Der Geist von London - Benedict Jacka - E-Book

Der Geist von London E-Book

Benedict Jacka

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Beschreibung

Besessen von einem bösen Geist? Der neunte Roman der SPIEGEL-Bestseller-Serie von Benedict Jacka.

Die Weißmagier und die Schwarzmagier Englands stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ein übernatürlicher Bürgerkrieg scheint unausweichlich. Der Hellseher Alex Verus tut sein Bestes, um das zu verhindern, während andere Mitglieder des Rats der Weißmagie genau das herbeizusehnen scheinen. Einig ist man sich nur, dass man den Anführer der Schwarzmagier – Alex' ehemaligen Mentor Richard Drakh – beseitigen muss. Die Wächter stellen ihm eine Falle. Doch Alex ist sich nicht sicher, wer wirklich die Fäden in der Hand hält. Dabei hat der Hellseher ein noch viel drängenderes Problem: Seine Freundin Anne hatte mit einem Ringgeist Kontakt und könnte von diesem besessen sein. Und dann wäre nicht nur sie in größter Gefahr, sondern auch alle, die sie liebt.


Die Alex-Verus-Bestseller von Benedict Jacka bei Blanvalet:
1. Das Labyrinth von London
2. Das Ritual von London
3. Der Magier von London
4. Der Wächter von London
5. Der Meister von London
6. Das Rätsel von London
7. Die Mörder von London
8. Der Gefangene von London
9. Der Geist von London
10. Die Verdammten von London
11. Der Jäger von London
12. Der Retter von London

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Seitenzahl: 492

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Buch

Die Weißmagier und die Schwarzmagier Englands stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ein übernatürlicher Bürgerkrieg scheint unausweichlich. Der Hellseher Alex Verus tut sein Bestes, um das zu verhindern, während andere Mitglieder des Rats der Weißmagie genau das herbeizusehnen scheinen. Einig ist man sich nur, dass man den Anführer der Schwarzmagier – Alex’ ehemaligen Mentor Richard Drakh – beseitigen muss. Die Wächter stellen ihm eine Falle. Doch Alex ist sich nicht sicher, wer wirklich die Fäden in der Hand hält. Dabei hat der Hellseher ein noch viel drängenderes Problem: Seine Freundin Anne hatte mit einem Ringgeist Kontakt und könnte von diesem besessen sein. Und dann wäre nicht nur sie in größter Gefahr, sondern auch alle, die sie liebt.

Autor

Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals, anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.

Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:1. Das Labyrinth von London2. Das Ritual von London3. Der Magier von London4. Der Wächter von London5. Der Meister von London6. Das Rätsel von London7. Die Mörder von London8. Der Gefangene von London9. Der Geist von LondonWeitere Bände in Vorbereitung.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Deutsch von Michelle Gyo

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Marked (Alex Verus 9)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Benedict Jacka

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29071-9V001www.blanvalet.de

1

Die Fabrik hatte sich in fünf Jahren nicht sonderlich verändert. Das Gebäude war immer noch braungrau, Dreck auf Backstein, und die rostigen Klingendrahtrollen drängten sich wie eh und je auf den Mauerkronen. Vom Dach aus blickte ich auf den ehemaligen Parkplatz und in die Fenster der Fabrik hinab. Nichts regte sich, aber das war egal: Ich wusste, was sich im Innern befand. Rechts ragten die Wolkenkratzer von Canary Wharf in die Nacht auf, glitzernde gelbweiße Nadelspitzen auf dem dunklen Wasser der Themse, und darüber die Zwillingswarnleuchte des pyramidenförmigen Turms. Das Brummen eines Schiffsmotors vermischte sich mit dem leisen Rauschen der Wellen, verschmolzen zum Klang Londons.

Es war Juni, und doch war die Nacht nicht warm. Eine Brise vom Wasser her kühlte die Luft und sorgte dafür, dass meine Rüstung angenehm auf der Haut lag. Sie besteht aus Platten und Meshgewebe und ist ein durchwobener Gegenstand, der auf seine Art lebendig ist. Wenn ich mich auf sie konzentrierte, spürte ich ihre Präsenz, aufmerksam und wachsam. In meiner Tasche befand sich ein weiterer durchwobener Gegenstand – ein Traumstein –, und ein dritter war in dieser Fabrik verborgen. Was die drei Gegenstände anging, war ich nur froh über meine Rüstung. Sie war vielleicht nicht besonders mächtig, doch ich hatte gelernt, ihr zu vertrauen, denn ihr reaktives Mesh hatte mir mehr als einmal das Leben gerettet. Sie konnte Messer und Geschosse ablenken, vielleicht sogar einen Zauber von einem Kampfmagier.

Vorausgesetzt, dem Kampfmagier blieb vorab keine Zeit, die Rüstung zu untersuchen und herauszufinden, wie viel Macht er genau aufwenden musste, um sie zu durchbohren.

Hinter mir erklang eine Stimme. »Hey.«

»Korrekte Anredeform, bitte«, erwiderte ich abwesend. Normalerweise laufe ich bei Kollegen unter Verus und bei Freunden unter Alex. Vor acht Monaten hatte ich jedoch einen neuen Titel erworben.

Der Mann hinter mir verzog das Gesicht, dachte, ich könnte ihn nicht sehen. Er war jung, mit kurz geschnittenem Haar und schmalem Gesicht; die letzten paar Minuten hatte er auf meinen Rücken gestarrt. Sein Name war Chimaera, er war der neueste und jüngste Wächter, der mit mir zusammen für diesen Auftrag abgestellt worden war.

»Ratsmitglied«, sagte Chimaera widerwillig. »Gehen wir rein?«

»Geduld«, antwortete ich. Sergeant Little würde anrufen, jedoch erst in zwei bis fünf Minuten. Daher war ich hier hinaufgegangen, um die Aussicht zu genießen und abzuwarten, ob Chimaera etwas gegen mich unternehmen würde. Bisher hatte er sich unauffällig verhalten, aber ich hatte Möglichkeiten aufflackern sehen, in denen er etwas tat, also stand ich weiter mit dem Rücken zu ihm und wartete, ob er der Versuchung doch noch erliegen würde. Ich fragte mich, ob Chimaera sich freiwillig gemeldet oder ob jemand ihn hierher beordert hatte. Das würde ich überprüfen, sobald ich die Zeit hätte.

Während ich so dastand, musste ich daran denken, wie ich zum ersten Mal bei der Fabrik gewesen war. Damals hatte ich einen Barghest gejagt, und danach hatte ich mich mit Luna hier oben auf dem Dach getroffen und sie davor gewarnt, dass die Wächter, die heute noch mit uns zusammenarbeiteten, morgen schon unsere Feinde sein könnten. Ich hatte geglaubt, ich wäre erfahren; rückblickend war ich auf meine Art ebenso naiv gewesen wie sie. Damals hatte ich den Rat als Einheit betrachtet, mit der man arbeitete oder der man misstraute. Doch er war alles andere als das: Er bestand aus tausend Individuen, jedes mit eigenen Motiven und Agenden. Vertrauen spielte da keine Rolle; man arbeitet mit den Werkzeugen, die man bekam.

Mein Kommunikator würde gleich ping machen, und die kurzfristigen Zukünfte waren ruhig. Chimaera würde nichts unternehmen. Schade. Ich wartete darauf, dass die Stimme in meinem Ohr meinen Namen sagte, bevor ich antwortete. »Verus.«

»Wir sind bereit«, sagte Sergeant Little.

»Komme«, erwiderte ich und drehte mich um. »Es geht los.«

Chimaera nickte. Ich spürte seinen Blick den ganzen Weg hinab auf meinem Rücken.

Die Männer hatten sich bereits versammelt. Es waren zwanzig von der Ratssicherheit, bewaffnet und gepanzert, angeführt von einem kompakten, tough aussehenden Mann mit scharfblickenden blauen Augen namens Sergeant Little. Von den beiden Wächtern kannte ich nur Ilmarin näher, einen großen Veteranen mit langem Gesicht. Die andere, Saffron, war eine kräftig gebaute Frau, die meist mittels Grunzlauten kommunizierte.

»Unser Ziel ist in der Fabrik«, sagte ich. »Sowohl er als auch die Leute, die er angestiftet hat. Sergeant, nehmen Sie genug Leute mit, um die Ausgänge zu überwachen. Der Rest von uns geht durch die Vordertür rein.«

»Einsatzregeln?«, fragte Little. Das war eine gute Frage, jedoch eine ohne gute Antwort.

»Nicht töten, wenn möglich. Denkt dran, das sind Zivilisten.«

Der Sergeant nickte bedächtig, doch ich spürte seine Skepsis. Einer der anderen Männer war nicht so zurückhaltend. »Bei allem nötigen Respekt, Sir, aber das wird nicht so einfach, falls sie auf uns schießen.«

»Ich gehe vor«, sagte ich. »Die Wächter Saffron und Ilmarin stehen ebenfalls bei. Wir entwaffnen so viele wir können.«

»Was ist mit mir?«, fragte Chimaera.

»Du bist die Nachhut.«

»Warum sollte ich …?«

»Weil Ilmarin und Saffron sie überwältigen können, ohne zu töten«, sagte ich. Ilmarin war ein Luftmagier und Saffron eine Geistmagierin. »Du nicht. Es sei denn, du hast vor, sie nur halb zu grillen.«

Chimaera blickte finster drein. Feuermagier sind berüchtigt dafür, ihre Fähigkeit nur schlecht mit nicht tödlichem Ergebnis einsetzen zu können, und auf Kritik reagieren sie auch nicht gerade positiv. »Willst du was beweisen, indem du zuerst reingehst?«

Ich sah, wie sich etwas in den Mienen der Sicherheitsleute veränderte, mehrere blickten Chimaera mit einem Ausdruck an, der ein wenig zu neutral war. Der Rat hat die Angewohnheit, seine Sicherheitskräfte zur Sichtung einzusetzen. Muss also jemand zuerst durch eine Tür, dann für gewöhnlich ein Mitglied der Ratssicherheit, ungefähr so wie man etwas Suspektes erst mal mit einem langen Stock anstupst. Manchmal stellt sich dieses Etwas als Bombe heraus, was blöd ist für den Stock. Die Männer (und es sind fast ausschließlich Männer) der Ratssicherheit sind sich des Risikos bewusst, das ihr Job mit sich bringt, und sie werden gut bezahlt; trotzdem wird niemand gern an seine Entbehrlichkeit erinnert. Ilmarin warf Chimaera einen durchdringenden Blick zu, den der jüngere Mann nicht bemerkte.

»Bringt man Wächtern heutzutage so eine Disziplin bei?« Ich sprach nicht lauter, wandte auch den Blick nicht von Chimaera. »Du wurdest meinem Kommando unterstellt. Wenn du damit ein Problem hast, verschwinde.«

Chimaera blickte finster, sagte aber nichts. Ich wartete kurz, dann wandte ich mich wieder den anderen zu. »Das Hauptziel ist unverändert. Denkt dran, dieses Ding kann über eine unbegrenzte Anzahl Hörige verfügen. Es dauert eine gewisse Zeit, bis es jemanden unter seiner Kontrolle hat, doch dann behält es sie. Das heißt, je länger wir dieses Problem belassen, desto schlimmer wird es.«

»Was ist mit dem Träger?«, fragte Sergeant Little.

»Keine Beschränkung«, antwortete ich. »Schaltet ihn aus, egal wie.« Den Kerl hätte ich zwar gerne lebend erwischt, aber ich verlangte auch so schon genug von den Männern. Ich sah mich um. »Fragen?«

Die Gruppe blickte mich an. Niemand sagte etwas. »Okay. Ausschwärmen.«

Aus der Nähe ragte die Fabrik wie ein monströser Schatten auf. Orangefarbenes Licht von den Straßenlaternen erhellte die Mauern oben, während das Erdgeschoss in Dunkelheit gehüllt war.

»Einer am Tor«, sagte Ilmarin leise in meinem Ohr.

Ich nickte. Ich hätte heranpirschen und ihn ausschalten können, aber wir konnten es uns leisten, langsam vorzugehen.

»Saffron?«

Die Geistmagierin beugte sich vor und um den Zaun herum, starrte in die Schatten an der Eingangstür. Ich spürte den Zauber, eine Art rhythmischen Sog. Geistmagie ist schwer wahrnehmbar; es ist selbst dann nicht leicht, die Details eines Spruchs zu erkennen, wenn man weiß, worauf man achten muss. Dreißig Sekunden vergingen, eine Minute, dann sah ich eine dunkle Gestalt zu Boden sinken. Die Zukünfte, in denen der Alarm ausgelöst wurde, verschwanden.

Wir rückten vor, die Sicherheitsmänner folgten uns. An der Tür schaltete ich meine Lampe an, leuchtete hinab. Der Strahl zeigte einen Jugendlichen von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren in dreckigen Klamotten. Er schlief tief und fest, atmete langsam und ruhig, und auf seinem Kopf saß eine Kappe aus einem silbernen Geflecht.

»So kontrolliert es sie?«, fragte Sergeant Little leise.

Ich nickte. Die Ratsaufzeichnungen zu diesem Ding waren gründlich, und sie enthielten Skizzen von ähnlichen Instrumenten. Die Kappe war aus Metall gefertigt, grob verlötet und um den Schädel des Jungen befestigt. »Wie lange würdest du brauchen, um das runterzubekommen?«, fragte ich Saffron.

Sie zuckte mit den Schultern.

Was hieß, dass ich nicht darauf bauen durfte, dass sie es schnell genug hinbekäme. »Leg ihm Handschellen an und bring ihn in die Einfassung«, sagte ich. Dieser hier hatte keine Schusswaffe; das würde anders werden, wenn wir drin wären.

Littles Männer trugen den schlafenden Jungen weg, während Ilmarin sich an der Tür zu schaffen machte. Sie öffnete sich schnell, und wir gingen hinein.

Wachsam liefen wir durch dunkle Gänge. Gerümpel und Müll lagen auf dem Boden verstreut, erschwerten es, einen Weg zu finden, und hin und wieder knirschte etwas unter einem unachtsam aufgesetzten Stiefel. Jedes Mal bedachte Little die betreffende Person mit einem finsteren Blick, aber ich wandte mich nicht um; meine ganze Aufmerksamkeit war auf die Zukünfte vor uns gerichtet.

Es gab Anzeichen, dass die Fabrik benutzt wurde – Fußabdrücke im Dreck, Holz- und Backsteinsplitter, die aus dem Weg getreten worden waren –, aber niemand hatte versucht, den Ort gastlicher zu machen. Es gab keinen Strom und, dem Geruch nach zu urteilen, auch keine Sanitäreinrichtungen. Und selbst wenn, so glaubte ich nicht, dass jemand hier leben wollte. Die Fabrik fühlte sich giftig an, bösartig und kalt.

Ein metallisches Schleifen ertönte, etwas Kleines, das den Gang hinabschlitterte.

»Anhalten«, sagte Ilmarin leise. Er legte eine Hand an die Mauer. »Sergeant?«

»Ich sehe es«, erwiderte Sergeant Little und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Kratzer und Löcher im Beton. »Sieht aus wie eine Tretmine.«

»Sie haben hier Sprengfallen ausgelegt?«

»Nein«, sagte ich abwesend.

Ich spürte, dass Ilmarin und Little sich hinter mir ansahen. Little beugte sich herab, nahm eine Kugellagerkugel und roch daran. »Die ist nicht neu.«

»Sicher?«, fragte Ilmarin. »Wenn hier Minen sind …«

»Die ist Jahre alt«, antwortete ich.

Ilmarin musterte mich mit nachdenklichem Blick. Er war beim letzten Mal hier auch bei mir gewesen, und da hatte es keine Minen gegeben. »Er hat recht«, sagte Little. »Zu viel Staub in den Ritzen.«

»Hört ihr das?«, fragte einer der anderen.

Wir standen still, lauschten. Nach einem Moment konnte ich es herausfiltern: ein rhythmisches Pochen.

»Generator?«, fragte Little.

»Ich glaube schon«, antwortete Ilmarin.

»In Ordnung«, sagte ich. »Little, lassen Sie die Männer die letzten Checks durchführen.«

»Du willst immer noch zuerst rein?«, fragte Ilmarin.

»Du findest das nicht gut?«

»Mir macht es nichts, deine Nachhut zu sein, wenn du so fragst«, sagte Ilmarin trocken. »Aber ich habe einen Schild.«

»Na, ich nicht«, verkündete Saffron, »und ich gehe nicht zuerst rein.«

»Bleib hier und sichere die Tür«, sagte ich zu ihr. »Du kannst sie von hier aus ausschalten.«

»Und Chimaera?«, fragte Ilmarin.

Der junge Wächter war am Ende des Zugs, außer Hörweite. »Ich habe gemeint, was ich gesagt habe«, erklärte ich Ilmarin. »Ich will diese Leute lebend.«

»Du machst dir das Leben schwer«, murmelte Ilmarin, aber seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Na gut. Sollen wir?«

Ich sah Little an, und er nickte. »Dann wollen wir mal ein bisschen im Wespennest stochern.«

Der Boden im Erdgeschoss der Fabrik war größtenteils freigeräumt. Die alten Maschinen, zu schwer, um sie zu bewegen, hockten immer noch da wie rostende Statuen, aber der Beton um sie herum war sauber gefegt, der Dreck lag in den Ecken. In der Mitte standen zwei gesplitterte Holztische; ein Dutzend Menschen saßen auf zerbrochenen Stühlen und alten Packkisten daran. Sie waren jung und alt, männlich und weiblich, und sie waren vornübergebeugt, arbeiteten mit fiebriger Intensität. Alle trugen die gleichen Kopfbedeckungen, die wir bei dem Jungen draußen gesehen hatten. Oben führten Stege von Wand zu Wand. Gelbe Lampen, im Raum verteilt, warfen einen schwachen Schein, und in einer Ecke tuckerte ein Benzingenerator vor sich hin.

Ilmarin und ich traten auf die freie Fläche. Das Geräusch des Generators übertönte unsere Schritte, sodass anfangs niemand von uns Notiz nahm. Endlich bemerkte uns eine Frau aus dem Augenwinkel und sah auf.

Einen Moment herrschte Schweigen, dann blickten alle gespenstisch synchron zu uns auf. Vierundzwanzig leere Augen starrten uns an. Sodann erhoben die Leute sich wie ein Mann und kamen auf uns zu.

»Gut, wir haben ihre Aufmerksamkeit«, sagte Ilmarin. »Wie sieht Schritt zwei aus?«

»Schritt zwei ist, die mit den Waffen auszuschalten«, sagte ich. Ich hatte gehofft, dass ihre Reaktion auf zwei scheinbar unbewaffnete Männer eher der Versuch einer Gefangennahme sein würde, statt zu schießen. So weit schien das zu stimmen, aber drei hinten hatten ihre Pistolen gezogen. Wenn ich Tote vermeiden wollte, mussten wir sie entwaffnen.

Die Hörigen hatten sich uns bis auf ein paar Schritte genähert. Sie hoben die Arme, wollten zupacken. »Los«, sagte ich und stürzte vor.

Einen Augenblick zögerten sie, aber mehr brauchte ich nicht. Ich wich dem Ersten aus, trieb dem Zweiten mit einem Schlag die Luft aus der Lunge, stellte ihm ein Bein und schubste ihn dem Dritten zwischen die Füße. Sie wollten mich bedrängen und packen, handelten synchron. Gegen die meisten Menschen wäre das wirkungsvoll gewesen, aber hier war es umgekehrt. Normalerweise ist die Ungewissheit mein größter Feind in einem Kampf, das Chaos und die Verwirrung verkürzen die Reichweite meiner Divination auf wenige Sekunden. Doch ich kämpfte hier nicht wirklich gegen mehrere, sondern rang mit einer Einheit, die ihre Knechte wie Finger und Zehen einsetzte, und so wich ich ihren Angriffen aus und setzte ihre Zahl gegen sie ein.

Einem Kampf ist ein Rhythmus zu eigen und ein Takt, fast wie bei einem Tanz. Jede Bewegung hat eine Gegenbewegung, jeder Schlag sein Timing. Begreift man das, fühlt es sich gar nicht mehr an, als würde man angreifen: Man tut einfach etwas, was ganz natürlich ist. Am Rande bekam ich mit, wie Ilmarin mit Fäusten aus Luft auf die Hörigen einhieb, während sie erfolglos auf seinen Schild einschlugen. Ein Mann stach mit einem Besenstiel nach mir. Ich mag Stöcke, besonders lange. Eine Drehung löste ihm den Stab aus den Fingern, und ein Schlag gegen seinen Kopf schickte ihn zu Boden.

Sein Sturz öffnete eine Lücke in dem Gedränge, und ich sprang auf eine Kiste und von dort auf den Tisch. Hände griffen nach mir, aber ich rannte über den Tisch, stieß Metallstücke und unfertige Kopfbedeckungen beiseite, dann sprang ich vor dem Trio mit den Pistolen herab. Sie zielten zwar, aber ich sah in den Zukünften, dass sie nicht abdrücken würden, jedenfalls noch nicht. Mein Stock brach einem das Handgelenk, und die Pistole schlitterte über den Beton. Den Zweiten trat ich so fest, dass er zusammenklappte. Der Dritte wich zurück, die Pistole erhoben, und ich sprang vor, drehte mich dabei und trat ihm den Knöchel weg, dann betäubte ich ihn mit einem Schlag gegen den Kopf.

Die Zukünfte veränderten sich. Jetzt war da Geschützfeuer. Zeit für Schritt drei. »Little«, sagte ich laut und hörte das Ping des Kommunikators in meinem Ohr. »Los.«

Eilige Schritte erklangen, und die Ratssicherheit stürzte herbei. Zwischen uns und der Verstärkung gefangen, zögerten die Hörigen, bevor sie sich gegen die Sicherheitsmänner wandten. Aber die Ratssicherheit kam mit Schlagstöcken und Tasern, schaltete einen nach dem anderen aus.

Die Hörigen von meiner Seite des Raums rannten zu den herabgefallenen Waffen. Ich fing einen ab, bevor er sie erreichte, stellte ihm ein Bein, dann, als er aufstehen wollte, zog ich ihm eins über den Schädel.

»Ilmarin!«, schrie ich, und der Luftmagier streckte eine Hand aus; die anderen beiden Pistolen flogen hoch über das Handgemenge hinweg, sanken hinter der Ratssicherheit wieder herab.

Noch ein Mann versuchte, mich von hinten zu packen. Ich warf ihn über die Schulter und rammte ihm den Stock in den Bauch, der Kampf war schnell vorbei. Die letzten Hörigen waren niedergerungen und von den Sicherheitsmännern gefesselt worden. Nicht ein Schuss war gefallen. Ich durchquerte den Raum, hielt auf eine kleine Metalltür in der Nordwand zu, ließ den Stock fallen und zog meinen Lähmungsfokus heraus. Chimaera tauchte in der Menge auf, sah streitlustig aus. »Du musst …«, setzte er an.

»Aus dem Weg«, blaffte ich. Ich zeigte auf zwei Männer, die auf die Tür starrten. »Du und du. Zurück.«

Die beiden Sicherheitsmänner gehorchten. Chimaera nicht. »Du sollst …«

Die Tür wurde aufgerissen. Auf der anderen Seite stand eine Frau mit vollen Wangen, schmutzig blondem Haar und einer Pistole, die sie in beiden Händen hielt. »Raus!«, kreischte sie. »Raus, oder ich bring euch alle um!« Sie feuerte, ohne auf eine Antwort zu warten.

Zwölf Kugeln in der Waffe, zehn Schritte bis zu der Frau. Die ersten beiden Schüsse waren unkontrolliert, dann konzentrierte sich ihr Blick auf mich, und sie zielte auf meine Brust. Ich trat zur Seite, damit die nächsten beiden Kugeln mich verfehlten, danach änderte ich die Richtung, ließ die nächsten drei auf der anderen Seite vorbeisirren. Nur noch fünf Schritte, aber je näher ich kam, desto schwerer war es auszuweichen. Der achte Schuss jaulte an meinem Kopf vorbei. Ich drehte mich, denn sonst hätte der neunte mich in den Bauch getroffen. Das brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ich musste meinen Vorstoß unterbrechen und in die andere Richtung ausweichen, um den nächsten beiden Kugeln zu entkommen. Ich drehte mich zur Seite, zog den Kopf weg, während eine weitere Kugel nur knapp meinen Hals verfehlte, dann war ich direkt vor ihr, und die Pistole zeigte auf meine Brust. Der Blick der Frau veränderte sich kein bisschen, als sie abdrückte.

Die Waffe klickte, als der Hahn auf eine leere Kammer traf. Hätte die Frau selbst gehandelt, hätte sie vermutlich überrascht ausgesehen. Stattdessen drückte sie wieder und wieder ab: Klick, klick, klick machte die Pistole, und dann traf mein Lähmungsfokus sie in den Bauch, ihre Pupillen rollten nach oben, und sie sank zu Boden.

Ich drehte mich um und sah, dass Chimaera und wenigstens die Hälfte der Sicherheitsmänner mich anstarrten. Einige der Hörigen wehrten sich immer noch, aber jedes Mitglied der Abteilung, das nicht mit ihnen beschäftigt war, schien zu mir zu blicken. Chimaeras Mund stand leicht offen. »Was gafft ihr so?«, fragte ich und nahm die leere Waffe an mich.

Little fuhr zu den Männern herum. »In Ordnung, genug geglotzt! Sichert sie!«

»Etwas kommt«, sagte Saffron. Sie hatte so wenig Anteil an dem Kampf genommen, dass sie irgendwann sogar die Zeit gefunden hatte, einen Kaugummi herauszuholen und darauf herumzukauen.

»Gesehen«, erwiderte ich. Die Zukünfte wurden zu einer einzigen. »Little! Wir haben sechzig Sekunden. Bringen Sie so viele Leute raus wie möglich, dann lassen Sie Ihre Leute zurückfallen. Sie können hier nichts mehr tun.«

Little nickte. Manche der jüngeren Männer in seinem Beruf, die etwas beweisen wollen, ignorieren solche Warnungen. Diejenigen, die so alt werden wie Little, nicht. »Ihr habt den Mann gehört. Raus hier!«

Die Sicherheitsmänner zogen sich geordnet zurück, schleppten die Hörigen über den Boden und sammelten sich in der Mitte des Raums mit den anderen Magiern. »Ich nehme an, tödliche Gewalt steht wieder auf dem Plan«, sagte Ilmarin.

»Ja, ich denke, wir haben die ernsthafte Phase erreicht«, antwortete ich. Jetzt, da ich es mir genauer ansehen konnte, erkannte ich, dass die Hörigen mit diesen Kopfbedeckungen in Serienproduktion gegangen waren. Einer hatte Stäbe eingelegt, ein anderer Verschlüsse miteinander verdrahtet, wieder ein anderer behandelte sie mit einer Art Flüssigkeit und so weiter. Ein Dutzend vollständige Modelle lagen in einer Pappschachtel gestapelt, doch ich spürte keine Magie. Vermutlich mussten sie erst aufgeladen werden. Ich deutete hinauf zu den Stegen. »Er kommt von dort.«

»Endlich«, murmelte Chimaera.

»Saffron, konzentrier dich auf die Abschirmung«, sagte ich. »Ilmarin und Chimaera kümmern sich um den Angriff.« Saffron nickte, sie kaute immer noch.

Von oben erklangen Schritte, und eine männliche Gestalt tauchte auf einem der Stege auf, die Schuhe klackten auf dem rostigen Metall. Er war eigentlich kaum mehr als ein Junge, zwanzig oder einundzwanzig vielleicht. Seine Kleider sahen aus, als wären sie einmal von guter Qualität gewesen, aber jetzt waren sie schmutzig und verknittert, so als hätte er darin geschlafen. Auf seinem Kopf saß eine dünne silberne Krone mit schwarzen Steinen. »Schön«, verkündete er. »Endlich stellst du dich mir.«

»Tut mir leid, dass du warten musstest«, antwortete ich. »War ein ziemlich voller Monat.«

»Hältst du mich für einen Dummkopf?«, fragte der Junge. »Denkst du, ich wüsste nichts von deinen Spionen? Ich habe sie meinem Willen gebeugt, und jetzt dienen sie mir!«

Ich seufzte. »Wir haben keine Spione geschickt, David.«

»Nenn mich nicht so!«, fauchte er. »Dieser Mensch ist tot. Ich bin jetzt …«

»Dein Name ist David Winslow, aus Hackney«, unterbrach ich ihn. »Du hast in der Sekundarstufe Adeptenfähigkeiten entwickelt, und während du an der London Met warst, hast du dich mit ein paar Adeptengruppen eingelassen. Irgendwie bist du in Kontakt mit Mordens Leuten gekommen und hast diese Krone, die du da trägst, in die Finger gekriegt. Und dann warst du nicht mehr David Winslow, sondern wurdest ihr neuester Höriger.«

»Ich bin kein Höriger. Du gleich schon.« David wischte mit dem Arm durch die Luft. »Ich lasse dich wieder aufbauen, was ihr zerstört habt. Dann wirst du mein erster neuer Diener.«

»Fragst du dich jemals, warum du das machst?«, erwiderte ich. »Warum dein gesamtes Leben sich plötzlich darum dreht, neue ›Diener‹ heranzuschaffen?« Ich deutete auf die Krone auf Davids Kopf. »Dieses Ding nennt sich Splitterkrone, und der Rat hat Aufzeichnungen, die Hunderte von Jahren zurückreichen. Jedes einzelne Mal, wenn es ihr erlaubt wird, einen neuen Träger in Besitz zu nehmen, lässt sie ihn zuerst eine Operationsbasis finden, und dann beginnt sie, Hörige einzufangen. Die Hörigen werden als Arbeitssklaven benutzt, um weitere Hörige zu fangen. Mal dauert es ein paar Wochen, mal ein paar Jahre, aber früher oder später endet es damit, dass der Träger sich in irgendeiner Feste verkriecht und versucht, eine Armee auszuheben.« Ich blickte von links nach rechts. »Na, vielleicht keine Feste, aber ich schätze, das hier war das Beste, was du auftreiben konntest. Ernsthaft, halt mal die Luft an und denk eine Sekunde nach. Vor all dem hier hast du im dritten Jahr Englische Literatur studiert. Du hast in einer WG gewohnt und hattest eine feste Freundin. Jetzt bist du ein Sklavenhalter, der in einer hässlichen, verrottenden Fabrik haust. Hast du jemals darüber nachgedacht, wie es dazu gekommen ist?«

Einen Moment lang sah ich Zweifel in Davids Blick flackern, dann wurde seine Miene ernst. »Deine Ratsmagier wollen uns nur kontrollieren. Ihr könnt den Gedanken nicht ertragen, dass jemand anders Macht hat.«

»Wie lange willst du Zeit mit diesem Typen vertrödeln?«, fragte Saffron.

»Ich fürchte, da muss ich ihr recht geben«, sagte Ilmarin. »Die Krone hat sich verbunden.«

»Ignorier mich nicht!«, schrie David und hob eine Hand.

Ich spürte Macht anschwellen, etwas, das hinab- und auf uns zurollte, uns zerdrücken und zerquetschen wollte … und versagte. Saffron starrte hinauf zum Steg, kaute weiter auf ihrem Kaugummi herum. Schwach spürte ich die Wirkung des Beherrschungszaubers, aber er erreichte uns nicht.

»Wie ich bereits sagte«, wandte ich mich wieder an David. »Wir haben Aufzeichnungen.«

David konzentrierte sich, und ich sah, wie Schweiß auf seiner Stirn perlte. Ich spürte den Zauber meinen Geist streifen und schüttelte ihn ab. Die Splitterkrone war mächtig, aber ich hatte eine ganze Menge Übung darin, mentalen Angriffen zu widerstehen, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich mit diesem Ding zurechtkäme, selbst wenn es mich mit aller Kraft angreifen würde. Und da Saffron uns abschirmte, hatte es absolut keine Chance.

»Können wir ihn einfach umbringen?«, forderte Chimaera.

»Mich umbringen?«, schrie David. »Ihr denkt, ihr könnt mich töten?«

Um uns herum erhoben sich Gegenstände in die Luft. Stöcke, Messer und Teile aus gezacktem Metall schwebten vom Boden hoch, dann rasten sie auf uns zu.

Ein kugelförmiger Schild aus Luft stieg auf. Die Bruchstücke stießen dagegen und prallten davon ab. »Okay«, sagte ich. »Das stand nicht in den Aufzeichnungen.«

»David Winslow war ursprünglich ein Luftadept, wenn du dich erinnerst«, sagte Ilmarin.

»Oh, richtig«, antwortete ich. »Dieses Ding auf seinem Kopf hat auch die Fähigkeit zu verstärken, oder?« Die Geschosse erhoben sich wieder vom Boden und warfen sich erneut gegen uns, mit ähnlichem Effekt. »Netter Schild, nebenbei bemerkt.«

»Ja, doch soweit ich es verstehe, könnte es auch einfach eine andere Art von Geistmagie sein. Es gab immer die Theorie, dass die richtige Anwendung von mentalen Zaubern ein bestehendes Talent nutzen und …«

»Ach, scheiß doch drauf«, verkündete Chimaera und hob eine Hand. Flammen schossen brüllend aufwärts.

David verschwand im Feuer, aber als der Zauber endete, tauchte er unverletzt wieder auf. Mithilfe meiner Magiersicht erkannte ich einen eng gewobenen Luftschild um ihn herum; er war nicht so stark wie Ilmarins, aber er hatte ausgereicht. »Ich werde nicht besiegt!«, schrie David. »Nicht erneut!«

»Können wir uns etwas ranhalten?«, fragte Saffron.

Chimaera schickte einen weiteren Flammenstoß zu David hinauf, mit dem gleichen Resultat wie zuvor. Die nächste Geschosssalve prallte im Gegenzug von unserem Schild ab. Luftmagie ist für gewöhnlich sehr viel besser bei der Verteidigung und dem Ausweichen als bei Angriffen; Kämpfe zwischen Luftmagiern können lange dauern. »Dieser Schild sieht aus, als würde er auch kinetische Schläge aufnehmen«, bemerkte ich, an Ilmarin gewandt.

»Tut er, oder?«, stimmte Ilmarin zu.

»Du hast meinen Weg zum letzten Mal gekreuzt!«, schrie David. »Ich nehm euch alle! Hört ihr mich? Ich werde …«

Ilmarin wirkte einen Zauber, schickte einen Hammerschlag aus gehärteter Luft, der sich um David bog und seinen Schild von hinten traf. David flog nach vorn und vom Steg, prallte in eines der gezackten Stücke einer Maschine und schlug dann mit einem dumpfen Knall auf dem Beton auf. Die Krone befreite sich, rollte über den Boden und wirbelte klappernd herum, bis sie zum Liegen kam. Dann war es still.

»Hättest du das nicht früher machen können?«, fragte Saffron.

Ich trat vor und beugte mich zu David hinab. Seine Augen waren offen und starrten ins Leere, er atmete nicht. Ich glaubte nicht, dass er hart genug aufgeschlagen war, um sich den Hals zu brechen. Wahrscheinlicher war, dass ihn der Schock getötet hatte, als die Verbindung mit der Krone getrennt worden war. Ich verspürte leichtes Bedauern, aber nicht viel. Vielleicht hatte David am Ende nicht groß eine Wahl gehabt, aber die Hörigen unter seinem Befehl hatten gar keine Wahl gehabt. »Little«, sprach ich in meinen Kommunikator. »Machen die Zivilisten Ihnen Ärger?«

»Nicht seit dreißig Sekunden«, sagte Littles Stimme in mein Ohr. »Diejenigen, die bei Bewusstsein sind, haben sich wie verrückt gewehrt und sind dann ganz plötzlich weggetreten. Jetzt starren sie nur herum.«

»Bringen Sie sie in den Van«, sagte ich. »Dann rufen Sie das Heilerkorps. Sagen Sie ihnen, dass Patienten reinkommen.«

»Verstanden.«

Ich unterbrach die Verbindung und sah Saffron an. »Die Hörigen haben aufgehört, sich zu wehren. Werden sie sich erholen?«

»Vermutlich«, sagte Saffron. Sie stupste die Krone mit dem Fuß an. »Nehmen wir die mit?«

Ilmarin trat neben sie, holte eine kleine Metallkiste hervor, die Zeitmagie verströmte, und öffnete sie. Ein Luftstrom hob die Krone vom Boden hoch und ließ sie hinab in die Kiste schweben, in die sie genau hineinpasste. Ilmarin schloss den Deckel, und ich spürte, wie sich der Zauber um die Kiste veränderte. Ganz plötzlich schien die Atmosphäre im Raum leichter zu werden, als läge nicht länger eine Last auf allem.

»Erledigt«, sagte Ilmarin.

Ich nickte. »Durchsucht die Fabrik, dann geht’s nach Hause.«

Da die Krone und ihr Träger weg waren, fühlte sich die Fabrik leer an, eine Festung ohne Besitzer. Wir fanden primitive Schlafquartiere und einen Raum, der vermutlich David gehört hatte. Anders als die Schlafräume der Hörigen gab es ein richtiges Bett, aber es war immer noch kein Zimmer, in dem ein normaler Mensch freiwillig leben würde. Offensichtlich hatte David, als er hier eingezogen war, ausreichend unter der Kontrolle der Krone gestanden, sodass sie nicht länger Zeit darauf verschwendet hatte, ihm wohnliche Annehmlichkeiten zu bieten.

»Was suchen wir?«, fragte Chimaera hinter mir.

»Andere Gegenstände, die er gesammelt haben könnte, und andere Hörige, die nicht in den Kampf verwickelt waren«, sagte ich, ohne mich umzuwenden. Und damit ich ein paar Minuten mit dir allein habe. Chimaera schien nicht bemerkt zu haben, dass ich es so arrangiert hatte, dass wir beide hier oben sein würden, außer Hörweite von Saffron und Ilmarin. Er war wirklich noch jung.

»Hier ist nichts«, murmelte er und sah zu dem verfallenen Schreibtisch, den dreckigen Bettlaken. »Wer würde an so einem Ort leben wollen?«

»Barrayar hätte das bei der Einsatzbesprechung erwähnen sollen.«

Ich spürte, wie Chimaera mir einen Blick zuwarf, plötzlich auf der Hut. »Was?«

»Ziel der Krone ist es, Macht und Hörige zu sammeln. Der Komfort ihres Trägers ist keine Priorität. Wie ich schon sagte, das stand in den Besprechungsunterlagen.«

»Captain Rain hat das Briefing durchgeführt.«

»Ah ja?«, sagte ich. »Ich dachte, Magier Barrayar hat dich für diesen Auftrag empfohlen.«

Ich spürte mehr, als dass ich sah, wie Chimaera einen Augenblick zögerte und die Zukünfte sich regten, während er entschied, was er sagen sollte. »Nein.«

»Mein Fehler.« Ich nickte zum Schreibtisch. »Siehst du die Karte da?«

»Welche Karte?«

Ich zeigte darauf. An der Wand über dem Schreibtisch waren mehrere Stücke Papier an den Putz getackert. »Die Straßenkarte.«

»Und?«

»Du schaust nicht einmal hin.«

»Okay, ich sehe sie. Was ist damit?«

»Erkennst du den schwarzen Kreis, der die Fabrik markiert?«

Chimaera wandte den Kopf, um die Karte anzusehen, offensichtlich verärgert. »Ja, ich …«

Das Messer schoss aufblitzend an Chimaeras Gesicht vorbei und grub sich mit einem dumpfen Aufprall in die Wand. Chimaera sprang mit einem Aufschrei zurück, stolperte und ging zu Boden.

Ich senkte die Hand, sah auf Chimaera hinab. »Für wie dämlich hältst du mich eigentlich?«

Chimaera rappelte sich auf, und ein Flammenschild zuckte um ihn herum auf. »Jetzt beschwörst du einen Schild?«, fragte ich trocken. »Du bist nicht besonders gut darin. Und bemüh dich nicht mit dem Feuerstoß.«

»Ach ja?«, entgegnete Chimaera. Er war in Kampfhaltung, die Augen schmal und der Blick entschlossen. »Lass mal sehen, ob diese Rüstung gegen einen echten Zauber taugt.«

»Ilmarin lauscht dieser Unterhaltung die ganze Zeit«, sagte ich ruhig zu Chimaera. »Wenn du zum Tode verurteilt werden willst, dann mach weiter und schieß.«

Chimaera zögerte, und die Zukünfte voller Gewalt zersplitterten. Direkte Drohungen hätten ihn nicht abgeschreckt, aber die Aussicht darauf, dabei ertappt zu werden, wie er ein Ratsmitglied angriff, schon. »Das diente nur dazu, deine Aufmerksamkeit zu bekommen«, sagte ich. »Hätte ich dich tot sehen wollen, dann hätte ich dir das Messer ins Auge geschleudert.« Tatsächlich hätte ich ihn einfach erschossen – Messer werfen ist eine schrecklich ineffiziente Art, um jemanden zu töten –, aber ich sah keinen Grund, mich mit Details aufzuhalten. »Und jetzt lass uns darüber reden, was wirklich zwischen dir und Barrayar lief.«

»Was meinst du?«

»Denkst du, ich weiß nichts von dem Kopfgeld?«, fragte ich. »Wer immer mich loswird, kann zu Levistus gehen und seine Belohnung einfordern. Ich schätze, Barrayar hat was in Aussicht gestellt.« Ich musterte Chimaera, neigte den Kopf. »Er hätte etwas politisch Motiviertes anbieten können, eine Juniorreferentenstelle, aber das wäre für jemanden, der so jung ist, nicht passend. Vermutlich hat er von einer Beförderung gesprochen, oder? Ich schätze, er wollte dafür sorgen, dass du nur ein oder zwei Jahre als Gesellenwächter hast statt fünf bis zehn.«

Ich sah, wie Chimaeras Blick flackerte. Er war wirklich nicht gut in solchen Dingen, aber so ist es nun mal, wenn man Kinder auf so etwas ansetzt. »Du hättest sie nicht bekommen, nebenbei bemerkt«, fügte ich hinzu. »Eine diskrete Ermordung ist eine Sache, aber auf frischer Tat ertappt zu werden? Levistus würde nicht zulassen, dass man ihn mit so etwas Ungeschicktem in Verbindung brächte. Natürlich hätten sie auch nicht verhindert, dass du zum Tode verurteilt würdest – zu groß wäre die Möglichkeit, dass du dich gegen sie wendest. Irgendeine Form der Bewährungsstrafe oder Probezeit, denke ich. Ausreichend, damit du beim nächsten Mal, wenn sie um einen Gefallen bitten, keine Wahl hättest.«

Chimaera zögerte, aber in den Zukünften lag jetzt keine Gewalt mehr. Und doch lohnte es sich sicherzugehen, dass die Lektion angekommen war. »Jemals von einem Adepten namens Talis gehört?«, fragte ich.

Chimaera runzelte die Stirn.

Ich nickte. »Gibt auch keinen Grund. Todesmagieadept, ein Lebenstrinker. Illegal unter der Konkordia, klar, aber er und gewisse Ratsmitglieder hatten eine Vereinbarung, könnte man sagen. Sie drückten ein Auge zu bei seinen Aktivitäten, und im Gegenzug verschwand jemand, der für den Rat unbequem war. Vor ein paar Monaten hatte er auch eine Unterhaltung mit Barrayar. Ich nehme an, sie lief in etwa so wie deine.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Mit dir? Gar nichts.« Ich schwieg kurz. »Talis tauchte bei dieser Party von Levistus vor zwei Monaten auf. Oder wenigstens Teile von ihm.«

Chimaera begriff nicht, wenigstens nicht gleich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er es verstand, dann weiteten sich seine Augen, und er versteifte sich. »Warte, das war …?«

»Talis war sehr erfahren in seiner Arbeit«, sagte ich. Ich wandte den Blick nicht von Chimaera. »Wenn du also das nächste Mal darüber nachdenkst, mir in den Rücken zu fallen wie auf dem Dach, dann erinnere dich einfach dran, was dem Letzten zugestoßen ist, der das probiert hat.«

»Ich habe nichts getan.«

Ich beugte mich ein wenig vor und sah, wie Chimaera zurückzuckte. »Deshalb«, sagte ich leise und deutlich, »lebst du noch.«

»Lief die Unterhaltung gut?«, fragte Ilmarin.

Ich warf ihm einen Blick zu. Wir standen draußen auf der Straße vor der Fabrik, während einige Sicherheitsleute die Hörigen in Vans luden. Die meisten wirkten benommen, ein paar weinten. Sie hatten ihre Kopfbedeckungen noch nicht abgenommen – das würde unter kontrollierten Bedingungen geschehen. »Welche?«

Ilmarin nickte zu Chimaera hinüber. Der junge Wächter sah nicht zu uns. Tatsächlich hatte er sehr darauf geachtet, nicht in meine Richtung zu blicken, seit wir zu den anderen gestoßen waren. »Mit deinem jungen Freund.«

»Also hast du zugehört.«

»Es scheint klug zu sein«, sagte Ilmarin. »Ich hoffe, du hattest nicht wirklich vor, ihn zu töten.«

»Nein, aber es wird ihm nicht schaden, es zu glauben.« Ich warf Ilmarin einen Seitenblick zu. »Was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Levistus’ Angebot ist offen, soweit ich weiß«, sagte ich. »Warst du nicht interessiert?«

»Einen Mord zu begehen im Tausch gegen Gefallen von unserem angesehenen Ratsmitglied?«, fragte Ilmarin trocken. »Nein, ich war nicht interessiert. Irgendwie bezweifle ich, dass die Belohnung den Preis wert wäre. Außerdem, nicht alle von uns sehen wohlwollend auf die Versuche des Rats, Wächter einzusetzen, um ihre politischen Gegner auszuschalten.« Ilmarin sah mich an, neigte den Kopf. »Da wir wohl gerade Vertraulichkeiten austauschen – hast du die Wahrheit über diesen Adepten gesagt?«

»Du meinst Talis?«

»Ich dachte mehr an das, was danach geschah.« Ilmarin lehnte sich gegen einen Van, sein Blick ruhte auf mir. »Besonders den Zwischenfall auf Levistus’ Party.«

»Oh, diese Party.«

»Levistus hatte ein paar Besucher aus Washington eingeladen. Er hoffte wohl, einen guten Eindruck zu machen. Ich weiß immer noch nicht, wie dieses Päckchen mitten während der Vorspeisen an ihn ausgeliefert wurde. Man sollte meinen, er wäre klug genug, so etwas nicht zu öffnen, aber sie suchten wohl nur nach Waffen, statt nach … anderen Dingen.«

»Ich erinnere mich daran, etwas gehört zu haben, jetzt wo du es erwähnst«, sagte ich. »Hoffe, es hat ihnen nicht den Appetit verdorben.«

»Ich nehme stark an, dass es das hat.« Ilmarin schwieg kurz. »Und?«

»Und?«, fragte ich. »Oh, ja, Talis. Nun, ich habe ihn nicht getötet, wenn du das meinst. Und wenn, würde ich seinen abgetrennten Kopf gewiss nicht während Drinks und Häppchen an Levistus liefern lassen. Das wäre falsch. Nicht zu erwähnen sehr zeitaufwendig, das zu arrangieren.«

»Ich verstehe«, sagte Ilmarin. Er stand da und sah mich einen Moment lang an. »Weißt du, du hast dich ziemlich verändert, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

»Ich schätze, ja«, sagte ich. Aus einem der anderen Vans gab mir Little ein Signal. »Entschuldige mich kurz.«

»Ärger«, sagte Little leise, als ich mich ihm näherte.

»Die Hörigen?«, erkundigte ich mich. Die Letzten wurden gerade in die Vans gebracht. »Sind uns welche entgangen?«

Little schüttelte den Kopf. »Hat nichts damit zu tun. Ich habe nur einen Anruf vom Einsatzkoordinator erhalten. Er hatte eine Nachfrage von der Zentrale. Sollte eine Routinekontrolle sein, aber der Typ schien wirklich interessiert, ob Sie draußen sind. Nachdem er das rausgefunden hatte, hat er aufgelegt.«

Ich runzelte die Stirn. Es ist nie gut, wenn Leute sich plötzlich für einen interessieren. Er könnte in Erfahrung bringen wollen, was mit Chimaera war, aber ich wusste nicht, welchen Sinn das ergeben sollte. Soweit es Barrayar betraf, würde Chimaera mich entweder töten oder nicht. Kein Grund, sich darum zu scheren, wo ich war.

Aber was, wenn das ein Back-up-Plan war? Wenn es das eigentliche Ziel gewesen war, mich zu beschäftigen, dann war es egal, ob Chimaera Erfolg hatte oder versagte …

Ein gemeiner Verdacht kam mir in den Sinn. »Ich muss los«, sagte ich zu Little. »Können Sie das hier erledigen?«

Little nickte. »Wir übernehmen.«

2

Zwei Minuten Arbeit bestätigten meinen Verdacht. Ich machte rasch einen Abstecher, um einen Gegenstand zu holen, dann portete ich zu den War Rooms.

Die War Rooms sind Sitz des Weißmagierrats und politisches Hauptmachtzentrum der magischen Gesellschaft Britanniens. Sie bestehen aus einem weitläufigen Tunnel- und Höhlennetzwerk, das sich unter Zentrallondon verbirgt. Es beherbergt nicht nur den Weißmagierrat, sondern auch die ausgedehnte Bürokratie, die Ratsentscheidungen ausführt. Bis vor ein paar Jahren hatte ich die War Rooms noch nie gesehen und wäre an der Tür abgewiesen worden. Jetzt verbringe ich die meisten Tage hier.

Beim Hineingehen nickte ich den diensthabenden Wachen zu. Ich beeilte mich nicht – ich hatte genug Zeit, und wenn ich rannte, würde ich die falsche Botschaft senden –, aber ich schlenderte auch nicht gerade. Trotzdem fing ich die Stimmung ein, während ich durch die Tunnel ging. Früher einmal hätten Magier, Adepten und Beamte mich angestarrt, wenn ich vorbeilief, heute bekam ich kaum einen zweiten Blick. Zum Teil lag es an der Gewöhnung, vorwiegend aber daran, dass der Rat gerade größere Probleme hatte.

Im Oktober letzten Jahres hatte Morden mich und ein Team Schwarzmagier losgeschickt, den Tresor zu plündern – die Hochsicherheitsschatzkammer. Der Rat war verärgert gewesen, weshalb ich aktuell Mordens Platz im Juniorrat einnahm, während Morden selbst in einer Zelle unter Anklage des Hochverrats saß. Doch trotz der persönlichen Konsequenzen für Morden war der Überfall ein Erfolg gewesen, und als das Bereitschaftsteam des Rats die Anlage wieder kontrollierte, waren die Schwarzmagier verschwunden, zusammen mit dem gesamten Bestand durchwobener Gegenstände aus dem Tresor.

Magische Gegenstände kann man in drei Kategorien unterteilen – die zur einmaligen Nutzung stehen ganz unten, Fokusse in der Mitte und durchwobene Gegenstände oben –, und obwohl das stimmt, ist es nicht das Wesentliche. Durchwobene Gegenstände sind nicht nur Objekte, sie sind lebendig und haben so viel gemein mit einem Einmalwerkzeug oder einem Fokus wie man selbst mit seinem Handy. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es sehr schwer ist, Neulingen in der magischen Welt begreiflich zu machen, wie gefährlich durchwobene Gegenstände sind. Sie begreifen, dass diese Gegenstände mächtig sind, aber sie denken, sie seien auf die gleiche Art mächtig wie eine Pistole oder ein Computer: ein Werkzeug, bei dem man nur die richtigen Knöpfe drücken muss. In Wahrheit ist das Tragen eines durchwobenen Gegenstands eher, als würde man ein großes und nicht vollständig gezähmtes Tier reiten. Es kann sich dafür entscheiden, das zu tun, was man ihm sagt, oder auch nicht, und wenn Letzteres der Fall ist, stehen die Chancen gut, dass es beschließt, selbst das Sagen zu haben. Ein paar Monate später lebt man dann in einem Lagerhaus in Deptford, entführt Menschen von der Straße, um sie in geisteskontrollierte Sklaven zu verwandeln, und glaubt, die ganze Sache wäre eine eigene Idee gewesen.

Es wäre übel genug, wären die befreiten durchwobenen Gegenstände eine zufällig zusammengewürfelte Sammlung gewesen, aber das waren sie nicht. Trotz ihrer Nachteile hauen durchwobene Gegenstände ganz schön rein, und obwohl der Rat bürokratisch handelt, lässt er keine Ressourcen verkommen. War ein durchwobener Gegenstand seiner Ansicht nach also am besten aufgehoben, indem er Staub im Tresor ansetzte … na ja, dann sollte einem das etwas sagen. Laut dem Rat hatte Mordens Team einhundertsiebenundzwanzig Gegenstände entwendet, und ich nahm an, die echte Zahl lag noch etwas höher. Das war acht Monate her. Seither hatten wir achtunddreißig wiedergefunden. Mit der Splitterkrone waren es neununddreißig.

Dass über hundert der gefährlichsten durchwobenen Gegenstände des Landes zugleich verschwunden waren, hatte ein totales Chaos angerichtet. Die meisten waren nicht wieder aufgetaucht – vermutlich weil die Schwarzmagier sie in sicherer Verwahrung hielten –, aber zu viele waren eben doch wieder aufgetaucht: nämlich diejenigen, deren Zerstörungskraft am größten war, die am meisten Kontrolle ausübten und ganz einfach die übelsten Gegenstände aus der ganzen Sammlung waren. Langsam glaubte ich, Richard oder Morden hatten absichtlich die gefährlichsten Gegenstände in die Hände von Menschen fallen lassen, die sie missbrauchen würden. Die Splitterkrone war bei Weitem nicht der schlimmste. Seit Jahresanfang hatten sich die Opferzahlen unter Normalen, die magisch verletzt oder getötet worden waren, verdreifacht. Für den Moment konnte die Polizei das Schlimmste vertuschen (vor allem, indem sie Verletzungen »Unfälle« und Tote »Vermisste« nannte), aber ich wusste, dass die Direktoren fürchteten, die Öffentlichkeit könnte es erfahren, wenn es noch lange so weiterging. Es kamen auch nicht nur Normale zu Schaden – die Opferzahlen bei der Ratssicherheit waren durch die Decke gegangen, und sie hatten in den letzten sechs Monaten so viele neue Rekruten annehmen müssen wie sonst in drei Jahren. Das schloss nicht die Aktivitäten der Schwarzmagier mit ein, die wussten, was sie mit ihren neuen Gegenständen anfingen, oder die laufenden Probleme mit der Adeptengemeinschaft.

Alles in allem befand sich der Rat seit Herbst in mehr oder weniger dauerhaftem Krisenzustand, ohne ein Zeichen, dass sich alles bald beruhigen würde. Weshalb die Adepten und Magier, an denen ich in den Fluren vorbeilief, mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, statt mich anzustarren. Vor ein paar Jahren hätte ich das vielleicht zu schätzen gewusst, aber seither hatte ich genug gelernt, um zu wissen, dass wenigstens in diesem Fall die Probleme des Rats die Probleme aller waren, und wenn es im Augenblick noch nicht so weit war, dann würde es mit Sicherheit darauf hinauslaufen.

Natürlich hielt das gewisse Ratsmitglieder nicht davon ab, ihr Bestes zu geben, um mich loszuwerden. Manches ändert sich wohl nie.

Ich durchquerte den Glockenturm und betrat eines der Vorzimmer, das zum Star Chamber führt. Gut ein halbes Dutzend Magier war im Raum verteilt; sie unterhielten sich in den Nischen, und anders als diejenigen, an denen ich auf dem Weg hierher vorbeigekommen war, wandten sie sich um und starrten. Es waren die Referenten der Ratsmitglieder, die sich im Zimmer dahinter trafen, und hätte ich es nicht schon gewusst, wären ihre Reaktionen ein guter Hinweis darauf gewesen, dass man mich nicht erwartet hatte. Man kann die Anzahl der Ratsmitglieder bei einem Treffen anhand der Anzahl der Referenten draußen ganz gut erraten: Heute waren es acht, was hieß, dass der größte Teil der Junior- und Seniorratsmitglieder anwesend war, aber nicht alle.

Den Flur dahinter beherrschten die beiden gewaltigen, zweieinhalb Meter großen, sechsgliedrigen Golems zu beiden Seiten der Tür an seinem Ende. Es waren Gythka, die Leibwachen des Weißmagierrats, und ihre goldenen Augen beobachteten mich ausdruckslos. Ein Mann stand zwischen ihnen, der hiesige Ordnungshüter, und er wirkte nicht glücklich darüber, mich zu sehen.

»Guten Abend, James«, sagte ich. »Du hast die Spätschicht, wie ich sehe.«

James blickte unbehaglich drein. »Oh, ja. Ratsmitglied Verus, ich denke nicht …«

»Dass ich hier willkommen bin? Lass mich raten, ein gewisser Jemand hat angedeutet, dass man lieber nicht von Gästen gestört werden möchte, von mir im Besonderen.«

»Das ist nicht … ich meine, könnten Sie …?«

»Nein, ich fürchte, das kann ich nicht.« Ich blieb vor James stehen. »Das ist ein Treffen des Junior- und des Seniorrats, oder? Nicht nur des Seniorrats?«

»Ja …«

»Dann verlange und fordere ich als Mitglied des Juniorrats Zugang.« Ich nickte zu den Mantisgolems. »Du bemerkst, dass sie sich nicht rühren, um mich aufzuhalten? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du weißt, was das bedeutet.«

James sah aus, als wünschte er sich an jeden anderen Ort, und ich wusste, warum. Auf welche Seite er sich auch stellte, ihm war klar, dass er in einen Streit zwischen Ratsmagiern geraten würde. »Es ist nicht deine Entscheidung«, sagte ich. »Und jetzt erledige deine Pflicht und öffne diese Tür.«

James schloss die Holztür auf und trat beiseite. Er kündigte mich nicht an, und ich nahm es ihm nicht übel. Ich ging hinein, hörte die Tür hinter mir zuschlagen.

Sind die War Rooms das Machtzentrum des Weißmagierrats, dann ist das Star Chamber dessen Herz. Es ist nach einem alten Gerichtssaal aus der englischen Geschichte benannt, der berühmt war für enorme Macht und einen Mangel an Zurechnungsfähigkeit. Vielleicht kannten die Weißmagier, die den Namen gewählt hatten, die Assoziationen nicht … oder vielleicht doch. In diesem Raum hatten Generationen von Weißmagiern gesessen und geherrscht, hatten Erlasse erteilt, die das Leben jedes Magiers auf den Britischen Inseln und darüber hinaus betrafen. Ich hatte nie geglaubt, dass ich je einer von ihnen sein würde.

Für so einen wichtigen Raum wirkt das Star Chamber ziemlich gewöhnlich. Fenster an einer Seite zeigen eine Scheinlandschaft aus Feldern und Himmel, und ein Fresko aus Sternenkonstellationen ist in die Decke eingelassen. Das Zimmer wird von einem langen Mahagonitisch mit bequemen Stühlen beherrscht. Im Augenblick waren elf dieser Stühle besetzt, einer vom Sekretär, vier von Mitgliedern des Juniorrats und die verbleibenden sechs von Mitgliedern des Seniorrats – wahlberechtigte Mitglieder des Weißmagierrats und damit die mächtigsten Magier Britanniens.

»Was macht er hier?«, blaffte Sal Sarque. Er war dunkelhäutig und dunkeläugig, sein graues Haar kurz genug geschoren, um eine alte Narbe zu enthüllen, die über seinen Schädel verlief. Sein normaler Gesichtsausdruck war finster, und jetzt blickte er auch finster drein, starrte mich unter gesenkten Augenbrauen an.

»Entschuldigt die Verspätung«, sagte ich freundlich und durchquerte den Raum. »Es scheint, dass ich versehentlich nicht über das Treffen in Kenntnis gesetzt wurde.« Ich zog einen Stuhl hervor und setzte mich neben ein anderes Juniorratsmitglied, spürte, wie die Frau ein wenig von mir abrückte. »Lasst euch nicht stören.«

»Du wurdest nicht informiert, weil du nicht eingeladen bist«, sagte Sal Sarque und betonte jedes Wort einzeln.

Ich lehnte mich zurück, begegnete seinem Blick. »Scheint mir, als wäre das, was ihr hier diskutiert, ziemlich relevant für meine Interessen.«

Sal Sarque und ich waren einander von Anfang an in die Quere gekommen. Er war der Anführer der Kreuzritter, die militanteste Fraktion innerhalb des Rats. Sie hassten Schwarzmagier im Allgemeinen und Morden im Besonderen, und da ich von einem Schwarzmagier ausgebildet und von Morden ernannt worden war, sah es nicht danach aus, als würden wir jemals miteinander klarkommen. Die Ereignisse im letzten Herbst hatten die Situation nur verschlimmert.

»Ich würde dem zustimmen«, sagte ein zweiter Mann. Mit dem silbernen Haar und faltigen Gesicht fehlt Bahamus nur ein Bart, um so auszusehen, wie man sich gemeinhin einen Zauberer vorstellt. Er spricht gemessen, und ich habe nie erlebt, dass er die Beherrschung verliert. Er ist einem Verbündeten im Seniorrat am nächsten, obwohl ich aufpasse, das nicht übermäßig zu strapazieren. »Ratsmitglied Verus ist sichtlich ein Beteiligter. Ich würde gern die Gründe für dieses … Versehen bezüglich seiner Benachrichtigung erfahren.«

Ein paar Magier warfen dem Mann am Ende des Tischs Blicke zu, aber Sal Sarque antwortete: »Mir ist es egal, wer ihn nicht informiert hat. Er sollte nicht hier sein.«

»Ich fürchte, ich muss mich Sarque anschließen«, sagte die Frau, die ihm gegenübersaß. Ihr Name war Alma, und nach Levistus ist sie vermutlich das Ratsmitglied, bei dem ich am vorsichtigsten bin. Sie hat braun-graues Haar, das ihr über die Schultern fällt, und Gesichtszüge, die durchaus attraktiv sein könnten, es aber dank einer gewissen Härte in ihrem Blick nicht sind. »Verus’ Tauglichkeit für einen Sitz in diesem Rat ist genau das fragliche Thema. Bis dies geklärt ist, halte ich es für angemessen, dass er draußen bleibt.«

Der Mann rechts von Alma stieß ein schnaubendes Lachen aus. Er war groß in jeglicher Hinsicht, mit dichtem Bart, muskelbepackt, beinahe fett, und sein Name war Druss. »Fragliches Thema?«, erwiderte er. »Du meinst, er«, Druss nickte zu dem Mann am Ende des Tischs, »versucht immer noch, Verus loszuwerden, und du tust, nur Gott weiß, warum, was er dir sagt.«

»Angesichts der Sicherheitsbedenken …«

»Bullshit.«

»Trotzdem«, sagte Bahamus, »ist Ratsmitglied Verus immer noch ein Mitglied dieses Rats, und als solches hat er das Recht, anwesend zu sein. Es sei denn, jemand hat eine andere Interpretation des Gesetzes?«

Es herrschte Stille. Zukünfte flackerten auf, in denen mehrere Ratsmitglieder sich zu Wort meldeten, aber dann verblassten sie. »Gut«, knurrte Sal Sarque. »Lasst uns fortfahren.« Er nickte Alma zu.

»Wie ich bereits sagte«, verkündete Alma und wandte sich dem Rest des Seniorrats zu, »denke ich, man kann rückblickend mit Sicherheit sagen, dass es ein Fehler war, Morden in den Rat zu erheben. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Fehler auszumerzen. Trotz unserer gewöhnlichen Zurückhaltung, wenn es darum geht, eine bestehende Lösung umzuwerfen, glaube ich, dass die Entscheidung, einen Juniorratssitz an einen Schwarzmagier zu geben, sich als unklug erwiesen hat.«

»Morden ist noch nicht für schuldig befunden worden«, sagte Bahamus.

»Oh, komm schon«, erwiderte Sal Sarque wütend. »Machst du Witze?«

»Du weißt ganz genau, dass ich kein Freund von Morden bin«, sagte Bahamus ruhig. »Jedoch wurde er gegenwärtig eines Verbrechens angeklagt und nicht verurteilt. Bis sich das ändert, können und sollten wir sein Amt nicht neu vergeben.«

»Wir alle haben den Beweis gegen Morden gesehen«, sagte Alma zu Bahamus. »Seine Verurteilung ist eine reine Formalität.«

»Vielleicht«, sagte Bahamus. »Jedoch soll der Gerechtigkeit nicht nur Genüge getan werden, man muss auch sehen, dass genau das geschieht. Wenn wir diesen Schritt vor seiner Verurteilung unternehmen, wird es deutlich signalisieren, dass wir nicht vorhaben, der Entscheidung des Gerichts zu folgen.« Bahamus neigte den Kopf. »Zudem … ist der Beweis derart überwältigend – was ich nicht bestreite –, warum dann die Eile? Morden ist bereits seines Amtes enthoben.«

»Hm«, machte Druss. »Kein großes Mysterium. Es geht darum, dass er«, er nickte zum Tischende, »ihn loswerden kann.« Bei diesen Worten richtete er den Blick auf mich. »Es geht nicht um Morden.«

»Und?«, wollte Sarque wissen. »Ich nenne es ›deine Fehler berichtigen‹. Ich sagte dir, dass Morden keine gute Idee ist, und du hast nicht zugehört. Jetzt willst du seinen Lehrling behalten, damit er da weitermacht, wo Morden aufgehört hat?«

»Kümmert es dich überhaupt, was gerade vor sich geht?«, fragte Druss. »Hundert durchwobene Gegenstände zerstören dieses Land, und du willst eine Säuberung durchführen?«

»Er ist der Grund, aus dem diese Gegenstände das Land zerstören!«, blaffte Sarque und deutete auf mich. »Er hat geholfen, sie zu stehlen!«

»Ratsmitglied Verus’ Anwesenheit im Tresor war von uns autorisiert«, erwiderte Bahamus ruhig. »Wie du wissen solltest, da du ja da warst. Du solltest auch noch wissen, wie Ratsmitglied Verus uns mehrfach warnte, dass unsere Verteidigung der War Rooms eine Falschpositionierung unserer Einsatzkräfte sei. Bedenkt man, dass unser Aufklärungsteam außerordentlich darin versagt hat, den Diebstahl zu verhindern, – ein Team, für das du persönlich die Verantwortung getragen hast – finde ich nicht, dass du in der Position bist, Vorwürfe zu machen.«

Sal Sarque starrte mich über den Tisch hinweg böse an, und ich begegnete seinem Blick ruhig. Besagtes »Aufklärungsteam« war von einem Magier namens Jarnaff angeführt worden, Sal Sarques persönlichem Referenten. Offiziell waren sie dort gewesen, um den Tresor vor dem feindlichen Angriff zu sichern und gestohlene Gegenstände zurückzuholen. Inoffiziell hatte Jarnaff, als wir einander begegnet waren, beschlossen, bei seinem Boss ein paar Bonuspunkte zu sammeln, indem er mich beseitigte, und genau das wäre ihm auch gelungen, wenn ihn dieses Schicksal nicht zuerst ereilt hätte.

Die Ironie daran war, dass man mir etwas vorwarf, was ich gar nicht getan hatte. Ich hatte Jarnaff nicht getötet. Doch Sarque würde mir das nicht glauben, wenn ich es ihm sagte, und eingedenk dessen, was ich wirklich getan hatte, war es keine Option, die Hosen runterzulassen. Das Problem aus Sal Sarques Sicht war, dass er mich zwar enttarnen konnte, doch nicht, ohne die Tatsache zu enthüllen, dass sein Aufklärungsteam zuerst das Gesetz gebrochen hatte, und er hatte mehr zu verlieren als ich. Also saß er einfach da und starrte mich mit stummer Wut an.

»Mir scheint«, sagte Bahamus, »dass wir das Problem diskutieren, ohne den anzuhören, den es am direktesten betrifft.«

»Weil es nicht seine Entscheidung ist«, warf Alma ein.

»Dessen ungeachtet habe ich das Gefühl, dass sein Beitrag nützlich sein könnte«, sagte Bahamus. »Ratsmitglied Verus?«

Alle wandten sich mir zu. Ich schwieg kurz, erwiderte ihre Blicke. Manche wirkten feindselig, die meisten neutral. Keiner war freundlich. Ich wusste, dass es zwecklos wäre zu argumentieren. Debatten im Rat ändern selten eine Wahl: Die Stimmen werden gekauft und verkauft, bevor das Treffen stattfindet, und im Großen und Ganzen bringt niemand einen Antrag vor, solange er nicht weiß, dass er ihn durchsetzt. Aber es war eine Chance, den Rest des Rats zum Zuhören zu bewegen, und das geschieht nicht oft. Außerdem hatte ich immer noch eine Karte auf der Hand. Ich musste nur ein bisschen Vorarbeit leisten.

»Lasst mich allen Mitgliedern des Rats eine Frage stellen«, sagte ich. »Seit dem Angriff auf den Tresor spüren wir durchwobene Gegenstände auf und schicken Teams raus, um sie wiederzubeschaffen. Wie viele dieser Missionen hat jeder von euch angeführt?«

»Ich sehe nicht, wieso das relevant ist«, sagte Alma kalt.

»Es ist eine einfache Frage.«

»Es ist gleich, wer die Missionen anführt«, sagte Sal Sarque ein wenig zu rasch. »Was wichtig ist …«

»Soweit ich weiß, ist die Zahl drei«, sagte ich. »Die alle von Druss angeführt wurden.« Ich sah Sal Sarque an. »Obwohl du es vielleicht besser weißt? Mir ist klar, dass dein besonderes Interesse der Jagd auf Schwarzmagier gilt.«

Sal Sarque wurde rot. »Ich bin ein Ratsmitglied«, blaffte er. »Kein … Abenteurer.«

»Dem muss ich zustimmen«, sagte Alma. »Verus, dein Enthusiasmus mag ja vorbildlich sein, aber wir im Rat sind Anführer, keine Soldaten. Vielleicht zeigt sich da dein Mangel an Erfahrung. Unsere Aufgabe ist es, Befehle zu geben; die der Wächter ist es, diese Befehle auszuführen.«

»Ich glaube, du missverstehst mich«, sagte ich. »Ich habe nicht deinen Mut verleumdet.« Ich sah Sal Sarque nicht an, aber ich hielt eine Sekunde inne, bevor ich fortfuhr. »Stattdessen würde ich gerne darlegen, dass ich seit Beginn des Jahres zehn Wiederbeschaffungsmissionen geleitet habe. Neun waren erfolgreich. Das bedeutet, ich bin, einschließlich heute, verantwortlich dafür, dass etwas mehr als fünfundzwanzig Prozent der durchwobenen Gegenstände wiederbeschafft wurden.«

»Du musst nicht im Rat sitzen, um rumzurennen und verlorene Gegenstände zu jagen«, sagte Alma. »Vielleicht würde eine Position bei den Wächtern besser zu deinem Temperament passen.«

»Ich würde dagegenhalten, dass man eine Situation nicht wirklich versteht, bis man sie von Grund auf selbst erlebt hat«, sagte ich. »Aber noch mal, das ist nicht der Punkt. Mein Punkt ist, dass ihr von allen Ratsangehörigen denjenigen entfernen wollt, der am meisten dazu beiträgt, die Krise zu bewältigen. Und wie ihr sagt, ich mag unerfahren sein, aber für mich deutet das eher darauf hin, dass die Bewältigung der aktuellen Krise tatsächlich nicht eure höchste Priorität ist.«

»Der Antrag betrifft Morden, nicht dich«, sagte Alma glatt. »Wir treffen kein Urteil darüber, wie qualifiziert du für die Position sein magst.«

Bitch, dachte ich. Sie log nach Strich und Faden, aber ich konnte es ihr nicht nachweisen. »Seit Monaten hören wir ständig Berichte darüber, wie schlimm es da draußen ist«, sagte ich und sah den Rest des Rats an. »Die Vermisstenzahlen sind auf dem Höchststand, Opferraten bei den Wächtern und dem Sicherheitspersonal sind gewaltig, und der Mantelorden ist bis zum Zerreißen angespannt, weil er versucht, das zu decken. Auf die Gefahr hin, naiv zu klingen, kommt mir das doch wie der schlechteste Zeitpunkt vor, ein Ratsmitglied loszuwerden, das in die Wiederbeschaffungsbemühungen am meisten involviert ist. Besonders, da es sowieso geschehen wird. Meines Wissens hat keiner von euch den geringsten Zweifel, dass Morden verurteilt werden wird. Warum also die Eile?«

Am Tisch war es still, und als ich mich umsah, wusste ich, dass ich niemandes Meinung geändert hatte. Morden hatte mir einmal gesagt, dass Ratstreffen größtenteils darin bestünden, herumzusitzen und Berichte anzuhören, und dass alle echten Entscheidungen außerhalb getroffen wurden. Seit ich seinen Platz einnahm, hatte ich festgestellt, dass er recht gehabt hatte.

Aber deshalb war ich auch vorbereitet. Ich griff in meine Tasche und zog etwas heraus.

»Genug Zeitverschwendung«, sagte Sal Sarque. »Lasst uns abstimmen.«

Alma nickte. »Ich stimme für den Antrag.«

»Ich auch«, sagte Sal Sarque. »Hätten das vor Monaten machen sollen.«

»Was – jeden loswerden, gegen den Levistus einen Groll hegt?«, fragte Druss. »Ich sage Nein.«

»Ich schließe mich dem an, aber aus anderen Gründen«, sagte Bahamus. »Noch mal, das sendet eine völlig falsche Botschaft. Es wird unsere politische Glaubwürdigkeit schädigen. Ich stimme auch für Nein.«