Das Ritual von London - Benedict Jacka - E-Book
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Das Ritual von London E-Book

Benedict Jacka

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Beschreibung

Das zweite magische Abenteuer von Alex Verus!

London ist immer eine Reise wert. Und wenn Sie schon mal da sind, empfehlen wir Ihnen einen Besuch im Emporium Arcana, dem Zauberladen des Magiers Alex Verus. Bis vor kurzem gab es hier zum Beispiel einen magischen Wunscherfüller. Doch er wurde gestohlen. Die junge Luna versuchte, mit ihm einen Fluch zu brechen, um endlich mit dem Mann zusammensein zu können, den sie liebte. Doch magische Wunscherfüller machen nie nur das, was man ihnen aufträgt, und sie fordern immer einen schrecklichen Preis. Während Alex Verus alles versucht, um Luna zu schützen, und nebenbei skrupellose Magier bekämpft, wird ihm eines klar: Die Freundschaft mit einer Spinne ist unbezahlbar!

Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:
1. Das Labyrinth von London
2. Das Ritual von London
3. Der Magier von London
4. Der Wächter von London
5. Der Meister von London
6. Das Rätsel von London
7. Die Mörder von London
8. Der Gefangene von London
9. Der Geist von London
10. Die Verdammten von London
11. Der Jäger von London
12. Der Retter von London

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Seitenzahl: 478

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Buch

London ist immer eine Reise wert. Und wenn Sie schon mal da sind, empfehlen wir Ihnen einen Besuch im Emporium Arcana, dem Zauberladen des Magiers Alex Verus. Bis vor Kurzem gab es hier zum Beispiel einen magischen Wunscherfüller. Doch er wurde gestohlen. Die junge Luna versuchte, mit ihm einen Fluch zu brechen, um endlich mit dem Mann zusammen sein zu können, den sie liebte. Doch magische Wunscherfüller machen nie nur das, was man ihnen aufträgt, und sie fordern immer einen schrecklichen Preis. Während Alex Verus alles versucht, um Luna zu schützen, und nebenbei skrupellose Magier bekämpft, wird ihm eines klar: Die Freundschaft mit einer Spinne ist unbezahlbar!

Autor

Benedict Jacka (geboren 1981) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals, anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.

Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:

1. Das Labyrinth von London

2. Das Ritual von London

weitere Bände in Vorbereitung

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Deutsch von Michelle Gyo

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Cursed« bei Orbit, London.

Copyright der Originalausgabe © 2012 by Benedict Jacka

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung und -illustration: © Max Meinzold, München

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Katja Gerasimova; © Yoko Design)

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22316-8 V003

www.blanvalet.de

1

Die alte Fabrik war ein Ort, wie man ihn nur in den übelsten Gegenden großer Städte fand. Die Ziegelsteine waren einmal rot gewesen, doch Dreck und Luftverschmutzung hatten sie braungrau nachdunkeln lassen. Auf den Außenmauern war ein maroder Stacheldrahtzaun angebracht, der seit Jahren nicht instandgesetzt worden war. Die Schlingen waren rostig, gerade so, als ob die Besitzer dachten, wenn sie die Einbrecher schon nicht draußen halten konnten, sollten die sich auf dem Weg hinein wenigstens Tetanus holen.

Der Rest der Sackgasse war dunkel, die Gebäude standen leer, und die Läden duckten sich hinter Stahlgitter. Graffiti bedeckten die Gatter, und es war schwer zu sagen, ob die Geschäfte noch betrieben wurden oder ob sie einfach aufgegeben worden waren. Der einzige Laden, der in gutem Zustand schien, trug das Zunftzeichen der Pfandleiher – drei goldfarbene Kugeln, von denen die mittlere ein Stück tiefer hing. Hinter den Läden und der Fabrik lag ein Häuserblock mit Sozialwohnungen von der Sorte, wo die Diebe zerbrochene Flaschen als Waffen benutzten, weil sie sich keine Messer leisten konnten.

Es war erst elf, und die üblichen Geräusche der Stadt erfüllten London, doch in dieser Straße rührte sich nichts. Sie lag bis auf die geparkten Autos völlig verlassen da. Bei der Hälfte fehlten die Räder, die Fenster oder auch beides, und keines wäre auf einer Schrotthalde fehl am Platz gewesen – abgesehen von dem Minivan, der am oberen Ende der Straße parkte. Der glänzend schwarze Lack verschmolz mit den Schatten, und im orangefarbenen Schein der Straßenlaternen konnte man die silbrigen Radkappen, die Lichter und das Mercedes-Symbol auf der Motorhaube erkennen. Ich verdrehte die Augen. Meine Sinne verrieten mir, dass keine direkte Gefahr bestand, doch ich hielt mich in den Schatten der Gasse und musterte die Straße noch einen Moment länger, bevor ich auf den Van zuging.

Die meisten Straßenlampen waren kaputt, und diejenigen, die noch funktionierten, flackerten. Ich lief in Schatten gehüllt durch die Straße, deren Dunkelheit nur gelegentlich von einem orangefarbenen Lichtkegel durchbrochen wurde. Kurz blickte ich über die Schulter und sah die Lichtsäulen der Wolkenkratzer am Canary Wharf über den Dächern. Wir waren nah am Fluss – auch wenn ich ihn nicht sehen konnte –, und ich hörte den klagenden Ruf eines Nebelhorns, der vom Wasser widerhallte. Wolkenfetzen bedeckten einen großen Teil des Himmels und verbargen die Sterne.

Als ich den Van erreichte, glitt eines der vorderen Fenster hinab, und in der Stille konnte ich das Surren des Motors hören. Ich blieb neben der Tür stehen und sah den Mann an, der im Wagen saß. »Wäre es noch ein bisschen auffälliger gegangen?«

Ich heiße Alex Verus. Ich bin ein Magier, ein Wahrsager. In Magierworten ausgedrückt, bin ich ungebunden, was bedeutet, dass ich mich nicht dem Rat angeschlossen habe (dem Haupt-Machtsitz der Weißmagier), aber ich zähle mich auch nicht zu den Schwarzmagiern. Obwohl ich nicht zum Rat gehöre, erledige ich als Freiberufler Aufträge für ihn, wie zum Beispiel diesen hier. Der Mann auf dem Beifahrersitz, mit dem ich redete, war mein Kontaktmann zum Rat, ein Magier namens Talisid, der mir nachsichtig zunickte.

»Verus.«

»Schön, dich zu sehen.« Ich musterte den Van eingehend. »Ernsthaft, ein Mercedes? Hast du ihn auch polieren lassen?«

»Wenn du dir Sorgen über die Geheimhaltung machst«, sagte Talisid, »dann sollten wir uns vielleicht auch nicht draußen unterhalten?«

Talisid ist um die vierzig, kleiner als der Durchschnitt und mit ergrauendem Haar, das sich langsam von seiner Stirn zurückzieht. Er scheint immer den gleichen schlichten Businessanzug zu tragen, doch mit einer solchen Beständigkeit, die darauf schließen lässt, dass mehr an ihm dran ist, als man auf den ersten Blick vermutet. Ich lernte ihn im Frühling kennen, bei einem Ball in Canary Wharf, wo er mir einen Job anbot. Die Dinge verliefen nicht ganz nach Plan, doch Talisid hielt seinen Teil der Abmachung ein, und als er mich für heute Abend um Hilfe bat, sagte ich zu.

Ich trat zurück und beobachtete, wie die Mitfahrer aus dem Van stiegen. Talisid folgte ein großer, dünner Mann mit langem Gesicht wie das eines Windhunds, der mir zunickte. Sein Name war Ilmarin, ein Luftmagier. Die nächsten drei kannte ich nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet; ihre Waffen wiesen sie als Sicherheitsleute vom Rat aus.

»Willst du immer noch vorangehen?«, fragte Talisid mich leise, während das Sicherheitsteam seine Vorbereitungen traf und Waffen sowie Headsets checkte.

»Deshalb bin ich hier.«

»Deshalb sind sie auch hier. Das ist ihr Aufgabenbereich.«

Ich lächelte beinahe. Als Talisid mich am Vortag angerufen und mir die Anweisungen durchgegeben hatte, war er davon ausgegangen, dass ich mich am Ende der Truppe aufhalten oder vielleicht sogar im Van bleiben würde. Er bot mir erneut an, mich zurückzuhalten. Unter seinen Worten lag allerdings auch noch eine weitere Botschaft, die nicht besonders witzig war: Die Sicherheitsleute waren entbehrlich, ich war es nicht.

»Aus der Entfernung nutze ich nicht viel«, sagte ich. »Ich warne sie vor allem rechtzeitig, aber dafür brauche ich ein freies Sichtfeld.«

Talisid hielt ergeben die Hand hoch. »In Ordnung. Also bist du mit Garrick vorne. Auf dein Signal hin starten wir.«

Der Mann, dem Talisid zugenickt hatte, war derjenige, der auf dem Fahrersitz gesessen hatte und jetzt ein wenig abseits von den anderen stand. Er war groß, mit kurzem sandfarbenem Haar und athletischem Körperbau, er wirkte stark und schnell. Er trug eine schwarze Schutzweste, die nach Hightech aussah, einen dunklen Kampfanzug, schwarze Handschuhe und Stiefel sowie einen Textilgurt, in dem eine Pistole, eine Maschinenpistole, ein Messer und ein halbes Dutzend Metallzylinder steckten, die verdächtig nach Granaten aussahen. Eine zweite Pistole war in einem Halfter am Fußknöchel verstaut, und er hatte eine Waffe an einem Riemen geschultert, die wie eine Kreuzung aus Maschinenpistole und Sturmgewehr aussah. Er beobachtete mich aus ruhigen blauen Augen, als ich auf ihn zuging.

»Garrick?«, fragte ich.

Garrick nickte und antwortete mit tiefer Stimme: »Wie sieht der Plan aus?«

»Das erkläre ich, sobald wir drinnen sind.«

»Du gehst mit Talisid?«

»Mit dir.«

Garrick hob eine Augenbraue und musterte mich von oben bis unten. Ich trug eine Armeehose, schwarze Turnschuhe, einen Gürtel, an dem ein paar Dinge befestigt waren, und eine leichte Fleece-Weste. Im Vergleich zu Garrick, der einem Militärthriller entsprungen zu sein schien, sah ich aus wie ein Amateur beim Zelten.

»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Garrick, »aber du bist nicht mein Typ.«

»Ich bin dein Aufklärer«, erwiderte ich.

»Das ist nett«, sagte Garrick. »Das kannst du vom Van aus machen.«

»Ich bleibe nicht im Van.«

»Das ist eine Kampfmission«, sagte Garrick geduldig. »Wir haben keine Zeit zum Babysitten.«

Eine Menge Leute denken, dass Wahrsager in einem Kampf nichts nutzen. Im Grunde genommen, kommt mir das zugute, mehr, als es mich kränkt, aber es ist dennoch eine Zumutung, wenn man einmal ernst genommen werden möchte. »Ich bin hier der Babysitter«, sagte ich. »Diese Waffen werden dir nicht viel nutzen, wenn das Ding dir von hinten den Kopf abreißt.«

Ich hatte erwartet, dass Garrick wütend würde, doch er sah mich nur fragend an. »Was wirst du tun? Es hauen?«

»Ich werde dir genau sagen, wo es ist und was es tut«, sagte ich. »Wenn dir mit diesem Vorteil auf deiner Seite nichts dazu einfällt, wie du das Ding ausschalten kannst, dann darfst du dich zurückziehen und uns das erledigen lassen.«

Garrick musterte mich noch einen Moment länger, dann zuckte er mit den Schultern. »Ist deine Beerdigung.« Er wandte sich zu den anderen Männern um. »Los geht’s.«

Im Inneren der Fabrik war es stockfinster. Der Strom war wohl schon vor längerer Zeit abgedreht worden, und die Lampen, die weder zerschlagen worden waren oder sowieso keine Glühbirne hatten, blieben dunkel. In den Gängen standen alte Maschinen und Kram, den man dort abgestellt und dem Zerfall überlassen hatte, sodass wir uns zwischen den Hindernissen hindurchschlängeln mussten und kaum freie Sicht hatten. Die Luft roch nach Staub und verrostetem Metall.

Die Kreatur, die wir jagten, war ein Barghest: ein Gestaltwandler, der als Mensch oder großer, wolfsartiger Hund auftrat. Bargheste verfügen über übernatürliche Geschwindigkeit und Kraft, und sie sind sowohl mit normalen als auch mit magischen Sinnen schwer aufzuspüren. Das behaupten zumindest die Geschichten. Ich habe noch niemals einen getroffen. Die Quellen sind sich jedoch einig, dass diese Wesen mittels Klauen und Zähnen töten, was den dunklen, vollgestellten Ort zum übelsten aller denkbaren Kampfplätze machte. Es gab zu viele Verstecke und zu viele Möglichkeiten, wo die Kreatur auf der Lauer liegen konnte, um uns aus dem Hinterhalt anzugreifen.

Natürlich war das der Grund, aus dem Talisid mich mitgenommen hatte.

Für meine Augen existierte die Fabrik auf zwei Ebenen. Es gab die Gegenwart, eine Welt aus Dunkelheit und Schatten, durchbrochen nur von dem Schein der Taschenlampen in meiner Hand und an Garricks Gewehr, drohend aufragende Hindernisse, die uns den Weg verstellten, und die Gefahr, die hinter jeder Ecke lauerte. Doch darüber lag eine zweite Welt, ein Netz aus weiß glühenden Linien, das sich über vier Dimensionen in Tausenden und Millionen dünner werdender Fäden verzweigte, ein jeder eine mögliche Zukunft. Die Zukünfte des Gangs und die Objekte darin waren gesetzt, während meine und Garricks Zukünfte sich beständig bewegten, ein flackerndes und sich windendes Netz, das sich mit jedem Augenblick veränderte.

Ich blickte in die Zukunft und sah meine möglichen Handlungen und ihre Konsequenzen vor mir. Ich sah, wie ich auf das lose Stück Metallschrott vor mir trat, sah, wie ich stolperte und fiel, und korrigierte meine Bewegung, um das zu verhindern. Im gleichen Moment löste sich die Zukunft auf, in der ich gestürzt wäre, sie existierte einfach nicht mehr, und stattdessen leuchteten die Zukünfte auf, in denen ich darum herumging. Ich sah die Zukunft und traf Entscheidungen; entschied ich mich, verwandelte sich die Zukunft, und neue Zukünfte ersetzten die, die niemals eintreffen würden. Für jeden, der dabei zusieht, wirkt es wie pures Glück: Jeder Schritt am richtigen Fleck, jede Gefahr umgangen, allem Anschein nach, ohne dass ich sie überhaupt bemerkt hätte. Doch die Hindernisse waren nur ein Bruchstück der Aufgabe. Der größte Teil meiner Aufmerksamkeit galt der direkten und mittleren Zukunft, denn ich suchte nach einer Bewegung oder dem Mündungsfeuer, die einen Angriff ankündigten. Solange ich aufmerksam blieb, konnte uns in dieser Fabrik nichts überraschen: Lange bevor etwas einen Hinterhalt für uns vorbereitete, würde ich es sehen und die anderen warnen.

Deshalb hatte Talisid mich dabeihaben wollen. Durch meine Anwesenheit sanken die Möglichkeiten, dass etwas wirklich schieflief, praktisch auf null. Mit Wissen gewinnt man keinen Kampf, doch es steigert die vorhandenen Kräfte ganz ordentlich.

Etwas erregte meine Aufmerksamkeit, als wir durch eine Tür gingen, und ich gab Garrick ein Zeichen, stehen zu bleiben. Er warf mir einen Blick zu, hob aber die Hand, und ich hörte, dass der Hauptteil der Truppe hinter uns anhielt. Ich hockte mich hin und strich mit der Hand über den staubigen Boden, spürte die Kühle des Betons.

»Was ist los?«, fragte Garrick schließlich.

»Jemand hat diese Tür aufgebrochen«, sagte ich mit leiser Stimme. »Und es ist nicht lange her.«

»Könnte der Barghest gewesen sein.«

Ich hielt ein zerborstenes Kettenglied hoch. Die Außenseite war rostig, doch die Kante, an der das Glied zerbrochen war, glänzte im Licht von Garricks Lampe. »Nur, falls unser Barghest einen Bolzenschneider verwendet.«

Garrick hob eine Augenbraue, und wir gingen weiter. Ich erwähnte die andere Sache nicht, die ebenfalls nicht gepasst hatte. Jemand hatte den Rest der Kette mitgenommen.

Wir bewegten uns tiefer in die Fabrik hinein. Garrick und ich liefen voran, und zwei Sicherheitsleute waren zehn Schritte hinter uns. Talisid und Ilmarin hielten sich in der Mitte der Formation, und der Rest der Ratssicherheitsleute bildete den Abschluss. Spürte ich den Barghest in unserer Nähe, hatte ich Anweisung, mich zurückzuziehen und die Magier und Soldaten Kampfformation einnehmen zu lassen, um ihn überraschend anzugreifen. Wenigstens sah so der Plan aus.

Doch die Dinge verliefen nicht nach Plan. Mittlerweile hätte ich spüren sollen, wo und wie der Kampf beginnen würde. Ich blickte in die Zukunft und sah uns, wie wir jeden Raum der Fabrik durchsuchten, doch es gab kein Anzeichen für einen Kampf. Tatsächlich konnte ich überhaupt keine Zukunft sehen, in der auch nur einer von uns in einen Kampf verwickelt wurde, und ich spürte, wie die Männer hinter mir immer unruhiger wurden. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte. Der Einzige, der nicht beunruhigt schien, war Garrick, er strahlte gelassene Zuversicht aus. Waren Talisids Informationen falsch gewesen? Er war sich sicher gewesen, dass dies der Ort war …

Hinter der nächsten Biegung war ein größerer Raum mit hoher Decke, und wieder gab ich den anderen das Signal, stehen zu blieben. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Nach einem Kampf zu suchen funktionierte nicht. Stattdessen begann ich, den Pfaden unserer Gruppe durch die Zeitachse zu folgen, um zu sehen, was wir finden würden. Irgendetwas im nächsten Raum würde die Aufmerksamkeit von allen in Anspruch nehmen, und ich sah genauer hin, um zu erkennen, was es war …

Und plötzlich wusste ich, warum es heute Abend keinen Kampf geben würde. Ich richtete mich wieder auf, stieß angewidert die Luft aus und rief Talisid zu, wobei ich mir nicht länger die Mühe machte, leise zu sein. »Das hier ist ein Reinfall.«

Kurz herrschte Stille, dann hörte ich Talisids Stimme. »Was ist los?«

»Wir sind umsonst hier«, sagte ich. »Jemand ist uns zuvorgekommen.« Ich ging um die Ecke und betrat den großen Raum der Fabrik.

Die meisten Maschinen schienen schon vor langer Zeit weggeschleppt oder auf der Suche nach Ersatzteilen ausgeschlachtet worden zu sein, doch ein paar Stücke rosteten noch im Dämmerlicht vor sich hin, und dazwischen lagen Müllberge. Meine Taschenlampe warf nur einen schwachen Schein in die Dunkelheit, und der Lichtstrahl verlor sich oben unter der hohen, offenen Decke. Meine Schritte hallten in der Stille, als ich mir zwischen zerbrochenen Brettern und halb vollen Plastiktüten einen Weg suchte. Der Geruch nach Staub und altem Metall war hier stärker, und darunter war noch etwas, das meine Nase zucken ließ.

Der Barghest lag in der Mitte des Raums, und er war tot. In leblosem Zustand sah er aus wie ein graubrauner Hund, groß, aber nicht ungewöhnlich groß. Er lag auf der Seite, die Augen geschlossen, und da waren weder Blut noch sichtbare Wunden. Sein Körper roch nicht nach Verwesung, offensichtlich befand er sich noch nicht lange hier.

Die anderen folgten mir, und Garrick trat an meine Seite. Die Waffe hielt er gesenkt, doch sein Blick wanderte umher, er prüfte die Ecken und die obere Etage des Raums. Erst als er das Gelände gesichert hatte, blickte er hinab auf den Körper. »Sieht nicht besonders aus.«

»Nicht mehr.«

Die anderen beiden Sicherheitsmänner erreichten uns, gefolgt von Talisid und Ilmarin, und wir standen im Kreis um die Kreatur herum. Sie machten sehr viel mehr Lärm als Garrick, als ob sie nicht wüssten, wo sie mit ihren Füßen hinsollten.

»Gut«, sagte Talisid schließlich.

»Ist er tot?«, fragte Ilmarin mich.

»Wird innerhalb der nächsten paar Jahre nicht mehr aufstehen«, sagte ich. »Ja, er ist tot.«

»Korrigier mich, wenn ich mich irre«, sagte Garrick, »aber ich dachte, die Mission wäre es, das Ding zu töten.«

»Sieht aus, als hätte jemand anderes die gleiche Idee gehabt.«

»Kann keine Wunden sehen«, sagte Ilmarin. Luftmagier sind großartig darin, Bewegungen zu spüren, aber nicht so gut, was feste Gegenstände anbelangt. »Verus, irgendeine Idee, was ihn getötet hat?«

Ich hatte mir in der Zukunft dabei zugesehen, wie ich den Körper des Wesens herumrollte und mit den Händen über das Fell strich. Und ich hatte nur herausgefunden, dass es schwer war und übel roch. Um zu bemerken, dass es schlecht roch, brauchte ich meine Magie nicht unbedingt. »Keine Wunden, kein Blut. Sieht aus, als wäre es einfach tot umgefallen.«

»Todesmagie?«

»Vielleicht.«

Talisid hatte den Körper untersucht, jetzt sah er mich an. »Ist es gefährlich, sich aufzuteilen?«

Ich prüfte ein paar Sekunden lang die Zukunft, dann schüttelte ich den Kopf. »Dieser Ort ist ein Friedhof. Es kann sich nur jemand verletzen, wenn er von einem der Stege fällt.«

Talisid nickte und wandte sich zu den anderen um. »Verteilt euch und durchsucht alles paarweise. Haltet nach allem Ausschau, was ungewöhnlich ist.« Er hob seine Stimme nicht, und doch klang darin ein Befehlston mit. Offensichtlich war er daran gewöhnt, dass man ihm gehorchte. »Meldet euch alle zehn Minuten, dann treffen wir uns in einer Stunde wieder hier.«

Ich blieb bei Garrick. Wir arbeiteten uns durch das Erdgeschoss der Fabrik und durchsuchten es systematisch.

Die Opfer des Barghests lagen in einem Nebenraum der Fabrikhalle. Es waren sieben, in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Ich sah sie mir nicht allzu genau an.

»Hatte ordentlich Appetit«, bemerkte Garrick, nachdem wir den Raum verlassen und uns bei Talisid gemeldet hatten.

»Deshalb waren wir hier«, sagte ich. Ich versuchte, nicht weiter über die Leichen nachzudenken.

»Wirklich?« Garrick sah ein wenig neugierig aus. »Mein Auftrag sah vor sicherzugehen, dass die Kreatur tot ist.«

»Sieht aus, als hätte jemand den Job für dich erledigt.«

Garrick zuckte mit den Schultern. »Ich bekomme die gleiche Bezahlung, so oder so.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Wie weit kannst du in die Zukunft sehen?«

»Hängt davon ab.«

»Wovon?«

Ich erwiderte Garricks Blick. »Davon, wer fragt.«

Garrick sah mich an, dann lächelte er mich schmal an. Er erinnerte mich an einen grinsenden Wolf.

Ich ging wieder in die Fabrikhalle und fand dort Talisid. »Die Leichen sind im zweiten Zimmer hinten im Gang. Sonst nichts, was sich lohnt, genauer anzusehen.«

Talisid nickte. »Ich habe das Reinigungsteam angefordert. Du kannst gehen.«

Ich blickte auf den Körper des Barghests. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr helfen konnte.«

Talisid zuckte mit den Schultern. »Das Problem ist erledigt.«

»Obwohl wir nicht eingegriffen haben?«

»Tut das etwas zur Sache?«, erwiderte Talisid. »Es wird keine weiteren Toten mehr geben, und wir haben keine Verluste erlitten.« Er lächelte leicht. »Das ist ausreichend, würde ich sagen.«

Ich seufzte. »Ich schätze, du hast recht. Hast du noch etwas anderes gefunden?«

Talisids Lächeln verblasste zu einem Stirnrunzeln. »Ja. Brandflecken an den Wänden und Anzeichen von Gewehrfeuer. An mehreren Orten.«

Ich sah ihn an. »Ein Kampf?«

»Scheint so.«

Ich nickte zu dem Barghest hinab. »Aber das Ding wurde weder verbrannt noch erschossen.«

»Nicht, soweit wir das beurteilen können.«

»Was ist hier also geschehen?«

Talisid sah sich in dem dunklen Raum um, ließ den Blick über den verrottenden Fabrikboden schweifen. Ohne die anderen sah der Ort aus, als wäre er seit hundert Jahren verlassen, und sobald wir gegangen wären, würde nichts von unserem Besuch bleiben als Fußabdrücke.

»Das werden wir vermutlich nie erfahren«, sagte Talisid schließlich und nickte mir zu. »Gute Nacht, Verus.«

Ich verließ die Fabrik, lief an Talisids neuem Mercedes vorbei und bog an der Straßenecke nach rechts ab. Ich ging einen halben Häuserblock, wandte mich dann wieder zum Fluss und huschte durch eine Gasse neben einem dunklen Gebäude. Über eine Feuerleiter gelangte ich hinauf aufs Dach.

Als ich es betrat, fühlte es sich an, als hätte ich das Gröbste hinter mir. Die Themse war nur einen Steinwurf entfernt, und der Fluss wand sich wie eine gewaltige Schlange und bildete einen riesigen Mäander um die Isle of Dogs. Umgeben von der Themse standen die Wolkenkratzer von Canary Wharf, sie ragten mit ihren tausend Lichtern in die Nacht, und das weiße Doppel-Stroboskop des Central Tower blitzte jede Sekunde auf. Die Lichter der Wolkenkratzer spiegelten sich im schwarzen Wasser und bildeten so ein zweites Paar Türme, die hinab in die Finsternis zu ragen schienen. Im Westen konnte ich Whitehall sehen, das West End und die Wahrzeichen von Central London. Die Geräusche der Stadt hörte ich immer noch, doch so nah an der Themse wurden sie beinahe von dem rhythmischen Flüstern des Wassers ertränkt, das von den gegen das Ufer schlagenden Wellen herrührte, während das Wasser stetig dem Meer zuströmte. Die Luft trug den Geruch des Flusses heran, nicht sauber, aber auch nicht unangenehm.

»Ich bin’s«, sagte ich in die Dunkelheit.

Es dauerte einen Augenblick, dann trat ein Mädchen aus den Schatten des Gebäudes. Sie war einen Tick kleiner als der Durchschnitt, hatte welliges braunes Haar, das in zwei Knoten hochgebunden war, und bewegte sich bedächtig, immer darauf achtend, wohin sie trat. Ihr Alter wäre schwer zu schätzen gewesen – sie sah aus wie vielleicht Anfang zwanzig, doch in ihrer Haltung war eine Distanz, die nicht zu ihrer Jugend passte. Ihr Name war Luna Mancuso, und sie war mein Lehrling.

»Es ist kalt«, sagte Luna und erschauerte. Sie war warm gekleidet, in einen grünen Pullover und verblichene Jeans, doch es war September, und eine kühle Brise wehte vom Wasser herüber.

»Unten in der Gasse ist es wärmer.«

Luna verließ ihren Platz in der Ecke und folgte mir rasch. Vom Dach des Gebäudes konnte man direkt auf die Fabrik hinabblicken, und deshalb hatte ich es ausgewählt. »Hast du zählen können?«

»Du bist mit sechs anderen hineingegangen. Das war’s.«

»Hast du noch jemanden gesehen?«

»Nein. War da noch jemand?«

»Nein.«

Die Gasse wand sich am Ende der Feuerleiter zu einem S, was die Ecke vom Wind abschirmte, und es standen Kisten und Maschinen herum. Ein Ort, an dem die meisten fürchten würden, ausgeraubt zu werden, doch als Magier muss man sich um so etwas netterweise nur wenige Gedanken machen. Ein paar Heißwasserrohre verliefen hier vertikal in den Boden, sodass die Temperatur ein paar Grad wärmer war. Ich machte Luna Platz, damit sie sich dorthin stellen konnte, hielt dabei aber Abstand von ihr. Für mich wäre genug Platz gewesen, aber das hätte bedeutet, in Lunas Nähe zu kommen. »Wonach habe ich Ausschau gehalten?«, fragte Luna.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Man nimmt keine Unterstützung mit, wenn man weiß, was Sache ist. Das tut man nur, wenn man nichts weiß.«

Luna schwieg einen Moment und rieb ihre Hände neben den Heizrohren. »Ich hätte besser beobachten können, wenn ich näher dran gewesen wäre.«

»Luna …«

»Ich weiß, dass ich nicht hineingehen kann«, sagte sie. »Nicht so nah. Aber darf ich sie nicht kennenlernen?«

»Es ist gefährlich.«

»Du sagtest, der Barghest wäre in der Fabrik.«

»Ich meinte die Magier.«

Luna blickte überrascht zu mir auf. »Ich dachte, du arbeitest mit ihnen zusammen?«

»Heute?«, erwiderte ich. »Ja. Morgen?« Ich zuckte mit den Schultern.

»Ernsthaft?«

Ich seufzte. »Luna, wenn morgen der Befehl rausginge, dass man uns beide holen soll, dann wären diese Jungs da ganz vorn mit dabei. Ich mag vielleicht nicht mehr auf der Abschussliste des Rats stehen, aber das heißt nicht, dass sie mich jetzt leiden können. Ich glaube nicht, dass sie darauf aus sind, mich zu holen. Doch wenn es jemals von Vorteil für sie wäre, mich loszuwerden, dann bezweifle ich, dass sie auch nur eine Sekunde darüber nachdenken würden. Und jedes bisschen Information, das sie über dich haben, macht dich zu einem leichteren Ziel.«

Luna war still. Ich hoffte, sie hörte mir zu, denn ich übertrieb nicht. Heute Abend hatte ich mit Garrick, Ilmarin und den Sicherheitsmännern zusammengearbeitet, und wir hatten einen guten, professionellen Job gemacht. Doch wenn einer dieser Männer in einer Woche oder einem Monat oder einem Jahr mich bedrohen, entführen oder töten wollte, so würde mich das nicht groß überraschen.

»Was ist mit Talisid?«, fragte Luna schließlich.

»Er weiß nicht alles darüber, wozu du in der Lage bist, und je mehr Zeit du mit ihm verbringst, desto schwerer wird es, das geheim zu halten.«

»Ich pfeif darauf, alles geheim zu halten. Was nutzt es, in Sicherheit zu bleiben, wenn ich nichts tun kann?«

Ich hörte den Frust in Lunas Stimme und wollte gerade antworten, doch dann hielt ich inne. Ich hätte ihr sagen können, dass sie Geduld haben musste. Ich hätte ihr sagen können, dass die Gesellschaft der Magier gefährlich war und dass es am besten wäre, wenn sie sich von ihr fernhielte. Ich hätte ihr sagen können, dass ihre Position als mein Lehrling sie nicht schützen würde, wenn etwas schiefging.

All diese Sachen wären wahr gewesen, doch sie hätten nicht geholfen. Luna ist eine Adeptin, keine Magierin. Adepten sind wie ein Magier mit einem sehr viel engeren Fokus: Sie können Magie nutzen, aber nur auf eine ganz bestimmte Art. In Lunas Fall ist es Glücksmagie, das Verändern der Wahrscheinlichkeit. Ein Glückszauber kann nur Einfluss auf Dinge nehmen, die ausreichend willkürlich sind. Man gewinnt damit kein Schachturnier, und er lässt kein Geld aus dem Nichts auftauchen, denn in diesen Fällen gibt es nichts, mit dem die Magie arbeiten kann. Doch sie kann einen Lufthauch in eine andere Richtung schicken, kann jemanden ausrutschen lassen, kann etwas dazu veranlassen, an einem bestimmten Punkt zu brechen – unzählige winzige Veränderungen, die den Unterschied zwischen Erfolg und Niederlage ausmachen können, Gefahr und Sicherheit, Leben und Tod. Das ist nicht auffällig und protzig, kann aber sehr machtvoll sein.

Zu Lunas Unglück ist ihre Magie keine Gabe. Sie wurde ihr als ein Fluch auferlegt, der von einem ihrer Vorfahren aus Sizilien über Generationen hinweg weitergegeben wird. Der Fluch wendet Pech von Luna ab und lenkt es auf jeden, der in ihrer Nähe ist. Für Luna ist es, als hätte sie ein verzaubertes Leben. Sie wird nicht krank, sie hat keine Unfälle, und jedes kleinste Missgeschick trifft immer jemand anderen. Ihr denkt vermutlich, das klingt nicht gerade wie ein Fluch, und damit hättet ihr recht … nur dass alles Unglück intensiviert und auf jeden in der Nähe umgeleitet wird. Für meine Magiersicht ähnelt Lunas Fluch einer Wolke silbrigen Nebels, die von ihrer Haut aufsteigt und sie wie eine schützende Aura umgibt. Für jeden, der ihr zu nahe kommt, ist dieser Nebel giftig. Auf Armeslänge an ihr vorbeizugehen ist gefährlich, und eine Berührung kann lebensbedrohlich sein. Man kann sich nicht dagegen schützen, denn man kann nie wissen, was die Magie auslösen wird – es könnte bloß ein aufgeschlagenes Knie oder aber ein Herzinfarkt sein, und man hat nicht die geringste Ahnung, was es sein wird, bis es geschieht. Luna weiß in jeder Minute jedes einzelnen Tages, dass sie das Leben von jemandem verschlimmert, nur indem sie in seiner Nähe ist, und sie weiß auch, dass es für die anderen am besten ist, wenn sie so weit von ihnen entfernt bleibt wie nur möglich.

Das ergibt eine ziemlich üble Art der Isolation, denn jedes Mal, wenn der Träger dieses Fluchs sich erlaubt, einem anderen Lebewesen näher zu kommen, stößt diesem etwas Schreckliches zu. Soweit ich es herausfinden konnte, werden die meisten Opfer verrückt oder bringen sich innerhalb weniger Jahre um. Luna ist damit aufgewachsen. Sie hat überlebt … doch nur gerade so. Luna sagte mir einmal, dass sie die Suche begann, die sie letztendlich zu mir führte, weil sie erkannte, dass sonst irgendwann der Tag kommen würde, an dem es sie einfach nicht mehr kümmerte, ob sie am Leben bliebe.

Und das alles hieß, es würde nichts nutzen, Luna vor den Gefahren der Magierwelt zu warnen. Nicht, weil sie die Gefahr nicht sah, sondern weil sie vor langer Zeit kaltblütig beschlossen hatte, dass jede Art der Gefahr besser war als das Leben, das sie bisher geführt hatte.

»In Ordnung«, sagte ich schließlich. »Nächstes Mal kannst du mitkommen.«

Luna blinzelte und sah mich an. Sie lächelte nicht, doch es schien, als würde eine Last von ihr genommen, als wäre sie ein paar Zentimeter gewachsen. Mit meiner Magiersicht erkannte ich, wie der Nebel um sie herum aufwallte und sich dann ein wenig zurückzog. Ich drehte mich um und ging wieder auf die Hauptstraße zu. Luna folgte mir in sicherem Abstand.

Irgendwie hatte Luna vor Kurzem gelernt, wie man den Fluch kontrollierte. Ich weiß immer noch nicht genau, wie sie das macht, einerseits, weil ich nicht wirklich verstehe, wie der Fluch überhaupt funktioniert, und andererseits, weil es während einiger ziemlich ereignisreicher Tage geschehen war, in denen ich damit beschäftigt gewesen war, mich nicht umbringen, in Besitz nehmen oder anheuern zu lassen. Seither übt Luna die Beherrschung des Fluchs mit jedem bisschen Anleitung, das ich ihr dazu geben kann.

»Die nächste Runde ist Sonntagmorgen«, sagte ich. »Sieh zu, dass du um zehn bei Arachne bist.«

Luna nickte. Wir waren bei dem Geländer angekommen, an dem Luna ihr Fahrrad angekettet hatte – sie kann keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, ohne jeden zu töten, der sich neben sie setzt, deshalb ist ein Fahrrad ihre beste Möglichkeit, sich fortzubewegen. Glücklicherweise hatte niemand versucht, es zu klauen. Ich sah zu, wie Luna es aufschloss, doch statt aufzusteigen, zögerte sie. »Hm …«

»Was ist los?«

»Du bist morgen im Laden, richtig?«

Ich nickte. »Kommst du vorbei?«

»Ja. Na ja … Könnte ich jemanden mitbringen?«

Ich blinzelte. »Wen?«

»Einen Freund.«

Um ein Haar hätte ich gesagt: Aber du hast keine Freunde. Selbst ich bin normalerweise nicht so ungeschickt, was euch zeigen sollte, wie überrascht ich war. Lunas Gesellschaft ist für jeden tödlich, der nicht weiß, dass er Abstand halten muss. Wie hatte …?

Luna musste meine Gedanken an meiner Miene abgelesen haben, denn sie zog den Kopf ein und sah dabei ziemlich unglücklich aus.

»Ich weiß«, sagte sie zum Bürgersteig. »Ich werde ihm nicht nahe kommen. Ich habe nur … Er war interessiert. An deinem Laden. Er wollte ihn sehen.«

Ich sah Luna an, doch sie begegnete meinem Blick nicht. Wieder wollte ich sie warnen, und wieder hielt ich mich zurück. Gott weiß, dass ich Luna nicht daran erinnern musste, wie schlimm ihr Fluch ist. Doch wenn sie sich selbst in eine schlimme Situation hineinritt …

»Wie heißt er?«, fragte ich endlich.

Luna sah mit einem kurzen Aufblitzen von Dankbarkeit auf. »Martin.«

Ich nickte. »Ich werde den ganzen Tag da sein. Komm vorbei, wann immer du möchtest.«

»Danke!« Luna stieg auf ihr Fahrrad. »Tschüss.«

Ich sah ihr hinterher, als sie davonfuhr, und prüfte kurz die Zukünfte, um mich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit war. Ihr Fluch schützt sie vor Unfällen, aber nicht vor den Dingen, die jemand vorsätzlich tut; er würde keine Bande davon abhalten, sie zu schikanieren, obwohl er sie ziemlich übel aufmischen würde, wenn sie dumm genug wären, das durchzuziehen. Das wäre für Luna jedoch kein besonderer Trost, also sah ich zu, bis ich sicher war, dass sie es ohne Zwischenfälle aus Deptford hinausschaffte, dann wandte ich mich um und lief los.

Ich hatte nach Hause ins Bett gehen wollen, doch stattdessen nahm ich den Zug an Camden vorbei nach Hampstead Heath. Als ich dort ankam, stieg ich aus und lief am Parliament Hill vorbei und immer weiter in den Park hinein. Innerhalb weniger Minuten lagen die Lichter und der Lärm der Stadt weit hinter mir, und ich war allein in der Weite und Stille des Heath.

Nicht viele Menschen gehen nachts nach Hampstead Heath. Einerseits wegen möglicher Verbrechen, doch da ist außerdem noch etwas anderes, etwas Ursprünglicheres, das sie zurückhält, nämlich eine uralte Angst vor Wäldern. Der Heath ist der wildeste unter Londons Parks. Am Tag ist es leicht, es nicht zu bemerken, doch in der Nacht, wenn die Hügel die Lichter der Stadt ausblenden und der Park in vollständiger Dunkelheit liegt, wenn die Zweige und das Unterholz in der Stille rascheln und flüstern, wenn der Wald selbst zu beobachten und zu warten scheint …

Die meisten Menschen würden zugeben, dass es gruselig ist. Doch nicht viele würden zugeben, warum. Tief drinnen, verborgen in ihrem Geist, wissen sie, dass sie bei Nacht dunkle Wälder nicht wegen anderer Menschen meiden. Sondern weil sie sich vor anderen Dingen fürchten.

Und es hilft nicht, dass sie damit vollkommen richtigliegen.

Das Flussbett befand sich hinter einer Böschung, verdeckt von dichten Büschen und Bäumen. Keiner der Fußwege führte hier vorbei, und selbst während des Tages war die Gegend verlassen. Wäre der Stadtlärm in der Ferne nicht gewesen, hätte ich glauben können, ich wäre ganz allein auf der Welt. Ich fand die überhängende Eiche und tastete über die Wurzeln, die in das Bachufer hingen, bis ich die richtige fand und mit zwei Fingern dagegendrückte. »Arachne?«, rief ich in die Dunkelheit. »Ich bin’s, Alex.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann antwortete eine weibliche Stimme wie aus dem Nichts. Wenn man genau hinhörte, nahm man ein schwaches Klicken und Rascheln unter den Worten wahr, doch nur, wenn man wusste, dass es da war. »Oh, hallo, Alex. Ich habe dich nicht erwartet. Komm herein.«

Mit einem Rumpeln entwirrten sich die Wurzeln, und Erde rutschte beiseite, während das Ufer sich auftat und dahinter ein Tunnel zum Vorschein kam, der sanft abwärtsführte. Ich trat ein, und der Hügel schloss sich hinter mir, schloss mich in die Erde ein.

Auch wenn es nicht gerade so aussieht, ist Arachnes Höhle einer der am besten geschützten Orte Londons. Spürzauber können die Höhle oder jemanden in ihrem Inneren nicht finden, und mit Portalmagie kommt man weder hinein noch heraus. Man gelangt nur hinein, wenn Arachne die Tür öffnet. Ein Elementarmagier könnte sich den Weg vielleicht mit Gewalt bahnen, doch das würde so lange dauern, dass Arachne genug Zeit bliebe, ein paar Überraschungen für ihn vorzubereiten. Das ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, wie man denken würde. Arachne bekommt nicht viel Besuch, aber die Magier wissen, dass sie existiert – nur kommen Magier und Kreaturen wie Arachne für gewöhnlich nicht besonders gut miteinander aus.

Arachne ist eine gut drei Meter große Spinne, deren Körper mit dunklen Haaren bedeckt ist, die kobaltblau schimmern. Acht massive Beine tragen ihren Körper hoch über dem Boden, und acht pechschwarze Augen blicken über einem Paar Mandibeln herab, die ihre Fangzähne nicht gerade verdecken. Sie wiegt wohl so um eine halbe Tonne, doch trotz ihrer Masse bewegt sie sich mit der Geschwindigkeit und Eleganz eines Raubtiers. Sie sieht aus wie ein lebender Albtraum, und ein Blick würde ausreichen, um die meisten Leute schreiend wegrennen zu lassen.

Arachne saß auf einem Sofa und nähte an einem Kleid, was sie ein bisschen weniger einschüchternd wirken ließ. Nicht, dass ich dem meine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Arachne sieht aus wie der Schrecken aus der Dunkelheit, doch man hält sich nicht lange in der Welt der Magier, wenn man zu viel Wert auf das Aussehen legt, und ich bemerke es nicht einmal mehr, es sei denn, jemand weist mich darauf hin.

»Du bist spät noch wach«, sagte ich.

»Wie du«, erwiderte Arachne. Das Kleid war ein grüner Einteiler, der leicht schimmerte. Sie arbeitete mit allen vier Vorderbeinen gleichzeitig daran und bewegte die Glieder so rasch, dass sie verschwammen. Ihre Beine sind mit Haaren bedeckt, die nach unten hin immer feiner werden, und sie kann die Spitzen besser einsetzen als ich meine Finger. Ich habe immer den Verdacht, dass sie Magie hineinwebt, doch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen: Für eine Kreatur wie Arachne ist alles, was sie tut, mit ihrer Magie verbunden, auf die eine oder andere Art. »Stimmt etwas nicht?«

Arachnes Hauptkammer ist bedeckt mit leuchtend bunten Kleidern und Stoffen, sodass der Stein kaum zu sehen ist. Sofas und Tische stehen im Raum verteilt, und jedes einzelne Möbelstück ist mit Kleidern, Mänteln, Röcken, Pullis, Hemden, Schals, Tüchern, Tops, Handschuhen und Gürteln überladen. Alles ist rot, blau, grün, gelb und in sämtlichen Nuancen dazwischen, und der ganze Raum wirkt wie ein Klamottenladen mit so viel Ware, dass kein Platz für die Kunden bleibt. »Nein«, sagte ich.

Arachne rieb ihre Mandibeln mit einem klickenden Geräusch aneinander. »Hm. Räum den Stapel da drüben beiseite. Nein, den anderen.«

Ich tat wie geheißen und trug mehrere Jacketts zu einem Tisch in der Nähe, bevor ich mich mit einem Seufzen auf eines der Sofas setzte. Es war ziemlich bequem. »Hast du ein paar gute Kleider in der letzten Zeit genäht?«

»Alle Kleider, die ich mache, sind gut.«

»Ja, ich wollte nur Konversation betreiben.«

»Du bist schrecklich im Betreiben von Konversation. Warum sagst du mir nicht, warum du wirklich hier bist?«

Ich saß einen Moment lang schweigend auf dem Sofa, lauschte dem raschen Ftt-ftt-ftt, mit dem Arachne nähte. Ich dachte nicht darüber nach, was ich sagen sollte, sondern raffte meinen Mut zusammen, um es auszusprechen.

Ich kenne Arachne seit zehn Jahren. Für mich ist das eine lange Zeit; für sie nicht so sehr. Als ich Arachne zum ersten Mal traf, war ich noch ein Lehrling bei dem Schwarzmagier Richard Drakh. Sie vertraute mir am Anfang nicht, und rückblickend kann ich ihr das nicht wirklich verübeln. Doch wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt, und über die Jahre ist sie meine vermutlich engste Freundin geworden, so schräg sich das auch anhört.

»Denkst du, ich tue das Richtige, indem ich Luna unterrichte?«

»Was für eine merkwürdige Frage.« Arachne blickte nicht von ihrer Arbeit auf. »Du wirst sie wohl kaum rauswerfen und auf sich allein gestellt lassen.«

»Natürlich nicht. Es ist …« Ich zögerte. »Lehre ich sie richtig? Sie drängt immer noch darauf, andere Magier kennenzulernen. Ich hatte gedacht, das würde sich legen. Ich meine, sie trifft Leute im Laden.«

»Nicht sehr oft, nach dem, was du mir erzählst.«

»Sie kann es sich nicht erlauben, das besonders oft zu tun. Mit ihrem Fluch …«

»Ist das der wahre Grund?«

Ich seufzte und ließ die Schultern hängen. »Nein. Ich will sie nicht in der Nähe von anderen Magiern haben, soweit ich das verhindern kann.« Sogar während ich das sagte, wusste ich, dass es stimmte, und es schockierte mich ein wenig. Luna war überhaupt nur zu mir gekommen, weil sie hoffte, ein Teil der Magierwelt zu werden. Und doch hatte ich versucht, genau das zu verhindern …

Arachne nickte nur. »Und das weiß sie. Und du fühlst dich schuldig, weil du sie von ihnen fernhältst.«

»Ich würde mich noch schuldiger fühlen, würde ich Luna in Schwierigkeiten bringen.« Ich sah zu Arachne auf. »Ich glaube immer noch nicht, dass sie begreift, wie gefährlich Magierpolitik sein kann. Ich war heute Nacht auf einer Jagdmission unterwegs. Doch morgen oder nächste Woche oder nächstes Jahr könnten die gleichen Männer meine Feinde sein. Und wenn sie da gewesen wäre …«

Arachne ging nicht darauf ein.

»Du denkst, ich will sie zu sehr beschützen«, sagte ich schließlich.

»Ich denke, dass du im Grunde Angst davor hast, sie in etwas hineinzuziehen, was sie verletzen oder töten könnte.«

Ich frage mich manchmal, ob Arachne mehr als nur Fäden spinnen kann, ob sie auch Verbindungen zwischen Menschen sieht. Sie wirkt, als passte sie überhaupt nicht auf, und dann trifft sie doch genau ins Schwarze. »Das habe ich schon getan«, sagte ich.

»Ja«, meinte Arachne. »Doch es war auch ihre Entscheidung.« Sie legte das Kleid hin und blickte mit ihren acht Augen zu mir herüber. »Alex, dein Problem ist, so lange allein gewesen zu sein, dass du vergessen hast, wie man mit jemand anderem lebt. Sie kann diese Dinge nur durch Erfahrung lernen.«

»Ja, nun, ich schätze, das wird sie auf die eine oder andere Art auch tun. Sie bringt morgen irgendeinen Kerl mit in den Laden.«

»Eifersüchtig?«

»Nein«, erwiderte ich automatisch.

Arachne fuhr einfach mit dem Nähen fort. Sie hat keine Augenbrauen, die sie hätte heben können, aber irgendwie vermittelte sie dennoch ganz genau, was sie davon hielt.

Ich starrte mürrisch eine Minute lang vor mich hin, bevor mir der andere Grund wieder einfiel, aus dem ich hergekommen war. »Oh. Etwas Seltsames ist heute Nacht geschehen.« Ich schob Luna aus meinen Gedanken und beugte mich nach vorn. »Talisid hat den Barghest in Deptford aufgespürt und rief mich zu Hilfe. Ich traf mich mit seinem Team vor dem Bau, und wir sind reingegangen. Aber er war tot. Jemand hat ihn erledigt, bevor wir dort ankamen.«

»Merkwürdig.« Arachne hielt das Kleid, an dem sie arbeitete, mit zwei Vorderbeinen hoch und musterte es, während sie es drehte und wendete. Es wurde ein schmales, chinesisch anmutendes Kleid, welches das Licht in blassgrünem Schimmer reflektierte. Sie legte das Kleid hin und machte sich wieder an die Arbeit. »Hast du eine Ahnung, wer es war?«

Ich runzelte die Stirn. »Nein. Und das ist ein wenig seltsam. Ich meine, sicher, diese Kreatur hat Menschen getötet, doch es ist ja nicht so, als kümmerte das viele Magier. Nicht genug auf jeden Fall, um einen Kampf zu riskieren. Ich meine, Bargheste haben einen ziemlich furchterregenden Ruf. Warum würde irgendjemand einen jagen, wenn sie einfach abwarten könnten, dass der Rat sich darum kümmert?«

»War es ein Geflohener?«

Ich nickte. »Ja, Talisid und ich fragten uns das auch. Wenn ein Magier daran schuld ist, dass das Ding dort war, würde es Sinn machen, heimlich aufzuräumen. Doch wir konnten keinen Hinweis darauf finden, dass es jemandem gehörte. Und hätte man das wirklich stillschweigend behandeln wollen, hätte man die Leiche doch per Portal entsorgt. Oh, und noch etwas. Es gab Zeichen von einem Kampf in der Fabrik – Feuer- und Eismagie –, doch keine Frost- oder Brandmale an dem Barghest.«

»Was hat ihn dann getötet?«

»Nichts. Zumindest nichts, was ich sehen konnte.«

Das Nähen hörte auf. Ich blickte auf und sah, dass Arachne mich beobachtete und die Nadeln nicht mehr bewegte. »Erzähl mehr davon.«

»Hm …« Ich dachte kurz nach. »Er war einfach … tot. In Wolfsgestalt. Keine Male. Ich dachte, es könnte vielleicht Todesmagie gewesen sein, aber …«

Arachne sagte nichts.

»Arachne?«

Sie schien kurz zusammenzuzucken, dann fuhr sie fort mit dem Nähen, das Ftt-ftt-ftt erklang aufs Neue. »Ich verstehe.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Vielleicht.« Arachne hielt inne. »Wenn du die Todesursache ergründen könntest, wüsste ich es zu schätzen, wenn du sie mir erzähltest.«

Ich zögerte kurz, bevor ich nickte. »In Ordnung, ich werde sehen, was ich herausfinden kann.«

Arachne fuhr mit ihrer Arbeit fort. Sie sagte nichts mehr, und ich hakte nicht weiter nach. »Wie viele davon gibt es wohl, was denkst du?«, fragte ich nach einer Weile.

»Von was?«

»Magische Kreaturen wie dieser Barghest. Die hier in unserer Welt leben.«

»Wenige. Mit jedem Jahr weniger.« Arachne arbeitete weiter, doch ihre Stimme klang ein wenig abwesend. »So viele wurden getötet oder versklavt. Die Überlebenden haben sich an abgelegene Plätze oder in andere Welten zurückgezogen. Vielleicht war das, was du heute gesehen hast, der Leichnam des letzten Barghests.«

Als ich eine Stunde später durch die Dunkelheit des Heath nach Hause lief, kehrten meine Gedanken zu Arachnes Worten zurück. Ich fühle mich so wohl mit Arachne und vergesse leicht, dass andere Magier Kreaturen wie sie im besten Fall für Aliens halten und im schlimmsten für Monster. Dies war das erste Mal gewesen, dass ich auf eine solche Jagd gegangen war, und ich hatte einen guten Grund dafür gehabt – aber das änderte nichts an der Tatsache, dass die Kreatur, die ich hatte töten wollen, im Grunde genommen nicht so anders war als Arachne.

Zum ersten Mal fragte ich mich, wie lange genau magische Kreaturen noch weiter existieren würden. So weit die Geschichte der Magier zurückreichte, waren sie immer da gewesen, doch seit langer Zeit nahm ihre Zahl ab, hauptsächlich wegen Feldzügen wie denen, auf dem ich heute gewesen war. Für gewöhnlich haben die Magier es nur auf gefährliche Kreaturen abgesehen … doch nicht immer, und der Begriff »gefährlich« ist ziemlich subjektiv. Jetzt, da ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass die einzigen magischen Kreaturen, die ich in den letzten paar Monaten gesehen hatte, entweder mit Magiern zusammengearbeitet oder unter ihrer Kontrolle gestanden hatten. Mir war in freier Wildbahn schon seit Langem keine mehr über den Weg gelaufen. Wenn es so weiterging, dann würden die einzigen Kreaturen, die noch übrig blieben, die sein, die jemandes Eigentum waren, mächtig genug, um sich zu verstecken, oder aber tot. Das würde bedeuten, dass es keine Morde mehr wie die gäbe, für die der Barghest verantwortlich gewesen war … Doch es würde ebenfalls bedeuten, dass auch die sanfteren oder wundersameren Kreaturen verschwanden.

Ich war nicht sicher, ob mir dieser Gedanke gefiel, und ich war mir auch nicht mehr so sicher, ob ich das Richtige getan hatte, indem ich Talisid geholfen hatte. Ich ging nach Hause, um zu schlafen und um zu sehen, was der nächste Tag bringen würde.

2

Es war ein neuer Tag, und es regnete.

Mein Laden liegt versteckt in einer kleinen Seitenstraße in Camden, nur eine Minute Fußweg vom Kanal entfernt. Die Bahnlinien und die Brücken, die die Gegend einrahmen, sorgen dafür, dass er ein wenig schwer zu finden ist, doch es kommen immer noch genug Touristen her. Auf dem Schild über dem Fenster steht Arcana Emporium, zusammen mit einer Aufzählung des Angebots, das technisch genug ist, um die meisten Leute davon abzuhalten, sofort an Bühnenzaubertricks zu denken. Ein Zettel an der Tür führt die Öffnungszeiten von 10 Uhr bis 17 Uhr auf, Montag bis Samstag, und hin und wieder stimmt das sogar.

Soweit ich weiß, bin ich der einzige Magier in England, der einen Laden führt. Die meisten Magier finden deshalb, ich wäre exzentrisch oder einfach dumm, und um ehrlich zu sein, haben sie damit nicht ganz unrecht. Geld ist für die überwiegende Zahl der Magier kein großes Problem. Sicher, sie brauchen es, aber es ist kein primäres Tauschmittel, so wie es das für normale Leute ist. Das liegt ganz einfach daran, dass die meisten Magier, die wissen, was sie tun, und bereit sind, die Arbeit zu leisten, ihre Macht in so viel Geld umsetzen können, wie sie realistischerweise jemals brauchen werden. Es sind nicht alle Millionäre, wirklich nicht, aber sie müssen sich für gewöhnlich auch keine Sorgen darüber machen, ob sie ihre Miete zahlen können. Im Allgemeinen gilt also, dass man mit Geld nichts wirklich Wertvolles von Magiern kaufen kann, denn Bargeld ist nicht so knapp, dass sie es wertschätzen.

Die echte Währung der magischen Wirtschaft stellen Gefallen dar. Magier sind Spezialisten: Ein typischer Magier ist hervorragend in einer Sache und mies oder nutzlos in allem anderen. Wenn er sich einem Problem gegenübersieht, das eine andere Art der Magie erfordert als diejenige, die er nutzt, kann er nichts ausrichten – doch er kennt vermutlich jemanden, der dazu in der Lage ist. Und dieser Magier kann vielleicht irgendwann einmal die Hilfe von jemand anderem gebrauchen, und so weiter. Magier verfügen über Netzwerke aus Freunden und Kontakten, die sie anrufen können, und lasst euch von mir gesagt sein, Magier nehmen diese Gefallen wirklich sehr ernst. Seine Schulden nicht zu begleichen kommt in der Gesellschaft der Magier nicht gut an. Und wir reden hier von »als Sklave an die Dunkelmagier verkauft«-mäßig nicht gut ankommen. Natürlich geschieht es trotzdem, wenn derjenige glaubt, damit irgendwie durchzukommen, aber auf lange Sicht ist das selten eine gute Idee. Auf den höheren Ebenen laufen erstaunlich viele Dinge über Versprechungen. Sie mögen vielleicht nicht ganz so gut sein wie Gold, doch man kann damit sehr viel mehr kaufen. Und genau das war die Basis, auf der ich in der vergangenen Nacht für Talisid gearbeitet hatte. Er hatte keine Bezahlung angeboten, und ich hatte nicht danach gefragt, doch es herrschte die unausgesprochene Übereinkunft, dass er mir beim nächsten Mal, wenn ich ihn darum bat, helfen würde, ohne Fragen zu stellen.

Oder vielleicht auch nicht. Das Leben wäre aber sehr langweilig, wenn es allzu vorhersehbar wäre.

Egal, um wieder zum Punkt zurückzukommen, das soll heißen, dass jeder, der genug magische Gegenstände besitzt, um damit einen Laden zu eröffnen, eigentlich mächtig genug ist, um besagte Gegenstände gar nicht erst verkaufen zu müssen. Außerdem neigen Magier auch dazu, viel zu misstrauisch zu sein (aus gutem Grund), als dass sie größere Bestände von äußerst wertvollen Gegenständen an einem leicht erreichbaren Ort deponieren würden. Oder vielleicht glauben sie auch einfach, dass es unter ihrer Würde ist, Kunden zu bedienen. Wer weiß das schon.

Es gibt jedoch eine gewisse Art von Gegenständen, mit deren Verkauf man ein Geschäft machen kann – der Kram, der gerade nützlich genug ist, um ihn zu behalten, doch nicht mächtig genug, dass ein Magier sich dafür die Mühe machen würde, einen Dienst dafür einzutauschen, wie alte oder geschwächte Fokusse oder Einwegwerkzeuge, die nichts Großartiges bewirken. Dann sind da die seltenen Teile, die für sich genommen nichts Nützliches bewirken, bei denen es aber wirklich unangenehm ist, wenn sie einem mitten in einem Ritual ausgehen. Und letztlich führe ich Dinge, die überhaupt nicht magisch sind, wie Kristallkugeln und Tarotkarten und Kräuter. Sie sind ziemlich nutzlos, außer um damit das Fenster zu schmücken, aber sie sind eine gute Tarnung.

Nimmt man all das zusammen, dann hat man das Angebot meines Ladens. Es gibt einen Bereich rechts hinten in der Ecke neben der Tür zum Flur, der mit einer Kordel abgetrennt ist und in dem sich die echten magischen Gegenstände befinden, oder zumindest die schwächeren. Zwei Regalständer beherbergen eine Sammlung von Steinen, Halbedelsteinen, Figurinen und Materialien, und ein Regal ist voller Kräuter, Pulver und Räucherwerk, sodass der ganze Laden ein wenig nach Kräuterstube riecht. Stäbe, Ruten und Klingen von unterschiedlicher Machart nehmen eine weitere Ecke ein, und außerdem hat man einen guten Blick auf die Straße durch ein großes Fenster, das in diesem Moment von den Tropfen des ständig fallenden Regens gestreift war.

Und schließlich war da die Kundschaft.

Mein Publikum hatte einmal ausschließlich aus kleinen Fischen bestanden. Eine winzige Fraktion, die wusste, was sie tat, ein geringfügig größerer Teil, der ein wenig wusste, was er tat, und eine ganze Menge von denen, deren Wissen über die Magie auf ein Post-it gepasst hätte. Nach der Angelegenheit vor fünf Monaten hatten sich die Dinge verändert. Mein Laden war plötzlich beliebt, und Adepten, Lehrlinge und sogar Magier kamen zu mir.

Das Problem war, dass zusammen mit dem Zustrom der bewanderten Menschen auch eine Menge Idioten vorbeischauten. An einem Samstag wie heute habe ich Glück, wenn einer von fünf Kunden genug weiß, dass ich ihm trauen kann. Der Rest …

… nun ja.

»Hallo. Ich suche Trickmünzen?«

»Du suchst die Magic Box, auf der anderen Seite von Camden. Hier ist eine ihrer Visitenkarten.«

»Oh. Welche Tricks hast du da?«

»Gar keine. Du bist im falschen Laden.«

»Was verkaufst du dann?«

»…«

»Warte, das hier soll ein Laden für echte Magie sein?«

»…«

»Oh mein Gott, du meinst das ernst! Hahaha!«

»…«

»Haha … oh Mann, das ist großartig. Okay, okay, ich bin schon weg.«

»Äh …« (Kichern.)

»Kann ich euch helfen?«

»Wir suchen …« (Noch mehr Gekicher.)

»…«

»Hast du … mh …«

»Lasst euch nur Zeit.«

»… einen Zauberstab?« (Alle drei kichern jetzt im Chor.)

»Nein. Und mein Name ist nicht Harry, und ich war auch nicht in Hogwarts.«

(Noch mehr Gekicher.)

»Mh … hihi … was ist mit …?«

»…«

»Weißt du, wie man Vampire finden kann? Also, so richtig heiße?«

»Ich möchte diesen Zauberspruch erstattet bekommen.«

»Welchen Zauberspruch?«

»Diesen hier.«

»Hmmm … Ein Zauberspruch, damit man im Lotto gewinnt. Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage, der hat wohl nicht funktioniert.«

»Ich will mein Geld zurück.«

»Dein Geld, klar. Wie viel hast du gezahlt?«

»Vierzehn neunundneunzig.«

»Mhmh. Wie viel würdest du erwarten, im Lotto zu gewinnen?«

»Mindestens eine Million.«

»…«

»…«

»Und da siehst du kein Problem mit?«

»Was?«

»Okay. Das erste Problem ist, dass du hier ein Produkt hast mit einem Verkaufswert von fünfzehn Pfund …«

»Vierzehn neunundneunzig.«

»Vierzehn neunundneunzig, sorry … was dir eine Million einbringen soll. Und jetzt denk mal darüber nach, wie das funktionieren soll.«

»Ist mir egal, ich will mein Geld zurück.«

»Richtig. Das zweite Problem an der Sache ist, dass ich so einen Spruch niemals verkaufen würde.«

»Ich habe das hier im Laden gekauft.«

»Das wäre ziemlich beeindruckend, bedenkt man, dass ich keine Sprüche verkaufe.«

»Ich kenne meine Rechte. Wenn du mir das Geld nicht erstattest, verklag ich dich.«

»Wenn dein Verständnis des Rechtssystems deinem Begriff der Wirtschaft ebenbürtig ist, glaube ich nicht, dass ich mir darüber groß Gedanken machen muss.«

»Oh, ist das so? Ich rufe die Polizei! Ich kann dafür sorgen, dass dieser Laden dichtmachen muss, das wirst du gleich merken!«

(Stampf stampf stampf KNALL.)

»…«

»Äh, hallo? Entschuldigung?«

»Ja?«

»Äh, könnte ich vielleicht einen solchen Spruch bekommen, um im Lotto zu gewinnen?«

»Hi!«

»Du wieder?«

»Ja, ich habe beschlossen, dass ich nicht quer durch Camden laufen will. Welche Tricks verkaufst du?«

»Wir verkaufen keine Tricks.«

»Okay, okay. Was für ›Magie‹ verkaufst du?«

»Könntest du bitte keine Geste mit der Hand in der Luft machen?«

»Klar doch. Was hast du also da?«

»Nur, was du hier siehst.«

»Okay, okay.«

»Äh, hi.«

»Hey, was brauchst du?«

»Ich habe gehört, dass du … äh … Dinge herausfinden kannst?«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Äh … das war … Kannst du etwas für mich herausfinden?«

»Unwahrscheinlich.«

»Aber ich muss es wissen! Es ist wirklich wichtig!«

»Fein. Worum geht’s?«

»Ich … ich muss wissen, ob meine Freundin mich betrügt.«

»Wahrscheinlich.«

»Was? Wieso?«

»Wenn du diese Frage stellst, ist die Antwort vermutlich Ja.«

»Gibt es eine Möglichkeit, die Magie zu nutzen, um mit Menschen zu sprechen, die … weitergezogen sind?«

»Weitergezogen?«

»Ich meine, gestorben.«

»Nein.«

»Aber die ganzen Hellseher sagen …«

»Hellseher verdienen ihren Lebensunterhalt damit, den Leuten das zu sagen, was sie hören wollen. Magie kann dich nicht mit jemandem reden lassen, der gestorben ist, und soweit ich weiß, kann das auch nichts sonst.«

»Also … sie können keine Botschaft schicken?«

»Nein.«

»Gar keine? Wenn jemand tot ist, dann war’s das?«

»Ja.«

»Und sie können niemandem sagen, wie sie gestorben sind, richtig?«

»Nein, sie … Warte mal. Warum willst du das noch mal wissen?«

»Ach, nur so.«

»…«

»…«

»Dieser Todesspruch wird nicht wirken.«

»W … was? Ich … ich habe nicht …«

»…«

»Könnte …?«

»Nein, ich bring dir nicht bei, wie man das macht.«

»Hey, Mann.«

»Oh, um Himmels willen. Warum bist du immer noch hier?«

»Sieh mal, ich bin halt neugierig. Also, ich weiß, du verkaufst keine Tricks über den Ladentisch …«

»Wir. Verkaufen. Keine. Tricks.«

»Hey, warum bist du so sauer? Ich frag doch nur.«

»Ich erklär dir das jetzt ein letztes Mal. Das hier ist ein Laden. Es gibt Dinge in den Regalen. Du willst die Sachen aus den Regalen kaufen, dann bring die Sachen zur Ladentheke.«

»Komm schon, ich bin nicht so dämlich. Ich habe jede Menge Leute hierherkommen sehen. Du musst gutes Zeug haben, richtig? Ich meine, für Leute, die Bescheid wissen?«

»Und du willst das Geheimnis wissen?«

»Ja.«

»Okay. Es ist ein Geheimnis.«

»Fein, ich hab’s kapiert. Ich gehe.«

»…«

»Oh, noch eine Sache …«

Der Nachmittag wurde langsam zum Abend. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, aber als der Abend näher rückte, wurden die Wolken dichter, und der Regen fiel stärker. Um fünf Uhr war es düster und das Fenster undurchsichtig vom strömenden Wasser; die Regentropfen trommelten so hart auf den Bürgersteig draußen, dass ich die Vibration über die Beine meines Stuhls spürte.

Das Wetter hatte die Kunden endlich vertrieben, und nur einer war übrig, ein Kerl um die zwanzig. Er lief ein paar Mal im Laden herum, bevor er langsam zur Theke herüberkam. Ich hob den Blick nicht von meinem Taschenbuch. Er räusperte sich.

»Kann ich dir helfen?«

»Oh, hi. Ja. Ich frage mich, ob ich dich etwas fragen darf.«

»Ich verkaufe keine Sprüche.«

»… okay.«

Ich blätterte um. »Ich verkaufe keine Sprüche, und ich verkaufe keine Tricks. Ich führe keine Illusionszauber oder gezinkte Karten oder gefälschte Münzen. Ich kann dir keine Geldbörse verkaufen, die nie leer wird, oder dir helfen, im Lotto zu gewinnen. Ich kann das Mädchen, das deine Aufmerksamkeit erregt hat, nicht dazu bringen, sich in dich zu verlieben, und ich würde es auch dann nicht tun, wenn ich es könnte. Ich habe keine Hellseher-Hotline zu deinen toten Verwandten, ich weiß nicht, ob du in deiner Karriere Erfolg haben wirst, und ich habe keine Ahnung, wann du heiraten wirst. Ich kann dich nicht nach Hogwarts bringen oder in irgendeine andere magische Schule, und wenn du diesen dummen glitzernden Vampir auch nur erwähnst, dann werde ich etwas wirklich Unerfreuliches mit dir anstellen.«

»… okay?«

»Gut. Und jetzt, da wir das geklärt haben, was brauchst du?«

»Du bist Alex Verus, richtig?«

»Das bin ich.«

»Hi, schön, dich kennenzulernen.« Eine Hand tauchte über meinem Buch auf. »Martin.«