Die Verdammten von London - Benedict Jacka - E-Book

Die Verdammten von London E-Book

Benedict Jacka

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Beschreibung

Wird das Böse in ihm entfesselt? Der zehnte Roman der SPIEGEL-Bestsellerserie von Benedict Jacka.

Der Hellseher Alex Verus und die Lebensmagierin Anne sind endlich ein Paar. Sie könnten glücklich sein, doch dann werden sie von der Vergangenheit eingeholt. Der Rat der Weißmagier macht Anne für die Ermordung mehrerer Ratswächter verantwortlich, die bei dem Ausbruch des Schwarzmagiers Morden aus dem Gefängnis umgekommen sind. Alex würde das natürlich nie zugeben, allerdings hat der Rat Recht. Kurz bevor dessen Schergen Anne ergreifen können, werden sowohl sie als auch Alex von mehreren Schwarzmagiern entführt. Gefoltert und versklavt stellt sich Alex endlich einer Wahl, der er bislang immer ausgewichen ist: Kann er als einer der Guten seine Freunde und sich beschützen? Oder ist er zum Bösen verdammt?

Die SPIEGEL-Bestsellerserie von Benedict Jacka! Steigen Sie ein in die Urban-Fantasy-Serie mit »Das Labyrinth von London« und folgen Sie der packenden Story des Hellsehers Alex Verus. Weitere Bände sind bereits in Vorbereitung.

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Seitenzahl: 469

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Buch

Der Hellseher Alex Verus und die Lebensmagierin Anne sind endlich ein Paar. Sie könnten glücklich sein, doch dann werden sie von der Vergangenheit eingeholt. Der Rat der Weißmagier macht Anne für die Ermordung mehrerer Ratswächter verantwortlich, die bei dem Ausbruch des Schwarzmagiers Morden aus dem Gefängnis umgekommen sind. Alex würde das natürlich nie zugeben, allerdings hat der Rat recht. Kurz bevor dessen Schergen Anne ergreifen können, werden sowohl sie als auch Alex von mehreren Schwarzmagiern entführt. Gefoltert und versklavt stellt sich Alex endlich einer Wahl, der er bislang immer ausgewichen ist: Kann er als einer der Guten seine Freunde und sich beschützen? Oder ist er zum Bösen verdammt?

Autor

Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.

Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:1. Das Labyrinth von London2. Das Ritual von London3. Der Magier von London4. Der Wächter von London5. Der Meister von London6. Das Rätsel von London7. Die Mörder von London8. Der Gefangene von London9. Der Geist von London10. Die Verdammten von London

Weitere Bände in Vorbereitung.

Deutsch von Michelle Gyo

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Fallen (Alex Verus 10)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Benedict Jacka

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29072-6V001

www.blanvalet.de

1

»Du musst das nicht tun«, sagte Anne.

Wir befanden uns in Canonbury, einem Stadtteil Islingtons. Es handelt sich um eine der exklusiveren Gegenden Londons – nicht auf dem Niveau von Westminster oder Chelsea, doch weit entfernt von billig. In London gibt es viele Orte wie Canonbury, alte teure Reihenhäuser, in kurvenreiche, baumbestandene Straßen gepfercht, mit kleinen Parks dazwischen, in denen die Leute ihre Hunde ausführen. Magier kommen nicht oft dorthin. Es stimmt, dass Magier in Städten häufiger auftauchen, aber in London leben fast zehn Millionen Menschen, und das dünnt die Population der Magier sehr aus, selbst wenn sie sich ausbreiten wollten, was nicht der Fall ist. Also bilden sie Grüppchen, und die Gebiete dazwischen verschwinden von ihrem Radar, sodass der durchschnittliche Magier so viel über die Bewohner Canonburys weiß wie der durchschnittliche Bewohner Canonburys über Magier. Das nennt man wohl Symmetrie, schätze ich.

Gerade standen wir unter einem Ahornbaum und betrachteten über die Straße hinweg ein Haus auf der anderen Seite. Es war ein Abend im Juli, die Sonne ging hinter den Dächern unter, und die Luft war still und warm. Um uns herum erklangen Stimmen und Gespräche, der Verkehrslärm von den nahe gelegenen Hauptstraßen. Anne hatte mich über einen Umweg hergeführt, über einen alten Kanal, den Bänke und Weiden säumten. Es war ein hübscher Spaziergang gewesen, und ich hatte ihn genossen, aber ich hatte das Gefühl gehabt, dass es sich um eine Verzögerungstaktik handelte.

»Du auch nicht«, sagte ich.

»Doch«, erwiderte Anne. »Du musst nicht.«

»Würdest du wirklich lieber allein reingehen?«, fragte ich. »Und überhaupt, sieh es mal positiv. Diesmal bist du nicht angeklagt.«

»Das denkst du.« Anne dachte nach. »Wie viel Zeit werden wir haben?«

»Bis zum Startschuss?«, fragte ich. »Sagen wir, die Chancen, dass er innerhalb der nächsten Stunde kommt, stehen bei zwanzig Prozent, vierzig für ein bis zwei Stunden, zwanzig für später und zwanzig für niemals.«

»Dann besteht eine vierzigprozentige Chance, da drin die ganze Nacht festzusitzen.«

Ich beugte mich zu ihr und küsste Annes Schläfe. »Komm schon. Sind wir wirklich den ganzen Weg hergelaufen, um wieder umzudrehen?«

Anne seufzte. »Vermutlich nicht.«

Wir überquerten die Straße und stiegen die Stufen zum Eingang hinauf. Das Haus hatte Erkerfenster und war relativ groß. Anne klingelte, und während wir warteten, hörten wir, wie sich Schritte auf der anderen Seite der Tür näherten. Sie schwang auf, Licht und Lärm schwappten heraus in den Sommerabend. Durch den Flur hörte ich Gespräche und erhobene Stimmen. Die Frau, die die Tür geöffnet hatte, war um die fünfzig, mit ergrauendem Haar, und sie trug ein Abendkleid und eine Perlenkette. »Oh, gut, du bist da. Alex, nicht wahr? Kommt herein. Anne, die Mäntel kommen in den Flur.«

Ich saß am Esstisch und fühlte mich fehl am Platz.

Im Esszimmer hielten sich noch sieben Leute auf. Die Frau, die uns begrüßt hatte, saß am Kopf des Tischs. Zu ihrer rechten Seite hatte ihr Ehemann Platz genommen, ein dünner, melancholisch wirkender Mann, der sich darauf konzentrierte, seine Suppe zu löffeln. Teilnehmer Nummer drei bis sechs waren die beiden Töchter und ihre Partner. Nummer sieben war Anne.

»… kann nur nicht verstehen, wie so jemand gewählt wird«, sagte die jüngere Tochter. »Ich meine … nein? Einfach nein?«

»Nun, es liegt am Bildungsmangel, nicht wahr?«, erwiderte der junge Mann, der zu ihr gehörte. »Witzig ist, dass sie gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Man sollte meinen, sie wären in der Lage zu erkennen, dass …«

Es war seltsam, dass Anne in diesem Haus aufgewachsen war. Zumindest zum Teil. Laut Anne hatten sie zuerst in Finchley gewohnt, als sie zu der Familie kam – und als sie zwölf war, zogen sie nach Canonbury, damit ihre älteste Tochter, Elizabeth, auf eine bessere Schule gehen konnte. Das war vierzehn Jahre her, und anscheinend hatten sie seitdem die ganze Zeit hier gelebt.

Ich sah mich im Esszimmer um. Regale belegten einen großen Teil der Wände, Teller und Schüsseln waren darin in großzügigem Abstand platziert. Es gab mehrere Kommoden, alle mit weißen Spitzendeckchen darauf. Trotz seiner Größe wirkte der Raum beengt. Es schien kein Zimmer zu sein, in dem man lebte, in dem man es sich gemütlich machte und die Füße hochlegen konnte: Er diente der Präsentation, jedes Glas- und Porzellanstück war so angeordnet, dass es Eindruck schindete. Eine Abtrennung führte ins Wohnzimmer, und eine Tür an der Seite ging auf einen Flur hinaus, in dem sich die Treppe und der Eingang zur Küche befanden.

Jetzt sprach der ältere Freund. Er war Engländer, mit kurzem braunen Haar und schmaler Brille, und er sah aus, als wäre er gut fünf bis zehn Jahre älter als seine Verlobte. »… echte Problem ist, dass die Leute nicht genug auf Experten hören«, sagte er. »Stattdessen werden sie von privaten Meinungen in den Medien beeinflusst. Die ganzen Milliardäre, die einfach falsche Storys produzieren können. Ich meine, wir geben unser Bestes, eine ausgewogenere Sichtweise auf die Dinge zu bringen, aber …«

»Das muss sehr schwer sein«, sagte die Mutter mitfühlend. Ihr Mann schlürfte seine Suppe.

Anne und ich waren seit einem Jahr ein Paar. Ich hatte mehr als einmal angeregt, ihre Familie zu treffen, aber Anne hatte es aufgeschoben, und jetzt fiel es mir nicht schwer zu erkennen, wieso. In meiner Zeit beim Rat hatte ich mir angewöhnt, auf soziale Hierarchien zu achten, und aus einem Reflex heraus analysierte ich die anderen am Tisch, wie ich jetzt merkte. Die Mutter war der Kopf des Haushalts, und sowohl die ältere Tochter, Elizabeth, als auch ihr Verlobter, Johnathan, besaßen offensichtlich ihre Anerkennung. Elizabeth trug einen Verlobungsring mit einem großen Diamanten, den sie auffällig präsentierte. Weder die Mutter noch Johnathan wollten mich dahaben. In Johnathans Fall war der Grund nicht schwer zu erraten: Er hielt sich für das Alphamännchen der Gruppe, und ich war ein Eindringling. Das Problem der Mutter war weniger offensichtlich, und ich vermutete, es lag tiefer und hatte mit Anne zu tun.

Die jüngere Schwester verdiente in den Augen der Mutter anscheinend weniger Anerkennung, nach der Platzierung zu urteilen. Weder sie noch ihr Freund hatten mir ihre Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich wusste, wenn es Ärger gäbe, dann würde er von ihr kommen. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln. Ärger. Was für eine dramatische Formulierung.

»Warum fragst du nicht Alex?«, warf die jüngere Tochter in diesem Moment mit einem strahlenden Lächeln ein.

Johnathan war gerade voll in Fahrt, und die Frage erwischte ihn auf dem falschen Fuß. »Was?«

»Na, du hast gerade gesagt, dass die Regierung mehr tun sollte, oder nicht?«, meinte die jüngere Tochter. Sie hieß Grace, hatte Anne erzählt. »Sagte sie nicht, du arbeitest für die Regierung?«

»Mehr oder weniger«, gab ich zu.

»Was denkst du dann, was die Regierung tun sollte, um den Populismus einzuschränken?«

»Komm schon, Grace«, schaltete sich ihre Mutter ein. »Wir sollten ihn nicht zwingen, beim Abendessen über die Arbeit zu reden.«

»Nein, das ist schon in Ordnung«, erwiderte ich. »Zuerst einmal würde ich sagen, dass es eine Fangfrage ist.«

»Was?«

»Du nimmst an, dass Populismus schlecht ist und man ihn stoppen muss.«

»Ist es nicht so?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn jemand in diesem Kontext ›Populismus‹ sagt, ist meistens etwas gemeint, das populär ist, das der Betreffende aber nicht mag. Mag man es, nennt man es ›Demokratie‹ oder ›Repräsentation‹. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, deine Meinung auf Kosten aller anderen zu unterstützen.«

»Ach, jetzt komm schon«, ging Johnathan dazwischen. »Du musst doch zugeben, dass viele unserer jüngsten Probleme daher rühren, dass die Regierung nicht eingeschritten ist.«

»Das ist eine Art, das zu sehen.«

»Stimmst du dem nicht zu?«

»Genau genommen dreht sich der größte Teil meiner Arbeit derzeit darum, Probleme zu lösen, die ursprünglich von den Leuten verursacht wurden, für die ich arbeite.«

Johnathan schwieg; offensichtlich lief die Unterhaltung nicht so, wie er es erwartet hatte. Die anderen am Tisch waren verstummt, beobachteten unser Hin und Her. Nur Anne sah uns nicht an.

Johnathan versuchte, Unterstützung zu mobilisieren. »Ich denke, der Kern des Problems ist der jüngste Trend des Anti-Intellektualismus.«

»Nennst du das so?«

»Natürlich.«

»Also denkst du, das Problem ist … was? Dass Menschen Intelligenz nicht genug respektieren?«

»Nicht nur Intelligenz«, sagte Johnathan. »Kompetenz, tiefgreifende Fachkenntnisse. Auch Weisheit. Stattdessen folgen sie letztendlich Leuten, die ihnen einfache Lösungen versprechen.«

»Nun, da ist definitiv etwas Wahres dran«, sagte ich. »Ich muss viel Zeit darauf verwenden, Leuten zu erklären, dass die Situation komplizierter ist als ›Establishment ist schlecht, Rebellen sind gut‹. Und es besteht eine echte Gefahr, dass sich in einer solchen Situation Populisten zu Wort melden. Die Leute sind derart fokussiert auf das Establishment, dass sie nicht merken, wenn sie von denen betrogen werden, die behaupten, auf ihrer Seite zu stehen.«

Mehrere der am Tisch Sitzenden nickten. Johnathan setzte an, etwas zu sagen, aber ich war noch nicht fertig. »Nichts davon erklärt jedoch wirklich, woher die Feindseligkeit gegenüber dem Establishment rührt. Und es ist ein Fehler, das dem Anti-Intellektualismus zuzuschreiben. Die Leute glauben nicht, dass die Zuständigen dumm oder unwissend sind. Sie vertrauen ihnen einfach nicht. Großer Unterschied.«

»Dann würdest du sagen, das Problem ist ein Mangel an Kommunikation?«

»Du meinst, das Problem ist, dass die Regierung nicht genug getan hat, um die Botschaft des Establishments an die Öffentlichkeit zu bringen?«

»Ja, ganz genau.«

Ich nickte. »Nein.«

»Was?«

»Die Leute, mit denen ich zu tun habe, denken, das Establishment würde sich nicht um sie scheren, weil es sich großenteils eben einfach nicht um sie schert. Die Propaganda zu intensivieren, wird nicht viel Unterschied machen.«

»Das ist keine Propaganda.«

»Wie immer du es nennst, wenn man ständig das eine sagt und das andere tut, irgendwann merken es die Leute.«

Johnathan überlegte, was er noch sagen sollte. Doch jetzt schaltete sich die Mutter ein. »Für welche Abteilung arbeitest du noch gleich?«

»Für gewöhnlich geht es um die Sicherheit.«

»Du meinst, du bist bei der Polizei?«, fragte Elizabeth.

»Nicht direkt«, erwiderte ich. »Ich kann aber nicht ins Detail gehen.«

»Weil du uns umbringen müsstest, wenn du uns das erzählst?«, meldete sich der jüngere Freund zu Wort.

Höflich lächelte ich über den abgedroschenen Witz. Mehrere Lacher ertönten. »Schätze, dann passen wir besser mal auf, was wir in deiner Nähe sagen«, meinte der Junge. »Könnte aufgezeichnet werden.«

»Sei nicht so melodramatisch«, sagte Johnathan. Er versuchte, einen lockeren Tonfall anzuschlagen, aber seine Stimme klang scharf. »Er verbringt vermutlich seine ganze Zeit in Meetings.«

»Viele meiner Tage sehen so aus.«

»Schön, sind alle fertig?«, fragte die Mutter. Gemurmelte Zustimmung erklang, und sie schaute zu uns herüber. »Anne, ich denke, es ist Zeit für das Dessert.«

Anne nickte und erhob sich. Ich sah ihr nicht hinterher; Johnathans letzte Worte hatten alte Erinnerungen aufgewirbelt. Meetings …

Der Einsatzbesprechungsraum der Wächter war hässlich, abblätternde Farbe und billige Tische. Die Stühle waren so unbequem, dass die meisten in einem lockeren Kreis stehen blieben. Die Jalousien waren vor den Fenstern heruntergelassen, und nur die beleuchtete Karte in der Mitte des Zimmers sorgte für Helligkeit.

Die Karte war eine Projektion, dreidimensional und aus Licht geformt. Sie zeigte eine Landschaft, etwas über eine Quadratmeile groß, auf der sich die Hügel bis fast auf Taillenhöhe erhoben und die Täler bis zu meinen Knien hinabreichten. Der größte Teil war von Bäumen bestanden, der Rest war Unterholz oder offene Felder. Es gab nur ein Haus, niedrig, mit zwei langen Flügeln. Von oben und in diesem Maßstab wirkte es sehr klein.

»Aktuell plant der Sternenorden, sie in die Zange zu nehmen«, erklärte ich. Ich kanalisierte Energie in den Fokus, während ich sprach: Durchscheinende blaue Pfeile tauchten auf der Karte auf, deuteten von Ost und West auf die beiden Flügel der Villa. »Er portet sich so nah wie möglich an den Bannradius heran, dann geht er rein. Konstrukte werden vorausgeschickt, Sicherheitsleute sind die zweite Welle zum Schutz der Flanken. Die Primärziele befinden sich hier und hier …« Grüne Punkte glommen in den Flügeln auf. »… und die Sekundärziele verteilen sich auf das Erdgeschoss und den ersten Stock.« Hellgrüne Punkte tauchten auf, während ich sprach, überzogen jetzt das Gebäude. »Ziel ist es, den oberirdischen Teil des Gebäudes in einem initialen Überraschungsangriff einzunehmen.«

»Hervorragend!«, rief Landis. Er war groß und schlaksig, beugte sich halb auf einen der Tische herab. »Wundervolle Sache, Optimismus. Darf ich fragen, wie der Plan aussieht, falls das misslingt?«

Ich lächelte leicht. »Direktor Nimbus schien es nicht für nötig zu halten, weiter ins Detail zu gehen.«

Diverse Unmutsbekundungen ertönten. »Korrigiere mich, wenn ich falschliege«, sagte einer der Wächter, »aber ich dachte, du bist im Juniorrat.«

»Korrekt.«

»Bedeutet das nicht, dass du über Nimbus stehst?«

»Auch korrekt«, sagte ich. »Er forderte aber das Feldkommando für diese Operation, das ihm der Rat gewährt hat. Direktor Nimbus traf auch die Entscheidung, dass der Hauptangriffstrupp aus dem Sternenorden besteht und der Schildorden als Reserve dient. Weshalb wir jetzt hier sind.«

»Direktor Nimbus findet seinen eigenen Hintern nicht ohne seine Hände und eine Karte noch dazu«, meinte ein dritter Wächter.

»Das habe ich nicht gehört«, sagte ich und sah mich um. »Meinungen?«

Der Wächter, der auf meinen Rang angespielt hatte, neigte sich herab, musterte die Landschaft nachdenklich. Die Lichtprojektion zerfaserte um seine Beine herum. Er hieß Tobias und war ein dunkelhaariger Mann in den Vierzigern, der aus Gründen, die wohl nur er kannte, einen großen Stetson trug.

»Gefällt mir nicht«, meinte er.

»Warum?«, fragte ich.

Tobias deutete auf die Landschaft hinab. »Zu große Entfernung vom Einfallspunkt zum Ziel, keine ausreichende Deckung. Kreuzfeuer leicht möglich.«

»Mithilfe des Überraschungsmoments aber …«, setzte ein anderer Wächter an.

»Man möchte nie allein vom Überraschungsmoment abhängig sein«, sagte Landis. »Drakh hat sich in der Vergangenheit unglücklicherweise als sehr fähig darin erwiesen, Angriffe vorauszuahnen. Was mich bedauerlicherweise zu meiner früheren Frage bezüglich seiner Anwesenheit oder nach einem Back-up-Plan zurückbringt. Ich hoffe doch, das sind nicht wir?«

»Unglücklicherweise nehme ich das an.«

Tobias nickte, als hätte er damit gerechnet. »Natürlich«, sagte ein anderer Wächter. »Wäre ja sonst keine Aufgabe für den Schildorden, oder?«

»Warum jagen wir das Anwesen nicht einfach in die Luft?«, fragte jemand.

»Weil der Befehl nicht lautet, die Villa zu zerstören«, sagte ich. »Der Rat möchte Richard Drakh, lebend, wenn möglich. Sekundärer Befehl ist die Bergung jeglicher strategischer Informationen und durchwobener Gegenstände aus dem Gebäude.«

»Ambitioniert.«

»Wenn ihr mich fragt, stimme ich dem zu. Jedoch hat der Rat entschieden, dass das Ziel der Operation die Einnahme der intakten Villa ist.«

»Herrlich«, sagte Landis und rieb sich die Hände. »Irgendeine Chance auf Unterstützung?«

»Gewissermaßen«, sagte ich. Ich aktivierte den Fokus, und ein paar Flugzeuge tauchten auf Kopfhöhe über der Villa auf, wo sie träge kreisten. Sie waren klein und schnittig, grau gefärbt und hatten nach hinten gebogene Flügel. »Der Rat hat – zögerlich – seinen Einfluss geltend gemacht. Ein Trupp Panavia Tornados der RAF, bewaffnet mit Paveway-Bomben, werden auf Position sein, wenn wir mit dem Angriff beginnen.«

»Sagtest du nicht, der Rat will das Haus intakt?«, fragte Tobias.

»Mir ist es gelungen, ihn zu überzeugen, dass das Risiko eines misslungenen Angriffs hoch ist, sodass ein Back-up-Plan gut wäre«, sagte ich. »Überflüssig zu sagen, dass diese Option eine letzte Zuflucht sein soll. Für den Mantelorden würde es wirklich nervig werden, das zu vertuschen, es würde bedeutende Kollateralschäden anrichten, und vor allem heißt es aus Ratssicht, dass wir keine Ahnung haben würden, ob Richard Drakh oder jemand aus seiner Kabale tot ist.«

»Ich glaube nicht, dass wir den Laden bombardieren müssen, um die Antwort darauf zu kennen«, kommentierte Tobias.

»Wir haben diesen Angriff weit im Voraus angekündigt, ja«, sagte ich. »Trotzdem lauten so unsere Befehle. Sonst noch Fragen?«

Ich sah mich im Zimmer um. Ein paar Wächter schüttelten die Köpfe.

»Dann machen wir uns bereit«, sagte ich. »In knapp einer Stunde geht es los. Die Operation ist für zehn-null-fünf geplant.«

»Und wieder in die verfluchte Bresche«, kommentierte jemand.

Ich lächelte schief. »Lasst uns hoffen, dass es diesmal nicht buchstäblich so wird. Seht es mal positiv. In ein paar Stunden könnte dieser Krieg vorbei sein.«

»Und wie genau …?«

»Alex?«

Mit einem Ruck landete ich wieder in der Gegenwart. Anne stand neben mir mit einem Tablett. »Möchtest du etwas?«

Ich starrte eine Sekunde darauf, dann schüttelte ich die Erinnerung ab. »Nein. Danke.« Das Dessert war irgendetwas Weißes, Cremiges. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie es hereingebracht hatte.

»… die Gesundheitsfürsorge für Frauen ist so mies in diesem Land«, sagte Elizabeth. »Ich musste fast zwei Stunden auf einen Termin warten, und niemand hörte sich an, worum es ging, bis ich beim Arzt war. Es hätte ein Notfall sein können, und sie hätten keine Ahnung gehabt …«

»Johnathan?«, fragte Anne und ging um den Tisch herum.

»Oh, das sollte ich wirklich nicht essen.«

»Komm schon, Johnathan«, sagte die Mutter mit einem Lächeln. »Du kannst doch nicht den ganzen Weg hierherkommen und ihn dann nicht mal probieren. Ich bestehe darauf.«

»Nun, ich würde nur zu gerne, aber … ich bin wirklich nur ungern eine Last, aber ist es gekühlt? Alles, was auf Laktose basiert, lässt meine Allergien richtig aufflammen, solange es Zimmertemperatur hat.«

»Ach, das ist schon in Ordnung«, sagte die Mutter. »Anne stellt dir etwas ins Eisfach und sieht alle paar Minuten danach. Dann kannst du es essen, sobald es kalt ist.«

Ich sah sie ungläubig an.

Anne lenkte meinen Blick auf sich, bevor ich etwas sagen konnte: Sie schüttelte den Kopf kaum merklich, und ich hielt den Mund. Anne verschwand in Richtung Küche.

Der Rest am Tisch ignorierte mich jetzt. Die Unterhaltung drehte sich um Pädagogik und welche Schulen die besten wären, und ich wurde nicht gefragt. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Absicht war, aber ich hatte Schwierigkeiten, mich darüber zu ärgern. Meine Gedanken wanderten immer wieder zurück zu letztem Oktober.

Die Razzia in Richards Villa war kein Desaster geworden, aber auch kein Erfolg. Der Rat hatte »gewonnen«, in dem Sinne, dass ihm im Anschluss an die Operation ein Haufen rauchender Schutt gehörte. Es gab eine Handvoll Gefangener, die sich außerhalb des Hauses befunden hatten, als die Bomben eingeschlagen hatten, aber wie bei der Razzia im Tigerpalast waren keine Magier darunter gewesen. Richard hatte sich nicht auf dem Schlachtfeld gezeigt, und die meisten seiner Truppen hatten sich vor dem Luftangriff durch Portale zurückgezogen. Ich war zwar unter Beschuss geraten, weil ich den Zugriff befehligt hatte, aber nicht sehr. Vor dem Rückzug war unklar gewesen, wer gewann oder verlor, doch wäre es zum Kampf gekommen, hätten die Ratstruppen signifikante Verluste eingestrichen. So aber hatten sie nur sehr wenig verloren.

Dennoch war der Rat nicht glücklich gewesen. Er hatte gehofft, der Angriff auf Richards Herrensitz würde den Krieg beenden oder zumindest seine Operationen lahmlegen. Stattdessen hatte Richard sich einfach in einem neuen Basislager eingerichtet, und zwar einem, das so gut verborgen war, dass der Rat es erst noch aufspüren musste. Das einzige Plus aus meiner Sicht war, dass ich ein paar Konvertiten bei den Weißmagiern gewonnen hatte. Es sprach sich herum, dass ich derjenige war, der darauf beharrte, dass die Tornados auf Stand-by blieben, und das hatte meine Popularität ein wenig gesteigert. Es hatte nicht dazu beigetragen, dass die Ratsmagier mich mehr mochten, aber die Sicherheitstruppen und in geringerem Maße auch die Wächter hatten es bemerkt. Leute, deren Job an vorderster Front ist, achten auf so etwas.

Doch ungeachtet meines persönlichen Erfolgs war dieser Angriff ein Fehlschlag in größerem Ausmaß gewesen. Um den Krieg zu gewinnen, musste der Rat Richard töten oder ihn an den Verhandlungstisch zwingen. Er hatte es in den drei Monaten zwischen der Razzia im Tigerpalast und dem Angriff auf die Villa nicht geschafft und auch nicht in den neun Monaten zwischen dem Angriff auf die Villa und heute.

»… weiter von London weg wäre sehr viel billiger, klar«, sagte Elizabeth. »Aber ich weiß nicht …«

»Ja, das heißt, du müsstest dich mit Leuten vom Land abfinden.«

»Ja, nicht wirklich unsere Art von Gesellschaft.«

Anne tauchte wieder auf, trug eine Portion Dessert herein und stellte es vor Johnathan ab. »Welche Temperatur hat es?«, fragte er.

»Es ist ziemlich kalt«, sagte Anne.

Johnathan probierte. »Ah, gut.«

»Ist es in Ordnung so?«, fragte die Mutter.

»Ja, wir geben die Hoffnung nicht auf, wie man so sagt! Es sieht wirklich köstlich aus.«

»Oh, danke«, erwiderte die Mutter mit einem Lächeln. »Anne, könntest du das Geschirr vom Hauptgang abwaschen, während wir fertig essen? Dann ist die Spüle für die Dessertteller wieder frei.«

Ich konnte nicht länger still bleiben. »Habt ihr die Dienerschaft für den Abend schon nach Hause geschickt?«

Die Unterhaltung am Tisch verstummte, und alle sahen mich an.

»Wie bitte?«, fragte die Mutter.

Ich spürte Annes Blick auf mir, aber ich begegnete ihm nicht. »Na, ihr wisst schon.« Ich behielt einen freundlichen Tonfall bei. »Ich frage mich, wer sich um den Haushalt kümmert, wenn ihr keine Gäste habt, die das erledigen.«

Der Vater sah hin und her, zögerte, überlegte sichtlich, ob er eingreifen sollte. Die Töchter und ihre Freunde warfen mir misstrauische Blicke zu.

»Dein Ton gefällt mir wirklich nicht«, sagte die Mutter.

»Es tut mir leid, da muss ich wohl etwas missverstanden haben.« Ich stand auf. »Ich sag euch was. Da ich sowieso keinen Nachtisch möchte, helfe ich ihr. Ich bin sicher, wir brauchen nicht allzu lange.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte ich mich um und ging hinaus in den Flur. Die Mutter starrte uns hinterher, aber bis sie entschieden hatte, was sie sagen könnte, waren wir bereits weg.

Musste das wirklich sein?, fragte Anne.

Wir standen in der Küche und wuschen ab. Das fließende Wasser machte genug Lärm, dass es schwer wäre, uns zuzuhören, aber wir sprachen sowieso nicht laut miteinander; wir benutzten einen Traumstein, einen meiner Fokusse, der eine Unterhaltung von Geist zu Geist ermöglicht. Er verfügte auch noch über andere Kräfte, die bedeutend gefährlicher waren.

Anne und ich hatten uns angewöhnt, den Traumstein einzusetzen, wann immer wir allein waren, und oft auch, wenn wir das nicht waren. Anne ist meine Ratsreferentin, und das vergangene Jahr hatten wir meist in den War Rooms oder den anderen Ratseinrichtungen in London verbracht. Ich habe viele Feinde, und wenn man an einem solchen Ort arbeitet, lernt man, vorsichtig zu sein und Vorkehrungen zu treffen, um nicht belauscht zu werden.

Musste nicht, nein, sagte ich. Wollte, ja.

Anne stieß ein frustriertes Schnauben aus. Traumsteinkommunikation ist ausdrucksstark; man bekommt alle Emotionen mit, die die Stimme enthalten kann, zusammen mit noch viel mehr. Du hättest sie nicht beleidigen müssen.

Ich nahm einen Teller von Anne entgegen und spülte ihn ab. Ich habe sie nicht beleidigt.

Du warst unhöflich.

Nicht halb so unhöflich wie sie. Ernsthaft, gekühlter Nachtisch? Ich habe Schwarzmagier kennengelernt, die ihre Sklaven höflicher behandeln.

Anne seufzte mental. Weißt du, nach ein paar Wochen im Tigerpalast habe ich begriffen, dass Jagadev mich an sie erinnert. Ich schätze, das hätte ein schlechtes Zeichen sein sollen.

Bei Jagadev oder ihr?

Ich bin nicht sicher.

Ich war mit dem Teller fertig und stapelte ihn auf den Geschirrständer, nahm einen weiteren entgegen. Was zur Hölle ist ihr Problem? Ich meine, ich weiß, sie ist nicht deine Mutter, aber ihr seid immer noch verwandt, richtig?

Nicht eng, sagte Anne. Tante zweiten Grades … Ich hab ja gesagt, es ist kompliziert.

So kann man das auch nennen.

Du hörst dich an wie Vari, sagte Anne. Er hat sie immer gehasst.

Hast du so den größten Teil deiner Kindheit verbracht?, fragte ich. Warst die Dienstmagd?

Na ja, ich habe auch manches Mal als Krankenschwester gedient.

Du machst Witze.

Beth hatte Allergien, und Grace hatte Probleme mit einer Hautgeschichte, daher brauchten sie jemanden, der bei ihnen blieb.

Also warst du die Nanny von zwei verzogenen Teenagergören. Wie zur Hölle hast du das ausgehalten?

Das oder Pflegefamilie. Ich hatte nicht wirklich eine Wahl.

Schweigend spülten wir ein paar weitere Teller. Es tut mir leid, sagte Anne schließlich. Ich wollte, dass du einen schönen Abend hast. Stattdessen verbringst du ihn so.

Glaub mir, ich wasch lieber mit dir Geschirr ab, als mit denen am Tisch zu sitzen.

Anne lächelte. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie der Rat reagieren würde, wenn er uns sehen könnte.

Sie würden sich vermutlich fragen, was für ein seltsames neues magisches Ritual Teller und eine Spüle voll Wasser beinhaltet.

Darüber lachte Anne laut auf. Wir arbeiteten in vertrautem Schweigen weiter.

Dabei ging ich die Zukünfte durch, sah nach, ob mir irgendwas auffiel. In letzter Zeit war es selten, dass ich meine Fähigkeit nicht nutzte: Es gibt nur sehr wenige Orte, an denen ich mich sicher genug fühle, um zu entspannen, und das hier war keiner. Etwas erregte meine Aufmerksamkeit, und ich sah genauer hin.

Hm.

Was ist?

Deine sechzig Prozent Chance kam gerade herein.

Anne blickte auf den Teller in ihren Händen, es war einer der letzten. Denkst du, wir sollten das noch fertig machen?

Ich glaube, das überleben die sechs schon.

Durch den Flur gingen wir zur Eingangstür. Wir versuchten, leise zu sein, doch als wir am Esszimmer vorbeikamen, stockte die Unterhaltung.

»Hallo?«, rief jemand.

»Tut mir leid«, rief ich zurück und zog meinen Mantel an. »Ist was dazwischengekommen.«

Das Scharren von Stühlen ertönte, und nach einem Augenblick tauchte Johnathan im Türrahmen auf. »Ihr geht schon?«

»Dringender Anruf«, sagte ich. »Tut mir leid.«

Die Mutter war hinter Johnathan aufgetaucht, zusammen mit einem oder zwei anderen. »Oh«, sagte sie. »Na, tut mir leid, dass ihr gehen müsst. Vielleicht könnte Anne …«

Ich schnitt ihr das Wort ab. »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Anne ist meine Stellvertreterin. Sie brauchen sie und ich auch.« Ich schwieg kurz. »Ich vermute, sie hat es euch nicht erzählt, aber ihre Position in der Regierung ist wohl höher als die jeder anderen Person, die ihr je getroffen habt.«

Anne warf mir einen Blick zu, aber der Ausdruck auf den Gesichtern der Frauen war es mehr als wert. Ich öffnete die Tür.

»Was ist denn so dringend?«, fragte Johnathan.

Ich trat hinaus in die Sommernacht. »Meetings.«

2

Die ländliche Gegend wirkte friedlich nach dem Lärm Londons. Wir waren in Devon, auf einem Berghang in einem Teil des Countys, der hauptsächlich Felder, Bäume und Schafe zu beherbergen schien. Die Sonne war untergegangen, und der Himmel wurde nur von Sternen und dem dunstigen gelben Schein der Städte im Süden und Osten erhellt. Auf dem Hügel stand ein Gehöft.

Vor einer Operation nehme ich mir gern einen Moment und betrachte das Terrain genau. Nicht zur Planung oder zur Aufklärung, obwohl ich auch das mache; vielmehr suche ich einen Platz mit gutem Ausblick und sitze dann dort und warte ab. Egal, wie viele Karten ich auch studiert oder wie viele Projektionen ich gesehen habe, ich bin nie glücklich, wenn ich irgendwo hineingehen muss, solange ich den Ort nicht zuvor eine Weile beobachtet habe.

Weiße Farbe blätterte von dem Gehöft, es hatte weit auseinanderstehende Fenster, und auf dem Dach fehlten Schindeln. Es sah aus wie so ziemlich jedes der tausend anderen Gehöfte, die auf dem englischen Land verteilt sind. Es gab einen ungenutzten Hof und ein paar alte Scheunen, aber laut unseren Informationen lag das, was uns interessierte, unter der Erde. Die Gebäude und die Landschaft waren klarer zu erkennen, als sie das hätten sein sollen: Anne hatte meine Dämmerungssicht verbessert.

Ich hörte eine Bewegung hinter mir, es war Vari.

»Alle bereit?«, fragte ich.

»Wir sind seit einer halben Stunde bereit«, sagte Vari. »Gehen wir jetzt rein oder wie? Wir erfahren nichts, indem wir rumsitzen und starren.«

»Etwas zu erfahren, indem man herumsitzt und starrt, ist so ziemlich genau mein Job.«

»Ich finde, du machst in diesen Tagen etwas mehr als das.« Variam trat neben mich. »Also ist das ein Go?«

»Der Eingang befindet sich im Keller hinter einer Trennwand. Das Schloss ist ein wenig knifflig, aber das sollte ich schaffen.«

»Feinde?«

»Kann ich nicht sagen«, erwiderte ich. Indem ich pfadwandle, erkenne ich die Zukünfte, in denen ich eine bestimmte Handlungssequenz verfolge, und dabei entdecke ich, wem oder was ich auf dem jeweiligen Weg begegnen würde. Doch das Schloss war so knifflig, dass es zu lange dauern würde, der gesamten Reihe aus Zukünften bis zu derjenigen zu folgen, in der es aufging und ich sehen konnte, was sich dahinter befand. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich das gekonnt, aber der Nutzen war gering, und wir hatten es eilig. Wir verfolgten diese Spur seit einer Weile, und ich wollte sie nicht erkalten lassen.

»Ach«, machte Variam. »Anne entdeckt vermutlich jeden.«

»Wie läuft Landis’ Operation?«

»Langweilig, sagt er. Leibwächter für Ratsmitglieder zu spielen, ist eine verfluchte Zeitverschwendung. Ich weiß nicht, warum sie uns immer wieder darauf ansetzen.«

»Nur, weil Richard noch keine Anschläge versucht hat, heißt das nicht, dass er es nicht tun wird. Aber du hast recht, es ist Ressourcenverschwendung. Landis ist zu wichtig für solche Aufgaben.«

Landis ist Variams Meister oder, um genauer zu sein, sein Ex-Meister – Variam wurde vor Kurzem zum Gesellen und gleichzeitig zum Vollmitglied der Wächter ernannt. Bis vor einem Jahr oder so wäre ein derart junger Magier wie Variam niemals ohne seinen Ex-Meister auf eine solche Kampfmission geschickt worden, aber dank des Krieges war man knapp besetzt.

»Na, ich bezweifle, dass wir ihn brauchen«, sagte Variam. »Werden keine Magier da sein, oder?«

»Nur Fallen und was immer von ihren Experimenten übrig ist«, sagte ich. »Wenn natürlich eine dieser Fallen ein Alarm ist und sie Verstärkung reinporten, wird’s spannend.«

»Deshalb haben wir dich dabei, richtig?«, erwiderte Variam. »Ich meine, wenn sie reinporten, bringst du uns was? Eine ganze Minute Vorsprung? Und jetzt komm schon, den Jungs wird langweilig.«

Ich warf einen letzten Blick auf das Gehöft und stand auf.

Wir rückten durch den Hof vor. Ich war vorn, meine Aufmerksamkeit geteilt zwischen dem Haus, das in der Gegenwart aufragte, und den sich verzweigenden Zukünften vor uns. Vari hielt die rechte Seite, seine Bewegungen waren schnell und sicher, und an seinem Turban war er gut in der Dunkelheit zu erkennen. Links war Ilmarin, ein Luftmagier, mit dem ich im letzten Jahr viel zusammengearbeitet hatte. Anne bildete die Nachhut, eine schmale Präsenz in der Dunkelheit, ruhig und wachsam.

Hinter uns kamen Mitglieder der Ratssicherheit: ein Kommando aus zehn Leuten, von Sergeant Little angeführt. Vor ein paar Jahren hatte ich Little aus einer Klemme geholfen, und das war der Beginn einer guten Arbeitsbeziehung gewesen. Wie seine Männer trug er Körperpanzerung und eine Maschinenpistole; jemand, der es nicht besser wusste, hätte vermutet, dass von den Sicherheitsleuten die größere Gefahr ausging. Damit läge man auch nicht direkt falsch, aber wir vier waren die, von denen die Mission abhing.

Der Standard-Kampfeinsatz der Wächter besagt, ein Minimum von sechs bis acht Magiern reinzuschicken und wenigstens dreimal so viel Sicherheitsleute. Doch in den letzten anderthalb Jahren hatte ich viele dieser Missionen geleitet, und ich zog mittlerweile das Tempo und die Reaktionsfähigkeit eines kleineren Teams vor. Zwei Elementarmagier, eine Lebensmagierin und ein Universalmagier lieferten uns die Werkzeuge, um mit den meisten Problemen klarzukommen, und wenn etwas schiefging, konnte man vierzehn Leute sehr viel leichter evakuieren als vierzig.

»Das Gebäude ist leer«, sagte Anne leise durch den Kommunikationsfokus in mein Ohr. Dieses Mal ohne Telepathie, alle anderen mussten auch hören, was sie sagte. Littles Männer waren auf demselben Sender zugeschaltet, was noch etwas war, das ich anders machte. Normalerweise haben Wächter separate Frequenzen für die Ratssicherheit und für sich. »Kein Lebenszeichen im Erdgeschoss.«

»Keller?«, fragte Variam.

»Nicht im ersten Geschoss. Kann nicht weiter sehen.«

»Geht voran«, sagte ich.

Littles Männer rückten vor, drei liefen an die Tür, zwei weitere um jede Seite. Jemand kümmerte sich um das Schloss an der Eingangstür, dann traten die Sicherheitsmänner sie ein.

»Erdgeschoss sauber«, sagte einer der Männer.

»Erster Stock sauber«, kam es eine oder zwei Minuten später.

Wäre etwas Lebendiges im Haus gewesen, hätte Anne es gesehen, aber es machte keinen Sinn, Risiken einzugehen. »Sichert den Keller.«

Das Bauernhaus wirkte verlassen, es erweckte diesen typischen Eindruck, den eine Wohnung bekommt, wenn lange niemand darin gelebt hat. Staub lag auf den Möbeln. Ich nahm die Treppe hinab in den Keller, während Little einem der Männer, Lisowski, den Befehl erteilte, im Eingangsbereich zu bleiben und uns Rückendeckung zu geben. Sollte Ärger von draußen kommen, setzten wir darauf, dass er den Alarm auslöste.

Der Zugang zur Einrichtung lag hinter einer Holzwand. Zog man einen verborgenen Dübel heraus, schwang die Wand zurück und gab eine runde Stahltür frei. Ich trat vor und machte mich an die Arbeit. Im Keller war es eng mit uns allen, aber niemand sagte etwas – die anderen hatten so etwas schon gemacht und wussten, dass ich Ruhe brauchte. Wahrsager sind gut darin, Sicherheitsmaßnahmen zu durchbrechen: Kann man die Konsequenzen seiner Handlungen sehen, ist es leicht, die meisten Alarme oder Fallen zu umgehen. Hier hatten sich die Erbauer für eine technologische Herangehensweise anstelle einer magischen entschieden und einen einfachen Zugangscode gesetzt. Es gibt Schlossarten, bei denen Divination nicht hilft – der Scan von Fingerabdrücken oder der Retina zum Beispiel –, aber das hier war keine davon. (Ansonsten hätte Vari die Tür einfach geschmolzen. Wie ich schon sagte, ein solches Team kommt mit den meisten Problemen zurecht.)

Die Tür klickte, und ich zog am Hebel. Sie schwang mit einem Knirschen auf und enthüllte Stufen, die hinab in die Dunkelheit führten. Kein Luftzug drang zu uns, aber ich meinte, einen schwachen Geruch wahrzunehmen, unangenehm und muffig.

Variam hob eine Hand, und Licht glomm auf, Flammen, die keine Hitze abgaben. Sie flogen die Treppe hinab, erleuchteten sie orangerot. In ihrem Schein sah ich, dass die Stufen vielleicht zwanzig Meter hinabführten und dann auf einem Absatz endeten.

»Lichtschalter«, bemerkte Ilmarin und nickte zu einem kleinen Panel direkt hinter der Tür.

»Funktioniert nicht«, sagte ich abwesend. Ich folgte den Pfaden, in denen ich die Stufen hinabrannte, sah nach, was passieren würde. »Kein Strom im Gebäude, soweit ich sehen kann.«

»Und?«, fragte Variam nach einer halben Minute.

»Ich fange nichts auf«, sagte ich. »Lichter sind aus, Türen geschlossen. Heißt nicht, dass es sicher ist, aber es ist definitiv nicht aktiv.«

»Keine Crystal?«

»Wir haben nicht wirklich angenommen, dass wir so viel Glück hätten.«

Kriege zwischen Magiern unterscheiden sich sehr von Kriegen zwischen Ländern. Kämpfen Länder miteinander, müssen sie durch die Stellungen der anderen Armee hindurch, wenn sie in feindliches Territorium vorstoßen wollen. Magier nicht. Mit Portalmagie können Angriffstruppen jederzeit und überall auftauchen, angreifen und dann wieder ans andere Ende der Welt verschwinden. Man sieht nie, dass Magier um die Kontrolle einer Brücke oder eines Bergpasses kämpfen, denn diese Orte einzunehmen, bewirkt nichts. Lassen sich Magier auf einen Kampf ein, geschieht das aus einem von zwei Gründen: Entweder streiten sie sich um etwas Wertvolles, oder eine Seite greift die Operationsbasis der anderen an. Ansonsten verschwinden sie einfach, wenn eine Seite nicht kämpfen will.

Was Operationsbasen anging, hatte Richards Seite den Vorteil. Der Rat operiert von verschiedenen Einrichtungen aus, die über Britannien verteilt sind. Sie sind gut verstärkt, aber es gibt viele, und es sind wertvolle, öffentliche und vor allem unbewegliche Ziele. Der Rat kann sie nicht aufgeben, was einen gewaltigen Aufwand an Männern und Ressourcen bedeutet, um sie alle zu verteidigen. Im Gegensatz dazu waren auf Richards Seite keine Anlagen mehr in Britannien übrig, oder zumindest keine, von denen wir etwas wussten. Die Villen von Richard und seinen Unterstützern waren in den ersten Monaten des Krieges allesamt von Ratstruppen angegriffen worden, und statt sich ihnen zu stellen und zu kämpfen, hatten die Schwarzmagier sie verlassen und sich zurückgezogen, hatten sich in Schattenreichen oder weit entfernten Ecken der Welt versteckt. Und Schattenreiche sind sehr viel schwerer anzugreifen als Villen. Der Rat arbeitete aktuell daran, Richards Operationsbasis zu lokalisieren, aber wenn es eine gab, dann hatte er sie bisher nicht gefunden.

Es ist jedoch unpraktisch, alles in ein Schattenreich zu verlegen. Zum einen ist die Anzahl an Schattenreichen begrenzt, und die Nachfrage übersteigt das Angebot. Zum anderen gibt es ein paar Dinge, für die Schattenreiche wirklich ungünstig sind. Man kann keine moderne Kommunikation unterhalten und auch sonst nichts, das viele externe Ressourcen oder Versorgung erfordert. Und es gibt gewisse Typen der magischen Forschung, die nicht in einem Schattenreich durchgeführt werden können – oder nur in einem besonderen Typ Schattenreich, auf den man vielleicht keinen Zugriff hat. Wollte also einer der Magier aus Richards Team Forschung und Entwicklung betreiben, musste er sich an einem Ort wie diesem verstecken.

Und es gab einen Grund, aus dem ich mich besonders für diese Einrichtung interessierte. Unsere Quelle besagte, dass sie von Crystal geführt wurde, einer abtrünnigen Weißmagierin, die vor Jahren zum Tode verurteilt worden und aus Britannien geflohen war. Das hier war das erste Mal, dass ihr Name mit Richard in Verbindung gebracht wurde, doch ich hatte meine eigenen Gründe für den Verdacht, dass es eine Verbindung zwischen den beiden geben könnte. Und noch dazu wusste ich, dass sie Anne wollte. Crystal war im Besitz eines fehlerhaften Unsterblichkeitsrituals, und sie glaubte, dass Anne die fehlende Zutat sei, mit der es funktionieren würde. Ich wusste nicht, ob sie damit recht oder unrecht hatte, und da Anne den Prozess nicht überleben würde, war mir das auch ziemlich egal. Crystal hatte mehrere Mordanschläge auf Anne verübt, und wenn ich die Chance bekäme, würde ich sie töten. Die Tatsache, dass sie zufällig für Richard arbeitete, war nur eine passende Entschuldigung.

»Wir durchkämmen die Anlage«, sagte ich. »Durchsucht Zimmer für Zimmer, stellt sicher, dass das Gebäude leer ist. Versucht, nichts zu beschädigen, wenn es nicht sein muss. Vorausgesetzt, dass wir niemanden zur Befragung finden – was wir vermutlich nicht tun werden –, gehen wir alles durch, was wir finden. Dokumente, Computer, Forschung. Alles, was uns einen Hinweis liefern könnte, wohin wir als Nächstes müssen.«

»Kein Spielzeug kaputtmachen, verstanden«, sagte Little. »Gehst du wieder vor?«

Ich nickte. »Folgt mir.«

Die Anlage war dunkel und still, voll leerer Gänge und verlassenen Räumen. Ohne Luftzufuhr oder eine Verbindung nach draußen war schwer zu sagen, wie lange sie schon unbenutzt war: Es hätten Wochen oder bloß Stunden sein können. Ein unangenehmer metallischer Geruch lag in der Luft, der mich an Blut denken ließ.

»Tja, sie haben definitiv an etwas gearbeitet«, sagte Variam. Wir beide waren in einer Art Testzimmer, mit Werkbänken und einer freien Fläche am anderen Ende. »Die Frage ist, woran.«

»Keine Ahnung.« Ich blätterte ein paar Notizen durch, die auf einer der Bänke liegen gelassen worden waren, las im rotorangen Licht von Variams Magie. »Aber ich tippe auf Kampfeinsätze.«

»Steht das da?«

»Nein, das hier sind nichts als Zahlen.« Ich deutete auf die freie Fläche. »Aber siehst du die Markierungen auf dem Boden und an der Wand? Die sehen aus wie solche, die man für Zielscheibenhalterungen benutzt.«

»Sind wir sicher, dass Crystal die Anlage geführt hat?«

»Kann ihren Namen nicht entdecken, aber sie wird nicht gerade Arbeitszeitkonten unterzeichnet haben. Hoffentlich können wir einen Zeitmagier hinzuziehen, nachdem wir den Laden ausgeräumt haben.«

Variam schnaubte. »Viel Glück. Die haben im Moment eine ewig lange Warteliste.«

Mein Kommunikator pingte, und eine Stimme sprach in meinem Ohr. »Ilmarin an Verus.«

Ich legte die Notizen weg. »Ich höre.«

»Westflügel ist sauber«, sagte Ilmarin. »Es gibt ein paar Wohnräume und eine Küche; das Gebäude war wohl zur Langzeitbenutzung hergerichtet. Alles verlassen, aber Magierin Walker glaubt, sie hat etwas gefunden.«

»Was für ein etwas?«

»Es gibt noch eine Tresortür am Ende des Flügels. Luftdicht. Anscheinend ist jemand oder etwas darin.«

»Wir sind unterwegs.«

Die Tresortür, die Ilmarin und Anne gefunden hatten, ähnelte der am Eingang. Sie lag am Ende eines Gangs, Sicherheitsmänner warteten an den Wegkreuzungen, die Lampen an ihren Waffen warfen weiße Strahlen, die ihre Gesichter in Schatten tauchten. Ich ging voran, lief von Dunkelheit zu Licht und erneut zu Dunkelheit.

»Was haben wir hier?«

»Da ist jemand auf der anderen Seite«, sagte Anne. Wie Ilmarin trug sie keine Rüstung, anders als Ilmarin hatte sie keinen Schild. Ihre Kleider waren verstärkt, aber nicht besonders schwer; das war eine Diskussion, die ich schon viele Male mit ihr geführt hatte, und eine, die ich erst noch gewinnen musste. »Ein Junge, Anfang zwanzig. Er ist wach, aber er rührt sich nicht.«

»Nur einer?«, fragte Variam.

»Ich glaube, ja.«

»Mensch?«, fragte ich. Eingedenk der Dinge, die wir in Richards anderen Forschungseinrichtungen gefunden hatten, war das eine sehr relevante Frage.

Anne zögerte. »Vermutlich.«

»Was genau meinst du damit?«, wollte Variam wissen.

»Ich kann nichts Ungewöhnliches an seinem Muster erkennen«, erklärte Anne. »Keine Verletzungen, kein Anzeichen von Mängeln. Er scheint völlig gesund zu sein.«

»Okay?«, sagte ich fragend.

»Warum ist er völlig gesund?«, fragte Anne. »Der Strom in der Einrichtung ist aus. Und so wie es aussieht, ist er eingesperrt. Entweder sind sie einfach gegangen, und er ist höchstens seit ein paar Stunden da drin, oder …«

»Oder was?«

»Ich weiß nicht, aber etwas fühlt sich falsch an.«

Ich dachte kurz darüber nach, dann nickte ich. »Wir gehen davon aus, dass er ein Feind ist, bis das Gegenteil bewiesen ist. Gebt ihm die Chance, friedlich rauszukommen; wenn er das nicht tut, Feuer frei. Little, deine Männer sollen hinter uns stehen. Deckt alle Winkel ab.«

»Verstanden.«

»Sieht aus, als würde ich die hier nicht aufkriegen«, sagte ich. Die Tür war mit einem Retinascanner ausgestattet. In der Theorie könnte Anne das hinbekommen, aber diese Art von Veränderungen sind nicht ihr Spezialgebiet, und ich wollte keine Zeit verschwenden. »Vari, du bist dran.«

Eine Klinge aus sengendem Rot entzündete sich in Variams Hand, und alle anderen traten zurück. Variam schob die Feuerklinge in die Tür, lehnte sich dagegen. Das Metall wurde rot, dann gelb, dann weiß. Ein unangenehmer Geruch erfüllte die Luft, etwas wie verbranntes Öl zusammen mit einem beißenden Dunst, der im Hals stach.

Variam führte einen langen, geschwungenen Schnitt entlang der linken Seite und einen kurzen an der rechten, wo das Schloss saß. Als er fertig war, hatte die Luft im Gang sich erhitzt, und ich schwitzte in meiner Rüstung. Die Schnitte im Metall glühten rot, kühlten langsam wieder ab. »Das sollten die Scharniere sein«, sagte Variam und trat zurück.

Ilmarin nahm seinen Platz ein. Der Luftmagier wartete, bis Variam zur Seite getreten war, und hob eine Hand. Mein Haar flatterte, als eine Brise durch den Gang fegte, sich sammelte und dann wie ein Vorschlaghammer die Tresortür traf. Mit dem Kreischen gepeinigten Metalls fiel die Tür aus dem Rahmen, traf mit einem Krachen auf den Boden.

Magierlichter flogen in den Raum, orangerot von Vari, silbergrau von Ilmarin. Sie erhellten eine weitläufige runde Kammer, von der Stufen zu eingelassenen Zimmern links und rechts hinaufführten. Schwarze Bildschirme hingen an den Wänden, die einzige Bewegung rührte vom Flackern der Lichter.

»Kann ihn nicht sehen«, sagte Variam. Er kühlte die Tür herunter, verteilte die Hitze des Metalls, damit wir sicher darüberlaufen konnten, und beobachtete dabei den Raum aus dem Augenwinkel.

»Keine Bewegung«, sagte Ilmarin.

»Er ist da«, meinte Anne. Sie deutete zu den Schatten rechts. »Und er weiß, dass wir hier sind.«

Ich betrat den Raum. Im Licht der Zauber sah ich einen Tisch in einer Ecke, umgestürzte Stühle und Papiere auf dem Boden verstreut. Etwas schabte leise, als ich darauf trat, und ich blieb stehen und bückte mich. Es war eine leere Patrone.

»Sarge«, sagte einer der Sicherheitsmänner leise hinter mir.

»Ich sehe sie«, erwiderte Little. »Verus?«

Ich blickte zu der Stelle, auf die Little zeigte. Ilmarin hatte eins seiner schwebenden Lichter zur rechten Wand geschickt, und im grauen Schein erkannte ich Einschusslöcher. »Interessant«, sagte Ilmarin. »Die wären dann wohl von … wem? Der Anlagensecurity?«

»Was die Frage aufwirft, worauf sie geschossen haben«, sagte ich.

»Ich rate mal wild drauflos und sage, es muss etwas mit dem Ding zu tun haben, das vielleicht ein Mensch ist, vielleicht aber auch nicht«, meinte Variam.

»Er bewegt sich«, sagte Anne im nächsten Moment.

Unsere Blicke huschten zu der Dunkelheit auf dem oberen rechten Treppenabsatz. Eine Gestalt tauchte auf, immer noch in den Schatten verborgen. Wir konnten einen Umriss ausmachen, sonst aber nichts.

Von hinten hörte ich leise Bewegungen, als die Sicherheitsmänner ihre Waffen bereitmachten. Sie zielten nicht auf die Gestalt … noch nicht. Ich hob die Stimme, sprach laut und deutlich. »Ich bin Magier Alex Verus vom Juniorrat. Wenn du ein Feind von Magier Drakh, Magierin Crystal oder den anderen Schwarzmagiern bist, die diese Anlage geführt haben, werden wir dir helfen. Wenn du auf ihrer Seite stehst und gegen den Rat bist, geschieht dir nichts, solange du friedlich mitkommst. Tritt ins Licht und stell dich vor.«

Stille. Sekunden verstrichen. Dann trat die Gestalt vor.

Es war ein Junge in seinen Zwanzigern, wie Anne gesagt hatte. Er sah recht gewöhnlich aus, aber meine Nackenhaare richteten sich in dem Augenblick auf, in dem ich ihn erblickte. Eine Aura lag um seine Gestalt, sie war schwach und schwer zu erkennen, aber die Schatten klebten ein wenig mehr an ihm, als sie es sollten, deuteten hinter ihm etwas Größeres und Dunkleres an. Ich erkannte das Muster, und ich wusste, was es bedeutete. Ganz plötzlich mochte ich nicht mehr groß reden. »An alle Einheiten«, sagte ich leise in meinen Kommunikator, »Abwehrformation. Vorbereitung auf feindliche Beschwörungen.«

Der Blick des Jungen fuhr von oben über uns herab. Zukünfte flackerten auf, während er seine Entscheidung traf, aber ich brauchte sie nicht erst zu sehen, um zu wissen, was geschehen würde.

»Warum kommt ihr immer wieder?«, fragte er niemand Bestimmten. Seine Stimme klang falsch, älter als sie sollte.

»Feuer«, sagte ich in den Kommunikator.

Variam zögerte nicht. Eine Flammensäule loderte auf und tauchte den Raum in höllisches Licht. Von hinten stotterten die Maschinengewehre in Dreiersalven.

Das Feuer zog sich wieder zurück und enthüllte den Jungen, der unverletzt dastand. Ein durchscheinender schwarzer Schild flackerte um ihn herum; Kugeln trafen immer noch darauf, ihr Aufprall war von schwarzen Blitzen gekennzeichnet. Er breitete die Arme weit aus.

»Feuer einstellen, Feuer einstellen!«, rief ich. »Feuer auf das Hauptziel einstellen, behaltet die Flanken im Blick, wir haben Beschworene. Vier links, zwei rechts.«

Die Dunkelheit an den Seiten des Raums schien sich zu winden, Gestalten traten aus den Schatten. Sie waren menschengroß, spindeldürr und hatten Arme, die zu lang waren für ihre Körper. An den Wänden entlang huschten sie vorwärts. Sie waren schwer zu erkennen, der Blick wollte sich von ihnen abwenden, aber anders als der Junge hatten sie keine Schilde. Der Erste fiel, als Kugeln ihn trafen; der dahinter ging taumelnd in Deckung.

Aus vorangegangener Erfahrung wusste ich, dass diese Dinger mit ihren Klauen töteten: Solange die Männer sie auf Abstand hielten, sollten sie geschützt sein. Little befahl seine Leute bereits in eine Defensive, mit sich überlappendem Schussfeld, das die Kreaturen auf Abstand hielt. Zwei waren am Boden und die verbliebenen festgenagelt, konnten nicht vorrücken. Etwas Neues zeigte sich mir in den Zukünften, und ich drehte mich um.

Der Junge hielt Variams Angriffen noch immer stand, aber er konzentrierte sich auf Littles Männer. Er hob eine Hand; eine dunkle Kugel schwebte hoch hinauf in die Luft und dann in einem Bogen abwärts auf uns zu.

Ein Luftschild tauchte auf, gerade als der Zauber herabstieg, explodierte in einem stummen schwarzen Blitz. Wind zerzauste mir das Haar. Variam knurrte. Eine weitere Flammensäule explodierte um den Jungen herum. Dieses Mal ließ Variam einen Feuerblitz folgen, der wie eine Rakete hervorschoss. Der schwarze Schild nahm ihn ohne eine Regung auf.

»Verdammt!«, schrie Variam. »Wie hält er die auf?«

»Okay.« Ich hatte ein Kurzschwert um die Hüfte gegürtet; begleitet vom Geräusch von Metall auf Leder, glitt es aus der Scheide. »Lass uns das mal aus nächster Nähe versuchen.«

Variam sah zu mir, dann nickte er. Er machte einen Schritt, seine Hand senkte sich, er streckte sie hinter sich aus, aber bevor er seinen Zauber wirken konnte, spürte ich etwas Neues. Ohne innezuhalten, wirbelte ich herum und rannte zurück zu den Sicherheitsmännern.

»Little!«, schrie ich. »Hinten!«

Ich bemerkte, wie Sergeant Little aufsah, überrascht … und da bewegten sich die Schatten hinter seinem Trupp. Eine der Kreaturen trat aus der Wand, zerfetzte einen Mann, und Blut spritzte auf. Er ging mit einem Schrei zu Boden, und die Sicherheitsleute wirbelten herum, ihre Formation zerbrach.

Dann war Anne da, sie rannte durch ihre Reihen. Die Schattenkreatur hob die Klauen und zögerte. Anne nicht. Ihre Finger streiften den Körper, und er brach zusammen, das Leben schien aus ihm herauszufließen. Anne kniete bereits bei dem Verletzten, stillte den Blutfluss.

Ich hatte keine Zeit, weiter zuzusehen; diese Kreatur war nicht die Einzige, die aus dem Nichts gekommen war. Noch eine materialisierte sich aus der Dunkelheit direkt neben mir. Ich rammte ihr das Kurzschwert in den Oberkörper, drehte die Klinge, riss sie heraus. Die Waffe war ein niedrigstufiger Fokus, der mit einem Auflösungseffekt durchdrungen war, dazu gemacht, Schilde zu durchbohren. Das Ding taumelte und fiel. Einer der Sicherheitsmänner rannte neben mir heran und leerte sein Magazin hinein.

Ich sah mich um und erkannte, dass Chaos ausgebrochen war. Die Formation von Littles Männern war durcheinandergeraten. Statt diese Dinger fernzuhalten, wichen sie zurück, die Gewehre zeigten von links nach rechts, während sie darauf warteten, ob eine Gestalt hinter ihnen auftauchen würde. Anne, rief ich durch den Traumstein. Beschütze die Männer. Ich schalte den Beschwörer aus.

Verstanden.

Ilmarin und Variam hatten den Jungen ans andere Ende des Raums zurückgedrängt. Er stand mit konzentrierter Miene am Ende des Gerüsts, kämpfte mit nadeldünnen Drähten aus schwarzer Energie, die stachen und zustießen. Variam bedrängte ihn, Feuer schoss aus seiner Hand, und ein Flammenschwert lag in seiner anderen, er versuchte, nahe genug heranzukommen für einen tödlichen Schlag, während Ilmarin in der Luft schwebte.

Ich rannte auf das Gerüst zu. Es befand sich etwa drei Schritt über dem Boden, und es gab keine Treppe an der Seite, von der ich mich näherte. »Ilmarin«, rief ich durch den Kommunikator. »Ich brauche einen Lift!«

Ilmarin musste man nicht zweimal bitten. Brüllender Wind hob mich aus dem Lauf empor und warf mich in einem Bogen in die Luft, sodass ich sorgsam gezielt hinter dem Angreifer aufkam.

Der Junge spürte mich, wandte sich um. Peitschengleiche Energiestränge schlugen aus, wollten mich halbieren. In dem Augenblick, bevor sie trafen, fand ich die Zukünfte, die ich brauchte, und drehte mich: Ein Strang streifte mein Haar, der andere glitt von meiner Beinrüstung ab. Der Aufprall brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ich landete ungeschickt, mein Kurzschwert prallte vom Schild des Jungen ab.

Er starrte mich aus nur wenigen Schritten Entfernung an. Ich war größer als er, aber irgendwie fühlte es sich genau andersherum an: Da war eine Präsenz hinter ihm, wie ein Schatten, der über seinen Schultern aufragte. In seinen Augen stand ein seltsamer, gleichgültiger Ausdruck, als blickte etwas anderes durch sie hindurch. Schwarze Energie knisterte um seine Finger, aber er griff nicht an. »Ihr werdet dienen.« Seine Stimme klang normal, merkwürdig unpassend in diesem Umfeld. »Ihr beide …«

Ein schmales Flammendreieck trat aus der Brust des Jungen. Einen Moment stand er still, dann schien das Licht seine Augen zu verlassen, der schwarze Schild verschwand, und er sank zu Boden.

Variam blickte auf den Körper hinab, sein Schwert brannte immer noch in einer Hand. »Steht er auf?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Der Rest löst sich auf«, rief Ilmarin von oben herab.

Ich sah mich um und erkannte, dass der Kampf vorbei war. Littles Männer hatten das Feuer eingestellt, ich hörte sie einander zurufen, sie sahen nach, ob der Bereich jetzt sauber war.

»Verus an Little«, sagte ich über das Komm. »Das sollten alle gewesen sein, aber durchsucht die Umgebung. Seht nach, ob wir sicher sind.«

»Verstanden.«

Ich warf einen letzten Blick auf die Leiche des Jungen, dann ging ich über das Gerüst und die Stufen hinab, um nach den Verwundeten zu sehen. Dabei kam ich an mehreren von Littles Männern vorbei, die die Nischen des Raums überprüften. Am Eingang lagen zwei Männer an die Wand gestützt, die von Anne untersucht wurden, und zwei andere standen dabei und blickten wachsam nach draußen. Da war viel Blut, aber beide Männer hatten die Augen geöffnet und waren eindeutig am Leben.

»Nowy und Peterson, richtig?«, fragte ich. »Wie schlagt ihr euch?«

»Könnte schlimmer sein, Sir«, sagte Peterson.

»Skurwysyn«, sagte Nowy und hustete. »Mir geht es gut.«

»Er wird wieder gesund«, sagte Anne beruhigend. Sie kniete neben Nowy, die Finger an seinem Hals. Trotz des Bluts auf seinen Kleidern war die Haut darunter unverletzt und glatt. Sie lächelte den Sicherheitsmann an. »Mach dir keine Gedanken, Nowy, das verdirbt dein Aussehen nicht.«

Nowy versuchte zu lachen, aber er war sichtlich erschüttert. So wie es aussah, war seine Arterie geöffnet worden; wäre Anne nicht da gewesen, wäre er innerhalb einer Minute gestorben. Stattdessen war nicht einmal eine Narbe zu sehen, und nach ein paar Tagen Ruhe wäre er so gut wie neu.

»Zimmer sind sauber«, sagte Little, der zu mir zurückkam. »Das sollte dann die gesamte Anlage sein.«

Ich nickte, aber Little ging nicht. »Noch was?«, fragte ich.

»Würd mir nichts ausmachen zu erfahren, was das für Dinger waren.«

»Jetzt?«

»Bei der Einsatzbesprechung hieß es, es ist mit Schwarzmagiern, Adepten und bewaffneter Security zu rechnen.« Little veränderte seine Haltung, die Füße schulterbreit und die Hände hinter dem Rücken. »Nichts von Monstern, die beschworen wurden. Bei allem Respekt für Magierin Walker« – er nickte zu Anne –, »aber wir waren ziemlich nahe daran, Männer zu verlieren. Ich wüsste es zu schätzen, wenn ich erfahren würde, wie wahrscheinlich das wieder passiert.«

Mir wurde bewusst, dass viele vom Sicherheitstrupp in der Nähe waren, im Hauptraum herumhingen. Nicht alle sahen mich an, aber sie hörten eindeutig zu. Variam und Ilmarin waren außer Hörweite in der Ecke des Raums und begutachteten die Notizen auf dem Tisch. Es war vermutlich kein Zufall, dass Little das jetzt fragte, und ich hatte auch bemerkt, dass er mich nicht »Sir« nannte. Die Ratssicherheit bekommt für gewöhnlich nicht viele Informationen dieser Art, doch er bat mich, ihm irgendwas zu liefern.

»In Ordnung«, sagte ich. »Sei dir bewusst, dass ich teilweise raten muss. Und auch wenn nichts hiervon als geheim eingestuft ist, solltet ihr es nicht rumerzählen.«

Mehrere nickten, einschließlich Little. »Dieser Junge, mit dem wir gerade gekämpft haben, war von einer Kreatur besessen, die sich Dschinn nennt, auch als Flaschengeist bekannt. Wünsche aus einer Lampe und so. Die Geschichten sind wahr, aber sie lassen vieles unerwähnt. Zum einen waren Dschinn früher nicht an Lampen gebunden. Sie waren Magier. Also haben sie wie viele andere magische Kreaturen einen guten Grund, Menschen nicht zu mögen.«

»Wo ist dann die Lampe?«, fragte einer der Sicherheitsmänner.