Das Rad der Zeit 4 - Robert Jordan - E-Book
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Das Rad der Zeit 4 E-Book

Robert Jordan

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Beschreibung

Rand al'Thor trägt schwer an seiner Bestimmung, denn er ist der legendäre »Wiedergeborene Drache«, der die Mächte des Lichts gegen den Dunklen König führen soll. Er sucht verzweifelt Unterstützung – und findet sie schließlich unter den Aiel, den Kriegern des Drachen. Gemeinsam stellen sie sich den gefürchteten Schattenkriegern. Die Buch-Serie zur großen prime video-Serie »Das Rad der Zeit«!

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Aus dem Amerikanischen von Uwe Luserke

 

© Robert Jordan 2000

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Shadow Rising«,

Tom Doherty Associates, Tor Books, New York 1992

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2004, 2005

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin drei Bänden: »Schattensaat « (1994), »Die Heimkehr« (1995), »Der Sturm bricht los« (1995)

Karte: Ellisa Mitchell

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Markus Weber und Stephanie Gauger, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von Getty Images und iStock

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Karte

Widmung

Motto

Vorwort

Kapitel 1

Schattensaat

Kapitel 2

Störungen im Muster

Kapitel 3

Überlegungen

Kapitel 4

Marionetten

Kapitel 5

Verhör

Kapitel 6

Tore

Kapitel 7

Spiel mit dem Feuer

Kapitel 8

Sturköpfe

Kapitel 9

Entscheidungen

Kapitel 10

Widerstand

Kapitel 11

Was im Verborgenen liegt

Kapitel 12

Nach Tanchico oder zur Burg?

Kapitel 13

Gerüchte

Kapitel 14

Die Bräuche in Mayene …

Kapitel 15

Über die Schwelle

Kapitel 16

Abschiede

Kapitel 17

Irrtümer

Kapitel 18

In die Kurzen Wege

Kapitel 19

Der Wogentänzer

Kapitel 20

Der Wind erhebt sich

Kapitel 21

Ins Herz hinein

Kapitel 22

Aus dem Stein

Kapitel 23

Jenseits des Steins

Kapitel 24

Rhuidean

Kapitel 25

Die Straße zum Speer

Kapitel 26

Die Geweihten

Kapitel 27

Durch die Kurzen Wege

Kapitel 28

Der Turm von Ghenjei

Kapitel 29

Heimkehr

Kapitel 30

Jenseits der Eiche

Kapitel 31

Versprechen

Kapitel 32

Brennende Fragen

Kapitel 33

Ein neuer Faden im Muster

Kapitel 34

Der mit der Morgendämmerung kommt

Kapitel 35

Eine harte Lektion

Kapitel 36

Falsche Spuren

Kapitel 37

Der Imre-Außenposten

Kapitel 38

Verborgene Gesichter

Kapitel 39

Ein Becher Wein

Kapitel 40

Trolloc-Jäger

Kapitel 41

Bei den Tuatha’an

Kapitel 42

Ein fehlendes Blatt

Kapitel 43

Der Wolf leckt seine Wunden

Kapitel 44

Der Sturm naht

Kapitel 45

Das Schwert des Kesselflickers

Kapitel 46

Schleier

Kapitel 47

Eine Vorhersage geht in Erfüllung

Kapitel 48

Ein Angebot wird abgelehnt

Kapitel 49

Die Kaltfelsenfestung

Kapitel 50

Fallen

Kapitel 51

Enthüllungen in Tanchico

Kapitel 52

Hilfe in der Not

Kapitel 53

Eine bindende Entscheidung

Kapitel 54

Im Palast

Kapitel 55

In die Tiefe

Kapitel 56

Goldauge

Kapitel 57

Die Stunde der Wahrheit

Kapitel 58

Die Fallen von Rhuidean

Motto

Glossar

Vorbemerkung zur Datierung

 

Gewidmet

ROBERT MARKS

 

Schriftsteller, Lehrer, Gelehrter, Philosoph,

Freund und Quelle der Inspiration

Der Schatten wird sich erheben über die Welt

und alle Länder verdunkeln bis hin zum letzten,

und es wird weder Licht geben noch Sicherheit.

Und er, der aus der Morgendämmerung geboren wurde,

aus einer Tochter des Speers, wie es prophezeit

wurde, wird seine Hände ausstrecken, um den

Schatten zu fangen, und die Welt wird aufschreien

im Schmerz der Erlösung. Aller Ruhm gebührt dem Schöpfer

und dem Licht und ihm, der wiedergeboren wird.

Möge uns das Licht vor ihm beschützen.

– aus: Kommentaren zum Karaethon-Zyklus

Sereine dar Shamelle Motara

Ratsschwester der Comaelle,

Hochkönigin von Jaramide

(ca. 325 NZ im Dritten Zeitalter)

Vorwort

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter ihres Ursprungs wiederkehrt.

Mit diesen Worten beginnt jede Chronik aus der Welt des Rades, eines Universums, in dem das Rad der Zeit und das Große Muster des Schicksals, das es webt, das oberste Prinzip sind.

Rand al’Thor ist der Wiedergeborene Drache.

Aufgewachsen in dem kleinen Dorf Emondsfelde lebt er auf dem Hof seines Vaters weitab von den Wirrnissen der Zeit. Es ist ein gutes Leben in einer Epoche, in der das furchtbare Erbe des Schattenkrieges noch immer allgegenwärtig ist und die Welt vor der Rückkehr des Dunklen Königs zittert.

Vor über drei Jahrtausenden endete das Zeitalter der Legenden mit der Zerstörung der Welt. Es war ein Goldenes Zeitalter, in dem besonders begabte Männer und Frauen aus der Wahren Quelle schöpften und die Eine Macht lenkten. Man nannte sie Aes Sedai, und sie machten sich mit der Einen Macht die Elemente untertan und vollbrachten Heldentaten.

Aber dann – so berichten die Chroniken – erlagen einige von ihnen den Einflüsterungen des Bösen. Sie wollten den Dunklen König, die Quelle alles Bösen, aus seinem Kerker befreien, in den ihn der Schöpfer im Augenblick der Schöpfung einsperrte. Der Schattenkrieg verheerte das Land, denn die Eine Macht erwies sich als schreckliche Waffe.

Unter der Führung von Lews Therin Telamon, dem stärksten Aes Sedai seiner Zeit, führten die Streitkräfte des Lichts einen letzten verzweifelten und gewagten Schlag. Sie versiegelten den Kerker am Berg Schayol Ghul und sperrten die mächtigsten der abtrünnigen Aes Sedai dort ein, jene Männer und Frauen, die im Namen Shai’tans die Heere des Bösen anführten und sich selbst als die Auserwählten bezeichneten, während die Welt sie nur die Verlorenen nannte.

Der Augenblick des Triumphs endete in der Zerstörung der Welt. Der Dunkle König vergiftete Saidin, die männliche Hälfte der Wahren Quelle. Machtlenker verfielen dem Wahnsinn und entfesselten einen Sturm der Vernichtung, der die Zivilisation ins Unheil stürzte. Allen voran Lews Therin, der Drache, der am Ende alle tötete, die etwas von seinem Blut in sich trugen, und schließlich auch sich selbst.

Aber das Rad dreht sich unerbittlich weiter, neue Reiche sind aus dem Chaos entstanden. Doch das Erbe des Bösen ist allgegenwärtig. Noch immer brüten vom Schatten verseuchte Landstriche die nichtmenschlichen menschenfressenden Trollocs und anderes Schattengezücht aus, während Schattenfreunde im Verborgenen das Vermächtnis des Dunklen Königs erfüllen.

Vor allem aber bestimmt eine Prophezeiung den Lauf der Welt: die Prophezeiung des Drachen. Sie verkündet die Befreiung des Dunklen Königs und die Wiedergeburt Lews Therin Telamons. Sie berichtet von dem Wiedergeborenen Drachen, einem Mann, der sowohl der Vernichter als auch der Erlöser der Welt sein soll. Er kann die Eine Macht lenken, und er soll Tarmon Gai’don schlagen, die Letzte Schlacht gegen den Dunklen König.

Diese Prophezeiung bestimmt auch den Weg der Aes Sedai. Nach der Verschmutzung der Wahren Quelle können nur noch Frauen die Eine Macht gefahrlos benutzen. Sie haben in der Stadt Tar Valon die Weiße Burg gegründet und bewahren das Erbe der Vorzeit. Sie dienen als Berater von Königen und Königinnen, aber sie sind auch gefürchtet und gehasst. Und sie machen unerbittlich Jagd auf alle Männer, in denen sich das Talent zum Machtlenken manifestiert, um Schlimmes zu verhindern.

Das alles kennt der junge Rand aber nur aus Geschichten. In der Gegend der Zwei Flüsse geht das Leben einen beschaulichen Gang. Das ändert sich schlagartig in der Nacht, in der Trollocs das Dorf angreifen. Das Schattengezücht macht Jagd auf Rand und seine beiden Freunde Perrin Aybara und Mat Cauthon, und niemand kann sich das erklären. Allein die scheinbar zufällige Anwesenheit der reisenden Aes Sedai Moiraine und ihres Behüters Lan rettet das Dorf und die Jungen. Moiraine will sie in die Sicherheit der Weißen Burg bringen, und notgedrungen verlassen Rand, Mat und Perrin ihre Heimat. Begleitet werden sie von Egwene, Rands Jugendliebe, in der sich das Talent zur Machtlenkerin manifestiert hat, und Nynaeve, der Dorfheilerin, in der ebenfalls diese Fähigkeiten schlummern.

Rand kann das alles nicht verstehen. Er ist doch nur ein Schafhirte, und seine Freunde sind ebenfalls ganz normale Jungen. Aber auf der Flucht vor den Sendboten des Bösen wird schnell klar, dass er in der Tat etwas Besonderes ist, als sich seltsame und beängstigende Fähigkeiten in ihm manifestieren.

Er ist der Wiedergeborene Drache, von dem in den Prophezeiungen die Rede ist, er soll bei Tarmon Gai’don, der Letzten Schlacht, gegen den Dunklen König antreten.

Das ist ein Schicksal, das Rand weder akzeptieren kann noch will. Immer wieder hat es im Lauf der Zeit falsche Drachen gegeben, Männer, die über die Eine Macht verfügten und die ganze Nationen in Krieg und Untergang trieben. Männer, die von Aes Sedai gejagt und gewaltsam der Fähigkeit des Machtlenkens beraubt wurden. Männer wie den falschen Drachen Logain, der erst kürzlich zur Strecke gebracht wurde und jetzt Gefangener der Aes Sedai ist.

Aber Rand kann sich den Ereignissen nicht verschließen. Der Verlorene Ba’alzamon erscheint ihm in seinen Träumen. Die mächtigen Gefolgsleute des Dunklen Königs haben sich schon lange aus ihrem Gefängnis befreit und wollen jenes Werk vollenden, das sie im Schattenkrieg begannen.

Ba’alzamon nennt ihn den wiedergeborenen Lews Therin, den Brudermörder. Er bietet Rand an, ihn zu verschonen, wenn er sich nur auf die Seite des Dunklen Königs schlägt. Und er warnt ihn vor den Aes Sedai, die ihre eigenen Pläne mit dem Wiedergeborenen Drachen haben. So wie Moiraine, die so viel mehr über Rand weiß, als sie preisgibt.

Gejagt von Trollocs und Schattenfreunden entdecken Rand, Mat und Perrin, dass sie Ta’veren sind. Ihre Taten beeinflussen das Muster, das Gewebe des Schicksals, und ihre Handlungen führen dazu, dass sich die Prophezeiungen des Drachen erfüllen.

Rand will weder Marionette der Aes Sedai sein noch ein Handlanger des Bösen. Er kann verhindern, dass Ba’alzamon das Auge der Welt an sich reißt, eine künstlich erschaffene Ansammlung unverdorbenen Saidins. Bei dem Kampf wird das Auge vernichtet, aber die Freunde finden das sagenumwobene Horn von Valere, ein weiteres Artefakt, mit dem man tote Helden zum Kampf gegen den Schatten aus dem Grab rufen kann.

Rand glaubt Ba’alzamon getötet zu haben und damit endgültig frei zu sein. Eine Begegnung mit der Aes Sedai Siuan Sanche zeigt ihm jedoch, dass er seinem Schicksal nicht entkommen kann. Siuan Sanche ist der Amyrlin-Sitz, die gewählte Anführerin der Weißen Burg. Sie hütet ein Geheimnis. Vor langer Zeit erfuhr sie von der Geburt des echten Wiedergeborenen Drachen und schickte ihre Freundin und Vertraute Moiraine aus, ihn zu finden. Nach langen Jahren der Suche führte das Muster Moiraine nach Emondsfelde.

Siuan Sanche lässt Rand ziehen. Damit geht sie ein großes Risiko ein, denn es gibt in der Weißen Burg Fraktionen, die dieses Handeln nicht billigen und den Wiedergeborenen Drachen um jeden Preis unter Kontrolle bringen wollen.

Das Horn von Valere soll in die Weiße Burg geschafft werden, die als Bollwerk gegen die Macht des Bösen gilt. Aber es wird von dem Schattenfreund Padan Fain gestohlen, der Rand mit unversöhnlichem Hass verfolgt. Mat Cauthon und Perrin Aybara wollen es zurückholen, und Rand schließt sich ihnen an.

Die lange Jagd führt sie zur Halbinsel von Toman, wo sie in der Stadt Falme auf die Vorhut einer Invasionsarmee stoßen. Die Seanchaner sind gelandet, eine in Vergessenheit geratene Nation von jenseits des Meeres. Auch in Seanchan kennt man Machtlenkerinnen, aber man hält sie für so gefährlich, dass man sie versklavt und ihren Willen bricht. Das müssen auch Egwene und Nynaeve erkennen, die zusammen mit Elayne Trakand von Schattenfreunden verraten werden.

Die jungen Frauen aus Emondsfelde sind als Novizinnen in der Weißen Burg aufgenommen worden. Dort haben sie Elayne Trakand kennengelernt. Elayne ist die Tochter der Königin von Andor und damit die Thronerbin. Die harte Ausbildung der Aes Sedai lässt die Drei trotz ihrer so unterschiedlichen Herkunft schnell Freundschaft schließen. Sie können nicht wissen, dass die Weiße Burg schon lange von Schattenfreunden unterwandert ist. Die Aes Sedai sind in sieben Ajahs organisiert, jede dieser Gemeinschaften spezialisiert sich auf einen anderen Zweig der Einen Macht. Während die Braune Ajah nach der Ansammlung von Wissen trachtet, macht die Rote Ajah Jagd auf Männer, bei denen sich die Macht manifestiert. Aber es ist die Schwarze Ajah, die sich dem Dunklen König verschrieben hat.

Eine Schwarze Ajah liefert die drei Frauen, die alle Kontakt mit dem Wiedergeborenen Drachen hatten, den Seanchanern aus. Nynaeve und Elayne können fliehen, aber Egwene fällt den Fremden in die Hände und wird zur Damane gemacht, einer versklavten Machtlenkerin.

In Falme kommt es zu einer großen Schlacht. Mitten im Kampf gegen die Seanchaner begegnet Rand erneut Ba’alzamon, der immer noch versucht, ihn auf die Seite des Schattens zu locken. Während Rand verzweifelt gegen den Verlorenen kämpft, benutzt Mat Cauthon das Horn von Valere und ruft die Geister der Helden der Vergangenheit, die dem Drachenbanner folgen müssen. Gemeinsam treiben sie die Invasoren zurück ins Meer. In den Kampfwirren kann Egwene von ihren Freundinnen befreit werden.

Es sind diese Ereignisse, die Rand al’Thor schließlich zur Einsicht bewegen. Das Rad der Zeit hat dieses Muster gewoben, er ist der Wiedergeborene Drache, die Reinkarnation von Lews Therin. Er hat keine Wahl, er muss seinem Schicksal folgen und den Kampf gegen den Dunklen König und die Verlorenen aufnehmen.

Sein Weg führt ihn nach Tear, eine Nation am Meer der Stürme. Im Stein von Tear, einer unbezwingbaren Festung, wird Callandor aufbewahrt, ›das Schwert, das kein Schwert ist‹. Die Prophezeiung lautet, dass der Stein von Tear niemals fallen wird, bis der Drache Callandor in der Hand hält. Erringt Rand das Schwert, muss ihn die ganze Welt als den wahren Drachen anerkennen.

Um seine Freunde nicht zu gefährden, bricht er allein auf. Aber sie folgen ihm, denn sie sind das Volk des Drachen geworden, angeführt von Moiraine, die ihren eigensinnigen Schützling nicht im Stich lässt.

In Tear laufen erneut die Fäden des Musters zusammen. Egwene, Nynaeve und Elayne sind in der Weißen Burg in verblüffend kurzer Zeit in den Rang von Aufgenommenen erhoben worden, ein Zeichen für ihr Geschick in der Einen Macht. Nun müssen sie nur noch die Prüfung zur Aes Sedai ablegen. Aber Siuan Sanche gibt ihnen einen Geheimauftrag. Dreizehn Aes Sedai sind als Schwarze Ajah entlarvt worden und geflohen, ein unerhörter Vorgang. Sie haben kostbare Ter’Angreale gestohlen, Artefakte aus dem Zeitalter der Legenden, die die Eine Macht verstärken können. Siuan Sanche weiß nicht, welchen Schwestern sie noch vertrauen kann. Ihre Wahl fällt auf die jungen Aufgenommenen, die alle mit dem Wiedergeborenen Drachen in Verbindung stehen. Sie sollen die Verräterinnen aufspüren.

Unterwegs begegnen sie den Aiel, furchtlosen Kriegern und Nomaden aus der Wüste. Ihren Überlieferungen zufolge haben sie vor der Zerstörung der Welt den Aes Sedai gedient und versagt. Für diese Sünde wurden sie in das lebensfeindliche Dreifache Land jenseits des Rückgrats der Welt verbannt. Zuletzt waren sie zwanzig Jahre zuvor in Erscheinung getreten, im Aielkrieg, als mehrere Clans in Cairhien einfielen und brandschatzten, bis sie vor den Mauern von Tar Valon aufgehalten werden konnten. Nun sind sie auf der Suche nach dem Wiedergeborenen Drachen.

Im Stein von Tear trifft Rand erneut auf Ba’alzamon. Aber mit Hilfe von Callandor, das sich ebenfalls als ein Artefakt der Einen Macht herausstellt, kann er den Verlorenen endgültig besiegen.

Die Prophezeiung hat sich als wahr erwiesen, der Wiedergeborene Drache hat Tear erobert und seine Getreuen um sich geschart. Aber in die Erleichterung über den Sieg mischt sich die bittere Erkenntnis, dass das nur der erste Schritt auf dem Weg nach Tarmon Gai’don war. Denn das Rad dreht sich weiter, und die Letzte Schlacht rückt unaufhaltsam näher.

Kapitel 1

Schattensaat

Das Rad der Zeit dreht sich, und die Zeitalter kommen und gehen, hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden, verblassen zu bloßen Mythen und sind längst vergessen, wenn dieses Zeitalter wiederkehrt. In einem Zeitalter, von einigen das Dritte genannt, einem Zeitalter, das noch kommen wird und das schon lange vorbei ist, erhob sich ein Wind über der Steppe von Caralain. Der Wind stand nicht am Anfang. Es gibt weder Anfang noch Ende, wenn sich das Rad der Zeit dreht. Aber es war ein Anfang.

Nach Norden und Westen wehte der Wind unter der Morgensonne, über endlose Meilen wogenden Grases und verstreuter Baumgruppen hinweg, über den Fluss Luan, der eilig dahinströmte, an dem zerklüfteten Zahn des Drachenberges vorbei, dem legendären Fels, der über der welligen Ebene so hoch aufragte, dass die Wolken auf halber Höhe zu seinem rauchenden Gipfel einen Kranz um ihn bildeten. Der Drachenberg, wo der Drache gestorben war und mit ihm, wie viele behaupteten, das Zeitalter der Legenden und wo er der Prophezeiung nach wiedergeboren wird. Oder wiedergeboren wurde. Nach Norden und Westen wirbelte der Wind, über die Dörfer Jualdhe und Darein und Alindaer, von wo aus sich Brücken wie steinerne Spinnweben hinüber zur Leuchtenden Mauer schwangen, der großen Stadtmauer um Tar Valon, das manche die größte Stadt der Welt nannten. Eine Stadt, die jeden Abend gerade noch vom weit hinausgreifenden Schatten des Drachenberges berührt wurde.

Innerhalb dieser Mauer schienen von Ogiern erbaute, mehr als zweitausend Jahre alte Gebäude fast aus dem Erdboden herauszuwachsen, als seien sie nicht von Menschenhand erbaut. Eher schienen Wind und Wasser sie geformt zu haben als die berühmten Hände der Ogier-Steinmetzen. Einige davon wirkten wie aufflatternde Vögel oder wie riesige Muscheln aus fernen Ozeanen. Hoch aufragende Türme, sich nach oben weitend oder gleichmäßig schmal und kanneliert, oder gar sich schraubenförmig emporwindend, wurden durch Brücken in Hunderten von Fuß Höhe und oft ohne jedes Geländer miteinander verbunden. Nur diejenigen, die sich schon lange in Tar Valon aufhielten, sah man nicht ständig mit offenem Mund hochgaffen wie die Bauern, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stadt sahen.

Die Weiße Burg beherrschte die ganze Stadt. Sie schimmerte wie polierte Knochen im Sonnenschein. Das Rad der Zeit dreht sich um Tar Valon, sagten die Leute in der Stadt, und Tar Valon dreht sich um die Burg. Der erste Anblick Tar Valons für einen Reisenden, noch bevor die Pferde die Brücken erreichten, noch bevor die Kapitäne auf den Flussschiffen die Insel erspähten, war der Turm der Weißen Burg, der das Sonnenlicht wie ein Leuchtfeuer widerspiegelte. Kein Wunder, dass der große Vorplatz der Burg unter deren mächtigen Mauern erheblich kleiner wirkte, als er war, und dass die Menschen auf dem Platz zu bloßen Insekten schrumpften. Doch selbst wenn die Weiße Burg das kleinste Gebäude ganz Tar Valons gewesen wäre – durch die Tatsache, dass sie das Herz der Aes Sedai-Macht darstellte, hätte sie die Inselstadt in jedem Fall beherrscht.

Trotz der vielen Menschen füllte die Menge den Vorplatz nicht einmal annähernd. Am äußeren Rand schubsten sich die Menschen gegenseitig, so viele drängten sich dort, die alle ihren täglichen Geschäften nachgingen. Näher am Burgbereich selbst fanden sich weniger Leute, und auf den letzten fünfzig Schritt vor den hohen weißen Mauern war das Pflaster menschenleer. Natürlich wurden die Aes Sedai in Tar Valon mehr als nur respektiert, und die Amyrlin regierte die Stadt genau wie ihre Aes Sedai, aber nur wenige wollten sich der Macht der Aes Sedai mehr als notwendig nähern. Es machte eben einen Unterschied, ob man auf einen großen, offenen Kamin einfach stolz war oder geradewegs in die Flammen hineinspazierte.

Nur ein paar kamen der Burg näher und betraten die breiten Treppenstufen, die hinauf zur Burg selbst und den ungeheuren, kunstvoll geschnitzten Torflügeln führten. Sie waren so breit, dass ein Dutzend Menschen nebeneinander hindurchschreiten konnte. Das Tor stand einladend offen. Es gab immer einige Menschen, die dort Hilfe suchten oder eine Antwort, von der sie glaubten, nur eine Aes Sedai könne sie ihnen geben, und sie kamen oft von weit her, aus Arafel und Ghealdan, aus Saldaea und Illian. Viele fanden Hilfe oder Anleitung, aber manchmal nicht genau jene, auf die sie gehofft oder die sie erwartet hatten.

Min hatte ihre Kapuze weit nach vorn gezogen, sodass ihr Gesicht in deren Schatten verborgen blieb. Trotz der Wärme dieses Tages war der Umhang leicht genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, jedenfalls nicht bei einer offensichtlich so schüchternen Frau. Und die meisten Menschen waren verschüchtert, wenn sie sich in die Burg begaben. Es war nichts an ihr, was besondere Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ihr dunkles Haar war länger als bei ihrem letzten Aufenthalt in der Burg, auch wenn es noch nicht bis an ihre Schultern reichte, und ihr Kleid in Mittelblau mit weißen Jaerecuz-Spitzen am Hals und an den Ärmeln mochte durchaus zu einer wohlhabenden Bauerntochter passen, die wie jede andere auch ihre Festtagstracht angelegt hatte, wie sie so auf die breiten Stufen zuschritt. Min hoffte jedenfalls, diesen Eindruck zu erwecken. Sie musste sich ständig zurückhalten, um nicht stehen zu bleiben und die anderen anzusehen, ob sie sich anders verhielten. Ich schaffe das schon, sagte sie sich.

Sie war sicher nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um jetzt noch umzukehren. Das Kleid war bereits Verkleidung genug. Diejenigen in der Burg, die sich noch an die junge Frau mit dem kurz geschnittenen Haar erinnerten, wussten, dass sie immer in Jacke und Hose eines Jungen umherlief und niemals ein Kleid trug. Also musste schon das als Verkleidung genügen. Sie hatte, was immer auch geschehen mochte, keine andere Wahl.

Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, je näher sie der Burg kam, und sie umklammerte das Bündel fester, das sie an die Brust gedrückt hielt. Darin befanden sich ihre gewöhnlichen Kleidungsstücke, ihre guten Stiefel und all ihre Habseligkeiten. Nur ihr Pferd hatte sie bei einer Schenke unweit des Vorplatzes zurückgelassen. Mit etwas Glück konnte sie in ein paar Stunden bereits wieder auf dem Wallach sitzen und zur Ostreinbrücke und der Straße nach Süden unterwegs sein.

Sie freute sich keineswegs darauf, schon so bald wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, nachdem sie ohne größere Unterbrechung mehrere Wochen lang geritten war, aber hier wollte sie auch nicht bleiben. Sie hatte die Weiße Burg noch nie als gastfreundlichen Ort empfunden, und im Augenblick erschien sie ihr genauso erschreckend wie das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul. Schaudernd verwünschte sie sich, weil sie an den Dunklen König gedacht hatte. Ob Moiraine wohl glaubt, ich sei nur ihretwegen hierhergekommen? Licht, hilf mir, ich benehme mich wie eine doofe Ziege. Närrische Dinge tun, bloß wegen eines idiotischen Mannes!

Sie schritt unsicher die Stufen hinauf. Jede war so tief, dass sie zwei Schritte brauchte, um die nächste zu erreichen. Aber dann ging sie im Gegensatz zu den anderen einfach weiter und starrte nicht beeindruckt nach oben die helle Masse der hoch aufragenden Burg an. Sie wollte das hinter sich bringen.

Die große, runde Eingangshalle wurde fast vollständig von einem Säulengang umschlossen. Doch die mit ihren Petitionen angetretenen Menschen drückten sich in der Mitte ängstlich aneinander und schoben sich langsam unter der leicht gewölbten Decke vorwärts. Der helle Steinboden war durch die Jahrhunderte von unzähligen nervösen Füßen ausgetreten worden. Keiner konnte an etwas anderes denken als daran, wo sie sich befanden und warum. Ein Bauer und seine Frau, beide in grobem Tuch, hatten sich an den schwieligen Händen gefasst und standen Schulter an Schulter mit einer Kauffrau im Seidenkleid mit Samtbesatz, und ihnen wieder folgte eine Zofe mit einem kleinen silberbeschlagenen Kästchen in den verkrampften Händen, das sie wahrscheinlich als Geschenk ihrer Herrin in die Burg bringen sollte. In anderer Umgebung hätte die Kauffrau sicher auf dieses Bauernvolk herabgesehen, das sich so nahe herandrängte, und sie hätten wahrscheinlich entschuldigend die Hände an die Stirn gehoben und sich vor ihr zurückgezogen. Aber nicht jetzt. Nicht hier.

Unter den Bittstellern waren nur wenige Männer, was Min nicht weiter überraschte. Die meisten Männer hielten es in der Umgebung einer Aes Sedai einfach nicht aus. Jeder wusste ja, dass damals, als es noch männliche Aes Sedai gab, gerade die für die Zerstörung der Welt verantwortlich gewesen waren. Dreitausend Jahre hatten die Erinnerung daran nicht verblassen lassen, wenn auch im zeitlichen Abstand viele Einzelheiten in einem anderen Licht erschienen. Die Kinder wurden immer noch eingeschüchtert, indem man ihnen von Männern erzählte, die die Eine Macht benützen konnten, Männer, die dazu verflucht waren, durch das vom Dunklen König befleckte Saidin, die männliche Hälfte der Wahren Quelle, zum Wahnsinn getrieben zu werden. Am schlimmsten war die Geschichte von Lews Therin Telamon, dem Drachen, Lews Therin Brudermörder, der die Zerstörung eingeleitet hatte. Was das betraf, packte auch die Erwachsenen bei dieser Geschichte das kalte Grauen. Es war prophezeit worden, dass der Drache in der schlimmsten Stunde der Not wiedergeboren würde, um in Tarmon Gai’don, der Letzten Schlacht, gegen den Dunklen König zu kämpfen, aber das änderte wenig daran, wie die Menschen die Verbindung von Männern mit der Einen Macht betrachteten. Jede Aes Sedai jagte nun gnadenlos jeden Mann, der die Macht lenken konnte, und unter den sieben Ajahs waren es besonders die Roten, die kaum je etwas anderes taten.

Natürlich war es noch immer so, dass man sich an die Aes Sedai wandte, wenn man ihre Hilfe brauchte, aber nur wenige Männer konnten sich darüber hinwegsetzen, auf irgendeine Art mit den Aes Sedai und der Macht in Verbindung zu treten. Eine Ausnahme bildeten natürlich die Behüter, aber jeder von ihnen war durch einen Eid an eine Aes Sedai gebunden und konnte wohl kaum mit den anderen Männern in einen Topf geworfen werden. Es gab ein Sprichwort: »Ein Mann wird sich eher eine Hand abhacken, um einen Splitter loszuwerden, als eine Aes Sedai um Hilfe zu bitten.« Frauen sagten das, wenn sie die Dummheit der Männer betonen wollten, aber Min hatte von einigen Männern gehört, dass es immer noch besser sei, einen Finger zu verlieren …

Sie fragte sich, was diese Menschen wohl tun würden, wenn sie wüssten, was sie wusste. Vielleicht schreiend davonrennen? Und wenn sie den Grund kannten, der sie hierher führte, würde sie wohl nicht einmal mehr lange genug überleben, um von der Burgwache verhaftet und ins Verlies geworfen zu werden. Sie hatte Freundinnen in der Burg, doch keine mit Macht oder Einfluss. Wenn man von ihrer Absicht erfuhr, würden sie kaum Gelegenheit haben, ihr zu helfen. Im Gegenteil, vermutlich würden sie zusammen mit ihr dem Henker übergeben – falls sie über-haupt lange genug am Leben bliebe, um noch vernommen oder vor einen Richter gestellt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit war größer, dass ihr Mund lange vorher für immer verstummen würde.

Sie sagte sich, dass sie aufhören müsse, an so etwas auch nur zu denken. Ich komme hinein, und ich werde auch wieder herauskommen. Licht, verseng Rand al’Thor dafür, dass er mich in diese Lage gebracht hat!

Drei oder vier Aufgenommene, junge Frauen in Mins Alter, schritten von einem zum anderen durch den runden Raum und sprachen leise mit den Bittstellern. Ihre weißen Kleider wiesen keinen Zierrat auf, bis auf die sieben Farbbänder am Saum, von denen jedes die Farbe einer Ajah repräsentierte. Von Zeit zu Zeit erschien eine Novizin, ein Mädchen oder eine junge Frau ganz in Weiß, und führte jemanden weiter in die Burg hinein. Die Bittsteller folgten diesen Novizinnen mit einer eigenartigen Mischung von erregtem Eifer und ängstlichem Zögern.

Min umklammerte ihr Bündel noch fester, als eine der Aufgenommenen vor ihr stehen blieb. »Das Licht erleuchte Euch«, sagte die Frau mit dem Lockenkopf in geschäftsmäßigem Tonfall. »Ich heiße Faolain. Wie kann Euch die Burg behilflich sein?«

Auf Faolains dunklem runden Gesicht stand deutlich die Geduld eines Menschen geschrieben, der eine anstrengende Arbeit erledigt, obwohl er viel lieber etwas anderes täte. Vielleicht studieren; das konnte sich Min bei einer Aufgenommenen gut vorstellen. Lernen, um selbst eine Aes Sedai zu werden. Wichtiger für sie war aber, dass die Aufgenommene sie offensichtlich nicht erkannte. Die beiden hatten sich bei Mins früherem Aufenthalt in der Burg kennengelernt, wenn auch nur flüchtig.

Trotzdem senkte Min in gespielter Unterwürfigkeit das Haupt. Das war nicht unnatürlich; viele Leute vom Land verstanden nicht, dass es von einer Aufgenommenen bis zur Aes Sedai noch ein Riesenschritt war. Unter ihrer Kapuze war ihr Gesicht gut verborgen, und sie blickte auch noch von Faolain weg.

»Ich habe eine Frage an die Amyrlin selbst«, begann sie, und dann verstummte sie abrupt, als drei Aes Sedai gleichzeitig innehielten, um einen Blick in die Halle zu werfen; zwei standen unter einem Bogen und eine weitere etwas abseits.

Aufgenommene und Novizinnen knicksten, wenn sie an einer der Aes Sedai vorbeikamen, ließen sich aber ansonsten nicht in ihrer Beschäftigung stören. Sie bewegten sich höchstens ein bisschen schneller. Das war alles. Aber nicht für die Bittsteller. Die schienen alle auf einmal nach Luft zu schnappen. Außerhalb der Weißen Burg, außerhalb Tar Valons, hätten sie vielleicht die Aes Sedai nur für drei Frauen gehalten, deren Alter schwer einzuschätzen war, drei Frauen in der Blüte ihrer Jahre, wenn auch etwas reifer, als ihre roten Wangen erkennen ließen. In der Burg aber gab es keinen Zweifel. Eine Frau, die sehr lange mit der Einen Macht gearbeitet hat, wurde von der Zeit nicht in demselben Maße gezeichnet wie andere Frauen. In der Burg musste niemand erst nach einem goldenen Ring mit der Großen Schlange Ausschau halten, um eine Aes Sedai zu erkennen.

Eine Welle von Knicksen ging durch die Ansammlung, und die wenigen anwesenden Männer verbeugten sich steif. Zwei oder drei Leute fielen sogar auf die Knie nieder. Die reiche Kauffrau blickte erschrocken drein, während das Bauernpaar an ihrer Seite mit großen Augen lebende Legenden betrachtete. Wie man mit einer Aes Sedai umging, wussten die meisten nur vom Hörensagen. Es war unwahrscheinlich, dass irgendjemand von den Anwesenden, außer jenen, die in Tar Valon wohnten, schon jemals eine Aes Sedai gesehen hatte, und möglicherweise waren auch die wenigen Bewohner Tar Valons ihnen noch nie so nahe gekommen.

Aber es waren nicht die Aes Sedai selbst, die Min zum Schweigen brachten. Manchmal, wenn auch nicht oft, sah sie Dinge um Menschen herum, die sie anblickte, Bilder und Auren, die gewöhnlich aufflackerten und Augenblicke später wieder verschwunden waren. Gelegentlich war ihr klar, was sie bedeuteten. Dieses Wissen kam ihr nur selten – viel seltener, als sie solche Dinge sah –, aber wenn ihr etwas klar geworden war, hatte sie immer recht damit.

Im Gegensatz zu anderen Menschen waren um die Aes Sedai und auch um ihre Behüter herum immer Bilder und Auren zu sehen, die manchmal so wild tanzten und sich änderten, dass Min schwindlig davon wurde. Die Vielfalt dieser Bilder spielte allerdings keine Rolle, soweit es darum ging, sie zu verstehen; bei den Aes Sedai wusste sie genauso wenig wie bei anderen, was sie bedeuteten. Aber diesmal erkannte sie mehr, als ihr lieb war, und das ließ sie erschauern.

Die einzige der drei, die sie erkannte, war Ananda, eine schlanke Frau, deren Haar ihr bis zur Taille reichte. Sie war eine Gelbe Ajah, und ein krankhaft brauner Schimmer hüllte sie ein, verdorrt und von fauligen Rissen überzogen, die tief und tiefer wurden und schließlich in sich zusammenfielen. Die kleine blonde Aes Sedai neben Ananda war eine der Grünen Ajah; das sah sie an den grünen Fransen ihrer Stola. Als sie sich einen Augenblick lang umdrehte, erstrahlte die Weiße Flamme von Tar Valon auf ihrem Rücken. Und auf ihrer Schulter, als ruhe er zwischen den Ranken und blühenden Apfelbaumzweigen, mit denen ihre Stola bestickt war, thronte ein menschlicher Schädel. Der kleine Schädel einer Frau, sauber aus dem Fleisch gelöst und von der Sonne gebleicht. Die dritte, eine mollige, hübsche Frau, die den halben Raum von ihr entfernt stand, trug keine Stola. Die meisten Aes Sedai legten sie nur für irgendwelche Feierlichkeiten um. Die Haltung ihres Kinns und ihrer Schultern sprach für Willensstärke und Stolz. Sie schien die Bittsteller mit kühlen blauen Augen durch einen Schleier von Blut hindurch anzusehen. Rote Rinnsale überzogen ihr Gesicht.

Blut, Schädel und Strahlenkranz verblassten im Tanz der Visionen um die drei herum, kehrten zurück und verblassten erneut. Die Bittsteller schauten ehrfürchtig zu ihnen auf. Sie sahen nur drei Frauen, die die Wahre Quelle berühren und die Eine Macht lenken konnten. Niemand außer Min sah das andere. Niemand außer Min wusste, dass diese drei Frauen sterben würden. Alle am gleichen Tag.

»Die Amyrlin kann nicht jeden empfangen«, sagte Faolain mit kaum verhohlener Ungeduld. »Ihre nächste öffentliche Audienz wird erst in zehn Tagen stattfinden. Sagt mir, was Ihr wünscht, und ich werde veranlassen, dass Ihr mit der Schwester sprecht, die Euch am besten helfen kann.«

Min blickte auf das Bündel in ihren Armen hinunter, zum Teil einfach deshalb, damit sie nicht wieder sehen musste, was sie bereits gesehen hatte. Alle drei! Licht! Was konnte das bedeuten, wenn drei Aes Sedai am gleichen Tag starben? Aber sie wusste, dass es so sein würde. Sie war ganz sicher.

»Ich habe das Recht, mit der Amyrlin persönlich zu sprechen.« Es war ein Recht, auf das selten jemand bestand – wer wagte das schon –, aber es existierte. »Jede Frau hat dieses Recht, und ich bestehe darauf.«

»Glaubt Ihr, dass die Amyrlin persönlich mit allen sprechen kann, die zur Weißen Burg kommen? Sicher kann Euch auch eine andere Aes Sedai helfen.« Faolain betonte die Titel so, als könne allein ihr Klang Min von ihrem Vorhaben abbringen. »Nun sagt mir, worum es Euch geht. Und nennt mir Euren Namen, damit die Novizin weiß, wen sie holen muss.«

»Ich heiße … Elmindreda.« Min zuckte dabei innerlich unwillkürlich zusammen. Sie hatte diesen Namen immer gehasst, aber die Amyrlin war einer der wenigen lebenden Menschen, die ihn schon einmal gehört hatten. Wenn sie sich nur daran erinnerte. »Ich habe das Recht, mit der Amyrlin zu sprechen. Und meine Frage ist allein für ihre Ohren bestimmt. Das Recht habe ich.«

Die Aufgenommene zog die Augenbrauen hoch. »Elmindreda?« Ihr Mund zuckte, und sie lächelte leicht und amüsiert. »Und Ihr besteht auf Euren Rechten. Nun gut. Ich werde der Behüterin der Chronik ausrichten lassen, dass Ihr die Amyrlin persönlich zu sprechen wünscht, Elmindreda.«

Min hätte der Frau am liebsten eine Ohrfeige verpasst, so, wie sie den Namen ›Elmindreda‹ betonte, aber stattdessen zwang sie sich zu einem gemurmelten »Dankeschön«.

»Dankt mir noch nicht. Zweifellos wird es Stunden dauern, bis die Behüterin die Zeit findet, Euch zu antworten, und sicherlich wird sie Euch mitteilen lassen, dass Ihr Eure Frage bei der nächsten öffentlichen Audienz stellen sollt. Wartet nur geduldig. Elmindreda.« Sie lächelte Min spöttisch an und wandte sich ab.

Min biss die Zähne zusammen und ging mit ihrem Bündel hinüber zur Wand, wo sie sich bemühte, zwischen zwei Bögen möglichst wenig aufzufallen. Traue niemandem und vermeide alle Aufmerksamkeit, bevor du die Amyrlin erreichst. Das hatte ihr Moiraine noch mitgegeben. Moiraine war die einzige Aes Sedai, der sie Vertrauen schenkte. Meistens jedenfalls. Es war so oder so ein guter Ratschlag gewesen. Sie musste lediglich bis zur Amyrlin kommen, und dann war es vorbei. Sie konnte dann wieder ihre eigene Kleidung anlegen, ihre Freundinnen begrüßen und davonreiten. Kein Grund mehr, sich zu verstecken.

Sie war erleichtert, als sie bemerkte, dass die Aes Sedai gegangen waren. Drei Aes Sedai, die am gleichen Tag sterben würden. Das war unmöglich; sie fand kein anderes Wort. Und doch würde es so geschehen. Nichts, was sie sagte oder unternahm, konnte daran etwas ändern. Sobald ihr klar war, was ein Bild bedeutete, geschah es auch so. Aber sie musste der Amyrlin davon berichten. Das konnte möglicherweise, auch wenn das fast unvorstellbar war, genauso wichtig sein wie die Botschaft, die sie von Moiraine überbrachte.

Eine weitere Aufgenommene erschien, um eine der Anwesenden abzulösen, und in Mins Augen schwebten vor ihrem blühenden Gesicht Gitterstäbe wie die eines Käfigs. Sheriam, die Oberin der Novizinnen, betrat die Halle. Nach einem kurzen Blick begann Min, den Boden vor ihren Füßen angeregt zu mustern. Sheriam kannte sie nur zu gut – und das Gesicht der rothaarigen Aes Sedai war verschrammt und aufgedunsen. Natürlich war das wieder eine ihrer Visionen, aber Min musste sich auf die Unterlippe beißen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Sheriam mit ihrer ruhigen Autorität und Selbstsicherheit erschien immer so unzerstörbar wie die Burg. Offenbar nichts konnte Sheriam etwas anhaben. Aber irgendetwas würde ihr dennoch zustoßen.

Eine Aes Sedai, die Min nicht kannte und die eine Stola der Braunen Ajah trug, begleitete eine stämmige, in feine rote Wolle gekleidete Frau zum Ausgang. Die stämmige Frau schritt leichtfüßig wie ein Mädchen einher und strahlte übers ganze Gesicht. Sie lachte beinahe vor Freude. Auch die Braune Schwester lächelte, doch ihre Aura verlosch wie die Flamme einer Kerze.

Tod. Verwundungen, Gefangenschaft und Tod. Min erschien das so klar, als hätte sie es geschrieben vor sich stehen.

Sie blickte auf ihre Füße hinunter; sie wollte einfach nicht noch mehr sehen. Wenn sie sich bloß erinnert, dachte sie. Auf ihrem langen Ritt von den Verschleierten Bergen hatte sie niemals Verzweiflung empfunden, nicht einmal dann, als jemand versucht hatte, ihr Pferd zu stehlen, doch jetzt war es so weit. Licht, wenn sie sich nur an den verdammten Namen erinnert!

»Frau Elmindreda?«

Min fuhr zusammen. Die schwarzhaarige Novizin, die vor ihr stand, war kaum alt genug, von zu Hause wegzugehen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, gab sich aber alle Mühe, würdevoll zu erscheinen. »Ja? Ich bin … So heiße ich.«

»Ich heiße Sahra. Wenn Ihr bitte mitkommen würdet …« – Sahras Stimme klang erstaunt –, »die Amyrlin wird Euch jetzt in ihren Arbeitsräumen empfangen.«

Min seufzte erleichtert und folgte ihr.

Die Kapuze ihres Umhangs verbarg nach wie vor ihr Gesicht, doch das hinderte sie nicht daran zu sehen, und je mehr sie sah, desto stärker wurde ihr Wunsch, zur Amyrlin zu kommen. Nur wenige Menschen gingen durch die breiten, nach oben führenden Korridore mit ihren in leuchtend bunten Fußbodenkacheln und ihren Wandbehängen und goldenen Kandelabern. Die Burg war für eine viel größere Zahl von Menschen erbaut worden, als sich jetzt darin befanden. Doch beinahe jeder Mensch, den sie erblickte, trug eine Aura von Gewalt und Gefahr mit sich herum.

Behüter eilten vorbei und schenkten den beiden Frauen keinerlei Beachtung. Diese Männer bewegten sich mit der Grazie pirschender Wölfe. Ihre Schwerter schienen ihre Gefährlichkeit noch zu unterstreichen. Aber für Min hatten sie blutige Gesichter oder trugen klaffende Wunden. Schwerter und Speere tanzten bedrohlich um ihre Köpfe. Ihre Auren blitzten wild auf, tanzten flackernd am Abgrund des Tods. Sie sah tote Männer umhergehen, wusste, sie würden am gleichen Tag sterben wie die Aes Sedai im Foyer oder höchstens einen Tag später. Selbst einige der Bediensteten, Männer und Frauen mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust, die geschäftig ihren Aufgaben nachgingen, trugen Anzeichen von Gewalt. Eine Aes Sedai, die sie ganz kurz in einem Seitengang erspähte, schien Ketten zu tragen, und eine andere, die den Korridor vor Min und ihrer Führerin überquerte, trug deutlich zu erkennen ein silbernes Halsband. Min stockte der Atem, als sie das sah. Sie hätte am liebsten geschrien.

»Das wirkt wohl alles überwältigend auf jemanden, die es nie zuvor gesehen hat«, sagte Sahra, die sich vergeblich bemühte, das alles so selbstverständlich klingen zu lassen, als spreche sie über ihr Heimatdorf. »Aber Ihr seid hier in Sicherheit. Die Amyrlin wird alles zum Guten wenden.« Ihre Stimme quiekste ein wenig, als sie die Amyrlin erwähnte.

»Licht, hoffentlich kann sie das«, murmelte Min. Die Novizin lächelte sie an. Es sollte wohl beruhigend wirken.

Als sie schließlich das Vorzimmer zu den Arbeitsräumen der Amyrlin erreichten, fühlte Min sich sterbenselend, und sie trat Sahra fast auf die Fersen. Nur weil sie vorgeben musste, hier fremd zu sein, rannte sie nicht voraus.

Ein Türflügel zu den Gemächern der Amyrlin öffnete sich, und ein junger Mann mit rotgoldenem Haar trat heraus. Er prallte fast mit Min und ihrer Begleiterin zusammen. Hochgewachsen und kräftig, angetan mit einem blauen, reich bestickten Mantel mit Gold an Ärmeln und Kragen, so war Gawyn aus dem Hause Trakand, der älteste Sohn der Königin Morgase von Andor: jeder Zoll ein stolzer junger Lord. Ein wütender junger Lord. Sie hatte keine Zeit, den Kopf zu senken. Er blickte direkt unter ihre Kapuze in ihr Gesicht.

Vor Überraschung riss er die Augen auf, doch dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen aus blauem Eis. »Also seid Ihr zurück. Wisst Ihr vielleicht, wohin meine Schwester und Egwene gegangen sind?«

»Sind sie nicht hier?« Min vergaß alles und wurde von Panik ergriffen. Bevor ihr klar wurde, was sie tat, packte sie ihn an den Ärmeln, sah ihm eindringlich in die Augen und drängte ihn einen Schritt zurück. »Gawyn, sie haben sich schon vor Monaten auf den Weg zurück zur Burg gemacht! Elayne und Egwene und auch Nynaeve. Mit Verin Sedai und … Gawyn, ich … ich …«

»Beruhige dich«, sagte er und löste sanft ihre Hände von seinen Ärmeln. »Licht! Ich wollte dir keine Angst einjagen. Sie sind sicher angekommen. Und sie sagten kein Wort darüber, wo sie gewesen sind und warum. Jedenfalls nicht zu mir. Ich glaube, es besteht auch wenig Hoffnung, dass du es mir sagen wirst, oder?« Sie glaubte, ein nichtssagendes Gesicht zu machen, doch er sah sie kurz an und fuhr dann fort: »Das dachte ich mir. An diesem Ort gibt es mehr Geheimnisse, als … Sie sind schon wieder verschwunden. Und Nynaeve mit ihnen.« Nynaeves Namen fügte er beinahe beiläufig hinzu. Sie mochte eine von Mins Freundinnen sein, aber ihm lag nichts an ihr. Seine Stimme wurde wieder rauer und klang mit jeder Sekunde ärgerlicher. »Wieder, ohne ein Wort zu sagen. Kein Wort! Angeblich befinden sie sich auf irgendeinem Bauernhof, um ihre Strafe für ihr Weglaufen abzuleisten, aber ich kann einfach nicht herausbekommen, wo! Die Amyrlin gibt mir keine einzige vernünftige Antwort.«

Min zuckte zusammen. Einen Moment lang hatten Spuren getrockneten Blutes sein Gesicht zu einer Maske des Schreckens entstellt. Das war wie ein doppelter Hammerschlag für sie. Ihre Freundinnen waren weg. Es hatte ihre Aufgabe sehr erleichtert, zu wissen, dass sie hier auf sie warteten. Und nun wusste sie: Gawyn würde an dem Tag verwundet werden, an dem die Aes Sedai starben.

Trotz alledem, was sie gesehen hatte, seit sie die Burg betreten hatte, trotz ihrer Furcht hatte nichts davon sie persönlich getroffen – bis jetzt. Eine Katastrophe, die die Burg bedrohte, würde auch das ganze Land um Tar Valon bedrohen, doch sie gehörte der Burg nicht an und würde ihr auch niemals angehören. Aber Gawyn war jemand, den sie kannte, jemand, den sie gut leiden konnte, und er würde tiefer verwundet werden, als ihr das Blut verraten hatte, tiefer als durch bloße Wunden seines Fleisches. Nun wurde ihr erst richtig bewusst, dass die Katastrophe, wenn sie die Burg erfasste, nicht nur irgendwelche entfernten Aes Sedai treffen würde, Frauen, denen sie sich niemals verbunden fühlen konnte, sondern genauso ihre Freunde. Sie gehörten zur Burg.

Auf gewisse Weise war sie ja froh darüber, dass sich Egwene und die anderen nicht mehr hier befanden, froh, sie nicht ansehen und vielleicht Anzeichen des Todes an ihnen entdecken zu müssen. Und doch wollte sie ihre Freundinnen sehen und sichergehen, dass sie nichts entdeckte oder wenn schon, dann wenigstens Anzeichen für ihr Überleben. Wo, beim Licht, waren sie? Wohin waren sie gegangen? Da sie die drei gut genug kannte, hielt sie es für möglich, dass Gawyn nichts wusste, weil sie nicht gewollt hatten, dass er Bescheid wusste. Das war es bestimmt.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wo sie sich befand und warum und dass sie nicht allein war mit Gawyn. Sahra schien vergessen zu haben, dass sie Min zur Amyrlin bringen sollte. Sie schien überhaupt alles vergessen zu haben, bis auf den jungen Lord, dem sie schöne Augen machte, ohne von ihm bemerkt zu werden. Trotzdem hatte es keinen Zweck mehr vorzutäuschen, dass sie eine Fremde in der Burg sei. Sie stand vor der Tür der Amyrlin, und nichts konnte sie jetzt noch aufhalten.

»Gawyn, ich weiß nicht, wo sie stecken, aber falls sie wirklich zur Strafe auf einem Bauernhof arbeiten, sind sie vermutlich verschwitzt und bis zu den Hüften mit Schlamm verspritzt, und du wärst der Letzte, von dem sie so gesehen werden möchten.« In Wirklichkeit war ihr keineswegs leichter ums Herz als Gawyn. Zu viel war geschehen und zu viel geschah noch immer, was mit ihnen oder mit ihr selbst zu tun hatte. Aber natürlich war es nicht unmöglich, dass sie zur Strafe fortgeschickt worden waren. »Du hilfst ihnen bestimmt nicht, indem du den Zorn der Amyrlin erregst.«

»Ich weiß nicht, ob sie wirklich auf einem Bauernhof sind. Ob sie überhaupt noch leben. Warum dieses ganze Versteckspiel und diese Ablenkungsmanöver, wenn sie bloß Unkraut jäten? Wenn meiner Schwester etwas zustößt … Oder Egwene …« Er blickte finster auf seine Stiefelspitzen herab. »Ich soll schließlich auf Elayne aufpassen. Wie kann ich sie beschützen, wenn ich nicht einmal weiß, wo sie ist?«

Min seufzte. »Glaubst du, dass man auf sie aufpassen muss? Auf eine von ihnen?« Aber falls die Amyrlin sie irgendwohin geschickt hatte, brauchten sie möglicherweise wirklich einen Aufpasser. Die Amyrlin war durchaus fähig, eine Frau mit lediglich einer Rute bewaffnet in eine Bärenhöhle zu schicken, falls es ihren Zwecken diente. Und sie würde von der Frau auch noch erwarten, entweder mit einem Bärenfell zurückzukommen, oder den Bären an der Leine zu führen, so wie ihr aufgetragen worden war. Aber wenn sie das Gawyn sagte, würde es nur doch seinen Zorn und seine Sorgen schüren. »Gawyn, sie haben ihren Eid auf die Burg geleistet. Sie werden dir nicht dankbar sein, wenn du dich einmischst.«

»Ich weiß, Elayne ist kein Kind mehr«, sagte er ungeduldig, »auch wenn sie manchmal wie eines davonläuft und dann wiederkommt und die Aes Sedai spielen will. Aber sie ist schließlich meine Schwester und außerdem noch die Tochter-Erbin von Andor. Sie wird Mutter auf den Thron folgen. Andor braucht sie sicher und wohlbehalten, wenn sie Königin werden soll, und nicht stattdessen wieder einen Streit um die Nachfolge.«

Die Aes Sedai spielen? Offensichtlich war ihm die Tragweite des Talents seiner Schwester nicht klar. Die Tochter-Erbinnen von Andor waren seit Menschengedenken zur Ausbildung in die Burg gesandt worden, aber Elayne war die erste, die befähigt war, zur Aes Sedai erhoben zu werden, und zu einer mächtigen noch dazu. Sehr wahrscheinlich war ihm auch nicht klar, dass Egwene mindestens genauso stark war.

»Also willst du sie beschützen, ob sie will oder nicht?« Sie sagte das in einem Tonfall, der ihm deutlich machen sollte, dass er einen Fehler beging, doch ihm entging das offensichtlich, und er nickte zustimmend.

»Das ist meine Pflicht gewesen, seit sie geboren wurde. Mein Blut muss vor ihrem fließen, mein Leben vor ihrem geopfert werden. Ich habe diesen Eid geleistet, als ich noch kaum über den Rand ihrer Wiege hinwegblicken konnte. Gareth Bryne musste mir die Bedeutung erklären. Ich werde diesen Eid jetzt nicht brechen. Andor hat sie nötiger als mich.«

Er sprach mit einer ruhigen Bestimmtheit, nahm gelassen etwas als natürlich und richtig hin, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hatte ihn immer für jungenhaft gehalten, wie er so gern lachte und alle neckte, aber jetzt war er wie ein Fremder für sie. Sie glaubte, der Schöpfer müsse wohl müde gewesen sein, als er die Männer schuf. Manchmal erschienen sie ihr kaum noch menschlich. »Und Egwene? Welchen Eid hast du ihretwegen geleistet?«

Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, nur trat er nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich mache mir natürlich auch Sorgen um Egwene. Und um Nynaeve. Was mit Elaynes Begleiterinnen geschieht, könnte auch Elayne passieren. Ich denke, sie sind noch immer beieinander. Als sie noch hier waren, habe ich nur selten die eine ohne die anderen zu Gesicht bekommen.«

»Meine Mutter hat mir immer geraten, ich solle einen schlechten Lügner heiraten. Du kommst dafür sicherlich in Frage. Allerdings glaube ich, dass jemand anders mich da ausstechen wird.«

»Manche Dinge sind vorbestimmt«, sagte er ruhig, »und manche können niemals sein. Galad hat großen Kummer, weil Egwene weg ist.« Galad war sein Halbbruder. Die beiden waren nach Tar Valon gesandt worden, um unter Anleitung der Behüter zu lernen. Das war eine weitere Tradition in Andor. Galadedrid Damodred war in Mins Augen ein Mann, der bis zum Erbrechen immer nur das Richtige tat, aber Gawyn sah darin nichts Verwerfliches. Und er sprach nicht über seine Gefühle für eine Frau, auf die Galad ein Auge geworfen hatte.

Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt, etwas Vernunft in ihn hineingeprügelt, aber dazu war jetzt nicht die Zeit. Nicht, wenn die Amyrlin wartete, und nicht bei dem, was sie der wartenden Amyrlin zu berichten hatte. Und ganz bestimmt nicht, wenn Sahra danebenstand, ob sie ihn nun anhimmelte oder nicht. »Gawyn, ich bin zur Amyrlin bestellt. Wo kann ich dich finden, wenn sie mit mir fertig ist?«

»Ich werde auf dem Übungsgelände sein. Die einzige Zeit, wo ich mir keine Sorgen mache, ist beim Üben mit dem Schwert, wenn mich Hammar hart rannimmt.« Hammar war ein Schwertmeister und der Behüter, der dieses Können an die Schüler weitergeben sollte. »An den meisten Tagen bin ich bis Sonnenuntergang dort.«

»Also gut. Ich komme, sobald ich kann. Und gib acht, was du sagst. Wenn du die Amyrlin zu sehr aufregst, müssen Elayne und Egwene vielleicht darunter leiden.«

»Das kann ich nicht versprechen«, entgegnete er mit fester Stimme. »Irgendetwas stimmt mit der Welt nicht mehr. Bürgerkrieg in Cairhien. Das Gleiche und noch Schlimmeres in Tarabon und Arad Doman. Falsche Drachen. Auseinandersetzungen und Gerüchte und Probleme, wohin man schaut. Ich behaupte nicht, dass die Burg dahintersteckt, aber selbst hier läuft nicht alles, wie es sein soll. Oder wie es den Anschein hat. Elaynes und Egwenes Verschwinden ist ja nicht alles. Aber sie sind natürlich das, was mich am meisten bewegt. Ich werde herausfinden, wo sie sich aufhalten. Und falls sie verletzt wurden … Falls sie tot sind …«

Er machte eine finstere Miene, und einen Augenblick lang war sein Gesicht für sie wieder eine blutige Maske. Mehr: Über seinem Kopf schwebte ein Schwert und dahinter wehte eine Flagge im Wind. Auf der leicht gekrümmten Klinge des Schwertes mit dem langen Griff, wie es die Behüter benützten, war ein Reiher eingraviert, das Kennzeichen eines Schwertmeisters, und Min wusste nicht, ob es Gawyn gehörte oder ihn bedrohte. Die Flagge trug Gawyns Wappen mit dem angreifenden Weißen Keiler, aber der Untergrund war grün und nicht rot wie auf der Flagge Andors. Sowohl Schwert wie auch Flagge verblassten zusammen mit dem Blut.

»Sei vorsichtig, Gawyn.« Das war auf zwei verschiedene Dinge gemünzt. Vorsichtig mit dem, was er sagte, und vorsichtig auf eine Art, die sie ihm nicht erklären konnte, die ihr selbst unerklärlich war. »Du musst sehr vorsichtig sein.«

Er suchte in ihrem Gesicht nach einer Andeutung dessen, was er herauszuhören geglaubt hatte. »Ich … werde mir Mühe geben«, sagte er schließlich. Er grinste. Es war beinahe das jungenhafte Grinsen, an das sie sich noch erinnerte, aber es war ganz eindeutig aufgesetzt. »Ich denke, ich sollte besser wieder auf das Übungsgelände zurückkehren, wenn ich mit Galad schritthalten will. Ich habe heute Morgen zwei von fünf Gängen gegen Hammar gewonnen, aber Galad hat tatsächlich dreimal gesiegt, beim letzten Mal, als er sich herabließ, auf dem Übungsgelände zu erscheinen.« Mit einem Mal schien er sie erst richtig zu bemerken, und sein Grinsen wurde ehrlich. »Du solltest öfters Kleider tragen. Das steht dir gut. Denk daran, ich werde bis Sonnenuntergang dort sein.«

Als er ging und dabei ein wenig von der tödlichen Grazie der Behüter verströmte, wurde Min bewusst, dass sie sich das Kleid an der Hüfte glattstrich, und sie hörte sofort damit auf. Licht, versenge alle Männer!

Sahra atmete tief aus, als habe sie die ganze Zeit über die Luft angehalten. »Er sieht sehr gut aus, nicht wahr?«, sagte sie verträumt. »Nicht so gut wie Lord Galad natürlich. Und Ihr kennt ihn ja tatsächlich!« Das war zur Hälfte als Frage gemeint, aber nur zur Hälfte eben.

Min ahmte das Seufzen der Novizin nach. Das Mädchen würde in den Quartieren der Novizinnen mit ihren Freundinnen klatschen. Der Sohn einer Königin war ein naheliegendes Gesprächsthema, besonders wenn er auch noch gut aussah und etwas von den Helden aus den Geschichten der Gaukler an sich hatte. Eine fremde Frau machte das Ganze nur noch interessanter. Nun ja, sie konnte nichts dagegen machen. Und es konnte jetzt wohl auch kaum mehr schaden.

»Die Amyrlin wird sich schon fragen, wo wir nur bleiben«, sagte sie.

Sahra kam plötzlich wieder zur Besinnung. Die Augen weit aufgerissen, fuhr sie zusammen und schluckte vernehmlich. Dann packte sie mit einer Hand Min am Ärmel, zerrte sie zur Tür, öffnete hastig einen Flügel und zog Min hinter sich her hinein. In dem Augenblick, als sie drinnen waren, knickste die Novizin eiligst und plapperte voller Panik: »Ich habe sie gebracht, Leane Sedai. Frau Elmindreda? Die Amyrlin will sie wirklich sehen?«

Die hochgewachsene Frau mit der kupferfarbenen Haut im Vorraum trug die Stola der Behüterin der Chronik, und zwar in Blau, um zu zeigen, dass sie der Blauen Ajah entstammte. Mit den Fäusten auf die Hüften gestützt wartete sie, bis das Mädchen fertig war, und dann entließ sie die Novizin mit einem knappen: »Hast lange genug gebraucht, Kind. Jetzt zurück an deine Arbeit.« Sahra knickste wieder und trippelte genauso schnell hinaus, wie sie eingetreten war.

Min stand da, den Blick gesenkt und die Kapuze immer noch weit nach vorn gezogen. Vor Sahra einen Fehler zu begehen war schon schlimm genug gewesen, obwohl die Novizin wenigstens ihren Namen nicht kannte, aber Leane kannte sie besser als jede andere in der Burg bis auf die Amyrlin. Min war sicher, dass das jetzt keine Rolle mehr spielte, aber nach dem, was sie draußen im Flur erfahren hatte, wollte sie sich besser an Moiraines Anweisungen halten, bis sie mit der Amyrlin allein war.

Diesmal halfen ihr die guten Absichten jedoch nicht. Leane war mit zwei Schritten bei ihr, schob die Kapuze zurück und knurrte, als habe man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. Min hob den Kopf und sah sie trotzig an, als wolle sie ihr zeigen, dass sie sich nicht hatte an ihr vorbeistehlen wollen. Glattes, dunkles Haar, nur ein wenig länger als ihr eigenes, umrahmte das Gesicht der Behüterin, das nun sowohl Überraschung zeigte wie auch Ärger darüber, dass sie überrascht war.

»Also bist du doch Elmindreda, oder?«, sagte Leane knapp. Sie sprach immer in kurzen, knappen Sätzen. »Ich muss schon sagen, in diesem Kleid siehst du auch eher so aus als in deinem normalen … Kostüm.«

»Nur Min, Leane Sedai, wenn es Euch recht ist.« Min brachte das mit steinernem Gesicht heraus, aber es fiel ihr schwer, die Aes Sedai nicht anzufunkeln. Im Tonfall der Behüterin hatte zu viel Spott gelegen. Wenn ihre Mutter sie schon nach jemandem aus einer Legende nennen musste, warum dann ausgerechnet nach einer Frau, die die meiste Zeit über irgendwelchen Männern schöne Augen gemacht hatte oder sie dazu brachte, Lieder über ihre Augen oder ihr Lächeln zu komponieren.

»Also gut. Min. Ich werde auch nicht fragen, wo du gewesen bist oder warum du in einem Kleid zurückkehrst und offensichtlich der Amyrlin eine Frage stellen willst. Jedenfalls jetzt nicht.« Ihrem Gesicht war anzumerken, dass sie diese Fragen später stellen würde und auch Antworten erwartete. »Ich schätze, die Mutter weiß, wer diese Elmindreda ist? Natürlich. Ich hätte das wissen müssen, als sie befahl, dich sofort herzubringen, und noch dazu allein. Das Licht mag wissen, warum sie sich mit dir abgibt.« Sie unterbrach ihren Redefluss und machte ein besorgtes Gesicht. »Was ist los, Mädchen? Bist du krank?«

Min gab sich Mühe, ihre Gesichtszüge zu glätten. »Nein. Nein, es geht mir gut.« Einen Augenblick lang hatte die Behüterin ihre Maske durchschaut, eine Maske des Schreckens. »Darf ich hineingehen, Leane Sedai?«

Leane musterte sie noch einen Moment lang und bedeutete ihr dann mit einem Ruck ihres Kopfes, zum inneren Arbeitszimmer zu gehen. »Hinein mit dir.« Mins Eifer, ihrem Auftrag Folge zu leisten, hätte auch die gnadenloseste Aufseherin mit Zufriedenheit erfüllt.

Der Arbeitsraum der Amyrlin war im Laufe der Jahrhunderte von vielen großen und mächtigen Frauen benützt worden, und die Andenken daran beherrschten nun das Interieur. Der große offene Kamin war aus dem Goldmarmor Kandors gefertigt. Jetzt brannte kein Feuer darin. Die Wände waren mit einem hellen, eigenartig marmorierten Holz getäfelt, das wohl eisenhart war, aber dennoch Schnitzereien von Fabeltieren und Vögeln mit phantastischem Federkleid aufwies. Diese Täfelungen waren vor weit mehr als tausend Jahren aus den geheimnisvollen Ländern jenseits der Aiel-Wüste hergebracht worden, und der Kamin war mehr als doppelt so alt. Der geschliffene Sandstein des Fußbodens stammte aus den Verschleierten Bergen, und hohe Bogenfenster gaben den Blick auf einen Balkon frei. Wie Perlen funkelten unzählige Glitzerpunkte im Stein der Fensterrahmen, der aus den Überresten einer während der Zerstörung der Welt untergegangenen Stadt im Meer der Stürme gerettet worden war. Niemand hatte je desgleichen irgendwo sonst entdeckt.

Die augenblickliche Benützerin, Siuan Sanche, war allerdings als Tochter eines Fischers in Tear geboren worden, und die Möbel, die sie bevorzugte, waren schlicht, wenn auch solide gebaut und auf Hochglanz poliert. Sie saß auf einem wuchtigen Stuhl an einem großen Tisch, der auch in einem Bauernhaus hätte stehen können. Der einzige andere Stuhl im Raum, genauso schmucklos und gewöhnlich zur Seite gestellt, stand nun auf einer kleinen, einfachen, in Blau, Braun und Gold gehaltenen und offensichtlich in Tear geknüpften Brücke direkt vor dem Tisch. Ein halbes Dutzend geöffneter Bücher lag auf verschiedenen Lesepulten im Raum verteilt. Das war alles. Über dem Kamin hing eine Zeichnung von winzigen Fischerbooten, die zwischen den hohen Schilfhalmen in den Fingern des Drachen bei der Arbeit waren, so wie ihr Vater einst ausgefahren war.

Auf den ersten Blick wirkte auch Siuan Sanche selbst, trotz ihrer glatten Aes Sedai-Gesichtszüge, genauso einfach wie ihre Möbel. Sie war durchaus kräftig, nicht schön, sah aber doch recht gut aus, und das einzig Auffallende an ihrer Kleidung war die breite Stola des Amyrlin-Sitzes in den sieben Farbstreifen aller Ajahs. Wie bei jeder Aes Sedai war es nicht möglich, ihr Alter abzuschätzen. Jedenfalls zeigte sich in ihrem dunklen Haar noch keine Andeutung von Grau. Der scharfe Blick aus ihren blauen Augen schien alles zu durchdringen, und die Kinnpartie sagte etwas über die Entschlusskraft der jüngsten Frau aus, die je für den Amyrlin-Sitz erwählt worden war. Seit mehr als zehn Jahren hatte Siuan Sanche selbst Herrscher herbeizitiert, auch die mächtigen, und sie waren gekommen, obwohl sie die Weiße Burg hassten und sich vor den Aes Sedai fürchteten.

Als die Amyrlin um den Tisch herum auf sie zuschritt, legte Min ihr Bündel weg und knickste ungeschickt, wobei sie leise fluchte, dass so etwas sein musste. Sie wollte durchaus ihren Respekt bezeugen, wie es einer Frau wie Siuan Sanche gegenüber selbstverständlich war, aber die Verbeugung, die sie gewöhnlich machte, hätte in einem Kleid ausgesprochen dumm gewirkt. Nun ja, und mit dem Knicksen hatte sie keine Erfahrung.

Auf halbem Weg in die Hocke erstarrte sie mit bereits ausgebreitetem Rock. Siuan Sanche stand wohl so würdevoll wie eine Königin vor ihr, doch einen Augenblick lang lag sie gleichzeitig nackt auf dem Fußboden. Abgesehen von der Tatsache, dass sie nichts anhatte, war an der Vision noch etwas Eigenartiges, doch bevor Min sich darüber klar werden konnte, was daran so seltsam war, verschwand das Bild wieder. Die Vision war so eindringlich gewesen wie selten eine, aber sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollte.

»Schon wieder Visionen, habe ich recht?«, sagte die Amyrlin. »Nun, diese Fähigkeit kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich hätte dich gerade in jenen Monaten gebrauchen können, die du weg warst. Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht.« Sie lächelte verkrampft. »Aber wenn du so etwas noch einmal machst, lasse ich dir die Haut abziehen und mache Handschuhe daraus. Steh auf, Mädchen. Leane zwingt mir sowieso schon in einem Monat mehr zeremonielles Gehabe auf, als eine normale Frau in einem Jahr ertragen kann. Ich habe keine Zeit dafür. Heutzutage nicht. Also, was hast du gerade gesehen?«

Min richtete sich langsam auf. Es war eine Erleichterung, mit jemandem zusammen zu sein, die von ihrem Talent wusste, auch wenn es die Amyrlin selbst war. Sie musste das Gesehene vor der Amyrlin nicht verbergen. Im Gegenteil. »Ihr habt … Ihr habt keine Kleider getragen. Ich … ich weiß nicht, was es bedeutet, Mutter.«

Siuan lachte kurz und trocken auf. »Zweifellos nehme ich mir einen Liebhaber. Aber dafür habe ich leider auch keine Zeit. Es ist keine Zeit, den Männern auch nur zuzuzwinkern, wenn du das Boot leerschöpfen musst.«

»Vielleicht«, sagte Min bedächtig. Es konnte so etwas bedeuten, aber sie bezweifelte das. »Ich weiß es einfach nicht. Aber Mutter, ich habe Visionen gehabt, seit ich die Burg betrat. Etwas Schlimmes wird geschehen, etwas Schreckliches!«