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Pilger, Päpste, Patriarchen – eine aufregende Reise in die Welt des Mittelalters Die Anziehungskraft des Mittelalters ist ungebrochen, bis heute fasziniert es, das «dunkle Zeitalter» mit seinen Kreuzzügen und Hexenverbrennungen, tapferen Rittern und geschundenen Bauern. Rolf Schneider macht diese Welt lebendig, indem er tausend Jahre Geschichte erzählt, von der Völkerwanderung bis zur Luther-Reformation. Dabei lässt er nicht nur die wichtigsten politischen Ereignisse Revue passieren und stellt bedeutende Persönlichkeiten wie Karl den Großen, den Scholastiker Pierre Abaelard oder Richard Löwenherz vor, sondern gibt auch Einblicke in die mittelalterliche Kultur und Lebenswelt. Es geht um Burgen, Klöster und Kathedralen, den Handel der Städte oder den jahreszeitlichen Lebensrhythmus der bäuerlichen Bevölkerung. Wie wurde im Mittelalter gefeiert? Was tat man bei anhaltender Dürre oder gegen Pest? Und was eigentlich ist «Gottesfrieden»? Schneider gelingt es, einen leichtverständlichen Gesamtüberblick über diese von Gott, Papst und Kaiser bestimmte Epoche zu geben. Eine aufregende Reise in eine versunkene Welt – ebenso unterhaltsam wie lehrreich.
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Seitenzahl: 251
Rolf Schneider
Das Mittelalter
Immer wenn es Sommer wird, bricht hierzulande das Mittelalter aus. Unter freiem Himmel eröffnen Märkte, die Handgewebtes, Holzwaren und urtümliches Tongeschirr feilbieten, die zugehörigen Verkäufer tragen Wämser und Beinkleider der Zeit um 1300.Kein Folklore-Festival ohne mittelalterlich gekleidete Musiker mit Drehleier und Dudelsack. Gaststätten rüsten zu mittelalterlichen Mahlzeiten, dieweil jedes zweite Burgmuseum mit Folterkellern und Galerien voll blinkender Ritterrüstungen lockt. Im Kino und im Fernsehen laufen ständig Spielfilme über Artus, Robin Hood und Jeanne d’Arc.
Solch sehnsüchtige Hinwendung zu einem weit entfernten Abschnitt unserer Geschichte ist verwunderlich. Sie gleicht der langanhaltenden Konjunktur der Saurier, die mit exakter Wissenschaftlichkeit auch nicht viel zu tun hat, und hier wie dort sind die Gründe nicht leicht zu bestimmen. In Sachen Mittelalter dürfte einer der jüngeren Impulse vom Jahr 2000 ausgegangen sein. Damals erinnerte man sich, dass ein derartiges Millennium schon einmal stattgefunden hatte, im Jahr 1000, das die Zeit des hohen Mittelalters war. Da lag nahe, neben den Ängsten, Träumen und Hoffnungen, die dereinst vorherrschten, außerdem die allgemeinen Zustände zu beschreiben, in denen Menschen lebten. Man ergänzte damit Mittelalterinteressen, die es schon seit zwei Jahrhunderten gab, bei wechselnder Intensität.
Nun ist Mittelalter ein einigermaßen schillernder Begriff. Erstmals kam er auf, als der Zeitabschnitt, den er benannte, eben vorüber war, etwa nach dem Jahr 1500.Man fing zumal in Italien an, sich nachdrücklich für die griechisch-römische Antike zu interessieren, die, völlig zu Recht, als ein Höhepunkt kultureller und zivilisatorischer Leistungen empfunden wurde; die Zeit, die der Antike unmittelbar gefolgt war und von der man sich entschieden abwenden wollte, wurde als ein hässlicher Bruch innerhalb der Menschheitsentwicklung gesehen, als schäbige Mitte zwischen den zwei strahlenden Polen Altertum und Neuzeit. Letztere trat mit dem Anspruch auf, eine Renaissance, eine Wiedergeburt der Antike zu sein. In dem Wort Mittelalter klingt, wenigstens im Deutschen, das Wort Mittelmaß an. Die Renaissance-Menschen urteilten noch viel harscher. Sie sprachen vom dunklen, gar vom finsteren Mittelalter.
Bei dieser Einschätzung blieb es rund dreihundert Jahre. Erst ab der Zeit um 1800 erfolgte eine Umkehr. Man war des fortwährenden Antike-Kults etwas müde geworden, richtete einen unverstellteren Blick auf die eigene Geschichte und entdeckte, dass sie so durchweg finster und glanzlos nun doch nicht gewesen war. Romanautoren und Bildermaler beschrieben den Reiz jener Jahrhunderte, deren Kathedralen, Burgen und Fachwerkhäuser für jedermann sichtbar in Städten und Landschaften standen. Die exakte Geschichtswissenschaft, die zur gleichen Zeit einsetzte, besah die einstigen politischen Vorgänge, auch um das nationale Selbstwertgefühl zu stärken.
Was und wie ist also Mittelalter?
Der Zeitraum lässt sich in etwa bestimmen. Er reicht vom fünften bis zum fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert. Wobei in jedem europäischen Land die Zeitgrenzen etwas anders ausfallen können, nämlich entsprechend dem noch bis ins zwanzigste Jahrhundert anhaltenden Zivilisations- und Entwicklungsgefälle von Süd nach Nord und von West nach Ost. Genaue Jahreszahlen lassen sich selten benennen, da die Epochengrenze auch vom jeweiligen Gegenstand der Betrachtung abhängt und in kultureller Hinsicht anders verlaufen kann als politisch, wirtschaftlich oder religionsgeschichtlich. Jedenfalls brauchten die zivilisatorischen Veränderungen ihre Zeit.
Wir sprechen hier von Europa, mit dem Mittelmeer als Zentrum, wie auch, ein wenig, von den angrenzenden Gebieten Afrikas und Asiens. Wir wollen nicht vergessen, dass jenseits dieses Raumes andere Regionen liegen, die zur genau gleichen Zeit eine gänzlich andere Geschichtsentwicklung erfuhren: das zentrale und östliche Asien, das mittlere und südliche Afrika. Zwischen ihnen und Europa konnte es gelegentlich zu Berührungen kommen. Völlig für sich verliefen die Dinge in Lateinamerika, wo zur Zeit des europäischen Mittelalters die Hochkulturen der Maya, Inka und Azteken entstanden.
So viel zunächst über Raum und Zeitgrenzen, von denen dieses Buch handeln soll. Ein vollständiges Bild wird es nicht liefern können – dies würde Bände füllen. Wir wollen von den wichtigsten Erscheinungen der Epoche erzählen, von Schlüsselfiguren, von Schlüsselereignissen und zentralen Themen. Ob es eher Einzelpersönlichkeiten waren, die den Lauf der Historie bestimmten, oder wirtschaftliche Vorgänge und technologische Veränderungen, also Dinge, die gesamte Volksschichten und Völker bewegten, wollen wir nicht entscheiden. Dies ist eine Frage, die ausführlich die Geschichtsphilosophie beschäftigt hat und die gelegentlich die Ausmaße eines Glaubenskrieges annehmen konnte. Die Antwort wird wohl lauten müssen, dass es dialektische Verschränkungen des einen mit dem anderen gab.
Also wollen wir von Personen berichten, Herrschern vor allem, doch nicht nur von ihnen, es kommen ebenso Geistliche vor, Intellektuelle, Kaufleute, Piraten. Daneben wird es stets um zivilisatorische Eigenheiten und deren Veränderungen gehen, wir sprechen von Religionen, von Lebensformen, von den Künsten, von der Entstehung der Städte. Wir wollen das Mittelalter lebendig werden lassen, jenseits von Klischees und Billigfolklore, und von Landschaften und Städten erzählen, von Krieg und Frieden, von Kunst und Handel, von Leben und Tod.
TEIL 1
DAS FRÜHE MITTELALTER
Das römische Imperium umfasste in Zeiten seiner größten Macht und Ausdehnung sämtliche Gebiete, die an das Mittelmeer grenzten, man darf von einem Weltreich sprechen. Die Zahl der von Rom beherrschten Völkerschaften war entsprechend groß, und immer wieder gab es Erhebungen, auch kam es häufig zu militärischen Überfällen von außerhalb. Im vierten nachchristlichen Jahrhundert erfolgten derlei Angriffe bevorzugt durch germanische Stämme, die sich auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten befanden, denn ihr überwiegend in südliche Richtungen erfolgender Wanderzug berührte meist römische Territorien.
Das Herkunftsgebiet der Germanenvölker lag an der Ostsee. Der Name der südschwedischen Insel Gotland hält die Erinnerung an zwei dieser Stämme wach: Ost- und Westgoten. Außer Goten waren Wandalen unterwegs, Langobarden, Sachsen, Franken, Burgunder.
Von einer gemeinsamen germanischen Identität kann jedoch kaum die Rede sein. Jener Sammelbegriff kam durch römische Historiker auf, und sieht man von einigen religiösen Parallelen ab, wiesen allenfalls die Sprachen größere Gemeinsamkeiten auf. Alle Germanen benutzten eine verwandte Grammatik und einen ähnlichen Wortschatz, die – vielleicht – auf einen gemeinsamen Urdialekt zurückgingen. Ansonsten waren sich die einzelnen Stämme eher fremd, im Konfliktfall feindlich gesinnt, und nicht einmal innerhalb einer einzelnen Völkerschaft hielt man dauerhaft zusammen, vielmehr konnte sie in Untergruppierungen zerfallen, die sich blutige Gemetzel lieferten.
Die Ursachen für die im vierten Jahrhundert anhebenden Wanderbewegungen (an der durchaus nicht alle Germanen teilnahmen) waren vielfältig. Sie wurden durch eine Veränderung des Klimas ausgelöst, wohl auch durch Bevölkerungswachstum, vor allem aber durch den Einfall der Hunnen.
Dieses Nomadenvolk, ursprünglich in Ost- und Zentralasien zu Hause, stieß vor bis nach Südost-, Süd- und Mitteleuropa und bedrängte gleichermaßen germanisches wie römisches Territorium. Die Reaktionen der Betroffenen waren unterschiedlich. Die Goten unterwarfen sich den Hunnen. Andere Germanen wichen aus und gelangten ihrerseits auf römisches Gebiet. Die Hunnen marschierten zuletzt bis in das östliche Gallien, das heutige Ostfrankreich, wo sie auf eine gemeinsame römisch-germanische Militärmacht trafen, der sie in einer entscheidenden Schlacht unterlagen. Daraufhin zogen sie sich aus Europa weitgehend zurück.
Die Kooperation zwischen Römern und Germanen, die sich im Fall der Hunnenabwehr bewährt hatte, war nicht die Regel. Häufiger gab es Reibungen, Konflikte, Überfälle und Kriege, das römische Imperium verlor darunter seinen Zusammenhalt. In seinem östlichen Teil, der die griechischen Inseln, Kleinasien, Palästina und das östliche Nordafrika umfasste, konnte es sich in etwa behaupten, während der Westen, und dort selbst das einstige Kernland Italien, allmählich zerfiel.
Dies lag auch daran, dass die Regierungszentrale des Reiches sich längst nicht mehr in der Stadt Rom befand, sondern im osteuropäisch-kleinasiatischen Konstantinopel, dessen Name zurückgeht auf seinen Gründer, den römischen Kaiser Konstantin den Großen. In dieser Stadt konzentrierten sich unter seinen Nachfolgern die politische Macht, der wirtschaftliche und kulturelle Reichtum des Imperiums, weswegen man auch von Ostrom sprach.
Genau hier erfuhr einer der bekanntesten und erfolgreichsten Germanenfürsten seine entscheidenden Impulse.
Der Sohn des Ostgotenkönigs Thiudimir wurde um das Jahr 454 geboren. Ein genaues Datum lässt sich, wie bei anderen Persönlichkeiten der Epoche, nicht mehr ermitteln. Er wuchs in Pannonien auf, dem heutigen Ungarn, das zum unmittelbaren Einflussgebiet des Römischen Reichs gehörte. Der junge Theoderich wurde, so etwas war üblich, als Geisel an den oströmischen Hof gegeben. Was bedeutete: Hätten die Angehörigen des Prinzen gegen die Zentralmacht aufbegehrt, etwa durch einen Aufstand, wäre das Leben des jungen Mannes verwirkt gewesen.
Später, zurückgekehrt nach Pannonien, übernahm er von seinem Vater die ostgotische Königsherrschaft. Anfangs musste er sich gegen einen Konkurrenten behaupten, Theoderich Strabo («der Schielende»), einen Verwandten. Beide gehörten als hohe Offiziere zum oströmischen Heer. Theoderich Strabo kam bei einem Reitunfall ums Leben, und Theoderich stieg im Range auf. Der oströmische Kaiser beauftragte ihn, die von Hunnen und Germanen besetzte Apenninhalbinsel zurückzuerobern.
Der dortige Machthaber war ein halber Germane, was auch sein germanischer Name Odoaker bezeugt. Sein militärischer Widerstand gegen das Heer des Ostgotenkönigs war langanhaltend und zäh. Die Auseinandersetzungen mündeten in ein Kampfgeschehen, das den Namen Rabenschlacht erhielt: Es ging um den Besitz der oberitalienischen Stadt Ravenna, deren altdeutscher Name Raben lautete.
Theoderich kam nicht voran, Odoaker gab nicht auf. Schließlich einigte man sich auf eine aufwendig inszenierte Versöhnung der beiden Fürsten samt einem anschließenden Gelage, in dessen Verlauf Theoderich seinen Widersacher umbrachte. Wo Militärmacht nichts auszurichten vermochte, obsiegten List und Heimtücke. Der Ostgotenkönig hatte den kaiserlichen Auftrag damit erfüllt. Er nutzte die Gelegenheit, um in Norditalien eine Ostgotenherrschaft zu errichten.
Wie es heißt, holte Theoderich insgesamt 20000 seiner Leute ins Land und siedelte sie an, doch solchen Zahlenangaben in den zeitgenössischen Chroniken ist zu misstrauen: Gewöhnlich neigen sie zu Übertreibung. Wie auch immer: Norditalien wurde zu einem erfolgreichen und einigermaßen stabilen Ostgotenreich.
Der König verfügte über ausreichende Kenntnisse der Region und seiner politischen Eliten, um eine funktionierende Administration aufzubauen. Er schloss entsprechende Vereinbarungen mit Angehörigen der ursprünglichen Herrschaftsschicht, die er damit einband; umgekehrt profitierten er und die Seinen von deren zivilisatorischer Erfahrung. Theoderich beschäftigte zahlreiche Römer in seiner Verwaltung. Er verabschiedete ein eigenes Gesetzeswerk, das Elemente des römischen Rechtes enthielt. Er gab Bauten in Auftrag und ging militärisch gegen die in Süditalien sitzenden Westgoten vor. Den Gelehrten Boëthius berief er zunächst an die Spitze seiner Regierung, später ließ er ihn hinrichten.
Zuletzt erstrebte er ein politisches Bündnis mehrerer germanischer Stämme diesseits und jenseits der Alpen, doch darin blieb er erfolglos. Theoderich, dem die Geschichtsschreibung den Beinamen «der Große» gab, war schlau, weitschauend, durchsetzungsstark und grausam. Darin glich er anderen Herrschern des Mittelalters.
Er starb 526.Unter den Königen, die auf ihn folgten, begann die Ostgotenherrschaft zu zerfallen. Die von Theoderich so erfolgreich begründete und von seinen Nachfolgern zunächst auch behauptete Autonomie wurde am Ende durch ein oströmisches Heer völlig beseitigt.
Theoderichs Grabmal, ein höchst imponierendes Bauwerk in Gestalt eines Turms, steht in Ravenna. Sein Inneres ist leer.
Das Europa des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts wurde von zahlreichen, höchst unterschiedlichen Völkerschaften bewohnt. Von Germanen war schon die Rede und von dem Umstand, dass die einzelnen Stämme sich vornehmlich in ihren Sprachen ähnelten. Dabei verstärkten sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Idiomen immer mehr. Die in Skandinavien siedelnden Germanen sprachen völlig anders als die Sachsen, Alemannen und Sueben zwischen Elbe und Rhein.
Auch die übrigen auf dem europäischen Kontinent wohnhaften Völker lassen sich am ehesten anhand ihrer idiomatischen Verwandtschaften bestimmen. Neben den Germanen stellten die Slawen und die Romanen die größten Sprachgemeinschaften.
Die Romanen bewohnten Länder, deren Dialekte auf das im römischen Imperium gebräuchliche Latein zurückgingen. Es handelte sich dabei allerdings nicht um das klassische Latein von Autoren wie Cicero, Caesar und Tacitus, sondern ein abgeschliffenes, von kleinen Leuten, Soldaten und Bewohnern der römischen Kolonien verwendetes Idiom, das anschließend in den verschiedenen Regionen seine jeweils eigene Entwicklung nahm.
So entstanden das Spanische, das Italienische, das Französische, das Portugiesische, das Katalanische und das Rumänische, eigene Sprachen, deren Verwandtschaft gleichwohl erkennbar blieb, von den Sprechern auch wahrgenommen wurde und so etwas wie ein diffuses Zusammengehörigkeitsgefühl stiftete. Bis heute sind die Unterschiede zwischen den romanischen Sprachen sehr viel geringer als die zwischen den germanischen.
Für das Slawische gilt Vergleichbares. Dessen Sprecher hatten ihr Herkunftsland in Osteuropa, in den Gegenden der heutigen Ukraine und Weißrusslands, wo viele der Stämme auch verblieben, während andere aufbrachen nach Westen und Südwesten, um etwa in Mitteleuropa die von germanischen Wandervölkern verlassenen Territorien östlich der Elbe einzunehmen. Andere stießen vor bis auf oströmisches Gebiet und nahmen Teile der Balkanhalbinsel dauerhaft in Besitz.
Mit Romanen, Germanen und Slawen sind die bedeutendsten Völkerfamilien Europas benannt. Daneben gab es kleinere, die überdauerten und bis in die Gegenwart existieren, wie Basken, Albaner und Finnen. Die Kelten, die früher fast das gesamte Westeuropa besiedelt hatten, waren bereits durch die Römer kolonisiert oder verdrängt worden. Lediglich in Irland sowie im Norden und Westen der britischen Insel (deren Süden die aus Jütland stammenden germanischen Angeln und Sachsen eroberten) konnten sie sich halten.
Immer wieder kam es zum massiven Ansturm aus Asien stammender Nomadenstämme, ein Beispiel gaben die Hunnen. Oft stießen sie bis in die Mitte Europas vor, stets wurden sie durch militärische Anstrengungen der bedrängten Völker zurückgeschlagen.
Gleiches gilt für die Awaren. Das aus dem Kaukasus stammende Volk, Erfinder eines Hilfsmittels beim Reiten, nämlich des Steigbügels, eroberte große Teile slawischen und oströmischen Territoriums. Das awarische Reich hielt sich relativ lange, es sollte erst gegen Ende des achten Jahrhunderts vergehen.
Insgesamt zeigte sich der europäische Kontinent zu Beginn des Mittelalters als ein buntes Nebeneinander von äußerst unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Gewohnheiten und Tendenzen. Ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, wie wir es heute kennen, existierte damals nicht.
Immer wieder gab es Bestrebungen, diese Kleinteiligkeit zu überwinden, was manchmal von Erfolg gekrönt wurde, der freilich nicht von langer Dauer war. Die europäische Geschichte, nicht nur die des Mittelalters, vollzog sich in einer fortwährenden Spannung zwischen Zusammenschluss und Trennung.
Die Idee der Renovatio zielte auf eine wie auch immer geartete Wiederherstellung des Römischen Reiches, was als Vorhaben mehrere Abschnitte des frühen Mittelalters bestimmen sollte. Die aus der Zeit der römischen Kolonialherren herrührende Zivilisation gestaltete sich anders, perfekter, raffinierter als jene von Gebieten, die eine römische Garnison, ein römisches Kastell, eine römische Stadtanlage niemals erlebt hatten.
Noch wichtiger wurde die Kirche.
Auf Betreiben seiner Mutter Helene hatte der römische Kaiser Konstantin sich im Jahre 313 taufen lassen. Das Christentum wurde daraufhin Staatsreligion für das gesamte Römische Reich. Ursprünglich in dem von Römern beherrschten Judäa lediglich eine von mehreren Sekten, deren Mitglieder in Armut und Frömmigkeit das nahe Weltende erwarteten, entwickelte sich deren Lehre nun im gesamten übrigen Imperium zum Glaubensbekenntnis vornehmlich der sozialen Unterschichten.
Eingesetzt hatte dies mit den Missionsreisen des Apostels Paulus. Der noch von Jesus Christus bestellte Apostel Petrus versah, so jedenfalls will es die Legende, sein Priesteramt in der Stadt Rom, wo seine Kirche lange Zeit verboten war und verfolgt wurde. Der getaufte Konstantin residierte in Kleinasien. Dem geographischen Ursprung des christlichen Glaubens lag Kleinasien näher als Rom.
Religionen neigen dazu, sich aufzufächern. Auch das Christentum zerfiel schon bald in mehrere unterschiedliche Strömungen. Jene aus der Nachbarschaft der judäischen Ursprünge entsprach den Gewohnheiten der urchristlichen Glaubensgemeinschaft am ehesten. Man nannte und nennt sie Orthodoxie; der griechische Name steht für Rechtgläubigkeit. Griechisch war auch die Sprache, in der diese Kirche ordinierte, da es die Sprache Ostroms war, das auf griechischem Territorium lag. Ganz anders das eigentliche Rom. Die Nachfolger des (der Überlieferung zufolge) ermordeten Apostels Petrus sprachen und predigten selbstverständlich in der dortigen Verkehrssprache Latein.
Zu den idiomatischen Unterschieden kamen rituelle. Christliche Gottesdienste bei den Orthodoxen hatten und haben andere Abläufe als die des römischen Katholizismus. Sie verwenden andere Kirchenarchitekturen, andere Hierarchien, andere Altäre, andere Gebete, eine andere Bildkunst und verehren andere Heilige. Immer wieder kam es zu dem Versuch, die sich entfremdenden Strömungen wieder zusammenzuführen, doch die Trift setzte sich fort und sollte schließlich zu vollständiger Trennung führen.
Beide Kirchen waren um neue Anhänger bemüht. Dem paulinischen Beispiel folgend geschah dies über Missionare. Die Orthodoxie bekehrte auf dem Balkan und bei der Mehrheit der slawischen Völker, die Katholiken missionierten in West- und Nordeuropa.
Einer weiteren Variante des christlichen Glaubens hingen, sofern überhaupt christianisiert, manche germanische Völkerschaften an.
Die Strömung trägt den Namen Arianismus, benannt nach dem Geistlichen Arius aus Alexandria. Er bestritt die von der Orthodoxie ebenso wie vom Katholizismus vertretene Überzeugung, Jesus Christus sei wesensgleich mit Gott, und sah in dem Messias nur einen begnadeten Menschen. Theoderich und seine Ostgoten waren Arianer. Ihr abweichendes Glaubensbekenntnis war nicht die Ursache ihres Untergangs. Es ergab sich nur, dass mit dem Untergang von Goten und Wandalen auch der Arianismus völlig verschwand.
Am 2.April des Jahres 747 wurde dem Frankenfürsten Pippin ein Sohn geboren, der den in der Familie häufigen Namen Karl erhielt.
Er sollte zu einer der wesentlichen Persönlichkeiten des europäischen Mittelalters werden: energisch, erfolgreich, vorbildhaft, gerühmt von den Zeitgenossen und der Nachwelt, umrankt von Mythen, bereits zu Lebzeiten ausgestattet mit dem Beinamen «der Große» und später sogar heilig gesprochen. Bis heute blieb er eine wichtige Figur des kollektiven Geschichtsbewusstseins in Gegenden, die er einst regierte.
Er war hoch gewachsen, maß fast zwei Meter, breitschultrig, hatte dichtes Haupthaar und einen Stiernacken. Er trug einen Schnauzbart, dessen Spitzen neben den Mundwinkeln herabhingen. Insgesamt heiratete er viermal und hielt sich nebenher zahlreiche Konkubinen, von denen vier namentlich bekannt sind. Er war Vater von wenigstens sechzehn Kindern, legitimen wie illegitimen, liebte die Jagd und ging ihr noch im hohen Alter gern nach.
Karl war gebildet, beherrschte das Lesen und das Schreiben, verstand Latein, kannte sich aus in der Philosophie und in theologischen Fragen, förderte die schönen Künste, die Dichtung, die Architektur. Unter seiner Regentschaft schuf er eine effiziente Verwaltung und führte eine neue Einheitswährung ein, ordnete das Kirchenwesen und berief einen Kreis von Gelehrten, die aus unterschiedlichen Ländern kamen; mit ihnen pflegte er Konversation und ließ sich von ihnen in Sachfragen beraten.
Und er erwies sich als guter Diplomat. Drei Gesandte schickte er auf den weiten Weg in den Nahen Osten, ins Zweistromland, zu Sultan Harun al-Raschid von Bagdad. Der ließ Karl als ein allseits bestauntes Geschenk einen weißen indischen Elefanten zukommen, mit Namen Abul Abbas; dabei dürfte es sich um das erste asiatische Rüsseltier gehandelt haben, das bis ins nördliche Rheinland gelangte.
Karl war erfolgreich als Feldherr. Er führte Krieg gegen die Dänen im Norden, gegen die Slawen im Osten, gegen die Langobarden in Süden, gegen die Mauren im Westen. Das Reichsgebiet, das er von seinem Vater übernommen hatte, erweiterte er beträchtlich; nie wieder würde auf dem europäischen Festland ein Reich von derartiger Ausdehnung existieren.
Die westgermanische Völkerschaft der Franken, der er entstammte, hatte ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet in Gegenden des Mittelrheins und der Rheinmündung. Anfangs waren die Franken noch in unterschiedliche Stämme zerfallen, durch Kleinkönige regiert, von denen einer, Chlodwig, sie auf gewaltsame Weise zusammenführte.
Es war die Zeit der Völkerwanderung. Die Franken nahmen daran teil, doch im Unterschied zu Goten und Wandalen gaben sie ihre Herkunftsregion nicht gänzlich auf, und als sie zum Christentum konvertierten, folgten sie nicht der arianischen Lehre, sondern bekannten sich zum römischen Katholizismus.
Chlodwig, aus dem Geschlecht der Merowinger, beherrschte bereits große Teile des einstigen Gallien. Seine letzte Ruhestätte fand er in der Abteikirche von Saint-Denis nahe Paris. Unter seinen Nachfolgern gab es Teilungen und Wiedervereinigungen, militärische Übergriffe von außen wurden abgewehrt. Ein besonders erfolgreicher fränkischer Militärführer hieß Karl Martell, Vater von Pippin und der Großvater Karls.
Karl Martells Familie hatte über Generationen hinweg den Merowingern als Hausmeier gedient. Dies war ein höchstes Regierungsamt, in etwa zu übersetzen mit Gouverneur oder Palastpräfekt. Auch Pippin war anfangs Hausmeier. Im Jahre 751 sorgte er dafür, dass der amtierende Merowinger mit Namen Childerich, ein ziemlich schwacher und unfähiger Mensch, abgesetzt, geschoren und in ein Kloster geschickt wurde. Die Nachfolge auf dem Thron trat Pippin an. Er sollte insgesamt 18Jahre regieren.
Karl, sein Sohn, musste das Erbe zunächst mit seinem jüngeren Bruder Karlmann teilen, der aber schon bald starb. Karl, nunmehr alleiniger König, sicherte und erweiterte das Reich in verschiedenen militärischen Aktionen, von denen die längste der Krieg gegen die Sachsen war.
Diese westgermanische Völkerschaft siedelte in den Gebieten zwischen Weser und Elbe. Ihr Name bezog sich auf ihre Vorzugswaffe Sax, ein Kurzschwert. Einige der Stämme waren einst gemeinsam mit Angeln und Jüten aufgebrochen zu den Britischen Inseln, der größere Teil war auf dem Festland geblieben und hatte sich dort ausgebreitet. Die Grenzen im Westen stießen an die des Frankenreichs.
Karls Absicht war es, diesen letzten noch heidnischen Germanenstamm zu christianisieren. Das wichtigste sächsische Heiligtum war die Irminsul, eine steil aufragende hölzerne Säule, die den Weltenbau symbolisierte. Karl ließ sie fällen. Die Sachsen wehrten sich und fielen in fränkisches Gebiet ein, Karl warf sie zurück. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Völkern sollte sich über mehr als drei Jahrzehnte hinziehen, auf dem Höhepunkt kam es zur Vernichtung eines kompletten fränkischen Heeres, worauf Karl in Verden an der Aller 4500 sächsische Geiseln abschlachten ließ. Der erfolgreichste sächsische Anführer war ein westfälischer Adliger namens Widukind. Auch er wurde am Ende von Karl besiegt und ließ sich taufen. Der Sachsenkrieg war zu Ende.
Im Jahr 800 ließ sich Karl in Rom vom Papst zum Kaiser krönen. Dieser Titel hatte bis dahin allein dem oströmischen Herrscher zugestanden, der auch umgehend Protest erhob; in umständlichen Verhandlungen wurde ein diplomatischer Ausgleich erzielt. Karls Herrschaftsgebiet reichte zuletzt von Friesland bis Mittelitalien, von der Elbe bis in den Norden der Iberischen Halbinsel und umschloss damit große Teile des vormaligen römischen Imperiums.
War Karl, nunmehr Titelerbe der Caesaren, auch deren Fortsetzer in sonstiger Hinsicht? Die Geschichtsschreibung spricht, dies betreffend, von einer karolingischen Renaissance. Freilich, die Wirren der Völkerwanderung hatten zuvor die antike Hochkultur weitgehend zerschlagen, sodass nur noch Reste von ihr existierten. Exponate des Römisch-Germanischen Museums in Köln zeigen, wie vergleichsweise rückständig die fränkischen Zeugnisse sich neben den römischen ausnehmen. Es sollte noch Jahrhunderte dauern, ehe die Lebensumstände in Westeuropa das antike Niveau wieder einholten, aber immerhin versuchte Karl eine Annäherung.
Sein bevorzugter Aufenthaltsort war das römische Aquisgranum, das heutige Aachen. Er ließ dort einen eindrucksvollen Dom errichten, in dem er nach seinem Ableben auch beigesetzt wurde. Sein Thron steht ebenfalls in Aachen. Es sollte zu einem festen Ritual späterer Könige werden, auf diesem Thron Platz zu nehmen.
Eine um Karl den Großen kreisende mittelalterliche Dichtung erzählt von dessen Neffen Roland, der ohne Einwilligung seines Onkels auf der spanischen Halbinsel Krieg gegen die Heiden führt und dabei umkommt.
Die äußerst märchenhaft ausgeschmückte Geschichte hat einen realen Kern. Karl war tatsächlich militärisch in Iberien engagiert, wo er im Konflikt zwischen zwei der dort herrschenden maurischen Fürstentümer vermitteln sollte.
Das Wort Maure oder Mohr leitet sich ab vom griechischen maurós, was «dunkel» bedeutet. Bezeichnet wurden damit die Bewohner Nordafrikas, deren korrekter Name Berber lautet: Es handelt sich um Nomadenstämme in Gebieten nördlich der Sahara, die während des 7.Jahrhunderts zum Islam bekehrt wurden.
Diese jüngste der drei monotheistischen Religionen geht zurück auf einen arabischen Kaufmann namens Mohammed. Biographischen Aufzeichnungen zufolge erfuhr er seine entscheidende Inspiration in einer einsamen Höhle. Als Karawanenführer war er in Berührung mit jüdischen wie mit christlichen Milieus gekommen, deren Glaubensbekenntnisse offensichtlich Spuren in seiner Lehre hinterlassen haben und in das heilige Buch der Moslems, den Koran, eingingen. Dessen Wortlaut wurde Mohammed laut Überlieferung von Erzengeln zugetragen.
Die Ausbreitung der neuen Religion erfolgte zunächst durch Mohammed selbst, der in einem zum Stammeskrieg sich ausweitenden Konflikt als erfolgreicher Heerführer auftrat. Die für seine Herkunftsstadt Mekka wichtigen Handelszüge wurden fortwährend von räuberischen Überfällen bedroht, die Mohammed schließlich abzuwehren wusste. Der militärische Ruhm verhalf seiner Lehre zum Erfolg. Am Ende seines Lebens war er der unumstrittene Führer fast der gesamten arabischen Halbinsel, deren Bewohner sich ausnahmslos seiner Glaubenslehre zuwandten.
Das zentrale Heiligtum des Islam befindet sich in Mekka. Die Kaaba, ein würfelförmiges Steingebäude, besteht aus einem einzigen Raum und ist nach muslimischer Überzeugung das Haus Gottes, gestiftet von einem der frühen Propheten, Ibrahim, der identisch ist mit dem biblischen Stammvater Abraham. Für einen gläubigen Muslim ist es selbstverständlich, einmal im Leben zur Kaaba zu pilgern.
Es ist dies zugleich eine von fünf Grundpflichten der Religion. Die vier anderen sind: das Glaubensbekenntnis zu Allah als alleinigem Gott und zu Mohammed als Gottes Gesandten, das fünfmal am Tag zu verrichtende Pflichtgebet, das Einhalten des Fastenmonats und das Entrichten der Almosensteuer.
Der Islam ist eine vergleichsweise abstrakte Religion. Bildliche Darstellungen sind weitgehend verpönt, was zu Herausbildung einer reichhaltigen Ornamentik führte. Zentrales Religionsgebäude ist die Moschee, wo sich, vornehmlich am Freitag, die Gläubigen zur gemeinsamen Andacht und zum Anhören der Predigt einfinden, die ein Vorbeter hält.
Die Mischung aus Einfachheit und Mystik, aus Abstraktion und Durchgeistigung haben den Islam mit bedeutenden Energien ausgestattet, die seinen Erfolg begünstigten. Von Arabien breitete er sich nach Osten aus, nach Süden, nach Westen und hatte Ende des siebten Jahrhunderts Nordafrika erreicht.
Ein damaliger Berberführer hieß Tariq ibn Ziyad. Er war Gouverneur für das Gebiet von Tanger und überquerte 710 die Straße von Gibraltar mitsamt einem Heer von siebentausend Kriegern. Er begann, die Iberische Halbinsel zu besetzen, besiegte die dort ansässigen Westgoten und eroberte die Städte Córdoba, Málaga und Sevilla.
Es war dies die erste von mehreren maurischen Invasionen, die schließlich über die Pyrenäen und bis nach Südwestfrankreich führten. Erst der merowingische Hausmeier Karl Martell, der Großvater Karls des Großen, konnte die Mauren dort aufhalten und zurückwerfen.
Zentrum der maurischen Herrschaft blieb das südspanische Andalusien, Al-Andalus. Hier entwickelte sich eine Hochkultur mit außerordentlichen Leistungen in der Literatur und der Wissenschaft, im Kunsthandwerk, im Gartenbau, in der Architektur. Der damaligen Zivilisation im christlichen Europa war sie deutlich überlegen.
Erbe Karls des Großen wurde sein dritter Sohn Ludwig. Karl hatte ihn schon zu seinen Lebzeiten als Mitkaiser krönen lassen.
Ludwig entschloss sich später, das gesamte Herrschaftsgebiet unter seinen drei Söhnen aufzuteilen, verbunden mit der Auflage, die Einheit des Reiches zu wahren. Doch es kam anders. Die Söhne Ludwigs zerstritten sich, das Reich zerfiel. In einem zu Verdun beschworenen Vertrag beschlossen sie die endgültige Teilung. Ein Chronist notierte: «Als sie so Frieden gemacht und durch Eidschwur bekräftigt hatten, zogen sie heim, um jeder seinen Teil zu sichern und zu ordnen.»
Die drei Teile waren Westfranken, Ostfranken und das Mittelreich, mit dem sich der Anspruch auf die Kaiserwürde verband. Es fiel an Ludwigs Sohn Lothar. Dessen Herrschaftsgebiet hieß später auch Lothringen und würde noch später in etwa identisch sein mit dem Königreich Burgund.
Mit dem Vertrag von Verdun begann eine Staatenbildung, die ungeachtet aller sich später ergebenden Verwerfungen und Veränderungen eine Sache auf Dauer war. Aus Westfranken sollte Franzien, also Frankreich entstehen, Ostfranken war der Vorläufer des nachmaligen Deutschland.
Die innere Ordnung, die in jenen drei Territorien herrschte, und nicht nur dort, ging auf fränkische Überlieferung zurück. Es handelte sich um ein System der Abhängigkeiten, der wechselseitigen Verpflichtungen und der strikten Rangabfolge, das in den verschiedenen Regionen ebenso wie in aufeinander folgenden Epochen Variationen erfahren konnte. Die Grundstrukturen blieben jedoch gleich.
Das System trägt den Namen Feudalismus. Die Bezeichnung kommt von dem lateinischen feodum, was Leihgabe bedeutet. Konditioniert war diese Ordnung zunächst ökonomisch: Es herrschte weitgehender Naturalaustausch, wichtigste Quelle der Wertschöpfung war die Landwirtschaft.
Das Ackerland blieb in der Verfügungsgewalt eines Grundherrn. Die darauf arbeitenden Bauern hatten ihm Abgaben zu liefern, seine Gegenleistung bestand in militärischem Schutz. Der befestigte Wohnsitz des Grundherrn, die Burg, konnte in Krisenzeiten für Mensch und Vieh als Rückzugsort dienen.
Der Grundherr war adlig. Auch bei den Edelleuten herrschten strikte Hierarchien: Hoher und niederer Adel ebenso wie Bauernstand waren vorgegeben durch die Geburt und galten weithin als unveränderlich.
Alles war vorgezeichnet. Jeder hatte seinen Platz im Leben, seinen status oder Stand, äußerlich angezeigt durch Kleidung, Wohnung, Ernährung. Das System, in das er sich einpasste, hieß ordo, Ordnung. Geistliche Autoren des Mittelalters haben sie zu beschreiben und zu begründen versucht. Sie beriefen sich auf den Apostel Paulus, dessen Briefe das Prinzip der irdischen Unterwürfigkeit vorgaben.
In einem mittelalterlichen Text heißt es:
«Gott selber hat gewollt, dass unter den Menschen die einen Herren, die anderen aber Knechte seien, auf dass die Herren gehalten wären, Gott zu ehren und zu lieben, und die Knechte, ihren Herrn zu lieben und zu ehren nach dem Worte des Apostels.» Und in einer Dichtung steht ergänzend: «Niemals hat der Erfolg gehabt, der gegen die Standesordnung rebelliert.»
Dies war die Norm. Sie begründete die Existenz der einzelnen Stände und garantierte ebenso ihre Unverrückbarkeit. Nur gelegentlich ergaben sich Möglichkeiten zu einem sozialen Aufstieg, also zum Wechsel in einen anderen Stand, der dann seinerseits vererbt wurde. Im Falle von Vermischung, bei Eheschließung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Stände, war der niederere Stand maßgebend für den gesellschaftlichen Status der Eheleute.
Verbreitet war die Vorstellung von den drei Ständen oratores, bellatores, laboratores, das sind: Lehrstand, Wehrstand, Nährstand. Bald sollte sich zeigen, dass man mit dieser Grobeinteilung nicht auskam. Allein der Wehrstand umfasste vom König bis zum kleinen Schwertträger viele unterschiedliche Ränge. Insofern liegt man mit einem alten deutschen Abzählvers für Kinder gar nicht einmal ganz falsch: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann. Die Bauern bildeten die unterste, die am wenigsten angesehene Schicht; lediglich das Bettelvolk, die Ausgestoßenen, Herumtreiber und Gesetzlosen, wurde gesellschaftlich noch weniger geschätzt.
Das Ackerland, auf dem die Bauern wirtschafteten, gehörte dem Grundherrn. Doch war er in strengem Sinne tatsächlich der Eigentümer? Ursprünglich hatte er seinen Besitz als Leihgabe, als Lehen aus der Hand seines Lehnsherrn erhalten. Der stand in der Gesellschaftshierarchie über ihm und hatte den von ihm verliehenen Besitz seinerseits als Leihgabe empfangen; oberster Lehnsherr war immer der König.
Diese Besitzordnung ging aus einem im karolingischen Franken entwickelten Prinzip hervor, wo der Vasall einem Leihgeber zu Diensten war, wie umgekehrt der Leihgeber sich seinem Vasallen gegenüber verpflichtete. Das Verhältnis wurde durch einen Treueid besiegelt.
Das Lehen war anfangs nur Leihgabe auf Lebenszeit. Bald schon konnte es vererbt werden, und allmählich erhielt es so den Rang von förmlichem Eigentum. Je nach Umständen konnten Lehnsverhältnisse gelegentlich aufgekündigt und danach neu vergeben werden, woraus nicht selten Konflikte entsprangen. Die konnten ebenso aus Grenzverläufen herrühren oder aus Erbansprüchen. Das gesamte Mittelalter war beherrscht von Streitigkeiten um Grundbesitz, und die angeblich heilige, da von Gott gegebene Ordnung wurde fortwährend erschüttert, in Frage gestellt und gegebenenfalls neu bestimmt.
Das Abhängigkeitssystem der Grundherrschaft hatte unterschiedliche Gestalt. Es gab den Fronhof, den der Grundherr selbst leitete und dem die zugehörigen Bauernwirtschaften zugeordnet waren. Es gab, bei den größeren Territorien, durch eingesetzte Verwalter beaufsichtigte Untereinheiten, sie hießen Meiereien oder Vogteien. Kleinere Fronhöfe und Dörfer konnten einen Verbund eingehen.
Bei den Bauern bestanden, was die Größe des Nutzeigentums nicht unmittelbar betreffen oder beeinflussen musste, verschiedene Arten der Abhängigkeit. Es gab die persönliche Unfreiheit, auch Leibeigenschaft, in Frankreich hießen Angehörige dieses Standes servis oder serfs, in England villeins. Neben dem Grundzins, also der Abgabe für das bewirtschaftete Land, war an den Grundherrn noch der Leibzins oder Kopfzins zu entrichten, im Französischen chevage. Die materielle Belastung war also eine doppelte.