schon gekümmert, denn Fenster und Türen waren offen, und der Frühlingsduft der Berge mischte sich mit dem Kampfer, mit dem sie Oma eingerieben hatten. Auf der Fensterbank war eine Blechtasse mit Salz; die winzigen weißen Körner flogen wie Sand auf den Fußboden.

Mama war dabei, Brotteig zu kneten, als ich hereinkam. Als sie nicht aufschaute, nahm Gervase Odara den Eimer mit den Spänen. „Danke, Cadi.“ Sie fing an, eine Handvoll neben Oma auszustreuen, die jetzt ein schwarzes Wollkleid anhatte. Ihr langes weißes Haar lag abgeschnitten und sauber zusammengerollt auf dem Tisch, um in den Trauerschmuck geflochten zu werden. Vielleicht würde Mama zu der rotgoldenen Haarkette, die sie hatte, noch eine weiße tragen. Omas armen geschorenen Kopf hatten sie mit einem weißen Tuch bedeckt, das unter dem Kinn zusammengebunden war. Ihr Mund war zu, die Lippen für immer still. Einen zweiten weißen Streifen hatte man um ihre Knöchel gebunden, einen dritten um die Knie. Ihre dünnen, abgearbeiteten Hände lagen über ihrer Brust gefaltet. Zwei glänzende Kupferpfennige lagen auf ihren Augenlidern.

„Morgen Abend oder übermorgen kommt der Sühnemann, Cadi Forbes“, sagte Elda Kendric zu mir. „Dann gehst du neben deiner Mutter. Deine Tante Winnie wird den Teller mit dem Brot und den Holzkelch mit dem Holunderwein tragen. Der Sühnemann wird uns zum Friedhof folgen und alle Sünden deiner Oma essen und trinken, damit sie nicht in den Bergen umgeht.“

Mein Herz zitterte bei dem Gedanken.

In dieser Nacht konnte ich nicht viel schlafen. Ich lag und horchte auf das Heulen der Eule draußen. Huuu … Wer ist der Sühnemann? Huuuu … Wen wird Oma als Erstes sehen, dort, wo sie jetzt hingegangen ist? Huuu … Wer wird einmal meine Sünden wegnehmen, wenn ich gestorben bin?

Der nächste Tag war nicht besser. Drei Onkel und ihre Frauen und Tante Winnie und ihr Mann waren gekommen. Meine Cousins wollten spielen, aber danach stand mir nicht der Sinn. Ich versteckte mich in den dunklen Hausecken und hielt Wache bei Oma. Wenn sie sie erst einmal in ihr Grab gelegt hatten, würde ich sie nicht mehr sehen. Oder erst, wenn ich selber Gott gegenübertreten musste.

Mama schickte mich nicht mehr fort, sondern saß in der Frühlingssonne mit den Tanten zusammen. Jillian O’Shea hatte ein neugeborenes Baby an der Brust, und die meisten fanden es schön, dass das Kind Gorawen hieß. Jemand sagte, dass der Herr gibt und wieder nimmt. Eine Gorawen kommt, eine andere geht. Mich tröstete das nicht.

Aus meiner dunklen Ecke konnte ich alle Glieder von Omas Familie und alle Freunde, die ihr die letzte Ehre geben wollten, sehen. Jeder hatte etwas mitgebracht – Whisky, Süßkartoffeln zum Rösten, Maisfladen, Melasse, Bries oder Pökelfleisch für den Suppentopf, der über dem Herdfeuer blubberte.

„Du musst was essen, Kind“, sagte Gervase Odara zu mir, als der zweite Tag halb herum war. Ich legte meinen Kopf auf meine Arme und antwortete nicht. Irgendwie fand ich es nicht richtig, dass das Leben weiterging. Meine Oma lag tot da, für ihr Begräbnis aufgebahrt in ihren besten Kleidern, und die Leute redeten und aßen, als sei nichts geschehen.

„Cadi, Mädchen“, sagte Gervase Odara, „deine Oma hat ein langes Leben gehabt.“

Nicht lange genug für mich.

Ich fragte mich, ob ich mich besser gefühlt hätte, wenn Oma mir selber gesagt hätte, was da auf sie zukam. Ich glaube, sie wusste es, oder zumindest hatte sie darum gebetet, dass ich nicht dabei wäre, wenn ihr Ende kam. Anstatt mir zu sagen, dass sie am Sterben war, hatte sie mich Blumen pflücken geschickt und war aus diesem Leben gegangen, während ich fort war.

Nur Iwan schien meinen Schmerz zu verstehen. Er kam herein und setzte sich zu mir auf Omas Bett. Er versuchte nicht, mich zum Essen oder Reden zu bringen. Er sagte nicht, dass Oma halt alt und lebenssatt gewesen war. Oder dass die Zeit meine Wunden heilen würde. Er nahm einfach meine Hand und streichelte sie schweigend. Nach einer Weile stand er auf und ging wieder.

Die Familie Kai kam am zweiten Tag. Von draußen hörte ich die tiefe, gebieterische Stimme des Vaters, Brogan Kai. Die Mutter, Iona, und ihre Kinder kamen herein, um Mama und meinen anderen Verwandten ihr Beileid auszusprechen. Iona Kais Sohn Fagan kam herein, trat aber nur bis zu Oma, die er feierlich betrachtete. Er war genauso alt wie Iwan, an die fünfzehn, aber seine ruhige Art und sein verschlossenes Gesicht ließen ihn älter erscheinen. Seine Mutter hatte Maisplätzchen und ein paar Gläser eingelegte Wassermelonen mitgebracht. Sie gab sie einer meiner Tanten, dann setzte sie sich ein paar Minuten zu Mama und sprach leise mit ihr.

Die Sonne ging unter, und die Stimmen wurden immer leiser, bis niemand mehr sprach. Das Haus war auf einmal anders, ich konnte es richtig spüren. Die ruhige Beklommenheit war einer schweren dunklen Decke gewichen. Omas Tod hatte etwas ins Haus gebracht, was keine Worte beschreiben konnten. Ich spürte, wie es sich um uns legte wie die Nacht, immer enger im Sterben des Tages.

Es war Angst.

Papa kam zu der offenen Tür. „Es ist Zeit.“

Gervase Odara kam zu mir, hockte sich hin und nahm fest meine Hände in die ihren. „Cadi, hör gut zu. Schau den Sühnemann nicht an. Verstehst du mich, Kind? Er hat tausend furchtbare Sachen auf sich genommen. Wenn du ihn ansiehst, gibt er dir den bösen Blick, und ein Teil der Sünden, die er trägt, fällt womöglich auf dich.“

Ich sah zu Mama hoch. Sie stand im Licht der Lampe da, das Gesicht verspannt, die Augen geschlossen. Noch nicht einmal jetzt sah sie mich an.

Gervase Odara hob mein Kinn so, dass ich ihr wieder in die Augen schauen musste. „Verstehst du mich, Cadi?“

Was ändert das?, hätte ich am liebsten gesagt. Oma war nicht mehr da; was übrig war, war nur ihr kaltes Fleisch, nicht das, was wirklich wichtig war. Jeder, der sie ansah, wusste doch, dass ihre Seele fort war. Wie konnte jetzt noch jemand kommen und alles gutmachen? Sie war doch nicht mehr da!

Aber Gervase Odara ließ nicht locker, bis ich nickte. Ich verstand damals rein gar nichts, die Stunde der Wahrheit kam erst viel später. Aber die Art, wie die Heilerin mich ansah, nahm mir den Mut, und außerdem hatte ich es allmählich gelernt, nicht mehr so viel zu fragen. Ich hatte von dem Sühnemann gehört, aber nicht sehr viel. Man sprach nicht oft oder lange genug über den Gefürchtetsten unter den Menschen.

„Er wird die Sünden deiner Oma wegnehmen und sie wird in Frieden ruhen“, kam Elda Kendrics Stimme.

Und würde er auch meine Sünden wegnehmen? Oder müsste ich sie in mein Grab mitnehmen und auf ewig zur Hölle fahren für das, was meine böse Seele verschuldet hatte? Meine Kehle schloss sich heiß und brennend.

Um die heimlichen Sünden, die Oma mit sich herumgetragen hatte, würde der Sühnemann sich kümmern, aber für mich würde es nie Ruhe geben. Es war niemand zugegen, der nicht wusste, was ich getan hatte. Oder glaubte, dass er es wusste.

„Stell dich neben deine Mutter, Kind“, sagte mein Vater. Ich tat es und spürte, wie sie flüchtig meine Hand berührte. Als ich zu ihr hochsah, mit einem Herzen, das vor Sehnsucht wehtat, brach sie einen Zweig von dem Rosmarin ab, den sie trug, und sagte leise und ohne mich anzusehen: „Wirf das ins Grab, wenn es vorbei ist.“

Vier Männer hoben Oma hoch und trugen sie zur Tür hinaus. Als ihr ältester Sohn führte Papa die Prozession mit einer Fackel in der Hand auf dem Weg zum Bergfriedhof an. Die Nachtluft schien kühler als sonst, und ich bibberte, als ich neben meiner Mutter ging. Ihr Gesicht war still und leer, die Augen trocken. Mehrere andere trugen ebenfalls Fackeln, um den Weg zu erleuchten. Der Mond war voll, aber halb versteckt hinter einem dicken Nebelschleier, der durch die Spalte zwischen den Bergen kroch. Es sah aus wie weiße Finger, die sich nach uns ausstreckten. Dunkle Schatten tanzten zwischen den Bäumen, und mein Herz begann zu hämmern, und ich bekam eine Gänsehaut, als ich merkte, wie hinter uns noch jemand sich der Prozession anschloss.

Der Sühnemann war da, wie ein kalter Atem in meinem Nacken.

Papa und seine Brüder hatten einen Zaun um den Friedhof erbaut, damit Wölfe und andere Tiere nicht darin graben konnten. Oma hatte mir einmal erzählt, dass sie die Stelle, die Papa für den Friedhof ausgesucht hatte, mochte. Sie lag hoch, sodass die Toten sicher und trocken ruhten und einen schönen Blick auf das Tal unten und den Himmel oben hatten.

Ich ging hinter meiner Mutter durch das Tor und stellte mich neben sie. Meine Tante Winnie trug das Brett mit dem Brot und den Kelch mit dem Holunderwein. Die Männer hatten ein tiefes Loch gegraben, neben dem die Erde aufgeschüttet war. Sie legten die Bahre mit Oma auf diesen rotbraunen steinigen Erdhügel. Tante Cora legte ein Tuch über Oma und Tante Winnie legte das Brett auf den Leichnam.

Eine Stille senkte sich über die Versammlung – so fest, dass selbst die Grillen und Frösche verstummten.

Keiner bewegte sich, keiner atmete.

Ich sah hoch zu Mamas Gesicht. Es glühte rotgolden im Fackellicht, ihre Augen waren fest geschlossen. Als das Tor klickte, drehten sich alle um, mit dem Rücken zu Oma. Ich drehte mich auch. Ich hörte den leisen Schritt des Sühnemanns und die Haare standen mir zu Berge.

Es war so still, dass ich hörte, wie er das Brot zerriss und den Wein hinunterschluckte. Hatte er Hunger nach der Sünde, dass er so aß wie ein halb verhungertes Tier? Oder wollte er seine schreckliche Pflicht so schnell wie möglich hinter sich bringen und wieder gehen, so wie all die anderen, die mit dem Rücken zu ihm und mit geschlossenen Augen dastanden, aus Angst, in seine bösen Augen zu sehen?

Das hastige Mahl war vorüber. Stille, dann ein zitternder Seufzer. „Ruhe und Lösung gebe ich dir, Gorawen Forbes, liebe Frau, dass du nicht über die Felder oder die Berge oder auf den Wegen gehen musst. Für deinen Frieden setze ich meine eigene Seele ein.“

Ich konnte nicht anders. Seine Stimme war so tief und zart und traurig, ich drehte mich mit wehem Herzen um. Einen winzigen Augenblick nur trafen sich unsere Augen, dann schloss ich meine vor seiner so fremden, schrecklichen Gestalt. Aber dieser Augenblick reichte aus, um alles anders zu machen von jenem Tag an. Nichts würde mehr so sein wie früher.

„Nicht schlimm“, sagte er leise. Er ging zum Tor hinaus, sein leiser Schritt verstummte. Ich sah zum Tor hin, aber die Nacht hatte ihn schon verschluckt.

Die Grillen sangen wieder, irgendwo in der Nähe heulte eine Eule. Huuu … Wer ist der Sühnemann? Wer? Huuu …

Alle atmeten wieder, wie ein allgemeiner Erleichterungsseufzer, dass es jetzt vorbei war und dass Oma in Frieden ruhen konnte. Mama begann, laut zu weinen, ein tiefes, krampfiges Schluchzen untröstlicher Trauer. Ich wusste: Sie trauerte nicht bloß um Oma. Andere weinten mit ihr, während die Gebete gesprochen wurden. Man senkte Oma in ihre Ruhestätte. Ihre Lieben kamen einer nach dem anderen nach vorn und warfen Rosmarinzweige hinein. Als alles fertig war, hob Papa Mama auf seine Arme und trug sie vom Friedhof.

Ich blieb noch und schaute zu, wie zwei Männer Erde auf Oma schaufelten. Das Poltern der Klumpen echote kalt in meinem Herzen wider. Der eine Mann sah von seiner Arbeit auf. „Geh, Mädchen. Geh zurück nach Hause zu den anderen.“

Als ich zum Tor hinausging, drehte ich mich einen Augenblick zu den anderen Gräbern auf dem Friedhof um. Mein Großvater, Ian Forbes, war der Erste gewesen, dann war ein Sohn von ihm begraben worden, der an einem Donnerstag nach furchtbaren Bauchschmerzen gestorben war. Drei Cousins und eine Tante waren in einer einzigen Woche am Fieber gestorben. Und dann der Stein für Elen.

Als ich schon halb zu Hause war, sah ich den Rosmarinzweig in meiner Hand. Ich hatte vergessen, ihn ins Grab zu werfen. Ich rieb die kleinen Silberblätter zwischen meinen Händen, legte die Hände auf mein Gesicht, atmete den Duft ein und weinte. Ganz allein stand ich so da in der Dunkelheit, bis Iwan kam, um mich zu holen. Er drückte mich schweigend an sich. Nach einer Weile nahm er meine Hand und drückte sie. „Mama hat sich Sorgen um dich gemacht.“

Er wollte mich trösten damit, aber ich wusste, dass es eine Lüge war. Wir beide wussten es.

Ich blieb draußen am äußersten Ende der Veranda, ließ meine Beine über den Rand baumeln, legte, auf den unteren Geländerbalken gelehnt, meinen Kopf auf meine Arme und hörte zu, wie Tante Winnie ein walisisches Kirchenlied sang, das sie von Oma gelernt hatte. Andere stimmten ein. Papa und die anderen Männer tranken Whisky; das Essen, das die Frauen gerichtet hatten, rührten sie fast nicht an.

„Was hat der gemeint mit seinem ‚Nicht schlimm‘?“, fragte jemand.

„Vielleicht, dass Oma Forbes nicht so viele Sünden hatte, wie man nach einem so langen Leben haben könnte.“

„Oder er hat so viele auf sich genommen in den letzten zwanzig Jahren, dass ihre den Braten auch nicht mehr fett machen.“

„Hört auf, von dem Mann zu reden“, sagte Brogan Kai streng. „Er hat seine Pflicht getan und ist weg. Vergesst ihn.“

Niemand erwähnte mehr den Sühnemann, den ganzen Abend nicht mehr, obwohl sie offen ihre Trauer zeigten.

Müde an Leib und Seele ging ich hinein und legte mich auf Omas Bett. Ich zog ihre Decke über mich und schloss die Augen, irgendwie getröstet. Ihr Geruch war noch da, vermischt mit dem Rosmarinduft an meinen Händen. Ein paar Minuten tat ich so, als wäre sie noch lebendig und säße auf ihrem Stuhl auf der Veranda und hörte zu, wie die anderen Geschichten erzählten – über sie und Großvater und viele andere, die sie geliebt hatte. Dann stellte ich mir vor, wie Oma tief unten in ihrem Grab lag. Sie würde nicht aufstehen und in den Bergen wiedergehen, weil ja jemand ihre Sünden weggenommen hatte.

Aber hatte er sie wirklich weggenommen?

Irgendwo draußen in der Wildnis, ganz allein, war der Sühnemann. Allein er wusste, ob er das zuwege gebracht hatte, wofür er gekommen war.

Aber warum war er überhaupt gekommen? Warum hatte er sich nicht versteckt und so getan, als ob er die Totenglocke nicht hörte? Waren die Sünden eines Lebens nicht Last genug, musste er auch noch die Sünden all der anderen auf sich nehmen, die in den Tälern und Senken unserer Berge gelebt hatten und gestorben waren? Warum tat er das? Warum trug er so viele Lasten, die ihn ins Feuer der Hölle bringen würden – und das für Menschen, die ihn fürchteten und verachteten, die ihm nie auch nur ins Gesicht sahen?

Und warum tat mein Herz so weh, wenn ich an ihn dachte?

Selbst in meinem zarten Alter wusste ich, warum.

Wenn ich Omas Gesundheit hatte, lagen noch siebzig oder achtzig lange Jahre vor mir, die ich leben musste – leben mit dem, was ich getan hatte.

Es sei denn …

„Vergesst ihn“, hatte Brogan Kai befohlen.

Aber eine leise Stimme flüsterte mir ins Ohr: „Suche und du wirst finden. Frage und die Antwort wird kommen …“

Und ich wusste: Ja, ich würde suchen, egal, wie das Ergebnis wäre.

Kapitel 2

Meine Begegnung mit Lilybet im Wald kam, drei Tage nachdem sie Oma Forbes zu ihrer letzten Ruhe gebettet hatten. Papa und Iwan waren fort und ich war allein mit Mamas Schweigen. Ich hatte meine kleinen Hausarbeiten erledigt und saß und schaute zu, wie sie Wolle spann. Das Surren des Spinnrads war ihr einziges Lebenszeichen. Niemand sagte etwas, Mama sah mich noch nicht einmal an. Ich war niedergedrückt vom Schatten des Todes.

„Kann ich was für dich tun, Mama?“

Sie sah mich an und ihr Schmerz war furchtbar. Ich hatte den Schutzschild des Schweigens, den sie trug, durchbrochen, und ihr Herz ergoss sich in ihre Augen. Ich wusste: Sie ertrug es nicht, dass ich so nah bei ihr war; meine Gegenwart zog die Ketten um ihr Herz noch enger zusammen. Sie war eine Gefangene ihrer Trauer; dass ich da war, gab ihr weder Freude noch Trost. Und ich musste denken: Wäre ich doch besser selber tot …

An etwas anderes konnte ich nicht denken an diesem warmen Tag, an dem die Sonne die Nebel weggebrannt hatte. Wenn doch nur alles anders wäre, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte! Aber ich wusste, das ging nicht. Um Mama wenigstens ein bisschen zu helfen, nahm ich den Korb und zog los, um Wildgemüse zu sammeln. Ich wusste, wo ich es zu suchen hatte, denn als Oma noch über diese Erde ging, hatte sie mir gezeigt, wo man die schmackhaften Wurzeln und Blätter fand, die unsere Mahlzeiten bereicherten. Unter den Ahornen in der Senke wuchsen reichlich wilde Zwiebeln, die Mamas Suppen und Eintöpfen ein würziges Aroma gaben. Kresse wuchs im Wald über dem Haus. In den Wiesen im Tal fand man Bachlattich und Ampfer.

Schon lange bevor die Sonne die Höhen des Himmels erklommen hatte, hatte ich mehr, als wir brauchten. Sollte ich den Korb wie eine Opfergabe auf der Veranda abstellen, wo Mama ihn finden würde, sobald sie nach draußen ging, um Wäsche zu waschen oder Unkraut zu jäten und den Garten zu wässern? Aber ach, es war doch alles hoffnungslos! Gab es ein Opfer, mit dem ich die Zeit zurückkaufen und das, was ich getan hatte, ungeschehen machen konnte? Nein, ich musste mit meinen Sünden leben, mindestens so lange, bis ich starb und der Sühnemann kam und sie wegnahm.

Wenn Mama ihn ließ …

Und ich drehte um und ging zum Fluss, der vom Schmelzwasser des Winters angeschwollen war.

Ich watete hinein. Das Wasser war kalt und so klar, dass ich die orangenen, braunen und schwarzen Steine und die grünen Moosfahnen auf dem Boden sehen konnte. Kleine Fische schossen an mir vorbei, versteckten sich unter den Steinen, bis ich sie aufscheuchte. Mit einer Angel hätte ich jetzt vielleicht einen größeren Fisch fangen und als Braten für das Abendessen nach Hause bringen können. Ich dachte darüber nach, bis meine kalten Zehen sich taub anfühlten. Dann sah ich eine große Forelle in der Strömung stehen und dachte nicht mehr an das Essen. Wie schön und anmutig sie war, niemandem tat sie etwas zuleide. Und ihr Tod würde mich doch nicht erhöhen in Mamas Augen. Der nächste Hunger und sie wäre vergessen.

Was konnte ich geben, um Vergebung zu erlangen?

Ich war wund vor Hoffnungslosigkeit, betrauerte all das, was ich verloren hatte. Und ich fing an, mit mir selber zu reden im Wald. Das meiste war Unsinn – Geräusche, um die Leere zu füllen, die meine Einsamkeit schuf, und um mir Mut zu machen, als ich immer weiter weg von zu Hause ging. Ich war dabei, eine Entscheidung zu treffen, und brauchte Rat, und dazu hatte ich niemanden als mich selber. Iwan konnte mir nicht helfen, und Papa würde seine Ruhe haben wollen, seine Erlösung hieß Arbeit. Ich folgte also dem Fluss bis hinunter zu den Schnellen, der engen Stelle über dem Wasserfall, wo der umgestürzte Baum wie eine Brücke über ihm lag.

Hier hatte mein Leben sich verändert, und hier konnte ich das, was geschehen war, wiedergutmachen.

Ich redete mit mir selber, während ich ging.

„Du sollst doch nicht mehr dahin, Cadi!“

„Ich muss aber, das weißt du doch.“

„Ja, ich weiß, Kind, aber das ist gefährlich. Das ist kein Spielplatz für kleine Mädchen.“

„Ich will nicht spielen.“

Ich stellte den Korb auf den flachen Felsen, kletterte auf die Wurzeln der großen alten Kiefer und setzte mich. Eine kalte Angst packte meine Kehle und nahm mir die Luft zum Atmen, meine Hände krampften sich um die Wurzeln. Meine Handteller waren nass vor Schweiß. Aber der Gedanke an Mama, die so einsam und bleich zu Hause saß und spann, gab mir Mut. Nach einer kleinen Weile schien das Toben des Flusses aus weiter Ferne zu kommen. Noch ein bisschen und es klang einladend.

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich auf diese Baumbrücke ging. Wie ich in der Mitte stehen blieb, die Arme wie Flügel ausgebreitet, und mich wie ein Vogel in die Luft warf und einen Augenblick schwebte, bevor ich in die weißen Schaumwirbel fiel, die unten über die Felsblöcke krachten. Ich stellte mir vor, wie das wäre: eintauchen, wieder hochkommen, sich im Kreis drehen, die Wasserfälle hinuntergespült werden, hinein in das tiefblaue Loch dort unten. Und wie dann der Fluss meinen Körper mit auf die Reise nähme, weit, weit weg. Papa sagte, der Fluss mündete in das Meer. Das Meer – so weit weg, so tief und so groß, dass ich es mir nicht vorstellen konnte! Ich wusste nur, dass ich für immer weg wäre.

Weg. Und vergessen.

Oma war nicht mehr da, ich war allein. Es gab niemand, der mich aus der Wildnis meines Lebens oder dem Fluch auf meiner Seele herausbringen konnte. Niemand, der mich vom Rande des Abgrunds zurücklieben konnte, wie Oma es seit letztem Sommer täglich getan hatte. Oh Gott, dachte ich, wenn ich nur sterben könnte, dann würde vielleicht der Sühnemann kommen und meine Sünden wegnehmen. Oh Gott, wenn er es doch schon jetzt machen könnte, wo mein Herz noch schlägt und ich noch atme, damit ich nicht mit diesem Schmerz leben muss.

Und da kam sie, ganz plötzlich, wie der Lichtstreifen, wenn die Sonne anfängt, über den Berg zu kommen.

„Hallo, Katrina Anice“, sagte eine schöne, leise Stimme.

Ich öffnete die Augen und sah mich um. Neben dem Korb, den ich auf dem Felsen gelassen hatte, saß ein Mädchen, das etwas jünger sein mochte als ich. Es stand auf und kam zu mir.

„Wenn du über den Fluss willst, gibt es eine bessere Stelle hinten in den Wiesen, unter eurem Haus. Komm, gehen wir hin.“

Ich legte meinen Kopf zur Seite und starrte sie an. Ich konnte mich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben. Ihr goldblondes Haar hing wie eine Lockenwolke um ihr Gesicht und ihre Schultern. Ihre Augen waren ganz blau. Sie erinnerten mich daran, was Oma über Ian Forbes’ Augen gesagt hatte. War sie etwa eine entfernte und vergessene Verwandte? Und wie kam es, dass sie so plötzlich dasaß, wie ein Vogel, der herbeigeflogen kommt? Und dass sie mich Katrina Anice nannte? Es war ein schöner Name, aber ich hieß doch Cadi, einfach Cadi Forbes und sonst nichts. Aber Katrina Anice – das klang viel schöner, wie ein Name, über den jemand lange nachgedacht hatte, bevor er ihn wählte. Wie schön es wäre, jemand zu sein, der geliebt war – jemand anderes als Cadi Forbes, und wenn auch nur für ein Weilchen.

„Ich bin Lilybet“, sagte das Mädchen, als ich mein feierliches Schweigen nicht brach. „Mein Vater hat mir von dir erzählt.“

Das überraschte mich. „Wirklich?“ Ich wusste nicht, wer ihr Vater war.

„Ja.“ Sie erhob sich und stellte sich vor mich hin. „Ich weiß, was alles geschehen ist, Katrina Anice.“ Ihre Miene war so sanft; es war gerade so, als ob die Liebe in Person mich in die Arme nehmen wollte. „Ich weiß alles über dich.“

Ich senkte meinen Kopf und sah wieder in den Fluss hinunter. „Ja, das weiß jeder.“ Die Tränen zogen meine Kehle zusammen.

„Jeder weiß etwas, Katrina Anice, aber wer weiß alles?“

Ich hob meinen Kopf und sah sie wieder an, perplex. „Gott weiß alles.“ Gott wird richten. Besser nicht daran denken. Gott ist ein verzehrendes Feuer.

Sie lächelte mich an. „Ich möchte deine Freundin sein.“

Der Schmerz in meinem Herzen ließ etwas nach. Vielleicht hätte mein Gewissen eine kleine Weile Frieden. „Wo kommst du her?“

„Weit weg und doch ganz nah.“

Ich musste kichern. „Du bist echt komisch.“

Sie lachte, und es klang wie Vogelgesang und wie ein Bach, der alles reinwusch. „Das hat es über dich auch schon geheißen, Katrina Anice, aber ich glaub, wir beide verstehen uns gut, nicht wahr?“

„Doch, schon.“

„Und bald noch besser, warte nur.“

Ich nahm meinen Korb und ging mit ihr zurück. Wir kletterten über die Felsbrocken am Flussufer, duckten uns unter niedrig hängende Äste. Bei den Wiesen angekommen setzten wir uns auf ein warmes sandiges Plätzchen und ließen Steinchen über das Wasser hüpfen. Ich redete – eine Wortflut nach langer Trockenheit. Und ich träumte von der Zukunft – davon, dass Mama wieder lachte und Papa seine Zither spielte und Iwan tanzte.

Katrina Anice hatte Lilybet mich genannt und der Name war ein Neuanfang. Wie Oma schien sie mich ohne Grund zu lieben, einfach so. Und obwohl ich in meinem Herzen wusste, dass ich unwürdig war, packte ich Lilybets Freundschaftsangebot mit beiden Händen als Rettungsseil für mich.

Ich brachte Lilybet mit nach Hause an diesem ersten Tag, damit Mama sich mitfreuen konnte, aber sie kümmerte sich nicht um Lilybet, sah sie noch nicht einmal an. Was mich nicht überraschte, denn mich sah sie auch nicht mehr an. Papa schien nicht glücklich zu sein über Lilybet; er mochte keine Fremden im Haus, und Lilybet war nicht nur fremd, sie war geheimnisvoll, so ganz anders als alle anderen Menschen, die ich bisher kannte oder noch kennenlernen würde.

Selbst Iwan war sie nicht geheuer. „Du solltest vielleicht nicht so viel mit Lilybet reden, Cadi“, sagte er, ein paar Tage nachdem Lilybet das erste Mal gekommen war. „Jedenfalls nicht, wenn Mama und Papa dabei sind, verstehst du?“

Ich verstand und nahm mir seinen Rat zu Herzen.

Meinen Beschluss, den Sühnemann zu suchen, fasste ich, als ich mit Lilybet zusammen war. Der Gedanke setzte sich so in meinem Kopf fest, dass ich fast an nichts anderes mehr denken konnte.

„Was meinst du, wo er haust, Lilybet?“

„Bestimmt irgendwo, wo man ihn nicht so leicht findet.“

Mama konnte ich nicht fragen; wer weiß, wie sie mich wegen dieses neuerlichen Ungehorsams ausschimpfen würde. Schließlich hatte Gervase Odara mich geheißen, den Mann nicht anzuschauen, und meine elende Neugierde hatte mir ein Bein gestellt. Und Papa – der hatte meistens ein so finsteres Gesicht, dass man, um ihn überhaupt etwas zu fragen, mehr Mut brauchte, als ich besaß. Aber ich musste wissen, wo der Sühnemann wohnte! Endlich fragte ich Iwan, der gerade ein Pferdegeschirr reparierte.

„Der? Warum willst du denn das wissen?“

„Er kam mir so traurig und elend vor.“

„Na, kein Wunder. Der hat genug Sünden auf sich genommen, um in alle Ewigkeit verflucht zu sein.“

„Aber warum macht er so was, Iwan?“

„Wie soll ich das denn wissen?“

„Oh Iwan, warum tut er sich das an und gibt seine Seele in die Hölle?“

Er ließ den Lederriemen sinken und sah mich grimmig an. „Frag nicht so viel über den Mann, Cadi. Wo wäre die arme Oma jetzt ohne ihn? Du darfst kein Mitleid mit ihm haben. Er ist weg und kommt erst zurück, wenn ihn wieder jemand braucht. Und jetzt geh spielen, ich hab zu tun. So trübe Gedanken an so einem schönen Frühlingstag, das ist nichts für kleine Mädchen.“

Iwan konnte so fest sein, wie Brogan Kai herrisch war. Und sie beide sagten das Gleiche: Vergiss ihn.

Aber wie konnte ich ihn vergessen, wenn er mich angesehen und seine Klauen in meine Seele gegraben hatte? Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, brannten die Wunden in meinem Herzen. Er hatte noch nicht einmal einen richtigen Namen. Sühnemann. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich auch nur an ihn dachte. Aber ich musste wissen, wer er war und wie er so geworden war.

Und ob er mich retten konnte.

Bald konnte ich nicht mehr schlafen, ohne von dem Sühnemann zu träumen. Wenn es am dunkelsten war, kurz vor der Morgendämmerung, kam er zu mir und sagte: „Wer nimmt meine Sünden weg, Cadi Forbes?“ Und er griff nach mir, dass ich schweißgebadet aufwachte.

***

Bei einem meiner Spaziergänge mit Lilybet sah ich Fagan Kai, Cullen Hume und Cullens Schwester Glynnis am Fluss. Sie hatten ein kleines Feuer gemacht und brieten Fische. Ich schlich näher und sah ihnen eine Weile zu, gut versteckt hinter dem grünrosa Vorhang der Rhododendronsträucher und einer blühenden Felsenbirne. Die Jungen fischten mit Holzspießen; die meisten Fische fing Fagan.

„Warum fragst du die nicht wegen des Sühnemanns?“, sagte Lilybet, aber der bloße Gedanke ließ mich erschaudern.

„Ich sitze hier gut“, flüsterte ich. „Ich kann hören, was sie sagen.“ Und ich konnte Fagan beobachten.

„Er ist ein hübscher Junge“, sagte Lilybet.

„Ja.“

„Und nett. Ein Freund von Iwan.“

„Sie waren schon mal zusammen jagen.“ Fagan stand auf einem Stein in der Mitte des Flusses, den Holzspeer hocherhoben.

„Da kommt ein Großer!“ Glynnis zeigte aufgeregt in die Richtung.

„Still, sonst verscheuchst du meinen!“, knurrte ihr Bruder. „Warum gehst du nicht zurück und hilfst Mama Seife machen?“

„Du machst mehr Krach als ich“, sagte Glynnis. Ihr Kinn schob sich vor. „Und du könntest noch nicht mal die Kuh aufspießen, wenn sie angebunden wär.“

Fagan schleuderte den angespitzten Stock und stieß einen Triumphschrei aus. Er trat in das Wasser und hob seinen Speer hoch; an seinem Ende zappelte ein Fisch.

„Du hast ihn, hurra!“ Glynnis klatschte in die Hände und hüpfte begeistert.

Ich war so beeindruckt von Fagans Geschick, dass ich aufstand und Glynnis erschreckte, die Cullen erschreckte, der darauf seinen Fisch verfehlte. „Sei froh, dass ich kein Gewehr hab, Cadi Forbes, sonst hätte ich dich jetzt vielleicht erschossen, als Indianer!“ Mit rotem Gesicht watete er in das Wasser, um seinen Stock herauszuholen.

Fagan gebot ihm, ruhig zu sein.

„Wegen der hab ich vorbeigeworfen!“

Fagan watete mit seinem Fang zurück zum Ufer. „Ich hab gesagt, lass sie, Cullen.“ Er sah zu mir hoch. „Was machst du so weit weg von zu Hause, Cadi Forbes?“

„Komm, sag’s ihm, Katrina Anice“, flüsterte Lilybet, immer noch versteckt in den dicht belaubten Zweigen hinter mir. „Vielleicht hilft er dir.“

„Sie ist schuld!“, sagte Cullen, den Spieß in der Hand.

Fagan wurde wütend. „Dies ist Kai-Land, und ich bestimme, wer hier hindarf. Wenn du dein Maul nicht halten kannst, dann geh!“ Er riss seinen Fisch von dem Spieß, bückte sich und zog ein Stück Bindfaden durch seine Kiemen und wieder zum Maul heraus. Dann warf er ihn zurück ins Wasser, wo schon zwei andere in der Strömung trieben.

„Ich hab nicht gesagt, dass sie nicht hierherdarf“, sagte Cullen mürrisch. „Ich mag’s nicht, wenn einer sich so anschleicht, das ist alles.“

„Ich wollte dich nicht erschrecken, Cullen Hume“, sagte ich.

Cullens Gesicht wurde noch dunkler. „Ich hab mich nicht erschreckt!“

„Doch, doch“, lachte Glynnis. „Dein Gesicht war so weiß wie der Bauch von dem Fisch da!“

Cullen ging auf sie los. Sie quietschte auf und schoss davon. In sicherer Entfernung drehte sie sich wieder um. „Cullen Angsthase, Cullen Angsthase!“ Er schnaubte vor Zorn und warf einen Stein nach ihr. Sie duckte sich, streckte ihre Zunge heraus und machte weiter. „Ätsch, daneben!“

„Ja, extra!“, schrie er. „Wenn ich dich treffe, rennst du zu Mama und machst die Heulsuse!“

Er drehte ihr den Rücken zu und funkelte mich an, als ob all sein Elend meine Schuld wäre. Und ich hatte ihn ja auch erschreckt und damit Glynnis die Munition gegeben, um ihn zu ärgern.

„Also“, sagte Fagan. „Was machst du hier auf Kai-Land?“ Er sah mich fest an.

„Ich hab nicht daran gedacht, auf wessen Land ich bin, ich bin einfach den Fluss entlanggegangen.“

„Und wo wolltest du hin?“

Ich zuckte die Achseln. Ich wusste nicht, ob ich ihm meine große Suche anvertrauen konnte. Cullen schien regelrecht unfreundlich, und Fagan spielte zwar den Gentleman – aber wie lange noch, wenn ich den Sühnemann erwähnte? Nach einer Minute Warten zuckte Fagan die Achseln und ging wieder zum Fischstein.

„Wann hörst du auf?“, rief Cullen ihm zu.

„Wenn ich noch einen hab.“

„Das hast du beim letzten Mal auch gesagt!“

„Cadi braucht auch einen zum Braten.“

Ich errötete. Cullens feindseliger Blick machte mich verlegen. „Danke schön, Fagan Kai, aber ich muss jetzt gehen.“ Ich drehte mich zum Wald hin.

„Bleib hier, es dauert nur ein paar Minuten.“ Fagan stand auf dem Stein, den Speer wurfbereit in der Hand.

Den Befehl eines Kai, ob es nun der Vater Brogan war oder einer seiner Söhne, ignorierte man nicht. Selbst dieser hier, der Jüngste, war Achtung gebietend. Ich blieb stehen, wie er mich geheißen hatte. Hätte ich mich nur nicht gezeigt! Aber andererseits war ich froh, dass ein so wichtiger Mensch in unseren Bergen mir ein wenig Aufmerksamkeit gönnte. Fagan hatte mich schon immer angezogen; er konnte es mit Iwan aufnehmen.

Er warf seinen Spieß, beugte sich rasch nach vorn und hob ihn hoch in die Luft. An seinem Ende war der nächste zuckende Fisch. Ich erwartete wieder einen Triumphschrei, aber diesmal kehrte er mit still würdevoller Miene zum Ufer zurück.

Glynnis, des Großen-Bruder-Ärgerns müde, kam zurück. Sie bewunderte Fagans Fang mit geschwollenen Worten, dann sah sie mich schräg an. „Weiß deine Mama, wo du bist?“

„Sie hat nichts dagegen, wenn ich spazieren geh.“

Cullen lachte kurz auf. „Hab gehört, sie ist nicht mehr richtig in der Birne, seit …“

Ich rannte los. Fagan rief etwas, aber ich hielt nicht an. Ich würde nicht bleiben und mir fertig anhören, was Cullen Hume zu sagen hatte, Fagan Kai hin, Fagan Kai her.

Ich tauchte in die Zweige hinein und rannte zwischen den Bäumen schräg den Hang hoch.

„Cadi!“

Ich duckte mich unter ein paar dichte Sträucher, außer Atem. Ich rutschte so tief in die Blätterhöhle hinein, wie ich konnte, zog meine Knie fest an meine Brust, rieb die Tränen aus den Augen und wartete.

„Du darfst dich nicht so von Worten verletzen lassen“, flüsterte Lilybet.

Aber Worte konnten schärfer sein als ein zweischneidiges Schwert; sie schnitten so tief, dass ich blutete. Ich hörte Schritte, sie kamen in meine Richtung. Ich hielt den Atem an.

„Cadi!“ In der Nähe meines Verstecks blieb Fagan stehen und sah sich langsam um. „Cadi, wo bist du?“ Einen langen Augenblick stand er still da, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Ich regte mich nicht, wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen.

„Es tut Cullen leid, er hat sich nichts dabei gedacht. Ist halt grantig, weil er heute keine Fische gefangen hat. Komm raus, Cadi. Du musst einen guten Grund haben, dass du so weit weg von zu Hause bist.“

„Sag etwas, Katrina Anice. Vielleicht können du und Fagan und die anderen den Sühnemann finden.“

„Ich bin doch dein Freund, Cadi Forbes, oder?“

„Bist du das wirklich?“, sagte ich in meinem Versteck.

Er drehte sich heftig um und schaute in meine Richtung, aber sah mich immer noch nicht.

„Geh raus, Cadi“, sagte Lilybet.

„Sei still“, flüsterte ich ihr zu.

„Geh raus zu ihm.“

„Nein.“

„Er weiß vielleicht etwas, was dir weiterhilft.“

„Was soll er denn wissen?“

„Du musst ihn halt fragen. Los, tu’s!“

Ich schob die Zweige zur Seite und stand auf. Er grinste mich an. „Weißt du, dass du schneller rennen kannst als ein Hirsch?“

Ich drückte mich durch die Büsche und blieb mit heißen Wangen vor ihm stehen. „Du brauchtest nicht hinter mir herzurennen.“

„Weiß ich doch.“ Er nickte zum Fluss hin. „Komm mit zurück.“

Wir schwiegen beide auf dem Weg zurück. Es tat mir bereits leid, dass ich auf Lilybet gehört hatte. Cullen und Glynnis waren dabei, Fische zu braten.

„Ich hab’s nicht böse gemeint“, sagte Cullen und reichte mir einen langen Stock mit einer sauber ausgenommenen Forelle. Ich dankte ihm und setzte mich, um den Fisch zu braten. Glynnis erzählte, wie sie den Jungen geholfen hatte, indem sie die Fische in ihre Richtung scheuchte.

„Fagan hat das schon öfter gemacht“, sagte Cullen. „Er bringt’s mir gerade bei.“

„Nächstes Mal klappt’s besser.“ Fagan warf ein Fischskelett mit Kopf in die Sträucher. „Ich hab’s von meinen Brüdern gelernt. Die haben mich fürchterlich gepiesackt, weil ich nicht zielen konnte. Hat lange gedauert, bis ich gelernt hab, wann und wie man das Ding werfen muss. Du schaffst das schon noch, Cullen.“

„Was machst du so weit von eurem Haus?“ Glynnis sah mich neugierig an.

Ich holte tief Luft und atmete wieder aus, langsam, damit mein Herz sich beruhigte und wieder seinen Rhythmus fand. „Ich suche den Sühnemann.“

Cullen fluchte gerade so wie sein Vater. „Den Sühnemann? Bist du verrückt?“

„Der ist ein scheußliches Ungeheuer.“ Glynnis’ Augen wurden weit. „Er hat feuerrote Augen wie der Teufel und Zähne wie ein Wolf und seine Hände sind Klauen.“

Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber sagte nichts. Glynnis hätte nur wissen wollen, woher mein Wissen kam, und ich wollte doch nicht zugeben, dass ich den verfluchten Mann angeschaut hatte, als er Omas Sünden auf sich nahm. Ich hatte keine Wolfszähne bei ihm gesehen, aber das bedeutete noch nicht, dass er keine hatte. Wie ein ausgehungerter Wolf gegessen hatte er jedenfalls. „Wer hat dir das erzählt?“, fragte ich.

„Meine Mama.“

„Er muss doch mal ein Mensch gewesen sein“, sagte Fagan.

„Ja, einer, der sich dem Teufel verschrieben hat“, sagte Cullen. „Er liebt Sünden. Er verbringt sein ganzes Leben damit, sie zu suchen, damit er sich daran satt essen kann.“

„Vielleicht stimmt das nicht“, sagte ich. „Er klang so schrecklich traurig, als er die Sünden meiner Oma gegessen hatte. Und er nannte sie ‚liebe Frau‘, als ob er sie mochte.“

Einen langen Augenblick sagten Fagan, Cullen und Glynnis nichts. Fagan starrte zu den Bergen hin, die Stirn leicht gerunzelt. „Wo er wohl wohnt?“

„Das weiß keiner.“ Cullen zuckte die Achseln. „Er kommt nur ins Tal, wenn die Totenglocke für jemand läutet.“

„Also, ich hätte Angst, ihn zu suchen“, sagte Glynnis.

„Er muss so nahe wohnen, dass er das Läuten noch hört“, sagte Fagan. „Vielleicht irgendwo da oben.“ Er zeigte zum höchsten Berg im Westen hin. „‚Geh nicht in die Berge da‘, hat mein Vater immer gesagt.“

„Vielleicht haust er in einer der Höhlen dort.“

Glynnis schüttelte den Kopf. „Da würde er doch nichts hören.“

„Na, vielleicht sagt ihm jemand, wenn einer gestorben ist. Wer sagt, dass er die Glocke hören muss?“, sagte Cullen.

„Und wer soll das sein?“, fragte ich.

„Vielleicht Gervase Odara.“ Er zuckte die Achseln. „Die ist doch die Heilerin und so. Wenn einer es weiß, wenn jemand stirbt, dann sie. Vielleicht sagt sie es ihm.“

Das war ein Gedanke. Vielleicht konnte ich mit ihr reden, wenn sie Elda Kendric besuchte. Sie kam alle paar Tage mit einem Mittel für die geschwollenen Gelenke der alten Frau. „Früher kam sie zu uns und hat Mama besucht, aber das ist lange her.“

„Deine Mama mag keine Besucher mehr“, sagte Glynnis. „Meine Mama sagt, sie ist so damit beschäftigt, die Toten zu betrauern, dass sie keine Zeit mehr für die Lebenden hat.“

Alle sahen mich an. Es tröstete mich nicht. Ich war nicht gekommen, um mich bedauern zu lassen, sondern, um etwas – irgendetwas – über den Sühnemann zu erfahren. Aber sie schienen auch nicht viel mehr zu wissen als ich. Bis jetzt hatten sie nur hin und her spekuliert und das konnte ich auch selber. Ich sah zu den Bergen im Westen hin. Ob er wirklich irgendwo da oben …? „Das sieht echt einsam aus, die Berge.“

„Vielleicht ist er gar nicht so weit weg“, sagte Cullen.

Fagan stand auf und wusch sich die Hände im Fluss. „Vielleicht hat Cullen recht. Wer will wissen, dass der Sühnemann die ganze Zeit irgendwo auf nem Berg ist. Vielleicht kommt er runter und beobachtet die Leute.“

„Vielleicht ist er gerade hier.“ Glynnis blickte sich schaudernd um, ihr Gesicht wurde weiß. „Warum hast du das gesagt, Fagan? Jetzt kann ich nachts nicht schlafen, weil ich nicht weiß, ob er bei uns zum Fenster reinschaut.“

„Vielleicht weiß er es einfach, wenn jemand bald stirbt.“ Der Gedanke schien Fagan zu beschäftigen.

Cullen warf seine Fischgräten in das Feuer. „Vielleicht ist er wie die Wölfe, die es riechen, wenn ein Tier krank ist und sterben wird. Er riecht den Tod kommen und schleicht herum, bis er sich satt essen kann.“

„Er ist nicht gekommen, als Elen starb“, sagte ich.

Fagan setzte sich wieder. „Das war auch nicht nötig. Sie war nicht alt genug, um etwas Böses getan zu haben.“

Das war natürlich nicht der einzige Grund, aber Fagan war nett genug, das nicht zu sagen.

Ich blinzelte die Tränen zurück. „Oma hat mir mal gesagt, dass wir alle Sünder sind. Das hatte sie in Wales gelernt.“