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Wie lange wird das Bündnis zwischen Schwarz- und Weißmagiern halten? Das spektakuläre Finale der Alex-Verus-Serie.
Vor langer Zeit führten Magier und Djinn Krieg. Letztere unterlagen und wurden von den Siegern in einfache Gegenstände wie Lampen oder Ringe eingekerkert. Doch sie sinnen seitdem auf Rache. Nun ist es einem Djinn-Fürsten gelungen, eine Magierin in Besitz zu nehmen. Schwarz- und Weißmagier müssen sich eiligst verbünden. Doch Hellseher Alex Verus ahnt, dass dieser Pakt nicht lange halten wird. Buchstäblich jeder hat seine eigenen Ziele – auch Alex. Denn die besessene Magierin ist seine Freundin Anne, und während alle anderen sie und den Djinn vernichten wollen, muss er sie retten!
Die SPIEGEL-Bestsellerserie von Benedict Jacka! Steigen Sie ein in die Urban Fantasy mit »Das Labyrinth von London« und folgen Sie der packenden Story des Hellsehers Alex Verus.
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Seitenzahl: 500
Buch
Vor langer Zeit führten Magier und Dschinn Krieg. Letztere unterlagen und wurden von den Siegern in einfachen Gegenständen wie Lampen oder Ringe eingekerkert. Doch sie sinnen seitdem auf Rache. Nun ist es einem Dschinn-Fürsten gelungen, eine Magierin in Besitz zu nehmen. Schwarz- und Weißmagier müssen sich eiligst verbünden. Doch Hellseher Alex Verus ahnt, dass dieser Pakt nicht lange halten wird. Buchstäblich jeder hat seine eigenen Ziele – auch Alex. Denn die besessene Magierin ist seine Freundin Anne, und während alle anderen sie und den Dschinn vernichten wollen, muss er sie retten!
Autor
Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.
Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:1. Das Labyrinth von London2. Das Ritual von London3. Der Magier von London4. Der Wächter von London5. Der Meister von London6. Das Rätsel von London7. Die Mörder von London8. Der Gefangene von London9. Der Geist von London10. Die Verdammten von London11. Der Jäger von London12. Der Retter von London
Der erste Band der neuen Serie von Benedict Jacka ist bereits in Vorbereitung.
Deutsch von Michelle Gyo
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Risen (Alex Verus 12)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright der Originalausgabe © 2019 by Benedict Jacka
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de
Karte: © Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam · lor
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29075-7V001
www.blanvalet.de
Für meine Eltern
Die Burg würde fallen.
Mauern und Zinnen aus gelbem Stein erstreckten sich in die Ferne und verschmolzen mit dem Dunst der Mittagssonne. Ich stand auf dem höchsten Turm des Ostflügels und beobachtete die unter mir tobende Schlacht. Zwei schwarze Armeen kämpften in dem Dunst gegeneinander, prallten auf Stegen und in Innenhöfen aufeinander. Sie vermischten sich zu einem Meer der Gewalt, winzige Gestalten, die einander niederschlugen, Leichen, die ins Leere stürzten und zu nichts zerfielen.
Die angreifende Armee bestand aus Dschann, schlanken Humanoiden, wie aus lebendiger Dunkelheit geformt. Sie bewegten sich mit einer fließenden Eleganz, mörderisch und schnell. Die Verteidiger waren Schattenkonstrukte, rauchige Gestalten mit glühend weißen Augen. Sie waren langsamer und ungeschickter als die Dschann, aber sie starben nicht: Wurden ihre Körper zerstört, erstanden sie einfach neu am Ort ihrer Erschaffung. In einem steten Schwarm flogen sie von der Gruft heran, flatterten mit schweren Flügelschlägen am Himmel und stürzten sich erneut in den Kampf.
Doch Dschann und Schatten waren nur Bauernopfer, entscheiden würden den Kampf die Magier. Es waren wenige, und sie versteckten sich hinter Dächern und Festungswällen, waren anhand ihrer Macht jedoch leicht aufzuspüren. Ein Schwarm Dschann verschwand in einem Gebäude, kam aber nicht mehr heraus. Weiter im Süden ging eine Schattenschar in einem Hof nieder; Licht flackerte kurz an den Wänden, und ein paar Minuten später tauchte eine neue Wolke schwarzer Funken aus der fernen Gruft auf.
Die Burg gehörte dem Schwarzmagier namens Sagash. Besser gesagt, sie hatte ihm gehört; ich sah jetzt seit zwanzig Minuten zu, und es wurde deutlich, dass Sagashs Truppen verloren. Die Kathedrale, die den Südquadranten überragte, hatte lange standgehalten, Blitze hatten jeden Dschann niedergeschlagen, der sich ihr genähert hatte, aber vor zehn Minuten war Kampfmagie aufgeflammt, und danach hatten die Blitze aufgehört. Bei meinem letzten Besuch in dieser Burg hatte ich gegen einen von Sagashs Lehrlingen gekämpft, einen Blitzmagier namens Sam. Ich hatte das Gefühl, ihn in dieser Kathedrale gespürt zu haben. Und ich hatte auch das Gefühl, zu wissen, wer ihn zum Schweigen gebracht hatte.
Ich bemerkte, dass sich ein Ausläufer der Schlacht in meine Richtung bewegte, Schattenkonstrukte rangen in einem Laufgefecht mit einem sie verfolgenden Trupp Dschann. Beide Seiten erlitten Verluste, aber die Dschann erhielten Verstärkung und die Konstrukte nicht. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, schienen sie etwas zu schützen, aber ich konnte nicht sehen, was.
Ich ging die Zukünfte durch, suchte nach Informationen. In einer, noch neunzig Sekunden entfernt, erblickte ich flüchtig eine Gestalt auf einem Dach, die allein gegen einen Schwarm Dschann kämpfte. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, doch ich konnte erraten, wer es war.
Kurz dachte ich nach, dann machte ich einen Schritt über den Rand des Turms und ließ mich fallen.
Bis ich ankam, waren sämtliche Schatten zerstört, die letzten beiden lösten sich gerade in Rauch auf, als ich auf den gelben Stein trat. Der Kampf hatte sich in die Höhe ausgedehnt, und nun standen wir auf einem Flachdach mit eisernen Geländern voller Dornen und niedrigen Brüstungen an drei von vier Seiten, die einen vor dem Sturz bewahrten. Breite Klüfte trennten das Dach von gewaltigen Gebäuden im Norden und Süden, und die Mauern reichten bis tief hinab zu den Burghöfen. Wind toste mit unerbittlichem Brüllen über das Dach und zerrte an meinem Haar und den Kleidern.
Drei Dschann standen über den Überresten der Schatten, und als ich auf dem Dach ankam, wandten sich alle um und liefen mit ausgestreckten Klauen auf mich zu. Ich brannte die drei nieder. Am Ende des Dachs führte eine Treppe hinab und außer Sicht; die meisten Dschann drängten sich darum, ihre Aufmerksamkeit war auf etwas unter ihnen gerichtet. Ein kleiner Turm mit quadratischem Dach ragte sechs Meter über mir auf, und ich sprang hinauf.
Von meinem Aussichtspunkt konnte ich erkennen, dass die Treppe hinabführte zu etwas, was wohl einmal eine Brücke gewesen war, jetzt aber endete sie auf einer drei Meter großen Steinplattform. Dahinter war ein Riss zu sehen, zu dem es tief hinabging. Auf der Plattform stand eine junge Koreanerin, gekleidet in Blau und Grau. Sie trug ein Kurzschwert und einen kleinen Schild und hockte in Kampfhaltung da, der Treppe zugewandt. Es war vermutlich dasselbe Schwert, mit dem sie mich bei meinem letzten Versuch hatte erledigen wollen.
Auf der Treppe drängten sich Dschann. Sie waren auf die Frau fokussiert, griffen aber nicht an. Stattdessen sammelten sie sich außerhalb der Reichweite ihres Schwerts, geduckt und raubtierhaft, Wölfe, die ein in die Ecke gedrängtes Reh anstarrten.
Die Dschann und die Frau konzentrierten sich aufeinander. Sie waren gut dreißig Meter von mir entfernt, und bei dieser Distanz und dem tosenden Wind hatte mich noch niemand bemerkt. Ich tastete durch meinen Traumstein, fand den Geist der Frau und berührte ihn vorsichtig. Yun Ji-yeong, nicht wahr?, sagte ich über die Verbindung.
Ich sah, wie Ji-yeong zusammenzuckte. Ihr Mund bewegte sich.
Sprich durch deine Gedanken, sagte ich. Ich bin auf dem Turmdach, zwei Uhr von dir aus.
Ji-yeong drehte den Kopf und sah mich, dann wandte sie sich mit einem Ruck wieder den Dschann zu.
Wer bist du?, wollte sie wissen. Ihre Gedanken klangen rau und heiser, aber klar.
Ich heiße Alex Verus. Wir sind uns vor vier Jahren begegnet.
Verus? Ji-yeong klang verblüfft. Du warst bei … Die Stimmung ihrer Gedanken veränderte sich. Ah, Shibal.
Ja.
Ji-yeong sagte wütend etwas auf Koreanisch, dann wechselte sie wieder zu Englisch. Na gut, schön! Du willst mich? Ruf deine Hunde zurück und komm selbst!
Du redest von den Dschann?, fragte ich. Die sind nicht meine.
Du kamst mit ihr her, oder?
Ich stehe nicht auf ihrer Seite und auch nicht auf deiner.
Ji-yeong hielt inne, und als sie wieder in Gedanken sprach, wirkte es vorsichtiger. Was willst du?
Informationen, erwiderte ich. Also, es läuft so. Beantworte meine Fragen und tu, was ich sage, dann hole ich dich aus deinem Schlamassel und beschütze dich.
Sagash wird nicht zulassen, dass du …, setzte Ji-yeong an, brach abrupt ab und stieß ihr Schwert vor. Der Dschann, der ihr am nächsten war, sprang zurück; ein Kräuseln durchlief die Menge, und andere Dschann rückten vor.
Ich glaube nicht, dass Sagash im Moment dein größtes Problem ist, sagte ich, nachdem die Dschann sich wieder beruhigt hatten.
Was zur Hölle hast du vor?, fragte Ji-yeong. Ihre Gedanken klangen aufgedreht, angespannt. Wenn du nicht zu ihr gehörst, werden diese Dinger dir nicht gehorchen.
Nein.
Du bist ein Wahrsager, richtig? Willst du sie von da oben aus töten?
Nein.
Was dann? Sie alle abstechen?
Ja.
Ji-yeong lachte. Das würde ich gern sehen.
Haben wir einen Deal?
Klar. Warum nicht? Ich habe nichts zu verlieren.
Gut.
Ich sprang hinab und lief über das Dach, drehte dabei meine Waffe. Es war eine Stangenwaffe, eine sogenannte Sovnya; sie bestand aus einer leicht gebogenen, krummsäbelartigen Klinge, die am Ende eines langen Stabs befestigt war. Ich hielt sie in einer Hand, den Arm ausgestreckt, die Klinge knapp über den Steinplatten.
Auf dem leeren Dach war ich gut zu sehen, und es dauerte nicht lange, bis die Dschann mich bemerkten. Zwei wandten sich um, gesichts- und augenlos, und jegliches Geräusch, das sie vielleicht machten, wurde vom Wind davongetragen. Ich lief weiter, und die beiden sprangen vorwärts, teilten sich auf und kamen von zwei Seiten auf mich zu.
Zukünfte breiteten sich vor mir aus. Der links würde antäuschen und meine Aufmerksamkeit von dem anderen rechts abzulenken versuchen. Wenn ich mich dem Rechten zuwandte, würde der Linke zuschlagen. Ein einfacher Angriff, ein einfacher Konter.
Die Dschann verfielen in ihr Angriffsmuster, und ich zeigte ihnen, was sie erwartete. Der rechte blieb gerade so außerhalb meiner Reichweite, während der linke vorstürzte. Ohne mich umzuwenden oder hinzusehen, drehte ich die Sovnya und stieß zu, spürte den Schauder, als die Waffe zubiss. Der Dschann vor mir zögerte; ich wartete genau eine Sekunde, dann schwang ich die Sovnya herum und begegnete seinem Ausfall. Die Klinge zerteilte ihn an der Schulter, und sein schattenhaftes Fleisch entzündete sich in rotem Licht. Sein Körper fiel in zwei Hälften auf die Steine, lodernd und flammend. Die Sovnya pulsierte gierig, hungerte nach mehr.
In der Zeit, in der ich die ersten beiden Dschann getötet hatte, hatten mich fünf weitere bemerkt. Sie drehten sich um und griffen an, fächerten sich auf und kamen aus allen Richtungen herbei.
Vier starben in acht Sekunden. Der fünfte wich zurück, und der Rest der Menge nahm mich endlich ernst.
In alten Zeiten hätte ich diesen Kampf nie aufgenommen. Meine Divination zeigt mir die Schwachstellen eines Gegners, verrät mir, was mich erwartet und wohin ich mich bewegen muss, aber gegen so viele reicht das nicht. Früher oder später wird man müde, oder sie kommen aus zu vielen Richtungen, und dann wird man überwältigt.
Doch in den alten Zeiten hatte ich keine reaktive Rüstung, die sich beim Aufprall von Dschannklauen versteifen und den Schlag ablenken konnte. Und ich hatte keine Sovnya, eine Waffe, dazu gemacht, magische Kreaturen zu töten. Die Stangenwaffe brannte in hitzigem Licht, und ihre Klinge zerteilte die Körper der Dschann wie ein flammendes Schwert Spinnweben. Ich bin besser mit dem Messer als mit einem Speer, aber die Sovnya wusste, wie sie eingesetzt werden wollte; es war weniger so, als führte ich eine Waffe, und mehr so, als kämpfte ich zusammen mit einem Partner.
Vor allem aber hatte ich den Schicksalsweber. Ich wirbelte durch die Zukünfte und sah sie nicht einfach nur, ich veränderte sie. Kleine Berührungen der Gelegenheiten, die manche Wege verschlossen und andere verbreiterten. Ich stupste die Bewegungen der Dschann an, sodass sie nie ganz koordiniert handelten, nie genau richtig angriffen. Jedes Mal, wenn einer in der Position war, mir gefährlich zu werden, veränderte ich etwas, verschaffte mir eine zusätzliche halbe Sekunde, um zu reagieren, bevor sie zuschlagen konnten.
Überlegene Intelligenz, überlegene Waffen, bessere Verteidigung, Schicksalsmanipulation. Einen dieser Vorteile kann man schlagen, wenn man selbst auch einen hat. Vielleicht zwei. Aber nicht alle vier.
Die Dschann starben, ihre Leichname fielen auf den Stein und verbrannten von innen heraus, wenn die Sovnya sie verschlang. Die einzigen Geräusche rührten vom Stolpern und Kratzen der Schritte und dem Brüllen des Windes, unterbrochen vom schrillen Heulen der sterbenden Dschann. Bis die übrigen Dschann begriffen, dass sie abhauen sollten, war es längst zu spät. Sie waren auf der Treppe zurückgewichen, und jetzt saßen sie zwischen Ji-yeong, mir und einem bodenlosen Abgrund zu beiden Seiten in der Falle.
Sechs Dschann waren übrig. Vier warfen sich auf mich, versuchten zu entkommen. Drei, dann zwei, dann einer. Dem Letzten gelang es, an mir vorbeizukommen, er erreichte fast den oberen Treppenabsatz, bevor die Sovnya ihm das Bein abschlug.
Die beiden hinteren stürzten sich auf Ji-yeong. Ich hätte zu ihr gehen und sie erledigen können, aber ich blieb stehen und sah zu. Ji-yeong griff den Ersten an, blockte mit dem Schild, stach mit dem Schwert zu. Ihre Bewegungen waren unnatürlich schnell; mit meiner Magiersicht erkannte ich das grüne Spitzenmuster der Lebensmagie, das sich um ihre Glieder schlang.
Der erste Dschann öffnete eine klaffende Wunde an Ji-yeongs Arm; Blut schoss hervor, aber sie ignorierte es und überwand die Entfernung, rammte ihr Schwert immer und immer wieder in den Körper des Dings, bis es erschauderte und auf die Steine sank. Der zweite Dschann fetzte Ji-yeong mit den Klauen über den Rücken; sie wirbelte herum und traf ihn mit ihrem Schild. Der Dschann taumelte rückwärts über den Rand der Plattform, fiel stumm hinab und verschwand im Dunst.
Ji-yeong drehte sich schwer atmend zu mir um.
»Du bist besser geworden«, sagte ich.
Das grüne Licht von Ji-yeongs Lebensmagie legte sich um ihre Wunden. Der Riss an ihrem Arm hörte auf zu bluten und zog sich zusammen, die Ränder schlossen sich und hinterließen glatte blasse Haut. Ein Leuchten hinter ihr zeigte an, dass das Gleiche mit dem Riss an ihrem Rücken geschah. In nur wenigen Sekunden war sie geheilt. Sie richtete sich auf und sah mich an, ihr Blick flackerte zu meinen Waffen und meiner Rüstung.
Ich wandte mich um und stieg die Stufen hinauf. Wieder auf dem Dach, lief ich etwa sechs Meter, dann drehte ich mich um und wartete.
Ji-yeong folgte mir. Vorsichtig betrat sie das Dach, blickte nach links und rechts. »Zeit für die Entscheidung«, sagte ich, hob die Stimme, damit sie mich über dem Wind hörte.
»Was?«
Ich deutete auf das Dach. »Wenn du versuchen möchtest, es mit mir aufzunehmen, ist das jetzt deine Gelegenheit.«
Ji-yeong zögerte eine lange Sekunde, und die Zukünfte flackerten. Kampf, Flucht, Unterwerfung. Dann traf sie ihre Entscheidung, und eine Zukunft verdrängte die anderen. Ihre Haltung entspannte sich ein wenig, und sie wischte ihr Schwert ab, schob es zurück in die Scheide.
Ich nickte. »Komm.«
Ich schlug eine gewundene Route zurück über die Zinnen ein, und Ji-yeong folgte mir in einigem Abstand. Am Turm, den ich als Aussichtspunkt genutzt hatte, hielt ich vor dem Eingang inne. Hinter der Tür war eine Wendeltreppe, die auf den Turm hinaufführte. Ich ging kurz in die Hocke, dann stieß ich mich ab und sprang.
Die Luftmagie in dem Metallstirnband erzeugte einen Windstoß und trug mich aufwärts, dreißig Mal weiter, als ich selbst hätte springen können. So schwebte ich hinauf, über die Brüstung und landete leichtfüßig auf dem Dach. Dann wandte ich mich der offenen Treppenflucht zu, die hinab in den Turm führte, und wartete.
Wenn man mit jemandem ein Problem hat, ist es am besten, das früh beizulegen. Ich hatte Ji-yeong bereits die Chance gegeben zu kämpfen. Jetzt gab ich ihr die Chance abzuhauen. Sie war fünfzehn Meter entfernt und nicht zu sehen; wenn sie fliehen wollte, würde sie keine bessere Gelegenheit finden. Wieder sah ich die Zukünfte schwanken, aber diesmal traf sie ihre Entscheidung rasch.
Zwei Minuten später ertönten Schritte, dann tauchte Ji-yeongs Kopf an der Öffnung der Wendeltreppe auf. Sie blickte um die Turmspitze herum, sah mich und kam näher. Ihr Schwert war immer noch an ihrer Seite gegürtet. »Du hättest mich mitnehmen können«, sagte sie.
Ich war nicht sicher, ob ich das konnte. Das Kupferstirnband, das ich für diese Sprünge nutzte, war ein durchwobener Gegenstand für Luftmagie; ich hatte es erst vor zwei Tagen aus Levistus’ Schattenreich mitgenommen, und es war zwar bereit, mich zu tragen, aber Mitreisende waren etwas anderes.
»Ist was mit deinen Beinen?«, fragte ich.
Ji-yeong wirkte wenig begeistert.
Ich wandte mich zur Brüstung um. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Die Schlacht war weitergezogen, während wir beschäftigt gewesen waren. Das Gebiet in unserer Nähe hatte sich geleert; jetzt fanden alle Kämpfe weit entfernt statt, um den zentralen Bergfried herum. Dschann und Schatten prallten wie schwarze Tupfen in Wogen aufeinander, und ein steter Strom flog aufs Neue von der Gruft als Verstärkung heran. Ich deutete zur Gruft. »Wer bekämpft wen?«
»Du meinst, wer angefangen hat?«, fragte Ji-yeong. »Oder wer übrig ist?«
»Fang von vorn an.«
Ji-yeong verzog das Gesicht. »Das ist demütigend.«
»Lass mich raten. Zuerst wurdest du von Anne geschlagen, dann musstest du gerettet werden?«
»Und jetzt willst du, dass ich dir die Geschichte erzähle.«
»Du lebst«, sagte ich. »Das heißt, dir geht es sehr viel besser als den meisten, die sich in letzter Zeit Anne entgegengestellt haben. Also fang von vorn an.«
»Schön. Vor ein paar Stunden ging der Alarm los. Als wir am Portalhaus ankamen, standen drei Leute am anderen Ende der Brücke. In der Mitte war dieses Mädchen, Anne Walker.«
»Die anderen beiden?«
»Westeuropäisch aussehende Frau, westeuropäisch aussehender Typ. Älter, vierzig oder so? Die Frau war eine fette Erdmagierin, der Mann ein Kraftmagier in einem schicken Anzug. Wir gingen zu ihnen hinaus.«
Caldera und Barrayar. »Wer ist ›wir‹?«
»Ich, Aether und Jethro.«
»Wer?«
»Aether ist Sam. Er hat diesen Namen angenommen, nachdem Sagash ihn zum Erwählten machte. Jethro ist der Neue.«
»Was ist mit Darren passiert?«, fragte ich. Er war der Dritte von Sagashs Lehrlingen gewesen.
»Bei einer Razzia vor zwei Jahren umgekommen. Egal, das Walker-Mädchen hat geredet. Die anderen beiden haben nur dagestanden wie Statuen. Sie bedrohte mich und Sam ein wenig, aber sie war wegen Sagash da. Sie rief ihn nach draußen.«
»Ist er gekommen?«, fragte ich interessiert.
»So was in der Art«, antwortete Ji-yeong. »Hat über eine Projektion mit ihr gesprochen. Wir haben uns zurückgezogen, um sie nicht zu belauschen, aber als es vorbei war, klang Sagash nicht gerade glücklich.« Ji-yeong hielt inne. »Gut, das tut er in letzter Zeit sowieso nie. Dann projizierte er sich vor uns, sagte, wir sollten die Burg verteidigen, und verschwand.«
»Er kam nicht persönlich zu euch?«
Ji-yeong schüttelte den Kopf. »Ist Monate her, seit er den Bergfried verlassen hat. Und er wird immer unvorhersehbarer. Ich hatte tatsächlich schon angefangen, darüber nachzudenken … Na ja, das ist jetzt wohl egal.«
Ich wartete. Nach einem Moment fuhr Ji-yeong fort. »Also beschlossen wir, dass es einen Versuch wert wäre. Ich meine, drei gegen drei ist nicht so übel, richtig? Und wir hatten die Schatten, die uns unterstützen sollten.« Ji-yeong schwieg einen Moment. »Tja. Das lief nicht nach Plan. Zuerst rief sie innerhalb von zehn Sekunden eine Armee beschworener Monster herbei. Ich meine, das sollte nicht einmal möglich sein. Sagash hat zehn Jahre damit verbracht, diese Schatten aufzubauen, und in der Gruft befindet sich dafür ein ganzes Ritualarrangement. Man braucht ein Set-up. Und sie hat das einfach so gemacht …« Ji-yeong schnippte mit den Fingern. »Und dann war sie selbst da. Ich meine, sie ist eine Lebensmagierin, sicher, aber Sam und ich haben uns beim letzten Mal um sie gekümmert, wir wussten, was sie draufhat. Oder zumindest dachten wir das.« Ji-yeong schüttelte den Kopf. »Es war kein bisschen wie letztes Mal. Sie beherrscht eine neue Art der Magie. Sam und ich gingen von zwei Seiten auf sie los, aber sie hielt uns beide auf Abstand und musste sich allem Anschein nach nicht einmal anstrengen. Es war so, wie gegen Sagash zu kämpfen.«
»Was ist passiert?«
»Jethro ist tot«, sagte Ji-yeong. »Er wollte weglaufen, und der Typ in dem Anzug schoss ihm in den Rücken. Ich habe mitbekommen, wie er von einer der Brücken fiel. Und Aether – Sam … Als ich ihn zuletzt sah, stand er Anne Walker gegenüber. Eine Minute später konnte ich seine Magie nicht mehr spüren. Soweit ich weiß, ist er auch tot.«
»Macht es dir etwas aus?«
»Wieso?«
»Reine Neugier.«
»Man erwartet nicht, mit den anderen Lehrlingen befreundet zu sein.«
»Aber?«
»Aber was?« Ji-yeong warf mir einen herausfordernden Blick zu. »Du willst sehen, ob ich weich werde?«
»Sonst noch jemand in der Burg?«
»Nur die Schatten.«
Ich nickte und trat beiseite. »In Ordnung. Wir sind hier fertig.«
Ji-yeong runzelte die Stirn. »Ich dachte, du wolltest Informationen.«
»Ich habe alles, was ich brauche.«
Ji-yeong deutete zum Bergfried hinüber. Schwarze Kampfmagieblitze erleuchteten die Mauern; sogar aus dieser Entfernung konnte ich die Macht der Zauber spüren. »Du willst nicht sehen, wer gewinnt?«
»Ich weiß es schon.«
»Ich habe Sagash nie einen Kampf verlieren sehen.«
»Ist egal«, sagte ich. »Das ist das Problem, wenn man sich selbst als Herrscher über sein eigenes kleines Taschenkönigreich erklärt. Man ist isoliert. Falls Sagash seine Kontakte gepflegt hätte, hätte er vielleicht mitbekommen, was sich da zusammengebraut hat. Dann hätte er zwar nicht gewonnen, aber er hätte sich einen Schlupfwinkel einrichten können.« Ich deutete in die Richtung des Kampfs. »Diese beiden anderen Magier, Caldera und Barrayar, sind von Ifriten besessen. Anne ist von einem Mariden besessen. Das hier kann nur auf eine Weise enden.«
Ich lief zur Treppe. Ji-yeong schloss sich mir an. »Was wird passieren?«
»Anne wird Sagashs Verteidigung zerstören und ihn erledigen«, sagte ich. »Und wenn das vorbei ist, wird sie einen Rundgang durch ihr neues Schattenreich machen.«
Im Turm war es kühl und staubig, durch Spitzbogenfenster fielen Lichtstrahlen auf die Wendeltreppe. »Was ist mit euch beiden eigentlich passiert?«, fragte Ji-yeong. »Als ihr zuletzt hier wart …«
»Waren wir was?«
Ich hatte meine Stimme nicht erhoben, aber es muss etwas in meinem Tonfall gewesen sein, was Ji-yeong davon abhielt, den Satz zu beenden. Schweigend stiegen wir die Treppe hinab.
»Wie viel weißt du über Annes Geschichte mit Sagash?«, fragte ich.
»Er redet nicht darüber.«
»Sagash hat Anne vor neun Jahren entführt und hergebracht. Damals war sie achtzehn. Er wollte eine Assassinin und einen Lehrling in einem, und als Anne für seinen Geschmack nicht mordgierig genug war, beschloss er, sie mit Gewalt zu verändern. Das zeigte nachhaltig Wirkung. Und als Richard Drakh auftauchte und nach einem Wirt für diesen Mariden suchte, fand er, dass sie die perfekte Kandidatin sei.«
»Drakh?«
»Sagt dir der Name etwas?«
»Na ja«, sagte Ji-yeong. »Er hat Eindruck hinterlassen. Hat sich mit Sagash getroffen, nachdem du entkommen bist.«
»Was wollte er?«
»Ich weiß es nicht, aber was immer es war, Sagash hat ihn abgewiesen.«
Ich nickte. Diese Entscheidung hatte Sagashs Schicksal vermutlich besiegelt.
Wir erreichten das Erdgeschoss des Turms und traten hinaus. Gras wuchs zwischen vom Wetter abgenutzten Gebäuden aus blassem Stein. »Warte«, sagte Ji-yeong. »Also ging es die ganze Zeit um diese Anne? Zuerst wollte Sagash sie, dann wollte Crystal sie. Und jetzt sagst du, dass Drakh sie auch verfolgt hat?«
»So ziemlich.«
»Ich verstehe es nicht«, sagte Ji-yeong. »All diese Meistermagier kämpfen um einen Lebensmagielehrling, der sich ihnen nicht einmal anschließen will?«
Ich sah mich nach Ji-yeong um. »Denkst du, sie hätten lieber eine Freiwillige nehmen sollen? Wie dich?«
Ji-yeong wirkte defensiv. »Na, warum nicht?«
»Die Wesenszüge, die Sagash und Richard Drakh an Anne schätzten, waren genau die, die garantierten, dass sie niemals bereit sein würde, sich ihnen anzuschließen.«
»Es ist trotzdem dumm.«
»Nun, auf lange Sicht ja«, sagte ich. »Sagash und Drakh versuchten beide, Anne zu der Art Mensch zu formen, der ihnen in den Kram passen würde. Und sie waren nicht die Einzigen. Ein Rakshasa namens Jagadev, ein Ratsmagier namens Levistus, sie alle brachten Anne auf einen Weg und zwangen sie, ihn auch weiter zu beschreiten. Das Problem war, dass sich am Ende dieses Wegs herausstellte … dass sie eigentlich ein Monster erschaffen haben.«
»Beim letzten Mal wirkte sie auf mich nicht wie ein Monster«, sagte Ji-yeong. »Eher wie ein Opfer.«
»So fangen viele Monster an.«
In der Ecke eines grasbewachsenen Hofs blieben wir stehen. Sagashs Schattenreich war mit Bannen belegt, die das Hinein- und Hinausporten unmöglich machten, mit Ausnahme der Plattform am anderen Ende der Brücke. Es ist allerdings schwierig, einen Portalbann überall gleich stark zu wirken, besonders an einem so weitläufigen Ort wie dieser Burg. An genau diesem Punkt gab es eine kleine Schwachstelle zwischen den beiden Knoten; gelegentlich schwächte sich die Abdeckung durch die Banne gerade so weit ab, dass man ein Portal schaffen konnte. Das nächste Zeitfenster hierfür war erst in sechsunddreißig Stunden, aber mit dem Schicksalsweber hatte ich das bereits angepasst. Vielleicht war Richard vor all diesen Jahren genau so hier eingebrochen.
»Das ist meine Haltestelle«, sagte ich zu Ji-yeong. »Kommst du?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Sicher«, sagte ich. »Du kannst versuchen, dich bis zur Brücke durchzuschlagen, und dann rausporten, solange sie noch beschäftigt sind. Du kennst die Burg, du könntest es schaffen. Oder du könntest dich Anne anschließen. Sie braucht Rekruten.«
»Was würde dann passieren?«
»Du wirst zwei oder drei Tage lang von einem Dschinn besessen sein.«
»Nur zwei oder drei Tage?«
»Ja.«
Ji-yeong setzte zu einer Antwort an, dann hielt sie inne. »Was passiert nach den zwei oder drei Tagen?«
»Eine Magierarmee stürmt dieses Schattenreich und tötet dich.«
»Okay, diesen letzten Teil hättest du mir zuerst erzählen sollen.«
Ich stützte mich auf die Sovnya. »Was wird es?«
Ji-yeong beobachtete mich misstrauisch. »Du bietest mir viele Chancen, hier wegzukommen.«
»So wie einer meiner früheren Lehrer zu sagen pflegte: Ich bevorzuge willige Diener.«
Ji-yeong tippte mit den Fingern auf den Schwertgriff. Die Zukünfte hingen in der Luft, dann beruhigten sie sich, diesmal richtig. Ji-yeong seufzte leise. »Man kann erst tanzen, wenn jemand die Trommel schlägt.« Sie neigte den Kopf. »Geht voraus, Meister.«
Ich nickte und wandte mich wieder der grasbewachsenen Ecke zu. Ein paar Berührungen mit dem Schicksalsweber, dann nutzte ich meinen Traumstein, verband unsere Welt mit Anderswo.
»Ich habe immer noch meinen Portalfokus«, sagte Ji-yeong. »Aber er wird nichts nützen, solange wir nicht …«
Die Luft schimmerte und bildete ein ovales Portal. Dahinter ragte ein Schloss auf, dieses aus schwarzem Stein, nicht aus gelbem.
Ji-yeong blieb stehen. »Wie hast du das gemacht?«
In der Ferne wütete der Kampf immer noch. Ich fragte mich, wie lange Sagash durchhalten würde. Anne würde ihn nicht schnell töten wollen. Sie freute sich schon sehr lange hierauf.
Ich trat durch das Portal nach Anderswo. Nach nur einem Moment Zögern folgte Ji-yeong mir, und ich schloss das Portal hinter uns.
Ich lief durch ein Schloss aus schwarzem Stein. Dräuende Sturmwolken sammelten sich darüber, ein Hauch Regen lag in der Luft. Ich bog die Welt um mich herum, und die Steine unter meinen Füßen wurden staubig und blass, das schwarze Schloss verwandelte sich Stück um Stück in eine uralte verlassene Stadt.
Ich spürte, wie Ji-yeongs Schritte hinter mir ins Stocken gerieten. »Weiter«, sagte ich.
»Was ist hier los?« Ji-yeong klang desorientiert. »Ich kann nichts spüren …«
»Bleib einfach bei mir.«
Die Mauer vor uns verwandelte sich von selbst zu einer alten Holztür. Ich drehte am Griff, Tageslicht strömte herein. Ich trat hindurch, achtete darauf, die Tür aufzuhalten, bis Ji-yeong mir gefolgt war. Erst dann ließ ich sie zufallen.
Wir waren in einem kleinen Park in London angekommen. Vögel sangen in den Bäumen, die Sonne schien herab, und eine Brise wehte die ersten Spuren des Herbsts heran. Alles war wieder normal und vernünftig.
Ji-yeong blickte zurück, aber die Tür war verschwunden. »Was war das?«
»Anderswo.«
»Anders… Moment. Anderswo? Das Anderswo?«
»Mh-hm.«
»Ich dachte, das wäre nur ein Märchen?«
»Das ist es auch. Ich würde nicht empfehlen, es allein zu besuchen.« Ich tastete durch den Traumstein, suchte nach einem vertrauten Gedankenmuster. »Ich muss ein paar Unterhaltungen führen.«
Ji-yeong schwieg, und ich wandte mich ab, lief gedankenverloren über das Gras und tastete dabei nach dem Geist, den ich suchte. Es gibt einen Moment des Schwindels, wenn ich durch den Traumstein mit jemandem in Kontakt trete, so als würde man eine Kluft überschreiten, die dreißig Zentimeter breit und tausend Kilometer tief ist. Luna.
Luna antwortete sofort. Gefühle überlagerten ihre Worte, Sorge und Anspannung und Entschlossenheit. Hast du ihn gefunden?
Sie, ja. Ihn, nein.
Frustration mischte sich in die anderen Gefühle. Wo versteckt sie ihn?
Ich weiß es nicht, aber wo immer es ist, ich glaube nicht, dass er bleibt. Anne war nicht allein: Zwei Magier haben an ihrer Seite gekämpft. Caldera und Barrayar.
Besessen?
Todsicher. Das sind zwei von vier. Vari wird vermutlich Nummer drei sein. Ich denke, wenn wir ihm das nächste Mal begegnen, steht er an ihrer Seite.
Luna schwieg. Es ist Zeit für das Meeting, sagte ich.
Ich will mitkommen.
Nein.
Alex!
Wenn das hier vorüber ist, möchte ich, dass du wieder dein eigenes Leben führen kannst, sagte ich. Und was das betrifft, wird es einen schrecklichen Eindruck hinterlassen, wenn du an meiner Seite da hereinspazierst. Ich verspreche dir, ich werde dich nicht ausschließen, aber das ist eine Verhandlung, bei der du nicht helfen könntest.
Dieses Mal dauerte die Stille länger an. Schön, sagte Luna endlich.
Ich muss los. Ich melde mich später?
Okay.
Ich unterbrach die Verbindung. Das war nicht gut angekommen bei Luna, und ich konnte es ihr nicht wirklich übel nehmen. Aber gerade hatte ich keine Zeit, um auf sie aufzupassen. Ich hoffte, sie würde keine Dummheiten machen.
Ich holte einen Kommunikatorfokus heraus und kanalisierte ein wenig Magie hinein. »Hallo«, sagte ich. »Test.«
Sofort erklang eine Stimme aus dem Fokus. »Verus? Wo bist du?«
»Mache mich bereit zum Porten.«
Talisids Stimme war scharf. »Du bist fünfunddreißig Minuten zu spät.«
»Ich denke, sobald du gehört hast, was ich dir zu sagen habe, wirst du das zu schätzen wissen.«
»Das werden wir sehen. Beeil dich, bitte.«
»Bin unterwegs.«
Talisid ist ein politischer Agent, im Rat weit oben, und wir haben schon lange miteinander zu tun. Größtenteils war unsere Beziehung gut, in letzter Zeit schlecht, und vor ein paar Tagen erreichte sie ihren absoluten Tiefpunkt, als er einen Trupp in ein Tiefschattenreich brachte, der mich umbringen wollte. Ich dachte mir, dass sich unsere Beziehung ab jetzt verbessern sollte, da sie auf keinen Fall schlechter werden konnte.
Ich unterbrach das Gespräch und schob den Fokus in meine Tasche, dann ging ich zurück zu Ji-yeong. »Wir haben ein Meeting.«
»Ein Meeting mit wem?«
»Dem Seniorrat. Oder zumindest mit zwei oder drei von ihnen.«
Ji-yeong lachte.
Ich sah sie nur an.
Ji-yeong hörte auf zu lachen. »Du meinst das ernst?«
Ich kramte einen neuen Portalstein hervor. Er sah aus wie ein Kiesel aus glattem Glas, in den ein Zeichen geritzt war. »Aber der Seniorrat trifft sich nicht mit Outsidern«, sagte Ji-yeong. »Besonders nicht mit Schwarzmagiern.«
»Sie wurden in letzter Zeit etwas aus ihrer Komfortzone geschubst«, sagte ich. »Sobald wir drin sind, folge mir einfach. Ich sage dir, was du tun sollst.«
Ji-yeong und ich betraten das Blasenreich Konkordia. Das Portal schloss sich hinter uns, und es herrschte Stille.
Konkordia ist eine der ältesten aller erschaffenen Welten, und sie wurde seit über tausend Jahren von den Räten der unterschiedlichen magischen Nationen genutzt. Die Konkordia war hier verhandelt worden, und es war nicht das erste große Abkommen gewesen, das den Namen dieses Orts bekommen hatte. Für Magier bedeutet das Wort »Konkordia« Macht, Geschichte und Entscheidungen, die die Welt formen. Ich hatte nicht damit gerechnet, das jemals selbst zu sehen.
Wir standen in einem runden Vorzimmer. Gewaltige schiefergraue Säulen erhoben sich zu einer Decke, in der kleine Fenster in einem Kreis verliefen; sie leuchteten in orange-gelbem Licht. Der Boden war mit runden Mosaiken geschmückt. Es war völlig still. Die Luft roch steril und sauber.
Ein schlankes Konstrukt, mechanisch aussehend und kupferfarben, neigte den Kopf vor uns. Das Gesicht war eine leere, geschwungene Platte mit einem kreuzförmigen gelben Leuchten. »Willkommen«, sagte es mit melodischer Stimme. »Darf ich um Ihre Namen bitten?«
»Alex Verus.«
Das Konstrukt antwortete nicht, aber sein Kopf neigte sich Ji-yeong zu.
»Und Gast«, fügte ich hinzu.
Das Konstrukt verbeugte sich erneut. »Bitte folgen Sie mir.«
Das Konstrukt führte uns in einen Gang, gewaltig und geräumig, in den von hoch oben Licht durch mehrere Fenster fiel. Bögen zu unserer Linken und Rechten boten eine Aussicht auf eine große, von Säulen getragene Halle, aber alles war verlassen. Ji-yeong und ich folgten dem Konstrukt in einiger Entfernung, unsere Schritte hallten in der Leere.
»Was machen wir hier?«, fragte Ji-yeong. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: Etwas an diesem Ort brachte einen dazu, möglichst leise zu sein.
»Richard Drakh hat mir gestern erzählt, dass Anne Walker und dieser Dschinn ein nationales Desaster auslösen würden«, sagte ich. »Das brachte er vor den Rat und schlug einen Waffenstillstand vor.«
»Drakh trifft sich mit dem Rat?«
»Seit gestern habe ich einen Platz am Tisch. Du bist hier, um zu bezeugen, was in Sagashs Schattenreich geschehen ist. Sag einfach die Wahrheit und bleib bei der Sache. Ich kümmere mich um den Rest.«
Ji-yeong murmelte etwas vor sich hin. »Und ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, es würde ein langweiliger Tag werden.«
Der Gang endete vor einer Flügeltür. Das Konstrukt hielt an und bedeutete uns mit einer Verbeugung, vorzutreten. Ich stieß die Tür auf und ging hindurch.
Dahinter befand sich die Hauptaudienzkammer. Der Raum war gewaltig und rund, in fünf gleich große Segmente unterteilt, wie ein Kuchendiagramm. Niedrige Mauern, silbergrau und dreißig Zentimeter hoch, markierten die Grenzen der einzelnen Segmente. Der obere Rand jeder Mauer leuchtete gelb, projizierte eine unsichtbare vertikale Barriere. Diese Barrieren schützten gegen magische und physikalische Angriffe, und sie sollten vollkommen undurchdringlich sein. Sie gaben den Leuten in den unterschiedlichen Abschnitten die Möglichkeit, miteinander zu reden, während sie sich jedoch keinen Schaden zufügen konnten. Dass dies der Hauptverhandlungsstandort des Rats ist, sagt wohl viel darüber aus, wie Magier gewöhnlich miteinander auskommen.
Am schmalen Teil jedes Abschnitts standen Stühle und ein niedriger Tisch, in einem Bogen aufgestellt, sodass die Stühle aller fünf Segmente einen Kreis bildeten. Vier von den fünf Abschnitten, einschließlich unserem, waren leer. Der fünfte nicht.
Das Segment zu unserer Rechten war voll besetzt. Die Flanken und Türen hinten wurden von einem Dutzend schwer Bewaffneter bewacht. Ihre Körperpanzerung war magisch verstärkt, und die Sturmgewehre, die an Gurten um ihren Oberkörper hingen, sahen aus, als wären sie aufgerüstet worden. Die eine Hälfte der Wächter beobachtete uns, wie wir den Raum durchquerten; die andere Hälfte konzentrierte sich auf die Ausgänge. Über den Männern ragten vier Mantisgolems auf, bullige silber-goldene Konstrukte, die uns aus ihren Facettenaugen ebenfalls beobachteten.
Die Golems und Securityleute waren schon gefährlich genug; vier Mantisgolems und ein Dutzend Elitewächter waren mehr, als die meisten Magier in ihrem ganzen Leben je an einem Ort zu Gesicht bekamen. Aber im Vergleich zu den sechs Männern und der Frau, die sich um die Stühle gruppierten, waren sie unwichtig.
Drei Leute standen, vier saßen. Die Stehenden waren ein Magier mit quadratischem Schädel in den Fünfzigern, der mich unwirsch musterte, ein traurig wirkender Mann mit langem Gesicht und strohfarbenem Haar und ein sehr viel kleinerer und jüngerer Mann, der meinem Blick komplett auswich. Es handelte sich um Nimbus, Einsatzleiter vom Sternenorden, Maradok, Ratssekretär vom Ratsgeheimdienst, und Sonder, einen Hilfswächter und Zeitmagier.
Auf dem ersten und vierten Stuhl am Tisch saßen Talisid und Lyle. Ich kannte sie schon lange; beide waren einmal meine Freunde gewesen, und beide waren jetzt meine Feinde. Talisid warf mir einen Blick zu, sah dann zu Ji-yeong. Lyle schaute nervös weg.
Die beiden, die in der Mitte saßen, waren jedoch die wirklich wichtigen Anwesenden. Einer war ein Mann mit Bart, breiter Brust und eher stämmig, die andere eine Frau mit faltigem Gesicht und sehr glattem graubraunem Haar. Ihre Körper waren gegensätzlich, aber der Ausdruck in ihren Augen war gleich, wachsam und scharf. Sie hießen Druss und Alma, und zusammen bildeten sie vierzig Prozent dessen, was vom Weißmagierrat, dem Leitungsorgan der mächtigsten magischen Organisation in Britannien, noch übrig war. Ich lief weiter bis zu den Stühlen, die sechs Meter von ihnen entfernt standen, dann hielt ich an. Ji-yeong folgte mir, blieb einen Schritt hinter mir. Ich sah über die Kraftfelder zu Druss und Alma. Das letzte Echo unserer Schritte verstummte.
»Du bist spät dran«, sagte Alma.
Ich gab keine Antwort.
»Gibt es einen Grund?«
»Ja.«
Alma zog die Augenbrauen hoch, als wartete sie auf eine Erklärung. Ich erwiderte ihren Blick ruhig. Die Stille dehnte sich aus.
Druss brach sie, indem er mit den dicken Fingern auf den Tisch klopfte. »Schön«, sagte er, »da du endlich aufgetaucht bist, kannst du uns vielleicht erzählen, wann Drakh uns mit seiner Anwesenheit beehren wird.«
Ich zog einen der Stühle heran. Er glitt geschmeidig über den polierten Boden, und ich ließ mich auf das weiche Leder sinken. Ji-yeong folgte meinem Beispiel zu meiner Rechten. »Oh, er ist schon hier«, sagte ich. »Er entscheidet noch, wann er seinen Auftritt macht.«
»Dann«, sagte Alma scharf, »solltest du deinem Meister vielleicht mal sagen, dass er sich jetzt zeigen soll.«
»Er ist schon sehr lange nicht mehr mein Meister«, sagte ich zu Alma, »und er ist auch jetzt nicht mein Meister. Wenn du ihm eine Botschaft überbringen möchtest, findest du sicher eine Möglichkeit.«
Niemand sonst auf der Seite des Rats schien zum Sprechen geneigt. Lyle, Talisid, Nimbus und Maradok sind alle auf ihre eigene Art wichtig, aber Druss und Alma spielen in einer ganz anderen Liga. Ji-yeong blieb auch still. Schwarzmagier tun manchmal so, als stünden sie über dem Rat, aber jeder Magier, der uns gegenübersaß, hätte Ji-yeong mit einem Wort zerquetschen können, und das wusste sie zweifellos.
Alma stieß ein angewidertes Geräusch aus. »Das ist Zeitverschwendung.« Sie blickte zu Druss. »Wir sollten gehen.«
»Du gehst nicht«, sagte ich zu ihr.
»Gibst du uns jetzt Befehle, Verus?«
»Ihr seid mit zwei Seniorratsmitgliedern, fünf anderen Magiern von unterschiedlichem Rang, vier Mantisgolems und einem Haufen Security angerückt«, sagte ich. »Das würdet ihr nicht tun, wenn ihr einfach wieder gehen wolltet.«
»Das denkst du?«, fragte Druss.
»Ich denke«, sagte ich, »dass ihr, nachdem Drakh euch letzte Nacht kontaktierte, Alaundo und Helikaon und jeden anderen Divinator benachrichtigt habt, der auf eurer Gehaltsliste steht. Ihr habt ihnen befohlen, alles stehen und liegen zu lassen und herauszufinden, ob Drakh die Wahrheit gesagt hat. Sie waren angepisst, weil man sie aus dem Bett gezerrt hat, aber nachdem sie sich wieder beruhigt haben, haben sie genau das getan. Was genau sie euch gesagt haben, weiß ich nicht, aber schon weil ihr hier an diesem Tisch sitzt, kann ich eine Vermutung anstellen.«
Druss und Alma sahen mich an. Ihre Augen verrieten nichts, aber die Stille war auch eine Antwort.
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück. »Warum also ihr beiden statt Bahamus? Da Sarque tot ist, hätte ich gedacht, er wäre die offensichtliche Wahl.«
»Wir sind nicht hier zum Small Talk versammelt«, sagte Alma.
»Weil er nicht in deine Nähe kommen will«, sagte Druss.
Alma warf Druss blitzschnell einen bösen Blick zu.
»Ach, das ist allen so was von egal, Alma«, fuhr Druss fort. Der große Magier unterdrückte ein Gähnen, dann sah er wieder zu mir. »Bahamus war dein Verbündeter. Nach dem, was du getan hast, wahrt er Distanz.«
»Anscheinend kein so engagierter Verbündeter.«
Druss zuckte mit den Schultern. »Das passiert eben, wenn man dabei erwischt wird, wie man das Gesetz übertritt. Wer ist das Mädchen?«
Almas Blick ging zu Ji-yeong, ihr Wutanfall war bereits verraucht. Die Magier hinter ihnen folgten ihrem Beispiel. Ich sah, dass Sonder ein wenig die Stirn runzelte, als versuchte er, sich daran zu erinnern, wer sie war.
»Das ist Yun Ji-yeong«, sagte ich. »Bis vor fünfundvierzig Minuten war sie Seniorlehrling unter dem Schwarzmagier Sagash.«
»Und?«
»Wollt ihr wissen, was vor fünfundvierzig Minuten passiert ist?«
»Ein Schwarzmagierlehrling ist mir scheißegal«, sagte Druss. »Was macht sie hier?«
»Sie ist hier«, sagte ich, »weil Anne Walker gerade mit einer Armee Dschann in Sagashs Schattenreich war und jedes menschliche Wesen darin entweder getötet oder die Kontrolle über es übernommen hat.« Ich nickte zu Ji-yeong. »Bis auf sie. Bedenkt man, was Richard euch über Annes Pläne erzählt hat, könnt ihr die Relevanz wohl erkennen.«
»Und warum sollten wir einer Schwarzmagierin glauben?«
»Yun Ji-yeong hat zugestimmt, die Ereignisse des heutigen Tages im Tausch gegen freies Geleit zu bezeugen«, sagte ich. Ich wartete gerade lange genug, dass Alma den Mund öffnen konnte, dann fuhr ich fort. »Sie untersteht meinem Schutz, wenn ihr sie also befragen wollt, möchte ich darum bitten, dass ihr das höflich tut.«
Alma warf mir einen harten, ausdruckslosen Blick zu, dann wandte sie sich an Ji-yeong. »Sehr schön. Lehrling Yun Ji-yeong, wenn es möglich wäre, würdest du uns bitte über Anne Walkers Aktivitäten informieren?«
»Mir war nicht bewusst, dass Anne Walker unser Schattenreich angreifen wollte«, sagte Ji-yeong. Ihre Stimme war ruhig, sie hatte sich offensichtlich Zeit genommen, sich zu beruhigen. »Ich wusste erst, was los war, als der Umgebungsalarm ertönte. Ich lief zur Brücke und …«
Ji-yeong erzählte die Geschichte schnörkellos und mit klaren Worten. Ich saß still da, musterte die Zukünfte, während Alma und Druss sie immer wieder unterbrachen. Sie wollten taktische Details wissen: wie viele Dschann Anne beschworen hatte, wie viele andere Magier sie unterstützt hatten, wie viel Kampfkraft sie vorzuweisen hatte. Ji-yeong antwortete ehrlich, aber ihre Antworten schienen sie nicht froh zu stimmen.
Als Ji-yeong begann, sich zu wiederholen, unterbrach Druss sie mit einer Geste. »In Ordnung«, sagte er. »Schön, Verus, du bist Wahrsager, also geht diese Frage an dich. Was passiert, wenn wir ins Schattenreich porten und Walker jetzt sofort verfolgen?«
»Das … würde von vielen Aspekten abhängen.«
»Bist du einer dieser Aspekte?«
»Was meinst du damit?«
»Was Druss wissen will«, sagte Alma, »ist: Wenn wir dem Plan deines alten Meisters folgen und Anne Walker angreifen würden, auf wessen Seite würdest du stehen?«
Ich zögerte. Plötzlich war mir nur allzu bewusst, dass jeder im Raum mich beobachtete. »Anne durchläuft gerade den Prozess, durch den Mariden von Suleimans Ring besessen zu werden«, sagte ich vorsichtig. »Diesen Dschinn erachte ich als Feind.«
»Du begreifst, was ›besessen‹, bedeutet, oder?«, fragte Druss. »Wenn der Dschinn ein Feind ist, ist sie das auch.«
»Ich würde lieber eine Möglichkeit finden, sie zu trennen.«
»Und was, wenn du keine findest?«, fragte Alma. Sie verschränkte die Hände, beugte sich zu mir vor. »Was, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie zu trennen? Was, wenn du dich entscheiden musst, Anne Walker zu eliminieren oder dem Dschinn zu erlauben, seine Ziele zu erreichen?«
Ich begegnete Almas Blick. Mein Fluchtweg hinter mir war frei, trotzdem fühlte ich mich plötzlich gefangen. Sekunden verstrichen.
Dann hallte das Wumm einer sich öffnenden Tür durch die Kammer. Richard.
Die meisten vom Rat wandten sich dem Geräusch zu. Die Ratssicherheit passte die Formation an, um der neuen Bedrohung zu begegnen. Ich sah, wie Nimbus Kampfhaltung annahm und Druss’ Hand zuckte, als wollte er am liebsten das Gleiche tun.
Richard trat ein, flankiert von zwei Leuten. An seiner linken Seite war Vihaela, eine große, raubtierhafte Frau mit dunkler Haut. Ihr Blick huschte durch den Raum wie ein Raptor, der auf Beutesuche war, und sie bemerkte mich und tat mich ab, bevor sie sich auf die Ratsgruppe fokussierte. Zu Richards Rechten war etwas, das einer wirbelnden Masse aus grauschwarzer Dunkelheit gleichkam, vage humanoid mit gesichtslosem, verschwommenem Bild als Kopf. Ich wusste, dass es ein Mann war, auch wenn er nicht wie einer aussah. Sein Name war Tenebrous, ein Strahlungsmagier. Er trug diesen Schleier überall, und soweit es mir bekannt war, hatte niemand im Rat je sein Gesicht gesehen. Eine Weile hatte er zu Richards Kabale gehört. Da Rachel und Morden weg waren, hatte er anscheinend in den engeren Zirkel vorrücken können.
Meine Aufmerksamkeit wurde allerdings von Richard angezogen. Er war kleiner als Vihaela und Tenebrous und damit in diesem Raum (nach Sonder) vermutlich die körperlich am wenigsten imposante Person. Und doch hatte er den Rat einberufen, nicht andersherum. Die Ratstruppen waren Richards Gruppe zahlenmäßig acht zu eins überlegen, aber hätte ich die Wahl zwischen den beiden gehabt, war klar, wen ich als Feind vorzog.
»Alma«, sagte Richard. Seine Stimme hallte durch die Kammer, befehlsgewohnt wie immer. »Druss. Und Verus.« Er nickte mir zu. »Ich bin froh, dass ihr es einrichten konntet.«
»Und wir sind froh, dass du geruhst, hier aufzutauchen«, entgegnete Alma scharf. »Ich habe mich schon gefragt, ob du diesen Krieg gewinnen willst, indem du einfach abwartest, dass wir an hohem Alter sterben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in hohem Alter stirbst, Alma«, sagte Richard mit einem Lächeln. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Vihaela ließ sich auf den Stuhl an seiner Seite fallen und legte die Füße auf den Tisch. Tenebrous blieb stehen, blickte stumm und grüblerisch vor sich hin.
»Lasst mich erst einmal betonen«, fing Richard an, »wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass ihr alle so kurzfristig hergekommen seid.«
»Fick dich«, sagte Druss.
Richard zog die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«
»Wir wissen, was du bist, Drakh«, sagte Druss. »Wir mögen dich nicht, wir vertrauen dir nicht, und du bist nur hier, weil du etwas willst. Komm zum Punkt.«
»Ich fürchte, dem muss ich zustimmen«, sagte Alma. »Wir haben wirklich lange genug gewartet.«
»Ich verstehe«, sagte Richard. Er wandte sich mir zu. »Verus? Geht es dir auch so?«
Ich hatte zwischen ihnen hin und her gesehen. »Du weißt, warum ich hier bin«, sagte ich einfach.
»Ja.« Richard wandte sich wieder dem Rat zu. »Na dann. Ich habe euch heute zusammengebracht, weil wir ein Problem haben.«
»Wir haben jede Menge Probleme«, sagte Druss. »Aber ich nehme an, du meinst Anne Walker.«
»Korrekt.«
»Ich bin mehr an dem Gebrauch des Wortes ›wir‹ interessiert«, sagte Alma.
»Wie das?«
»Weil«, sagte Alma, »ich es als passender erachten würde, wenn du sagst, du hast ein Problem. Du hast mit erheblichem Einsatz von Zeit und Aufwand dafür gesorgt, diesen Dschinn aus dem Tresor zu befreien, damit er Anne Walker in Besitz nimmt. Du hast ihn dann weiter als Waffe eingesetzt, bis sich der Dschinn, recht vorhersehbar, befreit hat und stattdessen dich angegriffen hat. An welchem Punkt du zu uns gekommen bist. Also nein, Drakh. Ich glaube nicht, dass wir ein Problem haben. Ich denke, dass du versuchst, dein Problem zu unserem zu machen.«
»Soweit ich mich erinnere, hat Anne Walker letzten Monat ein Mitglied eures Seniorrats getötet«, sagte Richard.
Druss’ Augen wurden gefährlich schmal. »Sie hat Sarque während deines Angriffs umgebracht!«
»Und diesen Monat war sie am Tod eines zweiten Seniorratsmitglieds beteiligt«, sagte Richard. Er hob die Augenbrauen. »Zwei Monate, zwei leere Sitze. Mir scheint, dass sie durchaus zu eurem Problem geworden ist. Obwohl man positiv vermerken kann, dass es nicht mehr lange dauert, bis deine und Almas Stimmen für die Mehrheit ausreichen, wenn sie den Rat weiter so dezimiert.«
Druss ließ die Faust auf den Tisch knallen. »Findest du das witzig?« Er beugte sich vor, funkelte Richard an. »Du hast damit angefangen, Drakh! Du und dein unsinniger Krieg!«
»Wer hat Anne gefangen und gefoltert, Druss?«, fragte Richard ruhig. »Wer hat sie zum Tode verurteilt und wollte sie ermorden lassen? Ich nicht. Wenn du glaubst, dass sie Grund hat, dem Rat gegenüber freundlich gesinnt zu sein, versichere ich dir, dass du da sehr falschliegst.«
»Warum überlassen wir es nicht ihnen?«, fragte Vihaela träge. »Sie werden es früh genug kapieren.«
Alma sprach über sie hinweg, ihre Stimme wurde lauter. »Du hast die Nerven, herzukommen und uns das in die Schuhe schieben zu wollen …«
»Das reicht!«, rief ich.
Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass es funktionierte. Aber aus irgendeinem Grund verstummten Richard, Vihaela, Alma und Druss und sahen mich an. Es überraschte mich, doch ich sprach weiter. »Alle hier tragen einen Teil der Schuld«, sagte ich scharf. »Tatsächlich sind meiner Zählung nach die Einzigen in diesem Raum, die nicht auf die eine oder andere Art zu Annes aktueller Situation beigetragen haben, Tenebrous und diese vier Mantisgolems.«
»Ich habe nicht …«, setzte Sonder an.
»Du hast den Beweis geliefert, um sie verhaften zu lassen. Gut, wir können um diesen Tisch herumsitzen und darüber streiten, wessen Schuld es ist, oder wir können entscheiden, was zu tun ist.«
Einen Moment herrschte Stille. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. »In Ordnung, Verus«, sagte Druss. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wie lautet deine Entscheidung?«
Und ganz plötzlich sahen alle zu mir. Wieso benehmen sie sich, als hätte ich das Sagen? »Wir sind wegen Magier Drakh hier«, erwiderte ich. »Er behauptet, dass dieser Marid, der durch Anne handelt, Aktionen ausführt, die katastrophale Konsequenzen haben werden. Er behauptet auch, dass ein Waffenstillstand zwischen ihm und dem Rat die beste Möglichkeit sei, um diese Konsequenzen zu verhindern.« Ich sah Richard an. »Ich würde gern hören, wie er diese Behauptungen rechtfertigt.«
Druss, dann auch Alma wandten sich um und blickten zu Richard. Und einer nach dem anderen folgten die Ratsleute ihrem Beispiel. Vihaela sah bloß gelangweilt drein.
»Ein vernünftiger Punkt«, sagte Richard. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er Alma und Druss an. »Wenn ihr keine weiteren Einwände habt?«
Druss schnaubte, antwortete jedoch nicht.
»Dann lass hören«, sagte Alma.
»Der Dschinn, der Anne Walker besessen hat, ist der Maridensultan aus den Dschinn-Kriegen«, erklärte Richard. »Jetzt, da er befreit ist, plant er, diesen Konflikt fortzusetzen. Um einen Krieg auszufechten, braucht es eine Armee. Er hat vor, sich eine aufzubauen.«
»Wie?«, fragte Druss.
»Ich nehme an, ihr seid mit den Folgen von Suleimans Binderitual vertraut?«
Alma nickte knapp.
»Welche Folgen?«, fragte ich.
»Das Ritual, das einen Dschinn an einen Gegenstand bindet und dabei dauerhaft seine Fähigkeit der Manifestation auslöscht«, sagte Richard. »Wurde der Gegenstand anschließend zerstört, war der Dschinn gebannt. Ein gebannter Dschinn konnte von einem freien Dschinn höheren Rangs zurückbeschworen werden, und als solche achteten die Magier, die die Dschinn banden, darauf, diese Gegenstände zu schützen. Aber das war vor beinahe tausend Jahren, und auch wenn die Gegenstände widerstandsfähig sind, sind sie nicht unantastbar. Es wurden genug zerstört, sodass mittlerweile die gebannten Dschinn zahlenmäßig den gebundenen Dschinn unterlegen sind.«
»Damit ich das richtig verstehe … Ein Dschinn höheren Ranges ist in der Lage, einen gebannten Dschinn erneut zu beschwören?«, fragte ich. »Ist derjenige, von dem Anne besessen ist, nicht der Hochrangigste?«
»Der Wiederbeschwörungsprozess kostet Zeit und unterliegt Einschränkungen«, erklärte Richard. »Gegenwärtig konnte der Maridensultan nur eine kleine Zahl Ifriten wiederbeschwören. Überlässt man ihn sich selbst, wird sich das in Kürze ändern.«
»Komm zum Punkt, Drakh«, sagte Alma.
»Der Punkt ist«, fuhr Richard fort, »dass der Marid vorhat, seine neue Basis in Sagashs Schattenreich zu nutzen, um ein Ritual durchzuführen. Dieses Ritual wird dem Wirt des Mariden – also Anne Walker – die Fähigkeit verleihen, rasch und effizient größere Dschinn zu beschwören. Der Prozess erfordert im Grunde nur einen anderen Menschen und einen gebannten Dschinn niedereren Rangs als dem des Sultans. Und, wie Verus schon angemerkt hat, sind das sehr viele Dschinn.«
»Wie viele?«, fragte ich.
»Allermindestens mehr als alle Weiß- und Schwarzmagier Britanniens zusammen.«
Es kehrte Stille ein.
»Oh«, fügte Richard hinzu. »Und soweit ich das verstehe, hat der Marid bereits die Fähigkeit gezeigt, diese Beschwörung bei feindlichen Magiern einzusetzen. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass einer von euch mehr Erfolg hätte, einer Besessenheit zu widerstehen als die Magier Caldera und Barrayar.«
Anne – oder der Marid – hatte das mit Caldera nur meinetwegen anstellen können. Ich schob den Gedanken beiseite. »Wie schnell kann er einen Dschinn beschwören, seinen Wirt einzunehmen?«
»Derzeitig? Stunden oder Tage. Wenn er sein Ritual vollendet hat? Minuten oder Sekunden.«
Schweigen. In meinem Geist spielte sich ein Film ab von Anne und ihrer Gruppe aus von Dschinn besessenen Menschen, die sich ausbreiteten wie ein Virus. Ihre Zahl würde mit jedem Magier, den sie besiegten, weiter ansteigen. Sagashs Schattenreich war stark befestigt und verteidigt gewesen, und Anne hatte es innerhalb von Stunden erobert. Mit drei Dschinn. Was konnte sie mit hundert anrichten?
Alma meldete sich zu Wort. »Eine hübsche Geschichte, Drakh. Aber warum sollten wir sie glauben?«
Richard seufzte. »Alma, bitte hör auf, unsere Zeit zu verschwenden. Du und Druss, ihr habt eure Divinatoren bereits kontaktiert, um ihnen genau diese Frage zu stellen. Hätten sie nicht bestätigt, was ich euch gerade erzählt habe, wäret ihr nicht hier.«
Ich sah Alma und Druss an. »Ist das wahr?«
»Wir haben …«, setzte Alma an und wählte ihre Worte vorsichtig, »keine Information erhalten, die Drakhs Geschichte direkt widerspricht.«
»Pah«, machte Vihaela laut und ließ den Kopf nach hinten gegen das Stuhlpolster fallen. »Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das hier Zeitverschwendung ist.«
Ich ignorierte sie. »Ich habe nicht gefragt, ob ihr es widerlegen konntet«, sagte ich zu Alma. »Ich habe gefragt, ob es wahr ist.«
Druss warf Alma einen Blick zu.
»Die mittelfristige Divination …«, sagte Alma zögerlich, »hat Unregelmäßigkeiten ergeben. Innerhalb eines gewissen Zeitraums enthielt eine Mehrheit der vorhergesagten Zukünfte ausgedehnte Angriffe auf Magie nutzende Machtzentren im ganzen Land. Diese Angriffe steigern sich auf eine Weise, die auf eine wachsende Gefahr hinweist, jedoch kein Beweis ist.«
»Wie groß ist diese Mehrheit?«
»Ohne eine Intervention über neunzig Prozent.«
»Und dieser Zeitraum wäre …«
Druss antwortete. »Zweiundsiebzig bis sechsundneunzig Stunden ab heute Morgen.«
Ich setzte mich in meinem Stuhl zurück.
Lange herrschte Schweigen.
»Gut«, sagte ich endlich. »Das klingt, als hätten wir ein Problem.«
»Ein Problem, ja«, sagte Alma. »Die Ursache dieses Problems ist etwas anderes.«
Richard sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, Drakh«, sagte Druss. »Ein Schwarm höherer Dschinn. Da sagst du die Wahrheit.«
»Und bei welchem Punkt hast du Zweifel?«
»Wie es passiert«, sagte Alma. »Wir waren nicht untätig in diesem Krieg, Drakh. Wir wissen genau, welche Art Mann du bist. Und eine große Anzahl höherer Dschinn zu beschwören, um deine Feinde in Besitz zu nehmen, passt genau zu deinen Methoden.«
»Wenn das der Fall ist«, entgegnete Richard ruhig, »warum sollte ich dann jetzt mit euch reden?«
»Du hast es versaut?«, gab Druss zurück.
»Um uns in eine Falle zu locken?«, meinte Alma.
»Ein bisschen von beidem?«, sagte Druss. »Der Punkt ist, wir trauen dir nicht.«
»Euer Maß an Vertrauen in mich ist interessant, aber irrelevant«, sagte Richard. »Euer aktueller Feind ist der Dschinn.«
»Und woher wissen wir, dass du nicht den Dschinn kontrollierst?«, fragte Alma. »Oder mit Anne Walker zusammenarbeitest? Wie Druss schon sagte, wir können dir einfach nicht trauen.«
»Dann, scheint mir, stecken wir in einer Sackgasse«, erwiderte Richard. Er sah mich an.
Er will, dass ich einschreite. Ich hielt den Mund.
»Verus?«, sagte Richard.
Verdammt. »In Ordnung«, sagte ich und verzog das Gesicht. »Alma, Druss: Wenn ihr fragt, warum ihr Drakh trauen solltet – das solltet ihr nicht. Aber was seine Beziehung zu Anne und den Dschinn angeht … er kontrolliert sie nicht, und er arbeitet nicht mit ihr zusammen.«
»Und das weißt du, weil …?«
»Weil er bis vor vier Wochen den Dschinn und sie kontrolliert hat. Mittels des Traumsteins, den er aus einem Tiefschattenreich hatte.« Ich blickte kurz zu Talisid. »Demselben Ort, in dem ich dich gefangen gesetzt habe, falls es euch interessiert. Während des Kampfs in Sal Sarques Festung habe ich diesen Traumstein zerstört. Das befreite Anne, und sie und der Dschinn sind seither Drakhs Feinde.«
Talisid wirkte nicht gerade amüsiert. »Und woher wissen wir, dass du nicht mit Drakh zusammenarbeitest?«, fragte Alma.
»Ich will ganz offen sein, Alma«, sagte ich. »Ich kann dich nicht leiden. Du hast Levistus unterstützt, solange er lebte, und du hast dafür gestimmt, mich zum Tode zu verurteilen, nicht einmal, sondern immer und immer wieder. Wenn du mit einem Herzinfarkt tot umfallen würdest, dann würde es mir keinen Augenblick lang den Schlaf rauben. Aber Richard ist für mich ein sehr viel üblerer Feind, als ihr es jemals sein werdet. Wenn ich in einem Raum wäre mit euch, Richard und einer Waffe mit zwei Kugeln darin, würde ich Richard damit zweimal erschießen. Beantwortet das deine Frage?«
Alma erwiderte meinen Blick mit undurchdringlicher Miene. Richard hatte unseren Austausch mit mildem Interesse verfolgt. Druss blickte amüsiert drein. Vihaela schien einfach die Show zu genießen.
»Wir pausieren dieses Meeting, um zu konferieren«, sagte Alma mit ausdrucksloser Stimme. »Wir machen in zwanzig Minuten weiter.«
»Wir warten«, sagte Richard.
Die Ratsdelegation hatte sich in das Vorzimmer zurückgezogen, durch welches sie eingetreten war. Vier Ratssicherheitsleute waren in der Halle postiert; sie standen mit gezogenen Waffen da und beobachteten uns aufmerksam.
Ji-yeong und ich hielten uns in der Mitte unseres Abschnitts auf, allein in dem großen, leeren Raum. »Du hast dich gut geschlagen.«
»Warum hast du mich als Lehrling vorgestellt?«, fragte Ji-yeong.
»Wenn nicht, hätten sie dich als erwachsene Magierin behandelt.«
»Ich bin …«
Ich unterbrach sie. »Eine erwachsene Magierin ist legitime Beute. Ein Lehrling nicht. Ich habe dir gesagt, ich schütze dich, und das ist der einfachste und effektivste Weg.«
Ji-yeong verzog das Gesicht und sah weg. »Ich dachte, ich wäre damit fertig«, sagte sie nach einem Augenblick.
»Schutz zu benötigen?«, fragte ich. »Sagash war ein großer Fisch in einem kleinen Teich. Du wirst dich an größere Teiche gewöhnen müssen.«
Über Ji-yeongs Schulter sah ich, wie Richard sich erhob und auf uns zukam. »Bleib hier«, sagte ich zu Ji-yeong und ging ihm entgegen.
Wir begegneten uns an der Barriere, kurz vor der Mauer. »Richard«, sagte ich.
»Alex.« Er blickte zu Ji-yeong. »Ein neuer Schützling?«
»Nur vorübergehend«, erwiderte ich. »Wird der Rat zustimmen?«
»Solltest du das nicht den Rat fragen?«
»Ich denke, du würdest dir nicht diese ganze Mühe machen, wenn du ihre Antwort nicht bereits kennen würdest.«
Richard lächelte leicht. Kurz herrschte Schweigen.
»Was ist dein Ansatz?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Was willst du?«
»Wenn du meinst, warum ich den Rat kontaktiert habe …« Richard machte eine knappe Geste mit der geöffneten Hand. »Ich dachte, besonders du solltest mit den Gegebenheiten eines gemeinsamen Feinds vertraut sein.«
Ich sah, wie Vihaela sich mit Tenebrous unterhielt. Die schwarze Lebensmagierin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, die Füße auf dem Tisch, während Tenebrous still wie eine Statue war.
»Ein gemeinsamer Feind, ja«, sagte ich. Ich neigte den Kopf. »Ein gemeinsames Ziel? Nicht so sehr. Falls dieser Dschinn wirklich so viel Verwüstung anrichtet, warum die Sache dann nicht einfach dem Rat überlassen? Sich ein Weilchen verkriechen, deinen beiden Feinden den Kampf überlassen.«
»Den beiden Feinden den Kampf überlassen«, erwiderte Richard, »ist nur dann von Nutzen, wenn beide eine Chance auf den Sieg haben.«
Ich sah Richard an. »Du glaubst nicht, dass der Rat siegen kann.«
»Ohne meine Unterstützung? Absolut keine Chance.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte ich. »Warum kümmert es dich?«
»Alex, ich bin kein völkermordender Wahnsinniger«, meinte Richard. »Diesen Krieg zu gewinnen, wird mir keinen Nutzen bringen, wenn am Ende kein Land übrig ist. Und ich versichere dir, falls Annes Dschinn Erfolg hat, wird nur sehr wenig übrig sein.«
Ich tippte mit den Fingern gegen meinen Ellbogen, antwortete jedoch nicht.
Richard seufzte. »Komm schon, Alex. Niemand hier möchte die Dschinnkriege noch mal erleben. Ist es wirklich so schwer zu glauben, dass unsere Interessen sich decken könnten? Du hast früher mal sehr gern mit mir gearbeitet. Ich verstehe nicht, warum wir das nicht wieder tun sollten.«
Aufmerksam musterte ich Richard. Sein Gesicht war entspannt und ruhig. Weder seine Miene noch die Zukünfte verrieten etwas.
Ein Knirschen und Donnern erklang am anderen Ende des Raums. Ich drehte mich um und sah, dass die Weißmagierdelegation herankam und an ihre Tische zurückkehrte. Der Rat hatte seine Entscheidung getroffen.
»Und?«, fragte Luna. »Was haben sie gesagt?«
Wir waren in der Niederung, hockten nebeneinander auf einem umgestürzten Baumstamm. Ich blickte aufs Gras, während Luna rittlings auf dem Stamm saß und sich mir zugewandt hatte. Mit meiner Magiersicht nahm ich den silbrig grauen Nebel ihres Fluchs wahr, der ihren Körper umwaberte, mich gerade eben nicht berührte. Die verschwommene, halb reale Sonne des Schattenreichs stand über den Baumwipfeln, aber ihre Strahlen drangen kaum zu uns durch, da der Nachmittag sich dem Abend zuneigte.
»Oh, sie hatten viel zu sagen«, meinte ich. »Sie haben sich stundenlang gezofft.«