Die Mörder von London - Benedict Jacka - E-Book

Die Mörder von London E-Book

Benedict Jacka

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Beschreibung

Unschuldig zum Tode verurteilt! Im siebten Roman der Erfolgsserie ist der Hellseher Alex Verus auf der Flucht vor dem Gesetz.

1965 wurde in England die Todesstrafe abgeschafft – es sei denn, man ist magisch begabt: Dann gilt sie noch heute. Doch warum konnte der Hellseher Alex Verus nicht vorhersehen, dass sie ihn treffen würde? Dabei hat er sich ja häufig genug Feinde im Rat der Magier gemacht. Ihm bleibt nur eine Woche Zeit, bis das Todesurteil vollstreckt werden soll. Eine Woche, um sich irgendwie aus der Sache rauszuwinden. Da hetzten ihm seine mächtigen Gegner auch noch ihre Killer auf den Hals. Zum Glück hat Alex Verbündete, auf die er sich verlassen kann – oder?

Die Alex-Verus-Bestseller von Benedict Jacka bei Blanvalet:
1. Das Labyrinth von London
2. Das Ritual von London
3. Der Magier von London
4. Der Wächter von London
5. Der Meister von London
6. Das Rätsel von London
7. Die Mörder von London
8. Der Gefangene von London
9. Der Geist von London
10. Die Verdammten von London
11. Der Jäger von London
12. Der Retter von London

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Seitenzahl: 570

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Buch

1965 wurde in England die Todesstrafe abgeschafft – es sei denn, man ist magisch begabt: Dann gilt sie noch heute. Doch warum konnte der Hellseher Alex Verus nicht vorhersehen, dass sie ihn treffen würde? Dabei hat er sich ja häufig genug Feinde im Rat der Magier gemacht. Ihm bleibt nur eine Woche Zeit, bis das Todesurteil vollstreckt werden soll. Eine Woche, um sich irgendwie aus der Sache rauszuwinden. Da hetzen ihm seine mächtigen Gegner auch noch ihre Killer auf den Hals. Zum Glück hat Alex Verbündete, auf die er sich verlassen kann – oder?

Autor

Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals, anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.

Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:

1. Das Labyrinth von London

2. Das Ritual von London

3. Der Magier von London

4. Der Wächter von London

5. Der Meister von London

6. Das Rätsel von London

7. Die Mörder von London

Weitere Bände in Vorbereitung.

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Deutsch von Michelle Gyo

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Burned (Alex Verus 7)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Benedict Jacka

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de unter Verwendung von Motiven von RomanYa/Shutterstock.com und vectortatu via Creative Market

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27430-6V002

www.blanvalet.de

1

Der Anruf kam um kurz vor sieben.

Es war ein Samstagabend im Dezember. Ich hatte den Laden spät geschlossen; es war das letzte Wochenende vor Weihnachten, und den ganzen Tag über war viel zu tun gewesen. Erst nach sechs hatte ich endlich die letzten Kunden hinausgescheucht, die Tür verriegelt und die Lichter ausgemacht, bevor ich nach oben gegangen war. Hermes hatte sich wieder hereingeschlichen und lag zusammengerollt auf meinem Sessel, die weiße Spitze seines buschigen Schwanzes um die Nase gelegt. Gähnend ließ ich mich auf das Sofa fallen und sah meine Mails durch.

Langsam senkten sich meine Augenlider, da piepste der Kommunikator. Ich war so schläfrig, dass ich es kaum hatte kommen sehen. Hermes öffnete ein bernsteinfarbenes Auge und beobachtete, wie ich mich aufrappelte, die blau-lila Scheibe aus der Schublade nahm und sie aktivierte. Eine holografische Gestalt aus blauem Licht materialisierte sich in Miniaturformat über der Scheibe.

»Hey, Talisid«, sagte ich und legte die Scheibe auf meinen Schreibtisch. »Was gibt’s?«

»Bist du allein?«

»Ja, warum …?«

»Es gibt keine gute Art, dir das mitzuteilen«, sagte Talisid. »Levistus hat dich zum Tode verurteilt. Du sollst in einer Woche hingerichtet werden.«

Hermes hob den Kopf. Dabei änderte er seine Position ein klein wenig, streckte die schwarzen Vorderläufe gerade nach vorn, entblößte den weißen Hals und die Brust und sah mich und das Abbild von Talisid an. Seine Fellfärbung ließ ihn wie einen überdurchschnittlich großen englischen Rotfuchs aussehen. Blinzelfüchse haben keine offensichtlichen Merkmale, die sie von gewöhnlichen Füchsen unterscheiden; nur sein Blick ließ ahnen, dass …

»Alex?«, fragte Talisid. »Hast du mich gehört?«

Ich starrte Hermes an. Talisids Worte hatte ich zwar gehört, aber sie waren nicht zu mir durchgedrungen. »Ja«, sagte ich und bemerkte, dass ich das Fell auf Hermes’ Rücken und Schwanz musterte und beobachtete, wie sich die Haare bewegten. »Was?«

»Ich kann nicht lange reden«, sagte Talisid. »Es gab eine geschlossene Ratssitzung. Der Beschluss tritt in einer Woche von heute an um achtzehn Uhr in Kraft. Dann bist du geächtet. Dein Besitz kann konfisziert werden, und jeder Magier oder Ratsrepräsentant der Britischen Inseln kann dich angreifen ohne rechtliche Auswirkungen.«

»Kommenden Samstag?«

»Ja. Und noch was. Der Beschluss betrifft auch die von dir Abhängigen … Das bedeutet, alle drei aus deinem Team. Luna Mancuso, Anne Walker, Variam Singh. Ihre Namen wurden mit deinem zusammen gelistet.«

Ich starrte Talisid an.

Er blickte hinter sich auf etwas, das nicht zu erkennen war. »Ich muss los. Ich rufe in ein oder zwei Stunden wieder an, und wir entscheiden, was zu tun ist. Es könnte eine Möglichkeit geben, das zu verhindern.«

»… okay.«

»Wir reden bald weiter.« Talisids Bild erlosch.

Mir wurde bewusst, dass ich mit Hermes allein im Zimmer war. Ich ging weg vom Schreibtisch und ließ mich wieder auf die gleiche Stelle auf dem Sofa fallen. Der Platz war noch warm. Der Anruf hatte weniger als sechzig Sekunden gedauert.

Ich war betäubt, wie losgelöst. Nichts hiervon schien wirklich zu sein. Früher in diesem Jahr war ich Hilfswächter geworden, und in den darauffolgenden Monaten hatte ich immer mehr Zeit damit verbracht, mit den Wächtern zusammenzuarbeiten, hatte fast jede Woche neue Fälle angenommen. Ich hatte geglaubt, es liefe besser mit dem Rat, nicht schlechter. Und jetzt – das. Ich versuchte, zu denken, zu begreifen, wie das so schnell hatte passieren können, aber meine Gedanken entglitten mir immer wieder. Ich griff nach dem Telefon und tippte auf die Nummer eines Kontakts. Es klingelte fünfmal, bevor jemand ranging. »Hey, Alex.«

»Luna«, sagte ich. »Wir haben ein Problem.« Ich teilte ihr die Neuigkeiten in ein paar kurzen Sätzen mit.

Nachdem ich geendet hatte, entstand eine Pause. »Oh, Scheiße«, sagte Luna schließlich.

»Ja.«

»Haben wir einen Plan?«

»Nicht am Telefon.«

»Okay. Was soll ich tun?«

»Hol Anne«, sagte ich. »Hol Vari.«

»Verstanden.« Luna beendete das Gespräch.

Ich legte das Telefon weg und starrte darauf. In der Wohnung war es ruhig; das einzige Geräusch rührte von der Stadt draußen her. Ein Flugzeug flog hoch über mir vorbei, und der Lärm schwebte hinab und durch die Straßen von Camden.

Luna hatte gefragt, ob ich einen Plan hätte. Das hatte ich nicht.

Ein dumpfes Geräusch ertönte, als Hermes zu Boden sprang. Ich drehte mich um und sah, dass er über den Teppich auf meine Hand zulief, die über den Rand des Sofas baumelte. Er schnüffelte an meinen Fingern und blickte zu mir auf, die bernsteinfarbenen Augen aufmerksam und fragend.

»Ist okay«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. »Wir lassen uns was einfallen.«

Hermes setzte sich auf die Hinterläufe. Ich sah über ihn hinweg zum Fenster in den Nachthimmel.

Wenn Luna sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann trödelt sie nicht herum. Binnen einer Stunde kam die Gang vorbei.

Variam tauchte zuerst auf. Ich spürte die Signatur des Portalspruchs vom Lagerraum im Erdgeschoss, gefolgt vom Geräusch von Variams Schritten, der zwei Stufen auf einmal nahm. Er trat durch die Tür, hellwach und eilig. »Luna hat es mir erzählt«, sagte er. »Ist das wahr? Levistus?«

Ich nickte.

»Wie?«

»Lass uns warten, bis alle da sind.«

Variam nickte, nahm vermutlich an, dass ich es so hielt, weil es effizienter war. »Warst du bei einer Zeremonie?«, fragte ich.

»So in der Art«, erwiderte Variam. Er trug seinen schwarzen Turban und die dunkelrote formelle Robe, die Arachne letztes Jahr für ihn fabriziert hatte. Sie war dunkelrot wie glühende Kohle, die Farbe bewusst gewählt, um seine braune Haut zu betonen. Ich war mir nicht ganz sicher, aber die Robe schien weniger sackartig an ihm herunterzuhängen als zuvor. Variam ist klein, aber seit er als Lehrling bei Landis ist, hat er Muskeln zugelegt. »War so ein Ding mit Drinks.«

»Landis war einverstanden, dass du weg bist?«

»Ja, aber er wird eine Erklärung wollen, wenn ich zurückkomme.«

Ein weiterer Portalzauber ersparte mir eine Antwort. Wir blickten beide zur Tür, durch die Luna trat. »Anne ist auf dem Weg.«

»Wie lange?«

»Ich denke, sie hatte jemanden bei sich«, meinte Luna. Sie trug ein helles, eng sitzendes Top und dunkle Leggins, und ihr Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, leicht verschwitzt und zerzaust. Sie musste im Fitnessstudio gewesen sein und hatte sich nicht mehr umgezogen. »Aber sie hat die Nachricht erhalten.«

»Du hast dich duelliert?«, fragte Variam sie.

»Manche von uns kommen nicht zu den schicken Partys.«

»Wie bitte?«, fragte Variam, offensichtlich verärgert. »Ich habe gefragt, ob du mitkommen möchtest.«

»Ja, und was hast du geglaubt, wie das ausgehen würde?«

»Na, entschuldige bitte, dass ich versucht habe, zu …«

»Himmel!«, rief ich. »Ihr beide seid buchstäblich zum Tode verurteilt, und ihr macht das immer noch? Ernsthaft?«

Luna und Variam hielten den Mund und sahen weg. Wir warteten schweigend.

Anne kam um kurz vor acht. Sie stieg die Stufen langsamer hinauf als Luna und Variam, und sie blieb im Türrahmen stehen, sah zwischen mir und Luna und Variam hin und her. »Tut mir leid, dass ich spät dran bin«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme.

»Ist schon gut«, erwiderte ich. »Setz dich.«

»Ah …« Anne zögerte. »Da ist etwas, das ich dir vermutlich zuerst sagen sollte.«

»Was ist?«

»Ich habe noch jemanden gebeten zu kommen«, meinte Anne. Sie sah aus, als wäre ihr unbehaglich zumute. »Ich hoffe, das ist okay.«

»Was?«, fragte Variam. »Wer?«

»Er ist unten«, sagte Anne. »Vor dem Laden.« Sie sah mich an, wartete offensichtlich auf meine Antwort.

Ich schaute in die Zukunft und suchte die heraus, in der ich aufstand und das Zimmer verließ. Dann folgte ich meinem zukünftigen Ich nach unten und durch den Laden, sah zu, wie es die Tür öffnete und auf die Straße blickte und …

Sofort wechselte ich wieder in die Gegenwart, und die Zukunft verschwand. Ich starrte Anne an. »Ihn?«

»Er war da, als ich den Anruf bekam«, erklärte Anne defensiv.

Und was zur Hölle hat er bei dir in der Wohnung gemacht? Doch ich fragte nicht nach. Luna sah Anne an. »Über wen redet ihr?«

»Du weißt, wie es letztes Mal geendet hat«, sagte ich zu Anne. »Warum ist er hier?«

»Wohl wegen mir«, sagte Anne. Sie sah mich direkt an. »Ich weiß, dass ihr beide Schwierigkeiten hattet, aber wir brauchen die Hilfe.«

Ich sah weg. Variam blickte abwechselnd von Anne zu mir. »Okay, wollt ihr zwei endlich mal den Namen ausspucken? Es wird langweilig.«

»Fein.« Ich stand auf, ging hinab und folgte dem Weg, den mein zukünftiges Ich vor einer Minute genommen hatte.

Im Laden war es dunkel, und ich betätigte den Schalter. Gelbweißes Licht flackerte, spiegelte sich in Kristallkugeln und glänzte auf dem Stahl der Messer und Ritualdolche, die auf dem Tisch am anderen Ende auslagen. Ich schloss die Ladentür auf und öffnete sie. Kalte Luft strömte herein, trocken und eisig kalt trug sie den Duft nach Winter herbei.

Der Junge – eigentlich ein junger Mann – stand draußen auf dem Gehweg, sein Atem malte weiße Wölkchen in der Luft. Er trug einen dicken Mantel, und sein schwarzes Haar lugte unter einer Wollmütze hervor. Diesmal hatte er keine Brille auf; die hatte er anscheinend abgelegt, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Wir blickten einander an.

»Sonder.«

»Hi«, erwiderte er.

Eine Pause entstand. »Es ist irgendwie kalt. Kann ich reinkommen?«

Ich dachte gerade lange genug darüber nach, um zu zeigen, dass ich darüber nachdachte, dann trat ich zur Seite. Sonder kam herein, ich schloss die Tür hinter ihm. Die Geräusche der Straße verklangen, und wir standen allein im Laden.

»Okay«, sagte ich und drehte mich zu ihm um. »Warum bist du hier?«

»Anne …«

»Ich weiß, was Anne dir erzählt hat. Bist du hier, um Anne zu helfen oder dem Rest von uns?«

Sonder zögerte. Ich sah, wie die Zukünfte zwischen möglichen Antworten schwankten, sich dann beruhigten, und ich wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde. »Levistus steckt hinter der Sache. Du begreifst schon, was du riskierst, wenn du dich mit uns einlässt?«

Sonder runzelte die Stirn. »Ich bin kein Idiot.«

Ich seufzte ein wenig. »Komm mit hoch.«

Niemand sonst kam. Ich wünschte mir, dass ich wüsste, ob es alles besser oder schlechter machte, wenn ich Sonder mit einbezog.

Variam und Luna reagierten nicht, als ich Sonder ins Wohnzimmer führte – Anne hatte ihnen die Neuigkeit offensichtlich beigebracht, während ich unten gewesen war. Weder Luna noch Variam wirkten hundertprozentig begeistert – Variam hatte Sonder noch nie richtig leiden können, und Luna und Sonder waren zwar in den ersten Monaten ihrer Zeit als Lehrling auf eine Art Freunde gewesen, hatten sich aber nie wirklich nahegestanden. Rückblickend betrachtet, hatte diese Freundschaft wohl mehr auf Sonders Seite bestanden. Lunas anfängliche Verbindungen in der magischen Gesellschaft waren äußerst dünn gesät gewesen, und ein Magier in ihrem Alter, der sie gut behandelte, war vermutlich eine hübsche Abwechslung für sie gewesen, doch dann hatte sie selbst Leute kennengelernt und sich von ihm entfernt. Sonder hatte mit ihr befreundet bleiben wollen – tatsächlich hatte er sogar auf mehr als das gehofft, doch Luna hatte ihm eine ziemlich eindeutige Abfuhr erteilt. Ich wusste immer noch nicht, wie gut Sonder die aufgenommen hatte.

»Danke, dass du hergekommen bist«, sagte Anne.

»Wie versprochen«, meinte Sonder. »Spielt ihr immer noch Siedler?«

»Für so was hatten wir zu wenig Zeit«, sagte ich.

»Wirst du dich setzen?«, fragte Variam.

»Oh, sicher.« Sonder trat einen Schritt vor, sah sich ein letztes Mal um und blieb dann wieder stehen. »Äh, was hat es mit dem Fuchs auf sich?«

Hermes saß neben dem Türpfosten zu meinem Schlafzimmer, die Ohren gespitzt und den Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. Von dort aus hatte er zugesehen, wie alle eintrafen, und jetzt erwiderte er Sonders Blick reglos. »Warum fragst du ihn nicht?«, meinte ich.

Sonder warf mir einen verwirrten Blick zu.

»Sein Name ist Hermes, und er wohnt hier«, erklärte ich. »Sieh mal, die Zeit drängt ein wenig. Ist es okay, wenn wir uns später auf den neuesten Stand bringen?«

»Oh. Okay.«

Eine Glocke ertönte auf dem Schreibtisch. Luna drehte sich um. »Talisid?«

Ich nickte und ging hinüber, um den Kommunikatorfokus zu holen. Sonder nahm ein Stück von den anderen entfernt Platz, und ich kam zurück, legte die Scheibe auf den Wohnzimmertisch und aktivierte sie.

Blaues Licht flackerte, und dann materialisierte sich Talisids Gestalt. Er sah nach links und rechts, blickte allen in die Gesichter, hielt bei Sonder kurz inne, bevor er sich wieder den anderen zuwandte. Der Einzige, den er nicht bemerkte, war Hermes, der außerhalb vom Radius des Fokus saß. »Ihr seid alle hier. Gut.«

»Kannst du frei reden?«, fragte ich.

»Ja.«

»Dann erzähl es uns von Anfang an.«

»Der Rat kam heute Nachmittag zusammen«, begann Talisid. »Eine geschlossene Sitzung nur für den Seniorrat. Es standen zwei Punkte auf der Agenda, und der Antrag auf deine Hinrichtung war einer davon. Levistus war der Verfasser. Die Abstimmung ging drei zu eins aus.«

Der Weißmagierrat ist das beschlussfähige Organ der Weißmagier von Britannien. Er hat dreizehn Mitglieder: Sechs sind nicht stimmberechtigt und werden als Juniorrat bezeichnet, und sieben sind stimmberechtigt, genannt Seniorrat. Unter ihnen befindet sich eine ausgedehnte Organisation und Beamtenschaft (zu der Talisid gehört), aber die sieben Mitglieder des Seniorrats haben das Sagen.

Das Wissen, dass der Seniorrat den Beschluss autorisiert hatte, ließ mich schaudern. Innerhalb Britanniens verfügt der Seniorrat über die fast absolute Macht. Nur wenige Gesetze schränken diese ein, und es gibt keine höhere Autorität, an die man appellieren kann. Wenn sie mich tot sehen wollten …

»Wie lautet die Anklage?«, fragte Sonder.

»Verschwörung und Aufwiegelung gegen den Rat der Weißmagier.«

»Welche Verschwörung?«, fragte Luna.

»Das spezifiziert der Beschluss nicht.«

»Sie müssen doch Beweise vorlegen«, sagte Variam. »Oder nicht?«

»Nein, müssen sie nicht«, erklärte ich. »Wächter ja, weil sie dem Seniorrat unterstehen. Aber der Seniorrat untersteht niemandem.« Ich sah zu Sonder, um zu erfahren, ob er dem widersprechen würde, doch das tat er nicht.

»Mehr braucht es nicht?«, fragte Luna fassungslos. »Drei Stimmen?«

»Es waren nur vier anwesend.«

»Wie ist so was überhaupt möglich?« Mir gelang es, meine Stimme ruhig zu halten, aber es war nicht leicht. »Es ist Mitte Dezember. Der Rat sollte Sitzungspause haben.«

»Was unzweifelhaft der Grund dafür ist, dass das jetzt passiert«, sagte Talisid. »Levistus berief genau zu dem Zeitpunkt eine Notfallsitzung ein, zu dem die Mitglieder des Seniorrats, die am wahrscheinlichsten in Opposition gegangen wären, außer Landes waren. Seine beiden engsten Anhänger nahmen hingegen teil. Vier reichen für ein Quorum.«

»Okay«, sagte ich. »Wenn sie den Antrag abgenickt haben, warum treten mir dann die Wächter nicht schon die Tür ein?«

»Das können sie nicht«, sagte Sonder.

Alle drehten sich um und sahen Sonder an. »Es gab keine volle Anwesenheit«, erklärte er. »Der Rat kann zwar einen Beschluss mit einem Quorum von vieren verabschieden, allerdings keine Notfallbeschlüsse.«

»Sonder hat recht«, sagte Talisid. »Jeder Beschluss, der nicht während der vollen Anwesenheit des Seniorrats verabschiedet wird, tritt erst mit einer Verzögerung von einer Woche in Kraft. Diese Sicherheitsmaßnahme dient dazu, den Missbrauch eines Quorums zu verhindern.«

»Eine Sicherheitsmaßnahme?«, fragte Luna. »Dann haben wir also noch eine Woche zu leben?«

»Wie ist das überhaupt möglich?«, wollte Variam wissen. »Der Rat kann nicht einfach so jemanden zum Tode verurteilen. Es muss doch eine Verhandlung oder so was geben.«

»Ich denke, die hatten wir gerade«, sagte ich.

»Das ist doch Bullshit«, erwiderte Variam. »Ich war im Frühling bei Ceruleans Verhandlung dabei. Sie brauchten zwei Monate, um die überhaupt anzusetzen, und er war nicht mal da!«

»Cerulean war ein Wächter«, sagte Sonder. »Na ja, er ist ein Wächter … Ich meine, sie haben ihn nicht formell ausgestoßen und … aber egal. Sie können ohne Verhandlung keinen Weißmagier verurteilen, aber …«

»… aber ich bin kein Weißmagier«, beendete ich den Satz. »Was ist eigentlich die genaue Definition eines Weißmagiers?«

»Du musst entweder vom Rat anerkannt sein oder eine offizielle Ratsposition innehaben«, erklärte Sonder. »Wie zum Beispiel ein Wächter sein.«

»Auf gewisse Art bist du ein Wächter«, sagte Luna.

»Ich bin ein Hilfswächter«, entgegnete ich. »Ich schätze, das zählt nicht.«

»Ich fürchte, das tut es nicht«, sagte Talisid.

»Okay«, meinte ich. »So weit zu mir. Was ist mit Luna, Variam und Anne? Warum hängen sie mit drin?«

»Der Beschluss gilt für dich und diejenigen, die von dir abhängen«, sagte Talisid. »Das hat eine sehr besondere Bedeutung im Ratsrecht. Abhängig ist jeder, für den du die alleinige Verantwortung hast. Luna fällt in diese Kategorie, weil sie dein Lehrling ist. Anne und Variam auch, da du sie für das Lehrlingsprogramm sponserst.«

»Aber ich habe sie nicht für das Lehrlingsprogramm gesponsert! Ich habe nur …«

»Ich weiß«, unterbrach mich Talisid. »Unglücklicherweise scheinst du das so gut gemacht zu haben, dass es den Rat überzeugt hat.«

Mich beschlich ein wirklich übles Gefühl. Als ich Anne und Variam kennengelernt hatte, hatten sie am Lehrlingsprogramm der Weißmagier teilgenommen und waren von dem Rakshasa Jagadev gesponsert worden. Nach ihrem Rauswurf bei Jagadev hatte ich Anne und Variam eingeladen, bei mir zu wohnen, und versucht, den Magiern, die das Lehrlingsprogramm führten, den Eindruck zu vermitteln, dass ich ihre Sponsorschaft übernommen hätte. Es hatte funktioniert – technisch gesehen war es ihnen nicht mehr erlaubt, daran teilzunehmen, doch es hatte auch niemand in Zweifel gezogen. Ich hatte sie im Lehrlingsprogramm halten können.

Und dadurch brachte ich sie vielleicht gerade um.

»Können wir das nicht anfechten?«, fragte Sonder. »Wenn sie nie offiziell gesponsert wurden …«

»Es würde schwierig werden«, sagte Talisid. »Sie waren de facto lange genug Sponsorschaftsmitglieder, um offiziell anerkannt zu sein.«

»Aber sie waren nie richtig eingeschrieben, oder?«, warf Sonder ein. »Wenn wir den Rat dazu bringen einzuräumen, dass sie nie offiziell alle Förmlichkeiten durchlaufen haben …«

»Dann würden nur ich und Alex hingerichtet werden?«, fragte Luna.

»So meinte ich das nicht«, sagte Sonder rasch. »Ich wollte nur, ähm …«

»Ernsthaft?«, fragte Luna. Ihre Stimme klang eisig. »Was hast du dann gemeint?«

»Ich fürchte, das ist ein strittiger Punkt«, sagte Talisid, bevor Sonder etwas erwidern konnte. »Jede Anfechtungsklage würde viel zu lange dauern. Viel länger als eine Woche.«

»Okay«, sagte ich. »Wichtige Frage. Du sagtest, Annes, Lunas und Varis Namen stehen auf diesem Beschluss. Sind sie gelistet als von mir abhängig, oder sind sie davon unabhängig aufgelistet?«

Talisids Gestalt griff nach einem Stück Papier. »Ersteres«, sagte er nach einem kurzen Augenblick. »Der genaue Wortlaut ist ›und seine Abhängigen‹.«

»Dann würden sie nicht dem Beschluss unterliegen, wenn sie nicht meine Abhängigen wären. Ja?«

Talisid sah beunruhigt aus. »Ja. Jedoch wäre mir wohler, wenn du gegen den Beschluss selbst vorgehen würdest.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Variam mich.

»Notfallkonzepte. Okay, Talisid. Wie kommen wir da raus?«

»Der Beschluss wurde vom Seniorrat verabschiedet«, sagte Talisid. »Er kann vom Seniorrat gekippt werden.«

»Wie?«

»Zweck des einwöchigen Aufschubs ist es, Gegenstimmen zuzulassen«, sagte Talisid. »Reicht eines der abwesenden Ratsmitglieder seine Stimme in diesem Zeitraum ein, wird diese behandelt, als wäre sie während der Sitzung abgegeben worden.«

»Und es stand drei zu eins«, sagte ich. »Wenn die drei abwesenden Seniorratsmitglieder dagegen stimmen …?«

»Es sind nur zwei nötig. Ratsbeschlüsse erfordern eine Mehrheit.«

»Okay«, sagte ich. »Was sind die Optionen?«

»Die vier anwesenden Mitglieder des Seniorrats waren Levistus, Alma, Sal Sarque und Bahamus«, erklärte Talisid. »Bleiben drei, die noch abstimmen könnten: Spire, der Rote Druss und Undaaris. Druss sollte am leichtesten zu überzeugen sein: Will Levistus dich vernichten, wird Druss wahrscheinlich dagegenhalten, nur um gegen ihn zu arbeiten.«

»Und die beiden anderen?«

»Unklar. Beide sind Wechselwähler, die sich weder nach Levistus noch Druss ausrichten.«

»Also müssen wir sie überzeugen?«

»Aller Voraussicht nach.«

»Kannst du Treffen arrangieren?«

»Halt«, warf Sonder ein. »Das sind Seniorratsmitglieder. Du kannst nicht einfach reinspazieren und …«

»Keine Garantie, aber ja, vermutlich«, sagte Talisid. »In diesem Kontext ist eine Zurückweisung die schnelle Variante, Nein zu sagen.«

Sonder wandte sich um. »Wie schnell?«, fragte ich.

»Beide sind außer Landes, aber sie sollen vor Montag zurückkehren. Bis morgen sollte ich etwas haben.«

»Können wir sonst noch etwas tun?«

»Gegenwärtig nein«, sagte Talisid. »Ah, noch eine Sache. Während wir eine politische Herangehensweise versuchen, rate ich dringend von irgendwelchen … extremen … Maßnahmen ab, um dieses Problem eigenständig zu lösen. Das würde jede mögliche Lösung verkomplizieren.«

»Das behalten wir im Kopf.«

»Dann bis morgen.« Talisid hielt inne, sah sich im Kreis um. »Haltet für den Moment einfach durch. Ich verspreche, ich tue alles, was ich kann.«

Ich nickte. Talisids Bild erlosch, und der Kommunikator wurde dunkel.

»Alles, was er kann«, murmelte Variam. »Das glaube ich, wenn ich es sehe.«

»Er wird uns nicht linken, oder?«, fragte Luna.

»Warte, was?«, meinte Sonder. »Warum sollte er euch linken?«

»Ich weiß, wir hatten Unstimmigkeiten mit Talisid«, sagte ich. »Aber er hat uns nie wirklich betrogen oder belogen.«

»Soweit wir wissen«, merkte Luna an.

»Würde er uns wirklich reinlegen wollen, hätte er uns gar nicht erst kontaktiert«, sagte ich. »Er hätte einfach abwarten können. Ich habe nicht gerade viele andere Freunde beim Rat, die mir diese Botschaft hätten überbringen können.«

»Früh über die Info zu verfügen hilft nicht sonderlich, wenn wir nichts dagegen tun können«, sagte Variam.

»Er hat uns Zeit verschafft.«

»Ja, aber wird das tatsächlich helfen?«, fragte Luna. »Diese ganze Sache mit dem Stimmenfang – kann das funktionieren?«

»Sonder?«, fragte ich. »Du bist der Experte für Ratspolitik.«

»Ich bin nicht wirklich ein Experte. Ich war nicht einmal wieder im Land, bis …«

»Du weißt mehr als der Rest von uns«, fuhr ich fort. »Passt das, was er gesagt hat, zu dem, was du weißt?«

»Ich schätze, ja«, erwiderte Sonder zögerlich. Sonder fährt die politische Schiene für Weißmagier, und er hat sich zu einem der aufsteigenden Sterne des Rats entwickelt. Den vergangenen Herbst und Winter verbrachte er in Washington, knüpfte Kontakte mit dem nordamerikanischen Rat und hat inzwischen eine Stelle in der Verwaltung der Wächter inne. »Ich meine, ja, Druss und Levistus sind Feinde, das weiß jeder. Da gibt’s diese ganze Isolationisten-Direktoren-Sache. Spire soll größtenteils die Unabhängigen repräsentieren. Undaaris ist von allem etwas.«

»Also Wechselwähler, wie er sagte.«

»Ziemlich.«

»Aber wir brauchen nur einen von ihnen?«, fragte Luna.

»Nicht direkt«, sagte ich. »Du hast gehört, was Talisid sagte. Jeder von diesen dreien kann seine Stimme nach dem Treffen einreichen. Er sagte nicht, wie. Stimmt also einer von ihnen für Levistus’ Antrag …«

»Dann sind wir am Arsch«, sagte Variam. Er blickte grimmig drein. »Wie stehen die Chancen?«

»Wir brauchen zwei von dreien, die zu unseren Gunsten stimmen«, sagte ich. »Drei sehr mächtige, sehr wichtige Magier, die vermutlich vieles lieber tun würden, als uns zu helfen. Und wenn einer von ihnen gegen uns stimmt, ist es vorbei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Levistus sehr viel mehr Möglichkeiten hat, Stimmen zu kaufen, als wir.«

Stille senkte sich herab. Ich sah mich nicht um und hob nicht den Kopf. Ich wusste, was ich zu tun hatte, aber ich wollte es nicht aussprechen.

»Okay«, sagte Sonder. »Nun, ich schätze, wir sollten das Offensichtliche in Erwägung ziehen.«

»Das wäre?«, fragte Luna.

»Mit Levistus reden«, erwiderte Sonder.

Wir alle starrten ihn an.

»Seht mal, er will offensichtlich etwas. Könnten wir nicht herausfinden, was das ist?«

»Äh«, sagte Luna. »Ich denke, Levistus hat gerade ziemlich klargemacht, was er will.«

»Nein, er hat nur einen Antrag eingereicht«, sagte Sonder. »Seht mal, die Ratsmagier machen das die ganze Zeit. Das ist Verhandlungstaktik. Es dient vor allem dazu, dich an den Tisch zu bringen und einen Kompromiss auszuarbeiten.«

»Sonder«, sagte ich, »weißt du, warum Levistus das tut?«

»Nun … ich gehe davon aus, es hat etwas mit den Vorfällen von vor drei Jahren zu tun, richtig? Mit dem Schicksalsweber und Belthas …«

»Nein«, sagte ich. »Es geht um das, was dieses Jahr geschah. Mit der Weißen Rose.«

»Aber Levistus hatte nichts mit der Weißen Rose zu schaffen«, sagte Sonder.

Wir alle sahen ihn an.

Sonder blickte sich um. »Hatte er?«

»Ich hatte ein Treffen mit Levistus während der Angelegenheit mit der Weißen Rose«, sagte ich. »Direkt bevor die Anklageerhebung gegen Vihaela ausgegeben wurde. Du warst zu der Zeit in Washington. Levistus stellte mich vor eine Wahl. Entweder ich lasse die Weiße Rose in Ruhe, verfolge sie nicht länger, oder er zerstört mich. So hat er es formuliert. Und nicht nur mich, sondern auch all meine Verbündeten und Freunde. Darum geht es jetzt. Um den Schicksalsweber und Belthas auch, aber vor allem um die Weiße Rose. Levistus versuchte, mich dazu zu zwingen, seinen Befehlen zu folgen. Ich lehnte ab. Menschen wie er vergessen so etwas nicht. Er hat es auf Halde gelegt, abgewartet. Jetzt ist die Rechnung fällig.«

»Übersetzt heißt das, er will uns alle tot sehen«, sagte Luna.

»Okay, vielleicht können wir es anfechten«, sagte Sonder. »Ich könnte zum Konklave gehen und …«

»Das muss ein Witz sein, verdammt noch mal«, fuhr Variam dazwischen. »Du glaubst, die kippen einen Ratsbeschluss? Innerhalb einer Woche?«

»Es ist nicht unmöglich …«

»Das Konklave macht Pause bis ins neue Jahr«, sagte Variam. »Und selbst dann fehlt ihnen die Befugnis.«

»Es gab Fälle, in denen sie ein Veto gegen eine Ratsentscheidung eingelegt haben«, widersprach Sonder.

»Wie oft? Zweimal in den letzten fünfzig Jahren?«

»Es gibt eine andere Möglichkeit«, sagte Anne leise.

Luna, Variam und Sonder wandten sich überrascht zu ihr um. Anne ist für gewöhnlich so schweigsam in unseren Diskussionen, dass man ihre Anwesenheit leicht vergessen kann.

»Was?«, fragte Luna.

Anne nickte mir zu. »Darauf wolltest du hinaus mit deiner Frage zu den Abhängigen, oder?«

Die anderen blickten mich fragend an. »Der Beschluss gilt für meine Abhängigen.« Ich wollte es nicht aussprechen, doch ich zwang mich dazu. »Wärt ihr nicht von mir abhängig, würde er nicht für euch gelten.«

»Du meinst, bevor die Woche zu Ende ist?«, fragte Variam.

»Es ist knapp, aber machbar.«

»Warte mal kurz«, unterbrach Luna. »Das würde uns helfen. Dir nicht.«

Variam runzelte die Stirn. »Ja. Ich meine, das würde nicht verhindern, dass …«

Schweigend blickte ich Variam an.

Ich sah, wie sich seine Miene wandelte, als er begriff. »Oh, nein. Auf gar keinen Fall. Du machst nicht so einen Selbstaufopferungsscheiß.«

»Ich sehe das wie Vari«, sagte Luna. »Wir geben dich nicht einfach so auf.«

»Es könnte eine gute Idee sein«, sagte Sonder. »Ich meine, wenn …«

Variam zeigte mit dem Finger auf Sonder. »Halt verdammt noch mal die Schnauze!«

»Ich denke nur, dass wir uns die Alternativen ansehen sollten.«

Luna öffnete den Mund, und ich sah, dass sie kurz davor stand auszurasten.

»Hört auf«, fuhr ich dazwischen. »Wir haben keine Zeit für so was. Nicht jetzt.«

Lunas Augen blitzten, aber sie gehorchte.

»Ich opfere gar nichts«, sagte ich. »Ich werde mit Talisid zusammenarbeiten und versuchen, diesen Beschluss zu durchkreuzen. Aber ganz gleich, was ich tue, die Chancen stehen gut, dass es nicht funktioniert. Und dafür möchte ich einen Notfallplan haben. Ich setze nicht mehr von euch dem aus, als ich muss.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Variam stirnrunzelnd.

»Ist mir egal.« Ich sah mich um. »Also, neues Problem. Wie schaffen wir eure Abhängigkeit von mir bis zur Deadline ab?«

Einen Moment herrschte Schweigen. »Nun …«, sagte Sonder. »Sie könnten ihre Lehre bei anderen Magiern antreten.«

»Ich bin bereits bei einem anderen Magier in der Lehre, du Vollpfosten«, sagte Variam.

»Ihr wisst, wie lange eine Genehmigung durch den Rat dauert«, sagte ich. »Besonders zu dieser Zeit des Jahres. Ich denke nicht, dass wir rechtzeitig eine Lehrstelle genehmigt bekämen, und selbst wenn, würde das nichts ändern. Da sie Vari auf die Liste gesetzt haben, sagt das auch, dass es mich nicht daran hindert, ihn zu sponsern, auch wenn er der Lehrling eines anderen ist.«

»Warte!«, rief Sonder. »Das ist es!«

»Was?«, fragte Luna. Ihrer Miene nach zu urteilen war sie immer noch nicht in guter Stimmung.

»Eine Lehrstelle bekommen wir nicht rechtzeitig durch, aber wir können einen Sponsor wechseln.« Sonder blickte aufgeregt drein. »Ich kenne jemanden, der das letztes Jahr gemacht hat. Daran erinnere ich mich, weil das direkt vor meinem Flug nach Washington geschah. Dafür braucht man nur einen Magier, der bezeugt, dass er die Sponsorschaft übernimmt, sowie zwei weitere Magier als Zeugen.«

»Aber wie lange würde das dauern?«, fragte ich. »Wenn das ein anderer …«

Sonder schüttelte den Kopf. »Es braucht keine Ratsgenehmigung. Lediglich ein Repräsentant des Lehrlingsprogramms muss das beglaubigen.«

»Vari?«, fragte ich. »Hört sich das für dich richtig an?«

»Da bin ich überfragt«, sagte Variam. »Ich weiß, dass man das ändern kann, ich weiß aber nicht, wie.«

»Es ist legal«, sagte Sonder. »Versprochen.«

Ich sah die anderen an. »Okay. Falls wir das machen, wen sollten wir fragen?«

»Landis«, sagte Luna sofort.

Ich sah Variam an. »Wäre er bereit dazu?«

Variam dachte kurz nach, dann nickte er. »Ja. Ihn dazu zu bringen, Luna und Anne zu übernehmen, wird etwas Überzeugungsarbeit brauchen, aber er wird es tun. Er lässt sie nicht im Regen stehen.«

Landis ist Variams Meister und ein Ratswächter. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als Variam einem Wächter nicht mal so weit über den Weg getraut hätte, wie er ihn hätte werfen können. Dass er jetzt so über Landis sprach, bedeutete viel. »Landis würde mich für das Programm sponsern?«, fragte Anne. »Aber ich bin nicht einmal mehr ein Mitglied.«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Sonder. »Man muss keine Kurse belegen. Du musst einfach nur nicht von Alex gesponsert werden.«

»Okay«, sagte ich. »Klingt gut. Dann bleibt nur noch ein Problem.« Mein Blick ruhte auf Luna.

»Es wird funktionieren«, sagte Sonder. »Ich habe gesehen …« Er bemerkte, wohin mein Blick ging, und verstummte. »Oh.«

»Oh?«, fragte Variam. »Was – oh?«

»Was Sonder erklärt hat, wird für dich und Anne funktionieren«, sagte ich. »Nicht für Luna.«

»Aber Landis könnte …« Variam verstummte.

»Ja«, meinte ich. »Selbst wenn Landis sie übernimmt, wäre sie immer noch mein Lehrling. Was bedeutet, dass sie nach wie vor auf der Abschussliste stünde.«

»Nun …«, sagte Sonder. »Du könntest die Lehre auflösen lassen.«

Ich spürte Wut in mir aufblitzen. Und genau das hast du gewollt, oder? Dies war Thema einer der letzten Unterhaltungen im vergangenen Jahr zwischen Sonder und mir gewesen. Er hatte gewollt, dass Luna sich von mir fernhielt, von meinem Einfluss …

Ich spürte, wie Annes Blick zu mir wanderte, und rang die Gefühle nieder. Dafür war keine Zeit.

»Ich möchte die Lehre bei Alex nicht aufgeben«, sagte Luna. »Nicht so.«

»Aber wenn es der einzige Weg ist …«

»Das ist egal«, sagte ich. »Du weißt, wie langsam der Gerichtshof des Rats arbeitet. Bis wir eine Petition für die Auflösung eingereicht hätten, sie entgegengenommen und eine Anhörung festgesetzt würde, es zur Anhörung gekommen und Luna als unabhängiger Lehrling anerkannt wäre, wären wir schon fünfmal tot.«

»Was, wenn du abhaust?«, überlegte Anne.

»Du meinst, außer Landes?«, fragte Luna.

»Das könnte funktionieren«, meinte Variam. »Du müsstest nur ein Land mit miesen Beziehungen zum britischen Rat aussuchen, damit die Wächter keine Auslieferung durchkriegen.«

»Und während du weg bist, könnte Alex mit der Auflösung vor Gericht gehen«, sagte Sonder. »Anschließend könntest du zurückkehren.«

»Sonder, wenn Luna abhauen muss, dann, weil der Beschluss verabschiedet wurde und damit auch für mich gilt«, sagte ich. »Ich werde keine Verhandlungsbasis für ein Gerichtsverfahren haben.«

»Oh.«

»Ich schätze, das könnte funktionieren«, sagte Luna langsam, »aber …«

»Besser verbannt als tot«, erwiderte Variam.

»Aber was dann?«, fragte Luna. »Es ist ja nicht so, als würde das irgendwann ablaufen, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Das nicht. Wenn du das tust – wenn irgendeiner von uns das tut –, werden wir verbannt, bis der Rat sich entscheidet, den Beschluss aufzuheben. Was vermutlich für immer bedeutet. Wir werden niemals zu unserem alten Leben zurückkehren können.«

»Das möchte ich nicht«, sagte Luna. »Nicht wenn es eine andere Möglichkeit gibt.«

»Welche andere Möglichkeit?«, fragte Variam. »Denn wenn die Abstimmung scheitert, was durchaus möglich ist, dann werden die Wächter bei dir auf der Matte stehen. Und glaub nicht, dass du dich verstecken und abwarten kannst, bis das vorübergeht. Menschen zu schnappen ist der Job der Wächter.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht davonzulaufen«, sagte Luna.

»Es gibt vielleicht keine Wahl!«

»Möglicherweise gibt es die.«

Wir alle sahen Luna an. »Was meinst du?«, fragte Variam.

»Das Problem ist, dass ich Alex’ Lehrling bin, richtig?«, sagte Luna. »Was, wenn wir das ändern würden?«

»Wie würde …«, setzte ich an, dann verstummte ich.

Variam begriff es eine Sekunde später. »Du willst deine Gesellenprüfung ablegen?«

»Das würde funktionieren, oder?«, fragte Luna. »Der Beschluss lautet auf Alex’ Abhängige. Wäre ich eine Magiergesellin, muss ich von niemandem abhängig sein.«

»Das würde funktionieren«, sagte ich langsam, »aber …«

»Nein, würde es nicht«, warf Variam ein. »Hast du die Warteliste für die Prüfungen gesehen? Die sind ellenlang, das könnte Monate dauern.«

»Tatsächlich sind sie das nicht«, entgegnete Luna.

»Okay«, sagte ich zu Luna. »Du hast offensichtlich etwas im Sinn. Lass hören.«

»Die Sache ist die«, begann Luna. »Ich weiß, dass dein Plan für mich immer vorgesehen hat, eines Tages diese Prüfungen zu machen, aber ich hatte Sorge, dass der Rat etwas unternehmen könnte, um das zu verhindern. Dass er behaupten würde, ich sei nur eine Adeptin, weshalb es mir nicht erlaubt sei, oder so etwas in der Art. Also habe ich mir die Gesetze angesehen. Dabei hat sich herausgestellt, dass jeder Lehrling das Recht hat, sich als Geselle prüfen zu lassen. Es gibt nur drei Bedingungen.« Luna hielt die Finger hoch, zählte daran eine nach der anderen ab. »Zuerst musst du offiziell vom Rat als Lehrling anerkannt sein. Erledigt. Zweitens darf man nicht für Verbrechen oder Verstöße gegen die Konkordia verfolgt werden. Auch erledigt. Drittens muss man für das Lehrlingsprogramm gesponsert werden, und man muss die Kurse mindestens fünfzehn Monate besucht haben. Ich bin mehr als doppelt so lange dabei.« Luna senkte die Hand und blickte sich um. »Es erfordert keine Ratsgenehmigung. Besagt nicht einmal, dass man ein Magier sein muss. Es besagt nur, dass man ein anerkannter Lehrling sein muss. Das habe ich überprüft. Und es gibt ein Zeitlimit. Wenn man den Antrag einreicht, kann man verlangen, dass die Tests innerhalb eines Zeitfensters stattfinden. Das Minimum, das man einfordern kann, sind fünf Tage.« Luna hob die Augenbrauen. »Das ist innerhalb der Deadline.«

»Okay, das mag ja sein, was das Gesetz technisch besagt«, sagte Sonder. »Aber niemand macht das wirklich so.«

»Keine Regel besagt, dass man es nicht kann.«

»Das ist egal«, erwiderte Sonder. »Du würdest die Prüfungsvereinbarungen nicht abgehandelt kriegen.«

»Keine Regel besagt, dass man die braucht.«

»Ihr beide hängt uns ab«, sagte ich. Sowohl Variam als auch Anne sahen verwirrt drein. »Worauf wollt ihr hinaus?«

»Diese Wartelisten, von denen Variam gesprochen hat«, erklärte Luna. »Die sind nicht für die Prüfungen. Die sind für die Treffen mit den Magiern, die die Prüfungen ansetzen. Es dauert so lange, weil sie sich darauf einigen müssen, was in den Prüfungen vorkommt. Lässt man den Teil aus, kann man die Warteschlange umgehen.«

»Ja, nur dass es dann keine Einschränkungen gibt, welche Aufgaben man dir stellt«, sagte Sonder.

Luna zuckte mit den Schultern. »Wir würden sowieso nicht viel aus ihnen rausbekommen, auch wenn wir verhandelten.«

»Das ist verrückt«, sagte Sonder. »Die könnten dir alles vorsetzen! Sie könnten dich umbringen!«

»Ach«, sagte Luna. »Sie töten heute fast keine Lehrlinge mehr bei diesen Prüfungen. Der letzte Fall ist über zehn Jahre her, und das geschah nur, weil der Betreffende Herzprobleme hatte.«

»Warte«, sagte Anne. »Das soll die gute Nachricht sein?«

»Ist es wirklich so viel gefährlicher als der Kram, den wir sowieso machen?«, fragte Luna.

»In Ordnung.« Ich hob die Hand. »Lasst mich kurz nachdenken.«

Die vier verstummten, sahen mich an. »Luna«, sagte ich nach einem Augenblick. »Du hast morgen früh eine Stunde mit Chalice, richtig?«

Luna nickte.

»Dann komme ich mit. Wenn sie denkt, dass du bereit bist, dann fahren wir mit deinem Plan fort.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte Sonder.

»Dann sieh bitte zu, dass du was Besseres findest«, erwiderte ich. »Für Luna und für uns alle. Wir haben nicht gerade viele Optionen. Du kennst sehr viel mehr Magier, die Experten in Ratsrecht sind, als ich. Wenn du irgendwas ausgraben kannst, das uns helfen würde, wären wir dir sehr dankbar.«

Sonder sah nicht glücklich drein, aber er schwieg.

»Vari«, sagte ich. »Landis wird nach der Party wohl nach Hause gehen. Kannst du ihn dort treffen? Ihm unseren Plan beibringen?«

»Ja«, sagte Variam. Er sah Anne an. »Du kommst besser auch mit. Er wird mit dir reden wollen.«

»Dann reicht das für heute Abend«, sagte ich. Ich war müde und hatte Probleme, mich zu konzentrieren. Ganz plötzlich wollte ich allein sein. »Lasst uns etwas schlafen.«

Die anderen rührten sich nicht. »Was ist mit dir?«, fragte Luna.

»Ich werde den politischen Ansatz mit Talisid ausfechten.«

»Mit uns«, sagte Variam.

Ich seufzte. »Ja, mit euch. Und jetzt los. Ihr habt was zu tun.«

Alle vier zögerten, aber ich brachte sie schließlich in Bewegung, scheuchte sie aus dem Wohnzimmer und nach unten zum Lagerraum zu dem kleinen Fleck in der Mitte, der freigeräumt und für Portale bereit war. Sonder beeilte sich am meisten. Anne zögerte am längsten; sie blieb an der Tür stehen und wäre wohl geblieben, wenn Variam sie nicht gedrängt hätte mitzukommen. Luna ging ohne Proteste, aber sie hielt ein Auge auf mich, und ich wusste, dass sie mich morgen erwarten würde. Es schien lange zu dauern, bis sich das letzte Portal schloss und ich allein im Lagerraum war.

2

Ich schleppte mich zurück nach oben ins Wohnzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen. Ganz plötzlich war die Energie, die mich die Diskussion hatte durchstehen lassen, verschwunden.

Wie alle Divinatoren bin ich ein Denker. Stehe ich vor einem Problem, ist mein erster Instinkt, es in die Hand zu nehmen, hochzuhalten, herumzudrehen und aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Manchmal sehe ich die Antwort sofort, dann wieder braucht es mehr Arbeit, und ich bitte andere um Rat. Während ich das Problem mit jemandem durchspreche, bin ich nur halb bei der Diskussion. Die andere Hälfte zupft weiter an dem Problem herum, untersucht es im Licht der Vorschläge, wartet auf den Gedankenblitz, der eine Lösung bedeutet. Manchmal ist es eine halbe Lösung, manchmal eine ganze, aber sie ist selten falsch. Wenn ich dieses Gefühl bekomme, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Manchmal bekomme ich dieses Gefühl jedoch gar nicht.

Lunas, Variams, Talisids und Sonders Vorschläge waren logisch gewesen, und die Vorgehensweisen, für die wir uns entschieden hatten, ergaben einen Sinn. Ich glaubte, dass es funktionieren könnte. Aber ich wusste nicht, ob es funktionieren würde. Und ohne dieses sichere Gefühl verspürte ich ein anhaltendes Unbehagen, das nicht weggehen würde. Meine Glieder waren kalt, und ich zitterte. Das Wetter draußen war eisig, und selbst hier in meinem Zimmer schien die Wärme nicht zu siegen.

Etwas Kühles stupste gegen meine Hand. Ich sah auf und erblickte Hermes neben mir, der auf dem Teppich stand.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich zu ihm. »Es könnte funktionieren. Vielleicht …«

Hermes warf mir einen fragenden Blick zu.

»Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher.« Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Ich fühlte mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Über die Jahre hinweg habe ich gelernt, dass es eine Person gibt, mit der ich reden sollte, wenn das passiert. »Ich gehe zu Arachne. Möchtest du mitkommen?«

Hermes blinzelte einmal.

Ich nahm meinen Mantel, dann ging ich zum Schreibtisch und holte meinen Portalstein für Arachnes Höhle heraus. Trotz der Bezeichnung war es kein Stein, sondern ein Stück Holz, alt und verwittert und mit eingeritzten Runen. Ich rechnete nicht mit Schwierigkeiten, aber trotzdem sah ich in die Zukünfte, in denen ich zu Arachnes Höhle portete. Runter in den Lagerraum, durch das Portal und …

Au. Was zur Hölle?

Ich sah erneut hin. Schmerz, Gewalt. Ich konzentrierte mich, und die Zukünfte verschoben sich. Kampf, mehr Gewalt … Ich zog mich zurück, begann pfadzuwandeln, und dieses Mal schenkte ich dem meine volle Aufmerksamkeit. Was würde geschehen, wenn ich diesen Portalstein nutzte, hinaustrat in Arachnes Schlucht und dort stand?

Mir würde die Scheiße aus dem Leib geprügelt werden, das war es. »Okay, Planänderung«, sagte ich zu Hermes. »Da wartet Ärger auf uns vor Arachnes Höhle.« Ich setzte mein zukünftiges Ich in Bewegung, versuchte, mehr über die Angreifer herauszufinden. Menschlich, das war offensichtlich. Zwei … nein, drei. »Ein Team aus dreien. Die ersten beiden sind entweder Adepten oder Sensitive, glaube ich. Der Dritte …« Ich probierte eine Zukunft, in der ich mit einer Taschenlampe in dessen Richtung leuchtete und einen guten Blick auf ihn bekam, bevor ich zu Boden geprügelt wurde. »Warte mal kurz, den Kerl kenne ich.« Weiß, Anfang zwanzig, sauber geschorenes braunes Haar. Ich hatte ihn nie gesehen, aber ich erkannte sein Gesicht trotzdem. Vielleicht ein Foto …?

Ich schnippte mit den Fingern. »Hab’s. Wolf.«

Hermes sah mich mit schief gelegtem Kopf an.

»Du würdest ihn nicht kennen. Wolf ist nicht sein echter Name. Er ist ein Ex-Weißmagier-Lehrling, James Irgendwas. Wassermagie, wurde aus dem Lehrlingsprogramm geworfen, dann erklärte er sich selbst zum vollen Magier. Niemand hat darauf gehört, und die Wächter haben ihn ein paarmal für Kleinkram geholt. So habe ich seine Akte zu sehen bekommen.« Ich runzelte die Stirn. »Ich frage mich, was er vorhat …«

Hermes wartete.

»Wow«, sagte ich. »Sie benutzen Knüppel. Weißt du, ich glaube nicht, dass sie mich überhaupt umbringen wollen. Ich denke, sie wollen mir nur eine ordentliche Abreibung verpassen.« Ich hob die Augenbrauen. »Altmodisch.«

Hermes neigte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung.

»Weil sie eine Botschaft übermitteln wollen, schätze ich.« Ich runzelte die Stirn, während ich versuchte, die Zukünfte durchzugehen, in denen mein zukünftiges Selbst zu Brei geschlagen wurde, dann schüttelte ich den Kopf. »Nun, was immer es ist, diese Typen sind Amateure.«

Hermes öffnete das Maul und zeigte seine Zähne.

»Ja«, sagte ich. Hermes kann nicht reden, aber er und ich verstehen einander ziemlich gut. Für das hier konnte ich mir seiner Hilfe sicher sein. Ich legte den Portalstein nieder und ging in mein Zimmer. »Los, wir bereiten uns vor.«

Ich nahm meine Rüstung aus dem Schrank und zog sie an. Meine Rüstung ist ein Anzug aus dunklem Mesh mit gewölbten Platten, die unbewegliche Bereiche abdecken, und sie ist mattschwarz und flexibel. Sie sieht schwer aus, und das ist sie. Der reaktive Mesh ist nicht undurchdringlich, aber sehr hart, und er reagiert auf Angriffe, verändert die Form, um einen Schlag umzuleiten. Die Platten sind über die Jahre gewachsen und dicker geworden, haben sich an die Gestalt meines Körpers angepasst. Ich brachte an meinem Gürtel und den Taschen meine Standardausrüstung an und stieg dann ein Stockwerk tiefer.

Mein Sicherheitsraum ist verschlossen, gegen mehrere Einflüsse mit Bannen versehen und mit Stahl ausgekleidet. Ich ging die Schlösser durch und zog eine Metalltür auf, dann trat ich ein. Hermes blieb draußen im Flur, was ich ihm nicht übel nahm. Das Arcana Emporium ist ein Laden für Magie, doch die magischen Gegenstände, die ich im Erdgeschoss verkaufe, sind ausschließlich kleine Fische. Schwache Zauberstäbe und Kugeln, für deren Benutzung ein Magier erforderlich ist und die selbst dann nichts allzu Spektakuläres bewirken; Umgebungsfokusse, die allein funktionieren können, indem sie lokale Energie anziehen, aber äußerst begrenzte Wirkungen haben; alte Ausrüstung, die oft genug benutzt wurde, um ein wenig Resonanz angesammelt zu haben. Doch für alle zwanzig oder dreißig Gegenstände, die ich bekomme und die schwach sind oder ausgelaugt, lese ich einen auf, der ernsthaft gefährlich ist. Und den bewahre ich in meinem Sicherheitsraum auf.

Die durchdrungenen Gegenstände befanden sich an der linken Wand. Ein Krokodilgriffschwert stach heraus, glänzte stumpf in dem Licht, so wie eine kleine, weiß und blau lackierte Röhre. Ich ging nicht in ihre Nähe. Stattdessen trat ich zu dem hohen Kabinett in der gegenüberliegenden Ecke und öffnete es. Mein Blick fiel auf ein kleines, aber eindrucksvolles Arsenal. Ich tippte mir mit dem Finger an die Lippen und musterte die Auswahl.

Auf dem Ehrenplatz in der Mitte der Sammlung lag eine Heckler & Koch MP7, eine fiese, kompakte Schusswaffe von der Größe eines Maschinengewehrs. Vor ein paar Jahren hatte ich sie einem Typen namens Garrick abgenommen – er war nicht zurückgekommen, um sie sich wiederzuholen, und im Austausch dafür hatte ich ihn nicht weiterverfolgt, nachdem er versucht hatte, mir mit einem Scharfschützengewehr in den Kopf zu schießen, was mir ein fairer Handel zu sein schien. Wenn ich es benutzte, könnte ich vermutlich alle drei Männer vor Arachnes Höhle in etwa zehn Sekunden töten.

»Zu viel des Guten«, entschied ich und sah kurz zu dem Paar Handfeuerwaffen auf dem Regalbrett darunter. Eine davon war meine alte 1911, die andere eine Automatik mit kleinerem Kaliber, die ich mir früher im Jahr auf Kosten eines Typen angeeignet hatte, dessen Namen ich nie erfahren hatte. Für einen ausgedehnteren Kampf war sie weniger geeignet als die MP7, aber sie würde ihren Job tun.

»Zu viel des Guten.«

Ich nahm ein Schwert von der Aufhängung und zog es halb aus der Scheide. Metall rieb sich zischend an Leder, und ich drehte die Klinge, sah das Aufglänzen im Licht. Das Schwert war ein Jian, ein wenig länger als sechzig Zentimeter. Ich bin mit den meisten Klingen vertraut, aber ich ziehe generell kleinere vor. Es roch nach Öl … und Blut? Ich schüttelte den Kopf. Einbildung. Die Klinge war sauber.

»Zu viel des Guten«, sagte ich wieder und schob die Klinge zurück in die Scheide, hängte sie auf. Als Nächstes nahm ich eine Dose Pfefferspray. Der Kram ist in Britannien illegal, aber es ist nicht schwer zu beschaffen, wenn man weiß, wo man suchen muss. Das Pfefferspray wanderte zurück, wurde von einem Kampfstab ersetzt. Er war stumpfgrau; für einen Beobachter würde er aussehen wie Stahl. Ich hielt diesen etwas länger in der Hand, bevor ich mich entschied. Der Griff fühlte sich gut an, und ich wirbelte ihn einmal herum, hörte das metallene Wuuusch durch die reglose Luft.

»Immer noch zu viel des Guten«, sagte ich endlich. Der Stab wanderte zurück in das Kabinett, ich schloss die Türen, ging aus dem Sicherheitsraum und verriegelte die Tür hinter mir, spürte, wie sich die Banne wieder darüberlegten. Hermes hatte den ganzen Prozess mit Neugier verfolgt. Als ich mich umdrehte und die Treppe hinabstieg, trottete er mir hinterher.

Unten im Lagerraum ging ich zwei weitere Gegenstände durch, bevor ich fand, was ich suchte: ein zylindrisches Holzstück von gut zwei Zentimeter Durchmesser und ein wenig kürzer als ein Meter. Die Japaner würden es ein Hanbo nennen, andere wohl Pflock, Stab oder Keule, aber am wahrscheinlichsten würden sie es einfach als Stock bezeichnen. Ich ließ ihn in einer Hand wirbeln und nickte. Jetzt noch etwas zur Verteidigung …

Ah. Ich ging aus dem Zimmer, schloss die Hintertür auf und trat hinaus in die eisige Luft. Die Mülltonnen draußen im Hinterhof waren aus schwarzem Plastik. Ich nahm den Deckel von einer und hielt ihn in der linken Hand, prüfte den Griff. Dickes Plastik und doch leicht. »Perfekt«, sagte ich und ging wieder rein.

Ein Blick in die Zukünfte zeigte, dass meine Lauerer nirgendwohin gehen würden. Ich lief nach oben und wärmte mich ohne Eile auf. Halsdrehungen, Armkreisen, dann mehrere verschiedene Beinstrecker. Ich schenkte den hinteren Muskeln der Oberschenkel besondere Aufmerksamkeit; dort holt man sich leicht eine Zerrung, wenn man sich nicht anständig aufwärmt. Als ich damit fertig war, ging ich wieder nach unten, nahm den Stock und den Mülltonnendeckel und sah nach, ob sie sich in einer guten Position befanden. Es gab keine Möglichkeit für mich, das ganz genau festzustellen, aber die Zukünfte, in denen ich das Portal gerade jetzt in diesem Moment öffnete, waren etwas weniger günstig, als mir lieb war, also wartete ich und ging währenddessen ein paar Übungshiebe und Blöcke durch. Der größte Teil meines Ladens und der Wohnung ist gegen Portale geschützt; der Fleck, an dem ich stand, ist der einzige kleine Teil, in dem die Banne über dem Laden so geformt sind, dass hier Raummagie ungehindert funktionieren kann. Nach fünf Minuten spürte ich, wie sich die Zukünfte veränderten, und sah nach. Etwa achtzig Prozent Chance, dass sie in L-Formation sein würden, statt mich zu umstellen. Besser wird es nicht. »Bereit?«, fragte ich Hermes.

Hermes blinzelte einmal.

Ich schob den Stock unter den Arm, nahm den Portalstein heraus und begann, Energie in ihn zu kanalisieren. Einen Fokusgegenstand zu benutzen ist für die meisten Magier einfach – man braucht nur den Gegenstand und etwas angewandtes Wissen. Für mich ist es schwerer, aber ich war mit der Örtlichkeit, an die ich portete, sehr vertraut, und ich hatte es nicht eilig. Nach ein paar Minuten verdunkelte sich die Luft vor mir und formte ein Oval. Durch das Portal glitzerten Sterne, die von den Schatten kahler Zweige gerahmt wurden. Ich sah hinaus in die Dunkelheit des Hampstead Heath.

Hermes verschwand, teleportierte sich durch das Portal und in die Nacht. Ich trat hindurch, zog den Stock unter dem Arm hervor und ließ das Portal hinter mir verschwinden. Gleichzeitig stach ich nach rechts.

Der Mann dort hatte sich mit erhobenem Arm auf mich gestürzt. Er war ein Kraftadept, und der Spruch, den er nutzte, hätte den Prügel in seiner Hand mit zerschmetternder Macht herabkrachen lassen – genug, um mir den Arm zu brechen, wenn ich ihm begegnet wäre. Er konnte in der Dunkelheit jedoch nicht sehen. Die Spitze meines Stocks traf ihn direkt unter dem Brustbein und sank tief ein, weil der Schwung seines Angriffs ihn dagegen trieb. Keuchend entwich ihm der Atem, und er ging zu Boden.

Ich drehte mich nach links, hob den Mülltonnendeckel, um den Schlag abzufangen, der auf dem harten Plastik landete und mir den Schock den Arm hinaufjagte. Zweiter Mann. Ich konnte nicht erkennen, wie er aussah, aber ich hatte mir die Zukünfte angesehen, in denen er angriff. Die Fähigkeit dieses Adepten basierte auf Wahrnehmung. Er bewegte sich in der vollkommenen Dunkelheit der Schlucht, als wäre es helllichter Tag, und schwang seinen Prügel wie einen Baseballschläger. Ich wich zurück. Der Hagel von Schlägen hallte von dem Mülltonnendeckel wider. Blaues Licht blitzte zu meiner Linken auf, und ich wich aus, spürte einen Spruch vorbeipeitschen, ließ den Adepten zwischen mich und die Bedrohung kommen. Als er einen Schritt vorwärtsmachte, änderte ich den Kurs, trat ihm entgegen, den Schild hocherhoben und die Waffe tief. Sein Prügel rutschte vom Deckel ab; meiner traf seinen Knöchel. Das markante Geräusch von Holz auf Knochen erklang, und der Adept schrie auf, hopste, stürzte zu Boden. Ich trat vor, ließ meinen Stock fallen, duckte mich tief; ein weiterer Spruch blitzte über mir vorbei, während ich meinen Lähmungsfokus aus der Tasche zog und den Adepten damit stach, als er sich gerade aufrappeln wollte. Lebensmagie fuhr in ihn mit einem grünen Flackern, und ich kam mit der gleichen Bewegung auf die Füße.

Im blassblauen Licht, das die Schlucht erhellte, konnte ich sehen, dass beide Adepten am Boden waren. Der eine zappelte und keuchte, der andere war reglos. Das Licht kam vom dritten Mann und dem Stab aus blau glühender Energie in seinen Händen. Es hätte beeindruckend ausgesehen, wenn er mich nicht mit offenem Mund angestarrt hätte. Meine Vorbereitungen – Planung, Waffenauswahl, Aufwärmen, auf den richtigen Moment warten, um zu porten und dann zu erscheinen – hatten etwas weniger als eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Der Kampf dauerte etwa fünf Sekunden. Ziemlich typisch für einen Wahrsager.

Ich ging zurück zum ersten Adepten, der Mühe hatte zu atmen, nahm meinen Stock auf und versetzte ihm einen sorgfältig bemessenen Schlag. Ein dumpfer Knall ertönte, und er sackte in sich zusammen. Ich drehte mich zu dem Magier um und hob die Augenbrauen. »Kommst du?«

Wolf – James – starrte mich an.

»Kommst du?«, fragte ich erneut. James war knapp zehn Meter von mir entfernt. »Oder muss ich zu dir kommen?«

»Zu mir …!« James schien sich Mut zu machen. »Du weißt, wer ich bin?«

»Ja, du heißt James Redman und bist vermutlich einer der schwächsten Elementarmagier Britanniens.«

»Mein Name ist Wolf!«

Ich seufzte. »Na klar.«

»Komm in meine Nähe, und ich vermöbel dich!«

Ich sah ihn nur an.

»Na, du willst was von mir?« James hob den glühenden Stab. »Mach schon, du Sau! Und das da – ist das ein Mülltonnendeckel? Du kommst mir mit einem verfickten Mülltonnendeckel?« James stieß ein leicht hysterisches Lachen aus. »Du weißt, wer ich bin? Glaubst du, du schaffst mich? Du …«

James redete weiter, aber ich blendete ihn aus. Die meiste Zeit muss man gar nicht auf die Worte hören, wenn Menschen sich aufplustern. Der Inhalt ist immer mehr oder weniger der gleiche – sie sind tough, man sollte Angst haben vor ihnen, bla, bla, bla. Die echte Kommunikation läuft über die Körpersprache und den Tonfall. Ich wusste bereits, dass James mich nicht angreifen würde, nicht in einem Zeitrahmen, der irgendwie entscheidend wäre. Stattdessen blickte ich in die Zukünfte, in denen ich versuchte, mit ihm zu reden, und sah nach, welche Informationen ich herauslesen konnte. Wie wäre es, wenn ich zu erraten versuchte, wer ihn geschickt hatte …?

Nun, es ist nicht Levistus. Keine echte Überraschung: Levistus hätte einen sehr viel höherrangigen Assassinen geschickt. Nicht Morden, aus ähnlichen Gründen. Nicht Onyx, nicht Deleo, nicht Cinder, nicht Crystal, nicht Lyle, nicht Barrayar, nicht Avis, nicht Ordith, nicht Sagash, nicht Darren, nicht … Okay, ich habe viel zu viele Feinde, um einen nach dem anderen durchzugehen. Ich zog meine Konzentration zurück und sah nach, ob ein Name, der mir einfiel, etwas bewirkte. Schien nicht so. Jemand Neues? Vermutlich nicht allzu hoch auf der Machtskala, wenn das hier das Beste ist, was er losschicken kann …

»… was jetzt? Hörst du mich, bitch?«

»Hör auf, mich so zu nennen«, sagte ich abwesend. »Eine bitch ist eine Hündin. Ich mag Hunde.«

James starrte mich an. »Ich nenn dich, wie ich will, bitch.«

»Ja, ja, wie auch immer. Sieh mal, James …«

»Ich heiße Wolf.«

»James. Ich hab was zu erledigen. Du wurdest angeheuert, um mir eine Botschaft zu überbringen, richtig? Dann lass hören.«

James warf mir einen ungläubigen Blick zu.

»Letzte Chance, das auf die einfache Tour zu erledigen.«

»Ach ja?« James breitete die Arme weit aus. Der Stab flackerte in seiner Hand. Er sah aus wie eine Standardelementarwaffe, gemacht, um kinetische Energie zu lenken, möglicherweise mit irgendeiner Wirkung bei Kontakt. »Los geht’s! Komm schon!«

Ich seufzte. »Hermes?«, sagte ich laut zum Himmel hinauf. »Wann immer du so weit bist.«

Hermes tauchte hinter James auf und grub die Zähne in seinen Knöchel. James schrie, taumelte. Er versuchte, sich umzudrehen und nachzusehen, was ihn gebissen hatte, aber Hermes hielt ihn fest und ließ sich von James’ Schwung herumtragen. James wedelte ungeschickt mit dem Stab, versuchte, Hermes mit einem Schlag loszuwerden, bevor es ihm gelang, den Griff mit beiden Händen zu packen und ihn so weit zurückzuschwingen, wie er konnte.

In dem Augenblick, bevor der Stab auftraf, blinzelte sich Hermes weg und teleportierte sich davon. Der Schlag ging in die Luft, und James taumelte zur Seite.

»Hey«, sagte ich hinter ihm.

James wirbelte herum. Ich wartete, bis er sich fast ganz umgedreht hatte, dann sorgte ich dafür, dass sein Kopf Bekanntschaft mit meinem Stock machte. Er ging zu Boden, und ich wandte den Stock an verschiedenen anderen Körperstellen an, bis er aufhörte, Zauber zu wirken. Mittlerweile war das Licht des Wasserstabs, den er benutzte, verschwunden, zusammen mit dem Stab selbst (konzentrationsbasierte Zauber und Prügel vertragen sich nicht), also holte ich meine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein, um damit auf ihn hinabzuleuchten. »Jetzt bereit zu reden?«

»Oh, fuck«, stöhnte James. Er lag in Embryonalstellung auf dem Boden. »Das tut weh.«

»Wer hat dich geschickt?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nur …«

Ich schlug zu, absichtlich so langsam, dass er den Schlag kommen sah. James hob einen Arm, um den Kopf zu schützen. Mit einem Knacken prallte der Stock auf seine rechte Hand. James schrie.

»Okay, James«, sagte ich, als er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass er mich hören konnte. »Das Spiel heißt: ›Wie viele Knochen muss ich brechen, bevor du meine Fragen beantwortest?‹ Im Augenblick steht der Zähler bei eins. In zwanzig Sekunden mache ich weiter bei zwei.«

»In Ordnung! Himmel, es war Symmaris, okay? Es war Symmaris!«

»Und was hat Symmaris dir aufgetragen?«

»Nur … nur dich ein wenig aufzumischen, okay? Nichts Ernstes, wir wollten dich nicht verletzen oder so.«

»Hm-hm. Und was solltest du mir danach sagen?«

»Dass du dich von Drakh fernhalten sollst.«

Ich schwieg kurz. »Was?«

»Von Drakh. Für den Job. Weißt du?«

»Welchen Job?«

»Ich weiß es nicht, verdammt noch mal. Sie …«

Ich hob den Stock.

»Nicht! Ich sag die Wahrheit, ich schwöre! Es gab da ’ne Sache, einen Job, den du erledigen solltest, für Drakh arbeiten, ich weiß nicht, etwas Wichtiges … Und Symmaris, sie wollte dich davon abhalten, okay? Das war alles, was sie uns gesagt hat. Das war’s!«

Ich starrte auf James hinab, durchsuchte die Zukünfte. Es klang faul, aber als ich die unterschiedlichen Befragungsmethoden durchging, erkannte ich zu meiner Überraschung, dass er tatsächlich die Wahrheit sagte. Ich schüttelte den Kopf. »Du bist echt im falschen Viertel gelandet.«

»Hör mal, bitte, lass mich einfach gehen. Ich hab keine Ahnung von alldem. Ich werde Symmaris sagen, was immer du willst, das schwör ich …«

»Ich arbeite nicht für Drakh«, sagte ich.

James hielt inne. »Hä?«

»Ich arbeite nicht für Richard Drakh«, sagte ich wieder. »Dein Boss hat den falschen Kerl erwischt. Hättest du deine Hausaufgaben gemacht und dich umgehört, statt herzukommen, wären du und deine Jungs längst wieder zu Hause bei einem Pint.« Ich deutete zu den beiden Adepten. Der, den ich mit dem Lähmungsfokus erwischt hatte, regte sich und stöhnte. Der andere hatte sich auf die Seite gerollt und übergab sich. »Schnapp dir deine Kumpel und portet euch weg. Machst du so was ein zweites Mal mit mir, gibt’s kein drittes mehr. Verstanden?«

James nickte hastig. »Ja. Okay.«

»Hau ab.«

James kam taumelnd hoch und eilte zu den beiden Adepten. Ich sah geduldig zu, wie er ein Portal öffnete. »James?«, fragte ich nach etwa einer Minute.

Ich sah, wie sich die Muskeln in seinem Rücken anspannten. Das blaue Licht um seine Hand flackerte. Um ein Haar hätte er den Spruch losgelassen. Langsam drehte er sich um, die Schultern hochgezogen, das Weiß in den Augen sichtbar.

Ich lenkte den Strahl der Taschenlampe nach unten, wo die beiden Adepten hingefallen waren. »Sie haben ihre Prügel fallen lassen.«

James starrte mich an, dann sah er zu den schattenumrissenen Prügeln auf dem Boden.