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Wann wird der Gejagte zum Jäger? Der 11. Band der SPIEGEL-Bestsellerserie um Hellseher Alex Verus.
Der Hellseher Alex Verus wird vom Weißen Rat der Magier gejagt. Offiziell, weil er sich mit Schwarzmagiern verbündet haben soll. Doch Alex weiß, dass sein Erzfeind Levistus die treibende Kraft hinter dieser Hexenjagd ist. Jeder Versuch des Hellsehers, wenigstens einen Waffenstillstand auszuhandeln, wird abgelehnt. Selbst wenn er nicht in die Zukunft blicken könnte, wäre Alex klar, dass es nur eine Chance auf Frieden für ihn gibt: Der Gejagte muss zum Jäger werden – und Levistus muss sterben!
Die SPIEGEL-Bestsellerserie von Benedict Jacka! Steigen Sie ein in die Urban-Fantasy-Serie mit »Das Labyrinth von London« und folgen Sie der packenden Story des Hellsehers Alex Verus.
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Buch
Der Hellseher Alex Verus wird vom Weißen Rat der Magier gejagt. Offiziell, weil er sich mit Schwarzmagiern verbündet haben soll. Doch Alex weiß, dass sein Erzfeind Levistus die treibende Kraft hinter dieser Hexenjagd ist. Jeder Versuch des Hellsehers, wenigstens einen Waffenstillstand auszuhandeln, wird abgelehnt. Selbst wenn er nicht in die Zukunft blicken könnte, wäre Alex klar, dass es nur eine Chance auf Frieden für ihn gibt: Der Gejagte muss zum Jäger werden – und Levistus muss sterben!
Autor
Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.
Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:1. Das Labyrinth von London2. Das Ritual von London3. Der Magier von London4. Der Wächter von London5. Der Meister von London6. Das Rätsel von London7. Die Mörder von London8. Der Gefangene von London9. Der Geist von London10. Die Verdammten von London11. Der Jäger von London
Weitere Bände in Vorbereitung.
Deutsch von Michelle Gyo
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Forged (Alex Verus 11)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright der Originalausgabe © 2019 by Benedict Jacka
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de
Karte: © Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29073-3V001
www.blanvalet.de
Der Berg hatte keinen Namen. Er befand sich tief im Himalaja, überschattet von einem Gebirgskamm auf der einen und einem Gipfel auf der anderen Seite; weiter unten am Hang standen die Reste eines uralten Sherpa-Dorfs. Der Boden war trocken – es war spät im August, und ich befand mich unterhalb der Schneegrenze –, aber der Wind pfiff von den weiß bedeckten Spitzen herab und trug eine Kälte mit sich, die durch meine Kleidung fuhr und Ohren und Nase taub werden ließ. Der Himmel war klar und blau, blasser zum Horizont hin, flauschige Wolkenfelder schwebten zwischen den Bergen, und die verschneiten Gipfel leuchteten in der Sonne. Nichts wuchs hier außer struppigem Gras, und kein einziger Vogel durchkreuzte den Himmel. Die Landschaft wies zwar eine Art von Schönheit auf, doch sie war trist und unbarmherzig, gleichgültig dem Leben gegenüber.
Meine Aufmerksamkeit war dreigeteilt während meines Aufstiegs. Ein Teil konzentrierte sich auf meine Schritte und darauf, das Gleichgewicht auf den kullernden Steinen zu halten. Der zweite Teil war auf die drei Männer gerichtet, die ein Stück weit über mir zwischen den Felsen in einem Hinterhalt lagen. Der dritte und größte Teil beschäftigte sich mit der Frage, was ich sonst noch vorfinden würde. Vor gut fünfundzwanzig Minuten hatte ich erfahren, dass eine gewisse Person, an der mir sehr gelegen war, hierhergereist war. Fünfundzwanzig Minuten sind zwar eine sehr rasche Reaktionszeit auf einen Alarm am anderen Ende der Welt, nur leider reichten sie dennoch vollkommen aus, damit besagte Person jeden auf diesem Berg umbringen konnte. Die Chancen standen sehr gut, dass ich bereits zu spät kam.
Positiv zu vermerken war, dass die Leute oben an mir interessiert zu sein schienen, davon ausgehend, dass einer mit einem Gewehr auf meine Brust zielte, also würde ich sie wenigstens nicht aufspüren müssen.
Für einen normalen Menschen wäre meine Position tödlich gewesen. Der Berg war kahl, nur die Felsen lieferten ein wenig Deckung. Ich war in Reichweite des Gewehrs, und den Männern da oben blieb jede Menge Zeit, mich zu erschießen, wenn ich versuchte wegzulaufen. Wollte ich mit ihnen reden, würden sie mich fangen, was letztlich dazu führen würde, dass ich verhört, erschossen oder verhört und dann erschossen werden würde. So blieb mir nur der Kampf. Die drei Männer hatten ein Sturmgewehr und ein paar Maschinenpistolen, während ich eine Pistole hatte, die in einem Halfter an meinem Rücken steckte. Miese Karten.
Für einen Wahrsager war die Lage besser, wenn auch immer noch gefährlich. Ich könnte eine Mischung aus Deckung und Irreführung nutzen, um sie voneinander zu trennen, und dann den Mann mit dem Gewehr erledigen. Danach könnte ich einen Kondensator einsetzen, um den übrigen zwei Männern die Sicht zu nehmen, und einen Überraschungsangriff starten. Dafür müssten ihnen aber Fehler unterlaufen. Allerdings haben nicht viele Menschen Erfahrung im Kampf gegen Wahrsager, und wenn ich vorsichtig und schnell genug vorging, könnte ich alle drei eliminieren, ohne mich selbst ihrem Gewehrfeuer auszusetzen.
Ich bin jedoch kein normaler Mensch, und ein normaler Wahrsager bin ich auch nicht mehr. Also suchte ich keine Deckung. Ich stieg einfach weiter den Hang hinauf.
Sie ließen mich sehr nah herankommen. Als der erste Mann mit auf mich gerichteter Waffe vortrat und »Ting!« rief, war ich bereits mitten unter ihnen.
Ich blieb stehen und hob die Hände. Der Mann vor mir war Chinese, klein und kompakt mit dunkler Körperpanzerung und einer Maschinenpistole, deren Typ ich nicht erkannte. Er gab mir einen Befehl.
»Ich muss mit eurem Boss reden«, sagte ich und hielt weiter die Hände oben.
Der Mann wiederholte seinen Befehl, diesmal mit einer energischen Geste.
Ein Blick in die Zukünfte machte ziemlich deutlich, dass er nicht genug Englisch sprach, um eine Unterhaltung mit mir zu führen. Der zweite Mann war hinter mir und der dritte ein Stück weiter rechts, er zielte auf mich. Sie waren wachsam.
»Ich knie mich nicht hin, damit ihr mich abtasten könnt«, sagte ich. »Ich habe etwas mit Lord Jagadev zu besprechen. Bitte lasst mich vorbei.«
Der Chinese rief dem Mann hinter mir etwas zu. Ich konnte mir denken, wie ich für ihn aussehen musste. Ein westeuropäischer Mann, groß und mager, der eine Rüstung unbekannter Machart trug und einen Mantel, in dem sich vermutlich irgendeine Waffe befand. Eindeutig verdächtig, aber nicht bedrohlich. Er war nicht beunruhigt, aber er würde mich auch nicht gehen lassen. Ich hörte Schritte hinter mir, der zweite Mann kam heran.
»In Ordnung«, sagte ich. »Ich habe sowieso keinen Nerv, mit euch zu reden.«
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, während meine Zukünfte sich weiter verzweigten. In einer versetzte mir der Mann hinter mir mit dem Gewehrlauf einen Schlag in den Nacken, um mich zu betäuben, woraufhin ich mit dem Gesicht voran zu Boden fiel; der andere Mann folgte ihm jetzt, beide zielten mit ihren Waffen auf mich, schrien Fragen und Drohungen. Aber diese Zukunft verblasste bereits wie ein Gespenst, als ich mich den anderen zuwandte. In einer Handvoll Zukünften drehte ich mich weg, zog meine Waffe und feuerte. Für gewöhnlich erwischte ich einen, hin und wieder zwei, aber jetzt hatten mich drei Männer im Visier, und beinahe alle Zukünfte endeten damit, dass Kugeln in meinen Körper einschlugen.
Diese Zukünfte blendete ich aus und wählte die, in denen ich den Mann hinter mir packte und ihn als Schild nutzte. Sofort öffneten sich weitere Zukünfte: Die, in denen die anderen beiden Männer auf mich feuerten, wurden seltener, und in den meisten geschah das sogar gar nicht. Ihr Zögern würde nicht lange andauern, aber ausreichen, damit ich den Mann vor mir töten konnte, dann den, den ich festhielt, anschließend …
Die Zukunft endete mit einer Kugel in meinem Kopf. Das Problem war der dritte Mann, der sich zwischen den Steinen in Deckung hielt. In den meisten Zukünften, in denen ich auf ihn schoss, verfehlte ich ihn. In ein paar traf ich. Das allein war kein Problem, aber die Zukünfte, in denen ich traf, verzweigten sich weiter: Es blieb gerade so viel Zeit, dass der Finger des Mannes den Abzug drücken konnte, seine Kugel flog an meiner vorbei und schaltete mich ebenfalls aus. Und während ich zwar die Zukunft wählen konnte, war ich nicht in der Lage, mir auszusuchen, welche Zukünfte er auswählte. Ich brauchte eine Möglichkeit, das Risiko zu eliminieren.
Ich weitete meine Suche ein wenig aus und fand eine Reihe Zukünfte, in denen ich nicht Gefahr lief, erschossen zu werden. In allen duckte ich mich ein wenig, aber ich konnte nicht sehen, warum – ah. Der dritte Mann stützte das Gewehr auf den Felsen und konnte den Lauf nicht tiefer senken, ohne erst das Gewicht verlagern zu müssen. Das war die Ereigniskette, die ich brauchte. Ich öffnete meinen Geist und beschwor den Schicksalsweber.
Die Zukunft, die ich ausgewählt hatte, schien aufzuleuchten, Energie floss von meiner rechten Hand in meinen Arm hinauf und dann in Zeit und Raum. Unwillkommene Aussichten verschwanden, während die Sequenz der Ereignisse, die ich brauchte, voller Licht und Stärke pulsierte und zu einer unzerbrechlichen Kette wurde. Innerhalb eines Augenblicks war jede andere Zukunft gebannt, ließ nur das Schicksal zurück, das ich gewählt hatte.
Das alles hatte kaum eine Sekunde gedauert. In meinem Rücken senkte sich gerade die Waffe des zweiten Mannes.
Ich trat nach links und drehte mich um. Die Bewegung war so beiläufig, dass der Mann hinter mir, der begriff, dass er mich verfehlen würde, seine Waffe durchs Leere schwang und vorbeistolperte. Er hielt sich an mir fest, ich packte seine Hand, verdrehte sie hinter seinem Rücken nach oben in einem Handgelenkshebel, der ihn auf die Zehenspitzen zwang. Zugleich ging ich tiefer und nutzte die Bewegung, um meine rechte Hand zu verdecken, mit der ich nach der Waffe auf meinem Rücken griff, sodass ich bereits auf den Mann vor mir zielte, als er mein Manöver überhaupt begriff. Seine Augen weiteten sich.
Ich schoss ihm in den Kopf, zielte nach rechts und erschoss den Mann auf den Felsen, stieß dann den Lauf unter den Körperpanzer des Mannes, den ich festhielt, und feuerte ein drittes Mal. Er zuckte und erschlaffte, und ich ließ ihn fallen. Das Echo der Schüsse rollte über die Bergflanke, prallte von den fernen Hängen ab und kehrte zurück, bevor es endlich still wurde. Ich hockte da, umgeben von drei toten Männern, wieder allein.
Ich richtete mich auf, schob meine Waffe zurück ins Halfter und stieg weiter den Berg hinauf.
Nach dreißig Sekunden erreichte ich den Einstieg. Die Illusion einer Felswand verdeckte einen kurzen Tunnel, der zu einer dicken Metalltür führte. In den Tunnelwänden waren Fallen verborgen, die Tür hatte ein eindrucksvolles Schloss, und alles war dicht mit Bannen belegt. Der Eingang war gut getarnt und abgesichert.
Zumindest war er das gewesen. Der Illusionszauber war gebrochen und der Tunnel deutlich zu erkennen, die Fallen waren ausgelöst oder zerstört worden. Die Banne erkannte ich nur dank der magischen Signaturen, und selbst die verblassten schon. Die Tür war aus den Angeln gerissen, der solide Stahl verbogen und verbeult, und dahinter klaffte ein Loch, das in die Dunkelheit führte. Dort regte sich nichts; alles war still, bis auf das Pfeifen des Windes.
Es war so in etwa das offensichtlichste »Betreten verboten«-Schild, das ich je gesehen hatte. Es gibt trotzdem keine Belohnung für das Erraten, was ich nun vorhatte. Sogar nach alldem, was geschehen war, war ich eben immer noch ein Wahrsager, und was die ständig tun, ist, ihre Nasen in Angelegenheiten zu stecken, die sie nichts angehen.
Tja, und macht man schon eine Dummheit, kann man genauso gut Gesellschaft dabei haben.
Ich holte eine kleine stumpfgelbe Pyramide aus meiner Tasche und stellte sie auf die ebenste Fläche am Boden, die ich finden konnte. Dann trat ich zurück und tastete mit meinem Geist herum, weitete meine Gedanken über die Kluft hin aus, die unvorstellbar breit und zugleich schmaler als ein Rasiermesser war. Vari, sagte ich. Bereit zum Porten.
Dreißig Sekunden vergingen. Sechzig. Jetzt glühte die Luft über der Pyramide, wurde erst gelb, dann orangerot. Der Raum schien aufzulodern, eine Flamme schoss hinauf in einem senkrechten Oval, fast zwei Meter hoch und knapp einen Meter breit. Die Mitte des Ovals verdunkelte sich, und das Oval wurde zu einem Kreis: ein Portal, das zwei Punkte im Raum verband. Es bot den Blick auf einen grünen Wald, schattenhaft und düster. Ein junger Mann trat hindurch, wandte den Kopf prüfend in beide Richtungen.
Variam Singh ist klein und kompakt, dunkelhäutig und dunkeläugig. Früher war er drahtig, aber seit er bei den Wächtern ist, hat er zugelegt. Soweit ich das sagen kann, besteht so ziemlich das gesamte zusätzliche Gewicht aus Muskeln – Vari hatte sich dem Schildorden angeschlossen, gerade als der Rat sich für den Krieg bereitgemacht hatte, und sein erstes Jahr als Magiergeselle war ereignisreich gewesen. Er schenkte den drei Leichen am Hang einen flüchtigen Blick, dann konzentrierte er sich mit finsterer Miene auf die zerstörte Tür. »Scheiße.«
»Jap.«
»Wir sind zu spät, oder?«
»Halbe Stunde«, erwiderte ich. »Sie könnte noch drin sein.«
Variam warf mir einen Blick zu.
Wir liefen auf den Eingang zu. »Jagadevs Schläger?«, fragte er und nickte den Hügel hinab.
»Eher ein Spähertrupp«, sagte ich. »Der chinesische Rat beansprucht das Gebiet derzeit für sich.«
»Wie lange, bis mehr auftauchen?«
»Keiner unterwegs, aber wir sollten besser nicht trödeln.«
Wir betraten den Tunnel, und Variam beschwor eine Flamme aus hellem orangefarbenem Licht. Sie tanzte und flackerte, warf Schatten an die felsigen Wände. Ich blickte auf seine schwarze Robe und den Turban. »Keine Rüstung?«
»Ich sollte gerade in der Mittagspause sein«, sagte Variam. »Wenn ich mir da eine Rüstung aus dem Bereitschaftsraum ausleihe, könnten sie vielleicht ein klein wenig misstrauisch werden. Ist die Luft rein?«
»Ja.«
Die Öffnung führte in einen langen, geraden Gang mit Wänden aus glatten Steinblöcken. Ein paar Fackeln brannten in Haltern, deren magische Flammen Licht abgaben, aber keine Hitze. Variam trat einen Schritt vor.
Zukünfte zuckten vor mir auf. »Halt!«, sagte ich scharf.
Variam erstarrte augenblicklich. »Was?«
»Bleib, wo du bist, und tritt nicht vor«, sagte ich. »Sieh zu.« Ich blickte mich um, bis ich einen Kieselstein von der Größe einer Traube fand, trat neben Variam und warf ihn nach vorn.
Mit einem silbernen Aufblitzen schwang eine Klinge aus der Wand, traf den Kiesel mitten in der Luft mit einem Whangggg! und schleuderte ihn zurück. Variam sprang davon, aber bevor er auch nur aufkam, war die Klinge wieder in der Wand verschwunden. Sie hatte ihn um etwa sechzig Zentimeter verfehlt.
»Verfluchte Hölle«, sagte Variam.
»Optischer Auslöser.« Ich nickte zu dem Gang. »Vermutlich Laser. Keine magische Signatur, keine Hitzesignatur. Diese Klinge ist stark genug, um einen gepanzerten Mann zu zerschneiden. Weißt du, was daran spannend ist?«
»Du meinst, abgesehen davon?« Variam sah mich finster an. »Nein. Nein, weiß ich nicht.«
»Es ist spannend«, sagte ich, »weil es genau die Art Falle ist, die man einsetzt, um einen Lebensmagier oder eine Feuermagierin auszuschalten.«
»Danke«, sagte Variam. Er prüfte die Decke, konzentrierte sich auf etwas, was wie ein Stück verzierter Eisenbeschlag aussah. »Sensoren da drin?«
»Könnte sein«, antwortete ich. »Wir könnten uns einfach hindurchducken …«
Variam hob die Hand, und ein Strahl Hitze schmolz das Eisen zusammen.
»… so geht es auch«, beendete ich den Satz. »Alles klar.«
Variam ging voran, trat Stücke des abkühlenden Metalls zur Seite. Ich folgte, hielt dabei nach weiteren Gefahren Ausschau. »Es wäre einfacher, wenn du mich vorausgehen ließest.«
»Vergiss es«, erwiderte Variam. Ich blickte ihn von der Seite an und erkannte die Entschlossenheit in seiner Miene. »Du weißt, was dieser Bastard getan hat. Wenn sie ihn nicht umgebracht hat, erledige ich das.«
Die Tür am Ende des Gangs führte in einen großen, runden Raum. Hier bestanden die Wände und der Boden aus unebenem Fels, und nur ein einziger, geglätteter Pfad verlief hindurch. Variam blieb am Eingang stehen. »Das ist noch eine Falle, oder?«
»Das war es.« Ich deutete in die Mitte des Raums. »Siehst du den Rückstand da?«
»Erdmagie, richtig? Deckeneinbruch? Auf Leute warten, bis sie drin sind, um dann das Dach über ihnen zum Einsturz zu bringen?«
»Daran dachte ich auch erst, aber nein. Sieht mehr nach den Folgen einer Beschwörung aus. Ich vermute, Erdelementar. Ähnliches Ergebnis, aber danach muss man nicht alles wieder ausgraben. Dort wurde er beschworen, doch offenbar hatte er nicht die Zeit, viel anzurichten.«
»Nicht neu gestartet worden?«
Ich schüttelte den Kopf.
Wir liefen weiter, folgten dem ebenen Pfad zur Tür am anderen Ende. »Hast du vor, mir in die Quere zu kommen, wenn wir ihn finden?«, fragte Variam.
»Jagadev?«
»Ja.« Variam sah mich mit einem Blick an, der nicht gerade freundlich schien. »Deshalb hast du doch fünf Jahre lang darauf gehockt, oder?«
»Ich wollte damals nicht, dass du dich auf die Jagd nach ihm machst, wenn du das meinst.«
»Wenn du mir jetzt einen Vortrag hältst, von wegen Vergebung und Rache wären nicht der richtige Weg, dann verpass ich dir eine.«
»Ich halte dich nicht auf«, sagte ich. »Aber ich will, dass du genau hinsiehst, bevor du etwas tust. Denk an die Klingenfalle. Jagadev hatte viel Zeit, um herauszufinden, wie man euch beide töten kann, als ihr herkamt. Und mit einem Selbstmordkommando bin ich nicht einverstanden.«
»Du hast keine Familie verloren.« Die nächste Tür war angelehnt, und Variam streckte die Hand danach aus, sprach dabei über die Schulter weiter. »Ich weiß, dass du uns rein technisch gesehen nicht angelogen hast«, die Tür schwang auf, »aber … Heilige Scheiße.«
Hinter der Tür erstreckte sich eine Halle. Quadratische Säulen säumten den Gang, in zwei Reihen über die ganze Länge des Saals hinweg, und ein langes, flaches Wasserbecken befand sich zwischen ihnen. Der Boden bestand aus weißem Marmor, die Wände und Säulen waren blassgelb verziert, und das Becken war mit einem satten Goldton ausgelegt. Mehr falsche Fackeln hingen an den Säulen, und ihr flackernder Schein wurde vom Wasser widergespiegelt, sodass tausend glitzernde Lichtpunkte durch den Raum tanzten. Durchgänge zu beiden Seiten und am Ende führten tiefer in die Höhlen hinein.
Überall waren Leichen. Zwischen den Säulen, auf dem Boden und an den Wänden lagen und lehnten Männer. Einer war in das Becken gefallen, seine Leiche trieb mit dem Gesicht nach unten dahin, schaukelte leicht. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass nicht alle Leichen menschlich waren. Da waren auch irgendwelche Kreaturen, menschengroß, aber mit braunem Fell. Tot waren sie jedoch alle.
Da Variam sich nicht rührte, trat ich an ihm vorbei, sah nach links und rechts, während ich mich zwischen den Leichen hindurchbewegte. Die Männer waren bereit gewesen, bewaffnet und gepanzert. Manche trugen Waffen, während andere mit nackten Händen dalagen oder Fokusse hielten. Die bepelzten Humanoiden hatten gebogene Metallklauen mit einem Griff benutzt, der so geformt war, dass er in ihre Handflächen passte. Von Nahem sahen sie aus wie eine Kreuzung aus Mensch und Affe, mit intelligent wirkenden Gesichtern und dünnen Schwänzen.
»War das alles sie?«, fragte Variam.
»Das war wohl ihre Verteidigungsbasis.« Ich scannte den Raum. »Die Fallen und der Erdelementar sollten Angreifer aufhalten. Sie hatten sich wohl hier versammelt, um sich zur Wehr zu setzen.«
»Du meinst, um abgeschlachtet zu werden.«
»Oder das.« Jagadevs Verteidigung hätte ausgereicht für einen Lebensmagier. Eine Lebensmagierin, verstärkt durch einen Mariden, war eine andere Sache. Ich sah mir die Zukünfte an und erkannte, dass die Leichen noch nicht kalt waren. »Immer noch warm. Ich glaube nicht, dass das länger her ist als zwanzig Minuten.«
»Dann könnten wir wohl aufholen«, sagte Variam. Er regte sich immer noch nicht. Der Anblick des Massakers schien sein Gemüt abgekühlt zu haben.
Auch für mich war es mehr als nur ein wenig verstörend. Es ist eine Sache, zu wissen, dass jemand dazu in der Lage ist, auf diese Weise zu töten, aber eine andere, es zu sehen. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, was hier passiert war, hatte ich auch das ruhige, schüchterne Mädchen mit den rotbraunen Augen vor mir, so sanft und freundlich. Das Bild kräuselte sich und verschwamm, während ich jetzt auf die Leichen herabsah. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie sie so etwas anrichten konnte.
»Weißt du, was das für Kreaturen sind?«, fragte ich Variam in dem Versuch, mich abzulenken.
»Vanara«, erwiderte Variam. Er klang unbehaglich. »Warum sollte sie die töten …?«
»Sieht so aus, als gehörten sie zu Jagadev.«
»Es fühlt sich falsch an«, sagte Variam. »Warum würden sie jemandem wie ihm helfen?«
»Jagadev hatte Menschen, die für ihn arbeiteten«, sagte ich. »Ist nicht allzu weit hergeholt, dass er auch andere Wesen dazu bewegen kann.«
»Ja.« Variam schüttelte den Kopf. »Wir sollten weitergehen.«
Wir suchten uns einen Weg zwischen den Leichen hindurch. Ich trat über die Beine eines Vanaras, setzte den Fuß so, dass ich der ausgestreckten Hand eines Mannes auswich. »Himmel«, murmelte Variam vor sich hin. »Ich glaube, ich kenne ein paar von denen.«
»Jagadev hat sie wahrscheinlich mitgebracht, als er London verließ«, sagte ich. Im Gehen sah ich auf die Verteidiger, versuchte, den Kampf zu lesen. Es musste schnell gegangen sein. Da waren ein paar Brandspuren an einer Säule und ein paar Kugelsplitter an den Wänden, aber sehr wenige. Die meisten waren vermutlich gestorben, ohne auch nur zu begreifen, wie unterlegen sie waren.
Am anderen Ende der Halle sah ich einen Mann, ein Stück abseits von den anderen. Er war Chinese, in einem weißen Anzug, die Augen von einer Sonnenbrille verdeckt. Er lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt.
»Das ist Kato«, sagte Variam und starrte auf den Leichnam. »Er war Haushofmeister im Tigerpalast.«
»Hmm«, machte ich. Ich hockte mich hin, musterte die Leiche. Katos Augen hinter der Sonnenbrille waren geöffnet, starrten blicklos zur Decke. »Ich glaube nicht, dass er im Kampf starb. Dafür liegt er zu ordentlich da.« Ich blickte zu Variam auf. »Hat er euch je einen Grund gegeben, ihn nicht zu mögen? Besonders Anne?«
»Ein paar Gründe, ja. Warum?«
»Ich denke, er könnte eine Sonderbehandlung abbekommen haben.«
Variam erwiderte meinen Blick mit einem Stirnrunzeln, dann schüttelte er wieder den Kopf. »Komm, weiter.«
Wir ließen Katos Leiche hinter uns, und ich folgte Variam tiefer in den Berg hinein. Der Kampf in der Halle musste jeglichen Widerstand gebrochen haben, denn es gab keine weiteren Spuren eines Gefechts. Falls jemand aus diesem Raum entkommen war, war er geflohen. Ich konnte es keinem verdenken.
Im Gehen suchte ich weiter, prägte mir die Lage der Tunnel ein, hielt Ausschau nach weiteren Fallen, und mir kam eine alte Erinnerung in den Sinn. Damals, als Variam und Anne bei mir gewohnt hatten, hatte ich versucht, für die beiden einen Meister zu finden. Die Suche hatte mich zu Dr. Shirland geführt, einer älteren Geistmagierin in einem Reihenhaus in Brondesbury. Wir hatten dagesessen und geredet, während eine dicke schwarzweiße Katze schläfrig von einem Sessel aus zugesehen hatte.
Wenn ich jemandem Anne als Lehrling empfehle, wäre die erste Frage, ob sie potenziell gefährlich ist. Und ich könnte ehrlicherweise nicht mit einem Nein antworten.
Sie würde nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, hatte ich gesagt. Sie mag ja mächtig sein, aber sie ist nicht gefährlich. Sie ist unschuldig.
Ich denke nicht, dass sie so unschuldig ist, wie Sie glauben.
Das Massaker in der Eingangshalle stand mir vor Augen, und ich schüttelte den Kopf, versuchte, das Bild loszuwerden. Es war sowieso nicht Anne. Oder nicht nur Anne.
Ich denke nicht, dass sie so unschuldig ist, wie Sie glauben.
Sie war unschuldig. Nun, nicht vollständig, aber ich konnte ihre Gründe verstehen. Sie war in diese Sache gedrängt worden, zuerst von Sagash, dann von Jagadev, von Levistus und Sal Sarque, schließlich von Richard. Es war nicht so, dass ich mich geirrt hätte.
Anne würde nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.
Okay, ich hatte mich vielleicht geirrt. Aber ich hatte recht gehabt in dem, was zählte. Anne mochte am Ende eingeknickt sein, aber mir hatte sie nie etwas getan.
Na ja, bis auf die Sache im Tigerpalast. Und danach, in San Vittore. Und dann war da noch das, was sie mit meiner Hand gemacht hatte …
Ich denke nicht, dass sie so unschuldig ist, wie Sie glauben.
Konzentration, sagte ich mir.
Das Bild der Leichen in der Eingangshalle kehrte zurück, gefolgt von einem Bild von Anne. Anne, Leichen. Leichen, Anne.
Wütend schob ich es beiseite. Es spielte keine Rolle. Ich musste nur eine Möglichkeit finden, all das zu regeln, dann könnte ich Anne fortbringen, und wir könnten wieder so leben wie früher.
Ich denke nicht, dass sie so …
»Schnauze!«
Variam blieb stehen und blickte sich mit einem Stirnrunzeln zu mir um. »Was?«
Ich atmete ein, schloss die Augen, atmete aus. »Ich meinte nicht dich.«
Variam warf mir einen skeptischen Blick zu. »Langsam glaube ich, du solltest nicht hier sein.«
Die Räume und Gänge wurden prächtiger und üppiger, je tiefer wir in die Höhlen hineinkamen. Das war kein spontan gewählter Schlupfwinkel – Jagadev musste diesen Rückzugsort schon lange vorbereitet haben. Vielleicht hatte er ihn bereits seit Jahrhunderten als Basislager genutzt. Im Moment befanden wir uns in einem Raum, der an ein Museum erinnerte. Vitrinen aus dickem Glas standen auf Marmorsäulen, und in jeder waren skurrile Objekte ausgestellt, die den Blick anzogen. Ein Haufen kleiner Knochen hier, ein uraltes, handgeschriebenes Tagebuch dort. Eine schmiedeeiserne Stangenwaffe war in einem besonders langen Behältnis untergebracht, während eine andere einen dunkelbraunen Umhang mit magischer Aura beherbergte, die ich nicht identifizieren konnte.
Da bemerkte ich, dass es in diesem Raum, anders als in den letzten, Spuren eines Kampfs gab. Kein Blut, aber ein vergoldeter Stuhl war umgestoßen, und ein Lederbeutel lag auf dem Boden wie hingeworfen. Mit etwas Konzentration konnte ich einen schwachen magischen Rückstand wahrnehmen. Er musste sehr stark gewesen sein, um jetzt noch spürbar zu sein.
»Jemand kam hier durch«, sagte Variam. Er starrte auf eine mit goldenen Intarsien versehene Flügeltür am Ende des Raums.
»Ja«, erwiderte ich. Ich war auf die Suche nach Gefahren konzentriert. Um die Türflügel herum fand ich nichts, auch nicht im nächsten Raum, aber mir gefielen die mittelfristigen Zukünfte nicht. »Lass uns nachsehen, wer.« Ich schritt zur Flügeltür und stieß sie auf.
Der Raum dahinter war ein Schlafzimmer, das praktisch vor Reichtum triefte. Goldteppiche und Gobelins lagen überall auf dem Boden verteilt, Seide hing an den Wänden, und die Möbel waren ein Sammelsurium von Edelmetallen. Der Prunk machte mich blinzeln: Ich hatte nur nach Gefahren gesucht, und alles, was keine potenzielle Bedrohung darstellte, war nicht auf meinem Radar aufgetaucht.
Weshalb ich nicht bemerkt hatte, dass Jagadev an der gegenüberliegenden Wand hing, an die Felswand gekreuzigt.
Der Rakshasa sah aus wie ein humanoider Tiger, so groß wie ein Mann, aber mit viel stärkeren Muskeln. Kunstvolle Speere waren durch seine Hände und Füße getrieben, hielten ihn an der Wand, und um ihn herum schwebte ein Netz aus magischer Energie, glühte bedrohlich schwarzgrün. Die Energie des Zaubers war so gewaltig, dass der Rest des Raums düster wirkte. Jagadevs Augen waren geschlossen, und er rührte sich nicht.
»Scheiße«, sagte Variam. »Ist er tot?«
»Nein.« Ich runzelte die Stirn. Der Zauber um Jagadev war unglaublich komplex. Es war Lebensmagie, aber mit dicken Fäden von Dschinnmagie verwoben, grauschwarz und undurchsichtig. Sie interagierte irgendwie mit Jagadev, aber ich verstand nicht, wie.
Variam starrte ihn an wie ein Hund einen Brocken Fleisch, doch es gelang ihm, den Blick loszureißen und sich umzusehen. Er ignorierte das Gold und das Silber, als wäre es gar nicht da. »Wohin würde sie gehen?«
Ich scannte den Raum mit meinen Wahrsagersinnen und nickte zu einem der seidenen Wandbehänge. »Fluchttunnel dahinter.«
Variam warf einen Blick in die Richtung, dann sah er zurück zu Jagadev, sichtlich hin und her gerissen. »Können wir sie einholen?«
»Nein«, seufzte ich. Ich hatte nach Zukünften gesucht, in denen einer von uns Anne einholte, und keine einzige gefunden. »Ich weiß nicht einmal, ob sie in den Tunnel gelaufen ist. Möglicherweise hat sie sich auch einfach mit der Hilfe des Dschinns einen Weg durch die Portalbanne erzwungen.«
»Hast du eine andere Möglichkeit, ihr zu folgen?«
»Wie zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Deine neue Hand.«
»Wenn das so leicht wäre, hätte ich sie bereits gefunden. Anne steht ganz oben auf der Abschussliste des Rats, und sie achtet wirklich sehr darauf, sich nicht aufspüren zu lassen.«
»Also kannst du sie nicht finden.«
»Jap.«
»Verdammt.«
Einen Moment herrschte Schweigen. »Schön. Dann müssen wir wohl einfach ihn als Trostpreis nehmen.«
»Mm«, machte ich. Ich fragte mich, wie lange Anne gebraucht hatte, um Jagadev zu überwältigen und ihn so aufzuspießen. Um wie viele Minuten hatten wir sie verpasst? Meine Instinkte sagten mir, nicht viele. Vielleicht nur ein paar. Wäre ich schneller gewesen, hätten wir sie womöglich einholen können …
… und hätten dann was gemacht? Tja, genau das war das Problem, nicht wahr? »Wie lange, bis du wieder zurück sein musst?«
»Eine Weile.«
Ich sah Variam an. Etwas an seinem Tonfall gab mir das Gefühl, dass er sehr knapp rechnete. »Wir sollten wahrscheinlich sowieso aufhören, uns darüber zu unterhalten. Jagadev hört zu, seit wir hereingekommen sind.«
Jagadev öffnete die Augen. Die Pupillen waren golden und geschlitzt wie die einer Katze, und sie starrten frei von jeglichem Ausdruck auf uns herab. Variam machte einen Schritt nach vorn. Die Finger an seiner rechten Hand zuckten, und die Zukünfte voller Gewalt stiegen sprunghaft an.
»Vari«, sagte ich warnend.
»Kann er hören?«
»Und sprechen.«
»Warum?«, fauchte Variam.
»Weil Anne es so eingerichtet hat.« Ich fragte mich, was sie ihrem alten Feind zu sagen gehabt hatte und wie ich Jagadev dazu bringen könnte, es uns zu erzählen.
»Hey, Arschloch«, sagte Variam da. »Erinnerst du dich an mich?«
Jagadev starrte auf Variam herab.
»Du wirst mir jetzt genau sagen, was du getan hast«, sagte Variam. »Und wer dir geholfen hat. Wenn nicht …« Er spannte die rechte Hand an. »… sehen wir mal, wie gut dein Fell brennt.«
Jagadev blinzelte nicht einmal. Die Züge des Rakshasas waren schwer zu lesen, aber sogar an die Wand gespießt und reglos gelang es ihm irgendwie, auf Variam herabzublicken, als wäre der Feuermagier ein lästiges Insekt.
Variams Stimme klang drohend, und jetzt spürte ich die gewalttätigen Handlungen in naher Zukunft flackern. »Ich frag nicht noch mal.«
»Er wird nicht antworten, Vari.«
»Doch, wird er.«
»Nein, wird er nicht.« Ich ging immer noch die Zukünfte durch, erhielt flüchtige Blicke auf die sich wandelnden Möglichkeiten. »Ihn anzuzünden, bringt ihn nicht zum Reden. Ihm Gliedmaßen abzufackeln, bringt ihn nicht zum Reden. Er hat keine Angst vor dir.«
»Ach, ja?«, erwiderte Variam. »Dann lass uns das ändern …«
Unvermittelt sprach Jagadev, seine Stimme ein schnurrendes Grollen. »Dein Bruder war ein Feigling.«
Variam erstarrte.
»Er starb, während er um sein Leben flehte«, sagte Jagadev und hob leicht eine Augenbraue. »Möchtest du gern wissen, wie?«
»Halt’s Maul«, sagte Variam.
»Er flehte uns an, statt ihm seine Familie zu holen«, sagte Jagadev. »Er heulte und schrie, dass er den Rest von euch ausliefern würde, wenn wir ihn nur verschonten. Zuerst bot er seine Mutter an. Als das nicht half, dich. Er sagte, dass du auf seinen Ruf hin kommen, ihm blind vertrauen würdest und voller Eifer angelaufen kämst. Dass du ihn als Helden verehren würdest, obwohl …«
Variams Hand zuckte hoch.
Meine Hand berührte Variams gerade in dem Augenblick, in dem er seinen Zauber aussandte, und der Feuerstoß traf die Mauer rechts von Jagadev. Ein Wuuuff überhitzter Luft erklang. Ein Wandbehang zerging in Asche und brennenden Funken, und ein Stück goldbefriester Marmor schmolz und verformte sich.
»Vari!«, blaffte ich.
Vari wandte sich gegen mich, orangerotes Licht glühte um seine Hände. Sie waren nicht auf mich gerichtet – nicht ganz, aber fast. »Ich hab dir gesagt, du sollst mir nicht in die Quere kommen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Er manipuliert dich«, gab ich scharf zurück. »Er hatte Jahre, um diese Begegnung zu planen, herauszufinden, wie genau er deine Knöpfe drücken muss. Denk nach!«
Flammen stiegen um Variam auf, und seine Augen leuchteten rot. Tod und Gewalt tanzten in den Zukünften, und nicht alles davon richtete sich gegen Jagadev. Ich starrte Variam an und behauptete mich. Einen langen Augenblick regte sich nichts bis auf das flackernde Feuer um Varis Körper; ich spürte die Hitze in meinem Gesicht und an den Händen, aber ich wich nicht zurück.
Dann machte Variam einen Schritt nach hinten. Das Feuer um ihn herum verdunkelte sich, und er stieß die Luft langsam und zischend aus. Die Zukünfte beruhigten sich. »Geh spazieren«, sagte ich. »Fünf Minuten. Ich sorge dafür, dass er noch hier ist, wenn du zurückkommst.«
»Besser wäre es«, sagte Variam.
»Du hast mein Wort.«
Variam bedachte Jagadev mit einem letzten Blick, dann machte er kehrt und ging den Weg zurück, den wir hereingekommen waren.
Ich wandte mich zu Jagadev um. Der Rakshasa war wieder verstummt. »Hallo, Jagadev«, sagte ich. »Wie lange ist es her, sechs Jahre? Obwohl das für dich wohl nicht sehr lang ist.«
Stille. Jagadev starrte mich aus seinen geschlitzten goldenen Augen ausdruckslos an. Aber nein – da war ein Ausdruck, etwas Ungewohntes. Ich war die Zukünfte durchgegangen, hatte flüchtige Blicke und Hinweise herausgepickt, und ganz plötzlich begriff ich, was ich da sah. »Du leidest gerade ziemliche Qualen, nicht wahr?«, fragte ich leise. »Das bewirkt dieser Zauber. Er lähmt dich nicht nur, er fügt dir größtmögliche Schmerzen zu. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt sprechen kannst.«
Jagadevs Miene regte sich nicht, aber ich wusste, dass ich recht hatte. »Deshalb hat Anne dich am Leben gelassen«, sagte ich. »Sie hätte dich im Handumdrehen töten können, aber dann wäre es zu schnell vorbei gewesen, nicht wahr?« Ich legte den Kopf schief. »Was hatte sie zu sagen? Ich schätze, sie war dir nicht gerade dankbar für alles, was du für sie getan hast.«
Immer noch keine Antwort.
»Wenn du nicht redest, kann ich genauso gut Vari zurückrufen, damit er dich erledigt.« Ich wollte mich umdrehen und Vari zurückholen.
»Anne weiß, dass du sie verraten wirst«, sagte Jagadev.
Ich schwieg, mitten in der Drehung erstarrt. »Du denkst, du kannst dich mit ihr gegen eure gemeinsamen Feinde verbünden.« In Jagadevs Stimme war keine Spur seiner Schmerzen zu hören: Sie klang aalglatt, verächtlich. »Sie weiß, dass du dich gegen sie wendest, sobald du kannst. Sie rechnet damit, und du wirst versagen.«
Ich verspürte einen furchtsamen Stich. Mir war klar, dass Jagadev lediglich riet, aber seine Mutmaßungen waren gefährlich nah an der Wahrheit. »Netter Versuch.«
»Sie kennt deine Pläne, Verus. Aber kennst du auch ihre?« Jagadev hob eine Augenbraue. »Ich denke nicht. Wenn sie zuschlägt, wird dir deine ganze Wahrsagerei nichts nutzen.«
»Das machst du immer, oder?«, erwiderte ich. »Misstrauen säen, Menschen gegeneinander aufbringen. All diese Leute draußen in der Eingangshalle, die Männer und die Vanara … Ich wette, du hast ihnen eine sehr überzeugende Geschichte erzählt. Wie gut sind sie damit gefahren?«
»Und doch bist du hier«, sagte Jagadev. »Denn egal wie sehr du es auch zu verbergen versuchst, du wünschst dir mein Wissen, meine Weisheit. Wie alle Magier. Wie alle Menschen.«
Da hatte Jagadev nicht ganz unrecht. Der Rakshasa war Hunderte Jahre alt, wenn nicht sogar Tausende. Er hatte Zeit gehabt, mehr Reichtum und Geheimnisse anzuhäufen, als sich die meisten Magier auch nur erträumen konnten. Die Geheimnisse wären am wertvollsten: In seinem Geist würden sich die Schlüssel zu ganzen Königreichen finden. Ich verspürte die Verlockung von Jagadevs unausgesprochenem Angebot. Half ich ihm, würde ich Zugang zu dem Wissen erlangen, das nur er besaß. Dafür würde ich ihn natürlich am Leben erhalten müssen …
… und damit würde ich Variam verraten. Und sobald ich Jagadev beschützt hätte, würde er mich genauso verraten. Der Rakshasa hatte Jahrhunderte mit solchen Intrigen zugebracht. Er würde mir alles versprechen und nichts als den Tod bringen.
»Weißt du, es ist schon lustig«, sagte ich. »Du hättest so oft die Möglichkeit gehabt, Anne und Variam zu töten, während sie als deine Mündel im Tigerpalast lebten. Ich meine, es waren die letzten lebenden Abkömmlinge der Magier, die deine Frau umgebracht hatten, nicht wahr? Und dir ist es gelungen, sie deiner Macht zu unterstellen, sie unter deinem eigenen Dach leben zu lassen. Warum hast du dich also zurückgehalten?« Ich sah Jagadev an. »Ich glaube, es lag daran, weil sie die Letzten sind. Sobald sie tot sind, bleibt dir nichts. Nachdem du dich also endlich dazu entschlossen hattest, Anne zu töten, hast du sie nicht einfach sauber ermorden lassen, denn das reichte dir nicht, oder? Du hast sie auf jede dir mögliche Weise zerstören wollen. Und jetzt macht sie das Gleiche mit dir. Sie hätte dich erledigen können, aber stattdessen hat sie sich entschieden, mit ihrem Essen zu spielen. Das hat sie wohl von dir gelernt.« Ich schüttelte den Kopf. »So viel zu deiner Weisheit.«
»Du weißt nichts über Anne.«
»Ich weiß genug«, sagte ich. »Und was ich nicht weiß, ist definitiv nicht wert, was du dafür haben möchtest. Also nein, Jagadev. Ich mache keinen Deal. Du stirbst genau hier in diesem Zimmer. Mich interessiert nur, ob du irgendwelche letzten Worte hast.«
»Letzte Worte?«, entgegnete Jagadev. Er hielt inne, dann wurde seine Stimme rau, tödlich. »Nimm das als deine letzten Worte, Magier: Vielleicht sterbe ich hier, aber bevor das Jahr herum ist, werden du und dein Kuli mir folgen. Ich habe etliche Angehörige deiner Art umgebracht, doch neben der Zahl derer, die durch die Hände deiner Geliebten sterben, werde ich verblassen. Und du wirst derjenige sein, der das möglich macht. Ihr Name wird voller Schande behaftet in Erinnerung bleiben und deiner dazu.«
Einen Moment stand ich da und sah Jagadev an. »Vari! Wir sind fertig«, rief ich dann.
Schritte erklangen, und Variam erschien, er hatte etwas über einem Arm liegen. Er ignorierte mich, sah Jagadev geradeheraus an. »Du sagst kein weiteres Wort über irgendjemanden aus meiner Familie. Verstanden?«
Jagadev blickte Variam verächtlich an. Die grünschwarze Energie des Zaubers wirbelte immer noch um ihn herum. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis sie ihn umbrachte.
»Ich will nur eins wissen«, sagte Variam. »Warum?«
»Warum du?« Jagadev klang fast amüsiert. »Bist du wirklich so unwissend?«
»Ich weiß, warum ich. Den Teil hat Alex mir erzählt. Ich will nur wissen, warum du all diese Scheiße gemacht hast. Wie kann es das wert sein? Wie konnte es das jemals wert sein?«
»Du könntest es nicht verstehen.«
»Was verstehen?«, wollte Variam wissen. »Du hättest überall hingehen können, alles tun. Stattdessen hast du zweihundert Jahre damit zugebracht, Leute zu töten, die nie auch nur von dir gehört hatten?«
»Oh, dein Bruder hatte von mir gehört«, sagte Jagadev. »Zumindest bis …«
Variams Hand zuckte erneut hoch, und dieses Mal hielt ich ihn nicht auf.
Feuer erblühte wie eine Miniatursonne. Der Lärm war etwas zwischen einem Pochen und einem Brüllen, dann traf eine Hitzewelle mein Gesicht. Ich hatte die Hände gehoben, um es zu schützen, und trotz meiner Rüstung spürte ich, wie meine Haut versengt wurde. Ein Übelkeit erregender Gestank nach verbrannten Haaren und Fleisch erfüllte den Raum.
Ich senkte die Hand wieder und sah, dass Jagadev verschwunden war. Eine halbrunde Vertiefung hatte sich in die Wand eingebrannt, den Fels verkohlt. Die Reste des Rakshasas, vermischt mit der abkühlenden Lava, lagen darunter als schwarze Schlacke.
»Tja. Du hattest ihn gewarnt.«
Variam erwiderte nichts. Schweigend standen wir da und betrachteten die Überreste.
Etwas regte sich in den Zukünften. Ich sah voraus, und ein Blick verriet mir, was ich wissen musste. »Komm. Wir haben zu lange gebraucht.«
»Ja.« Variam riss sich von Jagadevs Leiche los und wollte sich der Tür zuwenden.
»Nicht da lang.«
Er hielt inne. »Mehr von Jagadevs Leuten?«
»Nicht Jagadevs«, sagte ich. »Die gleichen Typen, denen ich draußen begegnet bin.« Es kamen mehr Soldaten, und dieses Mal waren auch Adepten und Magier dabei. »Chinesischer Rat.«
»Scheiße«, sagte Variam. »Bei den Typen möchte ich mich nicht herausreden müssen.«
»Solange ich in deiner Nähe bin, glaube ich nicht, dass sie dir dazu Gelegenheit geben.« Die Räte der verschiedenen magischen Nationen stehen nicht immer auf bestem Fuße miteinander, aber sie teilen ihre Informationen. Ich hielt auf den Wandbehang zu. »Nehmen wir die Hintertür.«
»Wie können die überhaupt hier sein?«, fragte Variam, während ich den Seidenvorhang beiseitezog und eine glatte Wand zum Vorschein kam.
»Entweder haben wir einen Sensor ausgelöst, oder Jagadev hat sie gerufen.« Ich fuhr mit der Hand über die Wand, und meine Finger fanden eine Vertiefung; ich drückte darauf, und mit einem Klicken öffnete sich ein Spalt im Stein. Ich stieß dagegen, woraufhin der glatte Marmor sich drehte und einen dunklen Durchgang enthüllte.
»Das wäre sein Stil, nicht wahr?« Variam trug immer noch dieses Stoffbündel über dem linken Arm, aber mit seiner Rechten schickte er orangerote Flammen über meine Schulter, und das Licht erhellte den Felsentunnel.
»Verschließ ihn hinter uns«, sagte ich und trat hindurch. Variam folgte mir. Mit einem weiteren Klicken erlosch das Licht aus dem Raum dahinter und mit ihm der Gestank nach Verbranntem. »Ja, vermutlich. Einfach ein letztes Fick dich! an denjenigen, der ihn getötet hat. Oh, und er hat den Laden auf Selbstzerstörung aufgerüstet.«
»Warte, was?«
»Wir haben aber Zeit«, sagte ich. Ich hatte den Zauber während unserer Unterhaltung bemerkt. Jemand, vermutlich Anne, hatte etwas mit dem Auslöser angestellt. Er würde verzögert hochgehen, doch er war nicht abgeschaltet. »Zwanzig Minuten mindestens.«
»Was ist es, eine Bombe?«
»Irgendeine Form eines Dimensionstors, das diesen Berg von innen nach außen kehren und dann den Inhalt Gott weiß wohin abstürzen lässt.«
»Okay, dann sollten wir nicht warten, um es rauszufinden.« Variam wich herabgefallenen Tunneltrümmerteilen aus. »Wie weit reichen diese Portalbanne?«
»Nicht bis zum Rand des Bergs«, sagte ich. Die Banne über Jagadevs Palast waren stark, aber kein Bann konnte unbegrenzt angelegt werden. »Wir laufen noch ein paar Minuten weiter, dann sind sie so weit abgeschwächt, dass wir … Oh, um Gottes willen.«
»Was ist jetzt los?«
»Jemand kommt durch den Gang auf uns zu. Los, weiter.«
Ich beschleunigte meine Schritte, durchsuchte die Zukünfte vor uns. Variam beeilte sich, mir zu folgen, seine kürzeren Beine machten drei Schritte für zwei von mir. Orangerotes Licht von seinen Flammen flackerte über die Wand, warf tanzende Schatten. »Noch mehr Ratsleute?«
»Schön wär’s«, sagte ich. »Rachel.«
»Ernsthaft? Schon wieder diese irre Bitch?« Ich hörte ein Klackern, als Variam über einen Stein stolperte. »Gelangen wir in den Bereich außerhalb der Banne, bevor sie uns erreicht?«
»Ja.«
Kurz schwieg er. »Kommen wir so weit und können ein Portal beschwören, bevor sie …«
»Nein.«
»Können wir …«
»Nein.«
»Wir könnten …«
»Das Gelände bietet ihr den größeren Vorteil.«
»Es ist wirklich nervig, wenn du das machst.«
»Wir haben keine Zeit zu streiten«, sagte ich. »Da ist eine Fluktuation in der Bannabdeckung in etwa dreißig Metern. Wenn du dort ein Portal in Gang setzt, halte ich sie lange genug auf, sodass du es vollenden kannst.«
»Bist du sicher …«
»Ja.«
Nach dreißig Metern bog der Gang nach rechts. Die Banne waren für meine Magiersicht immer noch eindeutig erkennbar, aber ich spürte die Schwankungen, die in diesem Teil des Tunnels die ersten Schwachstellen verrieten. Variam schuf das Portal und warf mir einen Blick zu, der besagte: Damit liegst du mal besser richtig.
Vor uns bewegten sich die Zukünfte. Rachel war losgerannt. »Sie ist in dreißig Sekunden hier«, sagte ich. »Mach weiter mit dem Portal und lass dich nicht von Auflösungszaubern oder Einstürzen ablenken.«
»Ja, Mama. Solltest du dich nicht um sie kümmern?«
Ich lief weiter, wählte meine Position aus und wartete.
Seegrünes Licht erblühte, erhellte eine menschliche Gestalt. Der Klang der Schritte veränderte sich, wurde von einem rasanten Tempo zu einem steten, unablässigen Klack-klack-klack. Das Licht wurde heller um Rachels Hände und enthüllte ihr Gesicht.
Ihr war es nicht gut ergangen, seit wir uns zuletzt begegnet waren. Die Dominomaske verbarg die obere Hälfte ihres Gesichts, aber nicht die Falten der Anspannung im unteren Teil und am Kiefer. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, und der Hass in ihren Augen, als ihr Blick meinem begegnete, war wie ein körperlicher Schlag. Zuvor hatte ich bereits gedacht, dass Rachel mich so sehr gehasst hatte, wie es einem Menschen nur möglich war. Aber da hatte ich mich geirrt.
Energie umwirbelte ihre Hände, während sie weiter vorwärts stolzierte. Sie hielt nicht an und wurde nicht langsamer, und ich verspürte den Anflug eines Déjà-vus. In einem Tunnel gefangen mit einer mächtigeren Magierin vor mir …
Nein. Ich schüttelte die Erinnerung ab. Nicht länger mächtiger. Ich zog meine Waffe, hob den Lauf und richtete ihn auf Rachels Kopf.
Sie reagierte sofort. Ein seegrüner Strahl zuckte vor.
Ich wich in dem Moment aus, in dem die Zukunft sich verfestigte, aber auch so schaffte ich es kaum. Der Strahl schoss durch die Lücke zwischen meinem Arm und Körper, dann traf er den Fels hinter mir und löste einen tragenden Bereich der Tunnelwand auf.
Ich rannte bereits davon, als die Decke mit einem ohrenbetäubenden Rumpeln und Dröhnen einbrach. Steine sprangen um meine Knöchel, aber die ganze Sache war in Sekunden vorüber, und ich verlangsamte meine Schritte. Eine Staubwolke ließ meinen Mantel um mich herum aufwallen und zerzauste mein Haar.
Variam wirkte immer noch seinen Portalzauber, eine Augenbraue hochgezogen. »Lass dich nicht von Einstürzen ablenken, hm?«
Ich hörte ein Grollen, als Rachel weitere Auflösungszauber von der anderen Seite abfeuerte. Es würde ihr nichts nutzen: Mehr von dem Berg würde zusammenbrechen und jegliche Löcher ausfüllen, die sie schuf. »Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen.«
Variams Zauber war vollendet, und ein orangerotes Portal öffnete sich vor uns. Wir traten hindurch und ließen den Himalaja hinter uns zurück.
Das Portal schloss sich mit einem Flackern hinter uns. Wir kamen in einem unberührten Gebiet heraus, mitten in der Nacht, und es lag vollkommen eben und verlassen vor uns. Struppige Büsche reichten uns bis zu den Knöcheln, dazwischen lagen Kies und Steine, alle vom Licht des Mondes an einem klaren Himmel erhellt. Die Landschaft dehnte sich zu allen Seiten ohne ein Anzeichen auf Leben oder Veränderung aus.
»Wo sind wir?«, fragte ich. Ich zitterte ein wenig. Die Luft war kühl im Vergleich zu vorher.
»Mojave-Wüste«, sagte Variam. Er arbeitete bereits am nächsten Portal, orangerotes Licht glühte um seine Hände, und er runzelte konzentriert die Stirn. »Wurden wir verfolgt?«
»Nein … ja«, sagte ich. Es ist schwer, einem Portal zu folgen, aber nicht unmöglich, besonders, wenn man sehr motiviert ist.
»Deleo? Nein, brauchst nicht zu antworten, natürlich die verdammte Deleo. Wie lange?«
»Drei bis vier Minuten. Ehrlich, ich bin beeindruckt, dass sie es durch den Tunneleinsturz geschafft hat.«
»Beeindruckt, genau«, sagte Variam säuerlich. »Hoff besser darauf, dass ich dieses Portal beim ersten Versuch hinbekomme.«
Ich tätschelte Variams Schulter. »Ich glaube an dich.«
Er verdrehte die Augen. »Also, ich weiß, die Liste mit Leuten, die dich umbringen vollen, ist verdammt lang. Aber geht es nur mir so, oder möchte Deleo dich wirklich noch dringender töten?«
»Das geht nicht nur dir so.«
»Ich hatte irgendwie gehofft, dass Richard sich ihrer entledigt und uns so den Ärger erspart hätte.«
»Wäre nett gewesen, aber nein«, sagte ich. »Weiß eigentlich nicht, wie es zwischen ihnen lief, aber soweit ich gehört habe, ist sie seither nicht mit ihm gesehen worden. Also ist sie entweder gefeuert und gibt mir dafür die Schuld, oder Richard hat sie geschickt, als letzte Chance, sich selbst zu beweisen.«
»Macht das wirklich einen Unterschied?«
»Nein.«
Variams Portal öffnete sich, und wir traten hindurch in die nächste nächtliche Wildnis. Sie sah der letzten ähnlich, nur dass es weniger Steine gab und dafür mehr Sand und Kakteen, die im Mondlicht lange Schatten warfen. »Wo sind wir jetzt?«, fragte ich.
»Mexiko«, antwortete Variam. »Sonora-Wüste.« Er war bereits am Zauber für Portal Nummer drei. »Hör mal. Es ist schon auffällig, aber die Chancen, dass Deleo auftaucht, wann immer wir auf einer Mission sind, stehen um die fünfzig zu fünfzig.«
»Ja.«
»Scheint nicht, als würde sie damit aufhören.«
»Wohl nicht.«
»Hast du mal daran gedacht, sie dazu zu bringen, damit aufzuhören?«, fragte Variam. »Ich meine, wenn man bedenkt, wie viele Todesopfer du anhäufst, weiß ich, dass ich dir sagen muss, du solltest kürzertreten, aber was, wenn wir uns eine gute Stelle aussuchen, sobald sie uns das nächste Mal folgt, und …« Er nahm eine Hand weg von dem Zauber, den er wirkte, und fuhr sich mit einem Finger über den Hals.
Ich seufzte, stieß den Atem in einer Wolke aus. Hier war es etwas wärmer. »Das ist nicht so einfach.«
»Weil ihr zusammen Lehrlinge wart?«
»Nein«, antwortete ich. Ich hatte Rachel einmal nahegestanden, aber davon war herzlich wenig übrig. »Sie hat selbst einen Dschinn.«
Variam warf mir stirnrunzelnd einen Blick zu. »Ernsthaft?«
»Wollte ich dir schon früher erzählen, doch irgendwie wurde ich abgelenkt«, sagte ich. »Aber ja, das war damals, als wir noch Lehrlinge waren. Tatsächlich bin ich ziemlich sicher, dass sie in genau dem Moment aufhörte, Lehrling zu sein.«
Das Portal öffnete sich, und blendendes Licht ließ mich blinzeln, bevor Variam rasch das Leuchten dämpfte und das Oval mit einem Magieschleier abschirmte.
Wir traten in helles Tageslicht. Eine im Zenit stehende Sonne strahlte sengend von einem wolkenlosen Himmel herab, und die Luft war heiß und trocken. Wir standen auf einem kleinen Felshaufen inmitten von gewaltigen goldenen Sanddünen. Ich wandte mich an Variam. »Ernsthaft?«
»Was?«, fragte Variam.
»Wir sind in …« Ich schwieg kurz. »Saudi-Arabien? In der Wüste?«
»Was ist das Problem?«
»Was hast du nur mit Wüsten?«
»Ich mag Wüsten.«
Ich verdrehte die Augen. »Egal. Jedenfalls ging das Bindungsritual schief, und das ist einer der Gründe, aus denen sie so durchgedreht ist. Ich bin ziemlich sicher, sie kann die Mächte des Dschinns nicht zuverlässig nutzen. Aber sie sind immer eine Option, und selbst wenn nicht, ist ihre Bilanz, meine Bluffs zu durchschauen, wirklich gut. Ich möchte wirklich nicht in eine direkte Konfrontation mit ihr geraten, wenn ich es vermeiden kann.«
»Also ist der Plan … was? Darauf warten, dass ihr langweilig wird und sie aufgibt?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe jemanden, der auf Abruf ist und vielleicht helfen kann. Falls nicht … sie ist mein Problem. Ich kümmere mich darum.«
Ein paar Sekunden lang standen wir in der Affenhitze. Die Luft fühlte sich an wie in einem Backofen, und der grelle Glanz der Sonne sorgte dafür, dass ich mir die Augen abschirmen wollte. »Wirst du klarkommen?«, fragte ich Variam.
»Keine wütenden Voicemails«, sagte er. »Solange ich in der nächsten Viertelstunde zurückkehre, ist alles fein.«
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Ja, ich weiß.« Variam warf mir einen Blick zu, dann sah er zu Boden, kratzte mit dem Zeh über die Steine. »Ich bin nicht sicher.« Er hielt inne. »Denkst du, was er gesagt hat, stimmt?«
Es zeigte, wie besorgt Variam sein musste, wenn er so etwas fragte. »Ich denke, er hat gesagt, was immer uns seiner Meinung nach am unglücklichsten machen würde.«
»Heißt nicht, dass er unrecht hatte.«
»›Was Menschen Übles tun, das überlebt sie. Das Gute wird mit ihnen oft begraben.‹«
Variam sah mich missbilligend an. »Wenn das ein Versuch ist, dafür zu sorgen, dass ich mich besser fühle, machst du einen echt beschissenen Job.«
»Jagadev hat herzlich wenig Gutes und jede Menge Böses getan«, sagte ich. »Aber was er Anne angetan hat, könnte zu Schlimmerem führen als alles andere zusammengenommen. Richard und Morden haben Anne diesen Dschinn beschafft, doch Jagadev und Sagash haben sie auf den Weg gebracht, der dorthin geführt hat.«
»Und jetzt, da Jagadev tot ist, wissen wir, wohin sie sich als Nächstes wendet.«
Ich nickte. »Es wird schwer sein, sie aufzuhalten.«
»Ich mache mir keine Sorgen darum, dass sie es auf Sagash abgesehen hat.«...Ende der Leseprobe