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Zum Bösen gezwungen!
Im seinem achten Abenteuer wird der schlimmste Albtraum des Hellsehers Alex Verus wahr!
In der Politik sind die Dinge selten schwarz oder weiß. Es geht um Kompromisse, Lobbyismus und auch Eigeninteresse. In der magischen Welt von London ist es nicht anders. Selbst zwischen Schwarz- und Weißmagiern sind die Grenzen fließend, und nur weil jemand im Lager der Weißmagier ist, gehört er noch lange nicht zu den Guten. Der Hellseher Alex Verus befindet sich inmitten dieses Chaos, seit sein alter Mentor, der Schwarzmagier Richard Drakh, einen Weg gefunden hat, Alex in seine Dienste zu zwingen. Damit ist Alex' schlimmster Albtraum Wirklichkeit geworden. Er will sich um jeden Preis aus der Knechtschaft befreien – doch von den Weißmagiern hat er keine Hilfe zu erwarten ...
Die Alex-Verus-Bestseller von Benedict Jacka bei Blanvalet:
1. Das Labyrinth von London
2. Das Ritual von London
3. Der Magier von London
4. Der Wächter von London
5. Der Meister von London
6. Das Rätsel von London
7. Die Mörder von London
8. Der Gefangene von London
9. Der Geist von London
10. Die Verdammten von London
11. Der Jäger von London
12. Der Retter von London
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Seitenzahl: 541
Buch
In der Politik sind die Dinge selten schwarz oder weiß. Es geht um Kompromisse, Lobbyismus und auch Eigeninteresse. In der magischen Welt von London ist es nicht anders. Selbst zwischen Schwarz- und Weißmagiern sind die Grenzen fließend, und nur weil jemand im Lager der Weißmagier ist, gehört er noch lange nicht zu den Guten. Der Hellseher Alex Verus befindet sich inmitten dieses Chaos, seit sein alter Mentor, der Schwarzmagier Richard Drakh, einen Weg gefunden hat, Alex in seine Dienste zu zwingen. Damit ist Alex‘ schlimmster Albtraum Wirklichkeit geworden. Er will sich um jeden Preis aus der Knechtschaft befreien – doch von den Weißmagiern hat er keine Hilfe zu erwarten …
Autor
Benedict Jacka (geboren 1980) ist halb Australier und halb Armenier, wuchs aber in London auf. Er war 18 Jahre alt, als er an einem regnerischen Tag im November in der Schulbibliothek saß und erstmals anstatt Hausaufgaben zu machen, Notizen für seinen ersten Roman in sein Schulheft schrieb. Wenig später studierte er in Cambridge Philosophie und arbeitete anschließend als Lehrer, Türsteher und Angestellter im öffentlichen Dienst. Das Schreiben gab er dabei nie auf, doch bis zu seiner ersten Veröffentlichung vergingen noch sieben Jahre. Er betreibt Kampfsport und ist ein guter Tänzer. In seiner Freizeit fährt er außerdem gerne Skateboard und spielt Brettspiele.
Die Alex-Verus-Romane von Benedict Jacka bei Blanvalet:1. Das Labyrinth von London2. Das Ritual von London3. Der Magier von London4. Der Wächter von London5. Der Meister von London6. Das Rätsel von London7. Die Mörder von London8. Der Gefangene von LondonWeitere Bände in Vorbereitung.
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Deutsch von Michelle Gyo
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Bound (Alex Verus 8)« bei Orbit, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Benedict Jacka
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Karte: © Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27431-3V001
www.blanvalet.de
Durch Richards Villa zu laufen, fühlte sich an wie zersplittertes Glas unter meiner Haut.
Das Innere des Hauses war gut beleuchtet, doch die dunklen Wände und der Boden ließen es düster wirken. Das Licht aus den kerzenförmigen Glühbirnen in den Kronleuchtern fiel auf rotbraune Fliesen herab, und breite Dachsparren kreuzten sich an der Decke über mir. Die Wände waren getäfelt und mit akkuraten geometrischen Mustern versehen. Unsere Schritte auf dem Holz hallten wider, und von Zeit zu Zeit deutete ein leises Geräusch eine Bewegung tiefer im Haus an. Braun- und Gelbtöne verschmolzen miteinander zu einem dunklen Gold.
Für mich war dies hier ein Ort des Schreckens und des Wahnsinns. Es war etwas über vierzehn Jahre her, seit ich zum ersten Mal durch diese Türen getreten war; an jenem Tag hatte Richard mich meinen Mitlehrlingen vorgestellt, Rachel, Tobruk und Shireen. Er hatte uns unsere Aufgaben erklärt und uns dann uns selbst überlassen. Nach einer Weile hatte es einen Auftrag gegeben. Und dann noch einen. Innerhalb von zwei Jahren waren Shireen und Tobruk gestorben, Rachel wahnsinnig, ich halb wahnsinnig geworden, bis ich geflohen war und versucht hatte, mein zerstörtes Leben wiederaufzubauen. Es hatte Jahre gedauert, und als ich wieder völlig gesund gewesen war, hatte ich geschworen, nie mehr zurückzukehren. Und jetzt tat ich genau das.
Die Kreatur, die uns hineinführte, lief zwei Schritte vor uns. Auf einen flüchtigen Blick sah sie wie eine junge Frau aus, goldhaarig und wunderschön, ganz in Weiß gekleidet. Nur die Augen verrieten es: Als sie uns an der Tür begrüßt hatte, war ich ihrem Blick begegnet, und die Augen, die mich ansahen, waren ausdruckslos und leer. Ich hatte von dieser Art Konstrukt gehört – man nannte es »Dama«. Sie waren körperlich schwach und nahezu geistlos; ihre Intelligenz reichte gerade aus, um einfachen Kommandos zu gehorchen. Doch sie hatten einen besonderen Wesenszug, den gewisse Magier sehr schätzten. Damas hatten kein Langzeitgedächtnis: Ein Befehl, den man ihnen gab, verschwand aus ihrem Gedächtnis, sobald er ausgeführt war. Als ich noch in diesem Haus gewohnt hatte, hatte Richard Haussklaven für solche Aufgaben gehabt. Die Tatsache, dass die Sklaven ersetzt worden waren, war gewissermaßen eine Verbesserung, ließ aber bedenkliche Schlussfolgerungen zu.
Verstohlen warf ich Anne, die neben mir herging, einen Blick zu. Ihr Haar war ein wenig gewachsen während unserer Flucht, und jetzt streifte es ihre Schultern, während sie mit ihren rotbraunen Augen die Wände musterte. Ich wusste, dass sie die lebenden Wesen in der Villa spürte, sie sah sie durch die Mauern und Türen, aber ich wagte nicht, sie danach zu fragen, nicht hier. Ihr Gewicht lagerte auf den Fußballen, sie schien bereit zu kämpfen oder zu fliehen. Ich war froh, dass sie da war, und schämte mich gleichzeitig dafür. Es gibt wenige Menschen, die ich in einer Zwangslage lieber an meiner Seite hätte als Anne, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie meinetwegen hier war.
Das Konstrukt führte uns ins Wohnzimmer, das ebenfalls mit Holz getäfelt war, mit roten Polstern und fensterlos. Es wandte sich mit leerem Lächeln zu uns um. »Bitte warten Sie hier. Sie werden bald gerufen.«
»Wie bald ist ›bald‹?«, fragte Anne mit ihrer sanften Stimme.
Das Lächeln des Konstrukts veränderte sich nicht. »Bitte warten Sie hier. Sie werden bald gerufen.«
Anne öffnete erneut den Mund. Ich fing ihren Blick auf und schüttelte leicht den Kopf, und sie machte den Mund wieder zu. Das Konstrukt, das immer noch lächelte, wandte sich um, verließ das Zimmer und schloss die Tür.
»Fühlt sich an, als würde man mit den Leuten vom Ministerium für Arbeit und Altersvorsorge reden«, sagte Anne leise, dann sah sie abrupt auf.
»Da bist du ja!«, sagte eine Stimme zu meiner Rechten. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange ich warten muss.«
Ich war froh, dass meine Vorsehung mich vorgewarnt hatte. Die Frau, die soeben das Zimmer betreten hatte, war nicht die, der ich am wenigsten gegenüberstehen wollte, aber sie gehörte definitiv unter die Top Fünf. »Vihaela«, sagte ich und drehte mich um.
»Verus«, erwiderte die Frau mit einem schmalen Lächeln. »Du siehst gut aus, wenn man es recht bedenkt.«
Vihaela ist eine der größten Frauen, die ich kenne, sogar größer als Anne; sie kann mir Auge in Auge gegenüberstehen. Sie ist dunkelhaarig und dunkelhäutig, mit dem Körperbau einer Athletin und der Eleganz eines Raubvogels, und sie kleidet sich gewöhnlich in Braun, Schwarz und Rot. Vihaela zieht Aufmerksamkeit von Menschen auf sich, die sie nicht kennen, und sie zieht sogar noch mehr Aufmerksamkeit auf sich von denen, die sie kennen. Wie Anne nutzt sie Lebensmagie, aber Vihaelas magische Kraft ist eine Mischung aus Lebens- und Todesmagie, und sie setzt sie für viel dunklere Zwecke ein als Anne. Gerade jetzt wirkte sie glücklich. Vihaela sieht oft glücklich aus, obwohl ich den Eindruck gewonnen habe, dass das, was sie glücklich macht, nicht sonderlich angenehm für die Menschen in ihrer Umgebung ist.
»Könnte das Gleiche von dir sagen«, meinte ich. »Auch wenn sich das nie groß zu ändern scheint.«
»War das ein Kompliment? Ein Punkt für den Versuch, aber ich interessiere mich mehr für das, was du mir mitgebracht hast.« Vihaela glitt an mir vorbei und schien zu vergessen, dass ich da war.
Anne wich nicht zurück, als Vihaela auf sie zukam. Die meisten Magier nähern sich einem Lebensmagier nicht, aber wenn Vihaela Angst hatte vor Anne, dann zeigte sich das nicht an ihren Bewegungen. Sie blieb mit einer Armeslänge Abstand vor ihr stehen, sodass Anne den Kopf ein wenig in den Nacken legen und zu ihr aufsehen musste.
»Ich habe mich darauf gefreut, dich kennenzulernen«, sagte Vihaela, ihre Stimme wie Seide. Sie streckte die Hand aus, um Annes Wange zu streicheln.
Man vergisst leicht, wie schnell Anne sich bewegen kann. Im einen Moment hingen die Arme an ihren Seiten herab, im nächsten hatte sich ihre Linke um Vihaelas Handgelenk geschlossen, sodass die Finger der älteren Frau ein Stück weit von Annes Gesicht entfernt verharrten.
»Bitte nicht«, sagte Anne. Ihre Stimme war sanft und klar.
»Allerliebst.« Vihaela lächelte Anne an. »Hat dir mal jemand gesagt, dass du eine sehr schöne junge Frau bist?«
»Viele Schwarzmagier.« Anne hielt Vihaelas Blick stand. »Aber nie aus einem Grund, der mir gefallen hätte.«
»So misstrauisch«, murmelte Vihaela. »Wie stark, glaubst du, sind diese Zauber?«
»Stark genug.«
Vihaelas Lächeln wurde breiter. »Lass es uns herausfinden.«
»Anne!«, blaffte ich.
Eine Mauer schwarzer Energie flammte auf, trennte mich von Anne. Grünschwarzes Licht sprang aus Vihaelas Hand in Annes Arm und in ihren Körper hinein. Es war ein Zauber, den ich zuvor nie gesehen hatte, bösartig und tödlich, und der Angriff kam so schnell wie der Blitz. Die meisten Magier wären in der ersten Sekunde überwältigt worden.
Aber Anne ist beinahe so schnell wie Vihaela, und mein Ruf hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde vorgewarnt. Eine Barriere aus blattgrünem Licht blitzte um Annes Körper auf, hielt Vihaelas Magie zurück. Schwarze Ranken wanden sich um das Grün und rissen daran, aber dieser dünne, zerbrechlich wirkende Schild hielt sie auf Abstand.
Vihaela starrte auf Anne hinab. Sie hatte die Hand gedreht, um Annes Handgelenk zu packen. Jetzt beugte sie sich vor, rückte der jüngeren Frau zu Leibe. Anne glitt einen Schritt zurück, dann stand sie wieder still, und für einen Augenblick waren beide reglos, nur die Muskeln in Annes Armen traten hervor. Dann drängte das grüne Leuchten von Annes Magie Vihaelas Zauber langsam und Stück für Stück von ihr weg. Die grünschwarzen Schlangen zogen sich zurück, kämpften dabei um jeden Zentimeter. Sanftgrüne Ranken wanden sich zu Annes Ellbogen hinauf und weiter an ihrem Unterarm entlang. Annes Augen glänzten rot im Licht, während sie Vihaelas Blick festhielt. Die Ranken von Annes Magie griffen nach Vihaelas Fingern, und ich sah Überraschung über Vihaelas Gesicht zucken, kurz bevor ihre Augen schmal wurden und schwarzes Licht nach außen brach.
Ich taumelte zurück, schirmte die Augen ab. Meine Haut prickelte von der Entladung, und ich hielt in jeder Hand eine Waffe, aber als sich meine Sicht wieder klärte, erkannte ich, dass der Kampf vorbei war. Die Mauer war verschwunden, so wie Vihaelas Zauber, und Vihaela stand jetzt drei Schritte weiter weg. Von Anfang bis Ende hatte die ganze Sache weniger als zehn Sekunden gedauert.
»Also hat Sagash dir doch etwas beigebracht«, sagte Vihaela.
»Bleib weg von mir«, sagte Anne leise und deutlich.
»So zickig.«
»Vihaela?«, sagte ich. Ich gab mir Mühe, es wie einen Vorschlag statt wie einen Befehl klingen zu lassen. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn wir das Ganze auf ein anderes Mal verschieben?«
»Hm?« Vihaela sah nicht zu mir. »Oh. Ich schätze, ja.« Sie starrte Anne noch einen Moment länger an, dann lächelte sie. »Man sieht sich.« Mit diesen Worten ging sie auf dem Weg hinaus, den wir hereingekommen waren. Wir beide drehten uns um und blickten ihr nach. Die Tür schloss sich mit einem Klicken hinter ihr.
Im Zimmer war es still. Zehn Sekunden vergingen, dann zwanzig. »Ist sie weg?«, fragte ich, als ich sicher war, dass Vihaela außer Hörweite war.
Anne nickte einmal.
Ich schob meine Waffen zurück in die Holster. Mit der linken Hand hatte ich einen Auflösungsfokus gezogen, einen schlanken, silbrigen Stab, der einen einzigen Zauber neutralisieren konnte. Mit der rechten hatte ich meinen Dolch gepackt. Nichts davon hätte viel gegen Vihaela genutzt. »Bist du okay?«
Anne antwortete nicht gleich, und ich wollte sie erneut fragen, aber dann holte sie tief Luft und schien die Begegnung mit Vihaela abzuschütteln. Als sie sich zu mir umdrehte, sah sie wieder normal aus, aber da war ein abwesender Blick in ihren Augen, und ich fragte mich, was sie und Vihaela in diesen paar Sekunden miteinander geteilt hatten. Lebensmagier sehen die Welt völlig anders als andere Menschen. »Ist sie immer so?«
»Nur bei Leuten, an denen sie interessiert ist.«
Die Tür am anderen Ende öffnete sich, und die Dama tauchte wieder auf. Sie trug immer noch das gleiche leere Lächeln, und als ich sah, was sie sagen würde, verschwand Vihaela sofort aus meinem Kopf. »Magier Drakh wird Sie jetzt empfangen.«
»… im ersten Stock«, sagte Richard gerade. »Such dir ein leeres Schlafzimmer aus. Ich denke, die anderen drei haben sich bereits eingerichtet.«
Es war Winteranfang. Ich war siebzehn Jahre alt und hatte mein Zuhause gerade verlassen, hatte die Verbindung zu meiner Mutter abgebrochen, um in Richards Villa einzuziehen. Den größten Teil dieses ersten Besuchs war ich damit beschäftigt, mit offenem Mund alles anzustarren. Ich hatte noch nie ein derart großes Haus gesehen. »Das ist gewaltig«, sagte ich.
»Ja.«
»Wie viel hat es gekostet?«
Richard lächelte ein wenig. Rückblickend weiß ich, dass es ihn amüsiert hatte. »Der Wert des Geldes ist in der magischen Gemeinschaft etwas niedriger als in deinem vorherigen Leben.«
Ich sah Richard an. »Wie viel bekomme ich?«
»So viel du brauchst, in einem gewissen Rahmen. Wofür würdest du es benutzen?«
»Was meinen Sie?«
»Es gibt nicht viel, das du kaufen musst. Essen wird dir aus der Küche zur Verfügung gestellt, und es gibt eine Auswahl an Kleidung und anderen lebensnotwendigen Dingen im Lagerraum im ersten Stock. Nimm, was du brauchst. Wenn du etwas anderes brauchst, frag Tristana oder Zander. Oh, behandle sie bitte höflich. Ich habe sie angewiesen, eure Befehle zu befolgen, aber wenn ich herausfinde, dass ihr ihnen etwas getan habt, werde ich wütend.«
»Was, wenn ich wohin will?«
»Reisekosten?«
»Ja.«
»Du bist mitten in Wales, Alex«, erwiderte Richard. »Du kannst nicht einfach ein Taxi an den Bordstein winken. Ich schätze, du könntest zur nächstgelegenen Bushaltestelle laufen, aber der Weg ist lang, und ich bezweifle, dass du so dort hinkämest, wo du hinwillst.«
»Wie komme ich dann irgendwohin?«
»Benutz einen Portalstein.«
»Ich weiß nicht, wie man einen Portalstein benutzt.«
»Dann schlage ich vor, dass du es lernst.«
Ich schwieg erneut.
Jetzt, da ich auf jene Zeit zurückblicke, kann ich erkennen, dass Richard bereits angefangen hatte, uns zu unterrichten. Die meisten seiner Lektionen waren nicht direkt; alles wurde einbezogen. Hier ist das Spielfeld; hier sind die Regeln. Wenn du mehr willst, hol es dir selbst.
»Eure Vorstellung und die erste Lektion finden um acht Uhr im Wohnzimmer statt«, fuhr Richard fort. »Bis dann.«
Es war eine Entlassung, aber ich ging nicht. »Warum machen Sie das?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Sie geben uns all das, und Sie helfen uns«, sagte ich. »Was haben Sie davon?«
Richard lächelte, und zum ersten Mal sah er ernsthaft zufrieden aus, als würde ich endlich die richtigen Fragen stellen. »Jeder möchte etwas hinterlassen.«
Ich starrte ihn noch einen Moment an, dann drehte ich mich um und ging.
Die Erinnerung zuckte durch meinen Kopf, während ich durch die Tür von Richards Arbeitszimmer trat. Dann war sie vergessen, weil ich mich auf den Mann konzentrierte, der hinter dem Schreibtisch saß.
Was sein Aussehen betrifft, so ist Richard Drakh auf fast jede Weise durchschnittlich. Er ist weder klein noch groß, weder dünn noch fett, nicht besonders gut aussehend, aber auch nicht hässlich oder gewöhnlich. Sein Haar ist mittelbraun, die Augen ziehen keine Aufmerksamkeit auf sich, und er trägt meist einen unauffälligen Anzug, der weder billig noch teuer aussieht. Würde man ihn in einen Zug in London stecken, würde er, ohne aufzufallen, in der Menge verschwinden. In Geschichten sind die größten Schwarzmagier immer angsteinflößend, groß oder hervorstechend oder monströs oder alles auf einmal. Richard war nichts von alledem – tatsächlich sah Vihaela sehr viel mehr nach Schwarzmagierin aus als er. Und doch war es Vihaela, die Richard gehorchte, nicht andersherum, und Richard weckte mehr Furcht in mir, als sie es jemals hätte tun können. Richard hatte mich rekrutiert, mich ausgebildet und mich gelehrt, ein Schwarzmagier zu sein, und Richard hatte zugesehen, wie ich in Ungnade gefallen und von Tobruk nach unten in die Zellen geschleift worden war.
Als wir eintraten, schrieb Richard gerade etwas in ein einfaches schwarzes Notizbuch, und er schrieb weiter, während wir vor seinem Schreibtisch stehen blieben und die Tür lautlos hinter uns zuschwang. Erst als sie sich mit einem leisen Klicken schloss, schlug er das Notizbuch zu und sah auf. »Alex.« Er nickte mir zu. »Anne. Wie war eure Reise?«
Anne und ich starrten ihn an.
»Ich bat euch, mich heute zu besuchen, um euch einen Überblick über eure Aufgaben zu geben«, sagte Richard. »Ich weiß, dass ihr nicht ganz auf dem Laufenden seid, deshalb dachte ich, es ist am besten, euch die Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen.« Er sah zwischen uns hin und her, die Augenbrauen hochgezogen. »Bevor wir anfangen … Gibt es etwas, das ihr ansprechen möchtet?«
Richards Stimme ist tief und mächtig, fast hypnotisch. Im Stehen verschmilzt er mit dem Hintergrund, aber wenn er spricht, dominiert er jeden Raum, in dem er sich befindet. Als ich noch ein Lehrling war, ging ich manchmal in eine Sitzung mit Richard und hatte vor, mit ihm zu streiten; dann kam ich eine Stunde später wieder heraus und dachte über alles nach, was er uns erzählt hatte; erst danach erinnerte ich mich daran, was ich hatte sagen wollen.
Aber ich war kein Lehrling mehr. »Wir sind nicht hier, weil wir es wollen«, sagte ich.
Richard schwieg kurz. »Wie bitte?«
Ein Teil von mir – eigentlich der größte Teil – wollte nichts sagen. Ich hatte immer noch schreckliche Angst vor Richard, und der Teil von mir, der sich daran erinnerte, sein Lehrling gewesen zu sein, wollte alles vermeiden, das ihn provozieren könnte. Aber wenn ich schwieg, hieß das, seine Autorität anzuerkennen. Es gab nicht viel, was ich tun konnte, aber das hier schon.
»Du weißt, wie Morden uns motiviert hat«, sagte ich. »Wir sind nicht hergekommen, weil wir für dich arbeiten wollen. Wir sind hier, weil Morden uns sagte, dass er unsere gesamten Familien umbringen würde, wenn wir es nicht täten.«
»Ihr seid uneins mit Morden?«, fragte Richard.
»Ja«, sagte ich. »Wir sind uneins mit Morden.« Neben mir nickte Anne.
»Und doch lebt ihr seinetwegen.«
»Das tut nichts zur Sache!«
»Wirklich?«, erwiderte Richard. »Soweit ich es verstehe, wäret ihr vor zwei Tagen ohne Mordens Eingreifen in einen feinen Nebel aus Blut und Körperteilen verwandelt worden. Davon ausgehend, dass Levistus’ Männer euch nicht lebend erwischt hätten, in welchem Fall euer Tod bedeutend langsamer vonstattengegangen wäre.« Richard sah Anne an. »Nicht du, natürlich. Obwohl ich glaube, dass du Grund hast, Alex gegenüber loyal zu sein. Was für mich heißt, dass ihr beide Morden dankbar sein solltet.«
Anne schwieg, und ich wusste, warum. Ich hatte sie getäuscht, damit sie bei dem Plan mitmachte, und diese Unterhaltung stand mir immer noch bevor. Doch ich würde Richard keinen Hinweis darauf geben. »Morden hat uns nicht geholfen, weil er nett ist«, sagte ich.
Richard zuckte mit den Schultern. »Er hat ein Recht auf Bezahlung.«
Ich erinnerte mich an Mordens Worte, wie er im Detail erklärt hatte, dass er jeden töten würde, den ich kannte oder der mir etwas bedeutete, einen nach dem anderen, dass er sich die mir am nächsten Stehenden bis zuletzt aufheben würde, wenn ich mich weigerte, und weißglühender Zorn durchflutete mich. »Scheiß auf seine Bezahlung!«, stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Du würdest es vorziehen, dass Morden unbeteiligt geblieben wäre?«
Ich starrte Richard schweigend an.
»Wie du wünschst«, sagte er.
Ich zuckte zusammen, doch Richard hatte nur in eine Schublade seines Schreibtischs gegriffen. Seine Hand kam wieder zum Vorschein und hielt jetzt einen Dolch. Es war ein kurzes Kampfmesser mit schwerer Klinge und einem Griff, der mit schwarzem Leder umwickelt war, und meine Gedanken rasten, während ich die Zukünfte durchging. Ich erkannte keine Spur eines Kampfs, aber …
Richard legte den Dolch auf den Schreibtisch, sodass er auf mich zeigte, und zog seine Hand zurück. Er nickte auf die Klinge hinab. »Nimm ihn.«
»Wofür?«
»Für dich selbst.«
Ich starrte Richard an.
»Ich bin sicher, du weißt, wo du zustechen musst«, sagte Richard. »Obwohl ich es vorziehen würde, wenn du die Stelle akkurat aussuchst. Die Kehle oder die Handgelenke zu öffnen, verursacht meist eine Sauerei, und ich würde den Teppich lieber nicht ersetzen müssen.«
»Du erwartest von mir …?«
»Dich selbst zu töten?«, fragte Richard. »Wenn es das ist, was du willst.«
»Warum solltest du …?«
»Du würdest es vorziehen zu sterben, statt in Mordens Schuld zu stehen?« Ganz plötzlich war Richards Stimme kalt und hart. »Dann ist jetzt die Gelegenheit. Nimm die Klinge und wende sie gegen dich selbst. Es wird keine Vergeltung und keine Vergeltungsmorde geben. Du wirst nur tot sein, mehr passiert nicht – genau wie du es gewesen wärest, wenn Morden dich allein gelassen hätte.«
»Das ist deine Idee einer Wahl?«, wollte ich wissen.
»Was hast du erwartet, Alex? Dass Morden deine Probleme umsonst löst? Und täusch dich nicht, es sind deine Probleme. Deine Feindschaft mit Levistus ist ganz dein Werk. Du hast dich entschieden, ihn zu provozieren, und hast … was erwartet? Dass es keine Konsequenzen geben würde? Es gibt immer Konsequenzen. Dies hier ist eine davon.« Richards Blick hielt meinen fest, während er die Hand ausstreckte und auf den Dolch tippte. »Ich habe keine Verwendung für Kinder oder für Leute ohne Lebenswillen. Wähle.«
Wut flammte in mir auf, sowohl wegen Richards Ton als auch wegen seiner Worte – und wegen der Tatsache, dass ich keine Antwort hatte. Weil ich bereits begriffen hatte, was er sagte, und er hatte recht. Erst vor ein paar Tagen wäre ich um ein Haar von Levistus’ Männern umgebracht worden. Oh, ich hatte ihnen einen Kampf geliefert, aber der hätte nur auf eine Art enden können. Wenn ich dieses Messer gegen mich einsetzte, würde ich einfach nur den Status quo herstellen.
Doch das würde ich auf gar keinen Fall tun, und Richard wusste das. Und die Wut hatte etwas Nützliches bewirkt: Sie hatte den größten Teil meiner Angst verbannt. Gerade jetzt betrachtete ich Richard nicht länger als den Lehrer aus meinen Albträumen; er war einfach nur ein weiterer Schwarzmagier, und ich sah in die Zukunft, was geschehen würde, wenn ich das Messer gegen ihn richtete.
Es war … näher dran, als ich erwartet hatte. Sehr viel näher. Tatsächlich und zu meiner Überraschung glaubte ich, dass ich vielleicht sogar wirklich gewinnen könnte, als ich in die Zukünfte sah, wie der Kampf sich abspielen würde. Es stimmte, dass Richard nicht so schutzlos war, wie er aussah, und ich wusste, dass seine Reaktionen blitzschnell sein würden, aber keine der Zukünfte endete damit, dass er mich einfach mit Magie wegpustete. Er würde Waffen und Tricks und Kampfgeschick einsetzen, und das waren alles Dinge, die ich kontern konnte.
Zum ersten Mal gestand ich mir zu, mich zu fragen, ob ich so viel Angst vor Richard haben sollte. Als ich aus seiner Villa geflohen war, war ich im Grunde noch ein Kind gewesen. Ich hatte viel Zeit gehabt, stärker zu werden. Vielleicht war das alles nur in meinem Kopf …
Nein. Richard hätte mir keine Waffe gegeben, wenn er nicht darauf vorbereitet gewesen wäre, dass ich sie einsetzte. Außerdem, selbst wenn ich ihn schlagen könnte, was dann? Richard sollte seinen Sieg mit Worten haben. Ich konnte warten.
»Gut«, sagte er, als ich weiterhin schwieg. Er blickte kurz zu Anne. »Ich nehme an, deine Antwort ist die gleiche? Ja?« Er legte das Messer wieder in die Schublade und schloss sie. Erledigt, schien sein Verhalten zu sagen. Wir haben geklärt, wer hier die Verantwortung trägt.
Das hatten wir nicht, aber das würde ich ihm nicht verraten.
»Und jetzt zu euren Aufgaben«, sagte Richard. »Für den Moment seid ihr beide Morden zugeteilt. Ihr seid jetzt seine Kontaktleute bei den Wächtern beziehungsweise dem Medizinkorps. Wie ihr sicher wisst, hat Morden daran gearbeitet, die Anerkennung und Zustimmung für die Schwarzmagier innerhalb des Weißmagierrats auszuweiten. Ich erwarte, dass ihr beide in Übereinstimmung damit handelt.«
»Wie?«, fragte ich.
»Ich bin sicher, ihr seid sehr gut in der Lage, das für euch selbst herauszufinden.«
»Wo sollen wir wohnen?«
»Wo immer ihr möchtet.«
Das hatte ich nicht erwartet, und Richard schien mir das anzumerken, denn er hob eine Augenbraue. »Keiner von euch ist ein Lehrling. Ich bin nicht für eure Unterbringung zuständig.« Richard wandte sich an Anne. »Du warst bisher still. Hast du irgendwelche Fragen?«
»Nur eine«, sagte Anne mit ihrer leisen Stimme. »Was wollen Sie?«
»Wie ich sagte, ihr werdet mit Morden arbeiten.«
»Sie hätten eine Heilerin oder einen Wahrsager bei den Schwarzmagiern rekrutieren können«, sagte Anne. Sie hob die Stimme nicht, und ihr Blick blieb ruhig, aber ich hatte das Gefühl, dass sie Richard sehr aufmerksam beobachtete. »Warum wir?«
»Kompetente Lebensmagier und Wahrsager sind seltener, als man meint.«
»Das ist keine Antwort.«
Zum ersten Mal lächelte Richard. »Wie lange ist es her, seit du dich dem Lehrlingsprogramm der Weißmagier angeschlossen hast, Anne?«
»Ich bin kein Mitglied mehr.«
»Dessen ungeachtet, wie lange ist es her?«
»Fünf Jahre.«
»Wie viele Jahre, würdest du sagen, verbringt ein Weißmagier für gewöhnlich als Lehrling bis zum Abschluss?«
»Drei bis sieben.«
»Aber die einzigen Weißmagierlehrlinge, die volle sieben Jahre so zubringen, sind die, die sich dem Programm im mittleren Teenageralter anschließen«, sagte Richard. »Die Tradition der Sieben-Jahre-Lehrlingszeit ist heutzutage selten. Fast alle Weißmagier machen den Abschluss mit einundzwanzig, spätestens zweiundzwanzig. Du bist … vierundzwanzig, ja?«
»Es gibt Lehrlinge im Programm, die älter sind als ich.«
»Lass es mich anders formulieren«, erwiderte Richard. »Du hast etwas mehr als drei Jahre im Lehrlingsprogramm verbracht. Wie oft wurde dir nach den ersten sechs Monaten etwas beigebracht, was deinen Einsatz von Magie betrifft, das dir wirklich neu war?«
Anne blieb still. Ich sah sie an, etwas verblüfft. Irgendwie hatte Richard sie aus dem Gleichgewicht gebracht. »Worauf willst du hinaus?«, fragte ich Richard.
»Der Punkt ist der, dass man sie innerhalb von drei Monaten zur Gesellin hätte machen sollen«, sagte Richard. »Stattdessen wurde von ihr verlangt, ihre Zeit in Kursen zu verschwenden, die weit unter ihren Fähigkeiten lagen. Ich nehme an, dass es nicht ungewöhnlich war für sie, mehr über Lebensmagie zu wissen als ihre Lehrer.« Richard wandte sich wieder an Anne. »Weißt du, warum sie dich so sehr verabscheut haben?«
Anne antwortete nicht.
»Weil du eine Blamage warst«, antwortete Richard. »Lehrlinge sollen ihre Meister nicht übertreffen, besonders Lehrlinge, die außerhalb des Programms trainiert wurden. Sie hätten dich nie den Abschluss machen lassen. Dein Streit mit diesem Lehrling war einfach ein Vorwand. Wenn sie dich dafür nicht rausgeworfen hätten, dann wäre es etwas anderes gewesen.« Richard sah wieder zu mir. »Ähnliche Geschichte bei dir. Du hast nur den Status als Hilfswächter erreicht wegen deiner Freunde beim Sternenorden. Sie hätten dir nie gestattet, ein voller Wächter zu werden.«
»Der Rat mag uns nicht«, sagte ich. »Was willst du andeuten?«
»Anders als der Rat glaube ich nicht daran, dass man Talent vergeuden sollte«, sagte Richard. »Ihr beide seid höchst kompetent. Eure Fähigkeiten wurden nicht ausgereizt. Ich habe das als Gelegenheit gesehen.« Er wandte sich wieder an Anne. »Ich hoffe, das beantwortet deine Frage.«
Anne zögerte. »Ich schätze, ja.«
»Gut. Eins noch.«
Und hier kommt’s, dachte ich.
»Von Zeit zu Zeit werde ich zusätzliche Aufgaben für euch haben. Dann sende ich euch jemanden mit Anweisungen. Ich erwarte, dass sie direkt und gründlich ausgeführt werden. Habt ihr das verstanden?«
Davor hatte ich mich gefürchtet, und ich hatte keine Antwort darauf. Es half nicht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich blieb still, und Anne auch.
»Wenn es also sonst nichts gibt, steht es euch frei zu gehen.«
Ich sah Richard an.
Richard seufzte. »Ja, Alex, dir steht es frei zu gehen, wohin auch immer du willst. Bleib in Wales, kehr nach London zurück, reise in ein anderes Land, wenn du möchtest. Solange du die Aufgaben erfüllst, die ich dir auftrage, ist es deine eigene Entscheidung, wo du deine Zeit verbringst.« Richard sah auf die Uhr. »Morden wird euch beide morgen um neun Uhr in den War Rooms erwarten. In der Zwischenzeit habe ich eine andere Verabredung.«
Wir sahen Richard an, dann einander.
»Ihr könnt jetzt gehen«, sagte er.
Wir gingen. Das Konstrukt wartete im Zimmer nebenan auf uns, mit leeren Augen und unverändertem Lächeln. »Bitte folgt mir.«
Wir liefen durch die Flure zurück, und ich prüfte die Zukünfte, in denen wir im Haus blieben, suchte nach Zeichen von Gefahr. Nichts tauchte auf, aber ich fragte mich immer noch, ob Richard uns einfach gehen lassen würde.
»Ist es das?«, fragte Anne.
Wir kamen an einer Kreuzung vorbei, und ich blickte nach rechts und links. »Für den Moment«, sagte ich mit gesenkter Stimme.
»Ich hatte erwartet …«, begann Anne.
»Was erwartet?«
»Ich weiß es nicht. Etwas Schlimmeres.«
»Wir sind noch nicht draußen«, sagte ich. Vor uns behielt die Dama ihren gleichmäßigen Schritt bei. Ich war nicht sicher, ob sie uns überhaupt hörte.
Die Dama erreichte die Haustür, öffnete sie, dann stand sie mit verschränkten Händen da und blickte uns mit leerem Lächeln an. Durch die geöffnete Tür sah ich grünes Gras und Bäume. Die kalte Januarluft wehte herein und ließ mich frösteln.
Ich ging durch die Tür. Die Vorderseite des Herrenhauses hatte eine Veranda mit drei konzentrischen Stufen, die zur Tür und den Säulen führten, welche einen Balkon stützten. Hinter der Veranda war nichts, nicht einmal ein Weg. Ein grasbewachsener Hang senkte sich hinab in ein Tal, bevor er wieder zu einer Baumreihe anstieg. Um uns herum ragten die grünen Hügel von Wales in einen bedeckten Himmel.
Anne folgte mir ins Freie, und ich ging die Stufen hinab. Ich durchsuchte immer noch die Zukünfte, in denen ich mich umwandte und wieder hineinging, hielt nach irgendwelchen Anzeichen von Gefahr im Haus hinter uns Ausschau.
Der Angriff kam von vorn.
Ein grüner Strahl stach von den Bäumen auf der anderen Seite des Tals herab, dahin, wo ich gewesen wäre, wenn ich den letzten Schritt aufs Gras gesetzt hätte. Ich warf mich gerade noch rechtzeitig zurück, sah die Luft eine Armeslänge entfernt seegrün aufblitzen und hatte einen Augenblick, um den Zauber zu identifizieren, bevor ich zurück in die Deckung der Tür stürzte. Ein zweiter Strahl schnitt mir den Weg ab, ging zwischen uns hindurch und traf die Seite der Tür. Ich sah, wie sich Annes Augen weiteten, als der ganze Abschnitt des Gemäuers verpuffte. Sie sprang zurück, und ich musste mich drehen, um einem weiteren Strahl auszuweichen, der die Säule links auf der Veranda traf und deren untere Hälfte in Staub verwandelte.
Mit einem knirschenden Stöhnen stürzte die Veranda in sich zusammen. Die normale Reaktion wäre gewesen, rückwärts zu springen, aber ich wusste, dass mich das für den Angreifer sichtbar machte, und so warf ich mich vor, mitten unter die fallenden Steine. Ziegel schlugen um mich herum auf die Stufen, dann war ich hindurch, gerade in dem Augenblick, in dem eine Lawine aus Steinen und Gemäuer hinter mir herunterkrachte.
Ganz plötzlich war es still. Staub hing in der Luft. »Alex!«, schrie Anne von drinnen.
»Mir geht es gut!«, rief ich zurück. »Bleib da!«
Anne verstummte. Die linke Seite der Veranda war ein Haufen Schutt und schirmte mich ab, die zerklüfteten Reste des Balkons endeten abrupt über mir. Ich duckte mich hinter das Geröll, sah voraus, ob auf mich geschossen werden würde, wenn ich den Kopf hochreckte. Einen Moment lang zuckten schattenhafte Bilder von Gewalt durch die Zukünfte, dann waren sie verschwunden.
Ich sah erneut nach und stand mit einem Grunzen auf. »Entwarnung.«
Anne tauchte in den Resten der Tür auf. Sie war in die Eingangshalle zurückgewichen, als der Balkon herabgestürzt war, und jetzt suchte sie sich einen Weg durch das Geröll.
»Sieh mal«, sagte sie und nickte zurück in die Halle.
Das tat ich. Die Dama stand immer noch da, sah uns immer noch an, lächelte immer noch. Der Zusammenbruch des Balkons hatte eine Hälfte der Doppelflügeltür aus den Angeln gerissen, aber der Schutt hatte die Dama um ein paar Schritte verfehlt.
»Warum steht sie nur so da?«, fragte Anne.
»Sie ist darauf programmiert zu warten, bis wir gegangen sind, um dann die Tür zu schließen«, sagte ich. Ich deutete auf die Überreste der Tür unter dem Schutt. »Sie wird da stehen, bis jemand ihr neue Befehle erteilt oder bis ihr die Batterie ausgeht.«
Anne sah das Konstrukt an und erschauderte.
Eine Bewegung tauchte in der Zukunft auf, und ich wandte mich um. Richard war in die Halle getreten. Er betrachtete die Überreste seiner Veranda. »Dein Werk?«, fragte er an mich gewandt.
»Nein.«
»Wessen dann?«
Ich wollte entgegnen, ob er es nicht bereits wüsste, überlegte es mir jedoch anders. »Oh, keine Ahnung«, sagte ich. »Wer lebt hier, nutzt Auflösungszauber und mag mich wirklich gar nicht leiden?«
Richards Augen wurden schmal, und ich spürte Angst in mir aufzucken, aber im nächsten Augenblick war sein Gesicht wieder ausdruckslos. »Geht weiter, bitte.«
»Wirst du …?«
»Du bist nicht mein Erwählter, Alex.« Richards Stimme war ruhig, aber sein Blick blieb auf mich fixiert. »Nimm dir keine Freiheiten heraus.«
Anne sah mich an, und ich hielt den Mund. Wir gingen den Hügel hinab. Die Dama sah uns hinterher.
Erst als wir den größten Teil des Weges ins Tal zurückgelegt hatten, entspannte ich mich langsam. Ich hatte in allen Zukünften nach Gefahr gesucht und nichts gefunden. »Ich schätze, das war etwas Schlimmeres«, sagte Anne endlich.
»Ich glaube, du bist optimistisch.«
Kalter Wind strich über den Hang, kräuselte das Gras und ließ Annes Haare flattern. Ich fröstelte. Der Kampf hatte nicht lange genug gedauert, um mich aufzuwärmen. »Such weiter mit deiner Lebenssicht«, sagte ich. »Wir sind noch nicht draußen.«
»War das Rachel?«
»Todsicher«, sagte ich. Rachel ist die andere Überlebende von Richards Lehrlingen, auch wenn sie jetzt Deleo heißt. Auflösung ist ihre Spezialität, und sie hasst mich wirklich. Anne ist Rachel nie begegnet, aber sie hat die Geschichten gehört.
»Warum hast du sie nicht früher kommen sehen?«
Ich blickte Anne an, und sie wurde ein wenig rot. »Ich hab es nicht so gemeint«, fügte sie hinzu. »Es ist nur so, dass du normalerweise …«
»Etwas früher kommen siehst«, sagte ich und seufzte. »Ja, das ist eins der Probleme mit der Divination. Je verrückter jemand ist, desto weniger vorhersehbar ist er.«
»Ich dachte, Rachel war Richards Erwählte«, sagte Anne. »Wenn er uns dort haben wollte …«
»Ja«, sagte ich. Jetzt, da ich darüber nachdachte, war das Aufblitzen seiner Wut der einzige Moment heute gewesen, in dem Richard nicht gewirkt hatte, als hätte er die Kontrolle. Vielleicht hatte er Rachel befohlen, uns nicht anzugreifen, und sie hatte nicht gehorcht. Wenn das stimmte, war es der erste Riss, den wir in Richards Macht gefunden hatten. Ob es eine Möglichkeit gab, sich das zunutze zu machen?
»Du hast darüber nachgedacht, das Messer gegen ihn zu verwenden, oder?«, fragte Anne.
»War das so offensichtlich?«
»Ich habe deinen Adrenalinpegel gesehen«, sagte Anne. »Du hast dich auf einen Kampf vorbereitet, dann …«
»Es war nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte ich. »Vielleicht kommt der nie, aber …« Ich schüttelte den Kopf. »Was hast du entdeckt, als du ihn angesehen hast?«
Anne runzelte die Stirn, wirkte abgelenkt. »Er ist … merkwürdig.«
Ich sah sie an. »Merkwürdig inwiefern?«
»Er ist ein Mensch«, sagte Anne. »Aber sein Körper scheint … irgendwie verbessert? Es ist, als wäre da mehr Output, als Input da sein sollte. Ich hätte geraten, dass es ein verstärkter Metabolismus wäre oder so, aber der beschleunigt das Altern, und er wirkt wie das Gegenteil von allem. Von seinen Knochen her muss er mindestens fünfzig sein, aber er hat die Zell- und Muskelstruktur eines Dreißigjährigen.«
»Langlebigkeitsmagie?«
»Das denke ich, aber keine, die ich je gesehen habe.« Anne sah zu mir auf. »Du hast nie Richards Magietyp erwähnt.«
»Weil er ihn nicht verrät«, sagte ich. »Er nutzt Gegenstände und allgemeine Zauber …« Ich verstummte, als eine Bewegung in den Zukünften meine Aufmerksamkeit erregte. Wir waren die andere Seite des Abhangs ein Stück weit hinaufgestiegen und fast bei den Bäumen angelangt, und als ich vorausblickte, erkannte ich, dass der Wald, den wir gleich betreten würden, nicht menschenleer war. »Wir bekommen Gesellschaft«, sagte ich. »Jemand in den Bäumen.«
Anne sah hinauf zur Baumlinie, verengte die Augen ein wenig. »Feind?«
»Nein, sonst hätte ich es früher gesehen. Was kannst du erkennen?«
»Es ist nur einer«, sagte Anne nach einem Moment. »Männlich, Anfang zwanzig. Er ist gesund, denke ich … oh.«
»Was?«
»Er hat ein künstliches Bein«, sagte Anne. »Linke Seite vom Knie an abwärts. Könnte ein Konstrukttransplantat sein.«
»Jemand, den du kennst?«
»An so etwas würde ich mich erinnern.«
Ich hatte Zeit, die Zukünfte gründlicher zu prüfen, und war so sicher, wie ich nur sein konnte, dass der Mensch, der da auf uns wartete, nicht hier war, um zu kämpfen. »Dann lass uns mal sehen, was er zu sagen hat.«
Der Kerl, der auf uns wartete, versteckte sich nicht. Als wir den Wald betraten, kam er hinter einem Baum hervor und hielt die Hände sichtbar vor sich. Groß und athletisch, mit blauen Augen und einem Bürstenhaarschnitt sah er aus wie ein Kämpfer, aber er trug keine Waffen oder magischen Gegenstände, die mir ins Auge fielen. Ein verwobenes Armband zierte sein Handgelenk. »Mein Boss möchte mit euch reden«, sagte er.
Anne war stehen geblieben und starrte den Typen an. Ich war mir nicht ganz sicher, warum – okay, er mochte gut aussehend sein, aber ich hätte nicht gedacht, dass Anne sich von so etwas beeindrucken ließ. »Hattest du was damit zu tun?«, fragte ich und nickte in Richtung des Schutthaufens auf der anderen Seite des Tals.
»Würde nicht hier herumhängen, wenn ich das gewesen wäre.«
»Was dann, du hast herumgestanden und zugesehen?«, fragte ich trocken.
Bürstenschnitt zuckte mit den Schultern. »Ihr kamt gut klar.«
»Wer bist du?«, fragte Anne.
»Nur der Bote.« Bürstenschnitt nickte über seine Schulter. »Mein Boss ist eine Viertelmeile in die Richtung. Er sagt, ihr wärt in der Lage, ihn zu finden.«
Ich bemerkte, dass er nicht gefragt hatte, wer wir waren. Ich war mehr daran interessiert, woher er gewusst hatte, dass wir herkommen würden. »Und wie hast du …?«, fing ich an.
»Ich kenne dich«, sagte Anne plötzlich.
Bürstenschnitt sah zurück zu Anne, dann senkte er zu meiner Überraschung den Blick. »Vor zweieinhalb Jahren«, sagte Anne. »Das warst du, oder nicht?«
Ich warf ihr einen Blick zu. »Du kennst den Typen?«
»Du auch«, erwiderte Anne. »Er wollte dich ermorden.«
»Grenzt es nicht besonders ein.«
»Wie in ›mehr als einmal‹.«
»Etwas genauer?«
»Vor drei Jahren.«
»Noch genauer.«
»Im Sommer.«
»Noch genauer.«
»Oh, komm schon«, sagte Anne frustriert. »Dein Gedächtnis ist nicht so schlecht. Die Nightstalker. Erinnerst du dich?«
»Ich habe nicht …«, setzte ich an, dann verstummte ich. Die Nightstalker waren eine Art Adeptenbürgerwehr, die auf Rache an Schwarzmagiern im Allgemeinen und an Richards Lehrlingen im Besonderen aus gewesen waren, und als sie aufgetaucht waren, waren Rachel und ich die einzigen noch lebenden Lehrlinge von Richard gewesen. Gegen mich hatten sie sich einigermaßen gut geschlagen, wirklich schlecht jedoch gegen Rachel. Die meisten von ihnen waren im Keller des Hauses hinter uns gestorben.
Aber jetzt, da ich darüber nachdachte … Ich hatte nicht alle von ihnen sterben sehen. Ein Sucheradept namens Lee war entkommen. Und da war noch ein anderer gewesen, ein Experte für Waffen und Sprengstoff, der unter dem Namen …
»Kyle«, sagte ich und sah die winzige Reaktion auf Bürstenschnitts Gesicht. »Das war dein Name, nicht wahr?«
»Ist er noch«, antwortete Kyle.
»Okay«, meinte ich. »Ich muss zugeben, es ist ein Fortschritt, dass du mit mir redest, statt mich mit einem Schwert in zwei Teile hacken zu wollen. Bedenkt man aber, dass du mich das letzte Mal, als du mich gesehen hast, erschießen wolltest, bin ich nicht allzu geneigt, dir zu folgen, wohin auch immer du uns führst.«
»Nicht nur du«, sagte Anne. »Er hat auch mich fast umgebracht.«
Eine Spur von Verlegenheit zeichnete sich auf Kyles Gesicht ab. »Das war ein Unfall.«
»Du hast eine Bombe auf dem Dach der Wohnung platziert, in der wir geschlafen haben!«
»Sie war nicht gegen dich gerichtet«, sagte Kyle.
»Gerade gräbst du dich selbst nur tiefer rein«, entgegnete ich.
Kyle atmete ein wenig aus. »In Ordnung«, meinte er. »Ich werde nicht sagen, dass es mir leidtut und dass ich es nicht so gemeint habe.« Er wandte sich an Anne und schien sich zu wappnen. »Aber es tut mir leid, dass ich die Bombe gelegt habe. Das war falsch, und ich wusste, dass es falsch war, als ich’s gemacht habe. Wenn du mich jagen willst, werde ich es dir nicht übel nehmen.«
Anne hielt inne und sah Kyle überrascht an. »Warte. Du denkst, ich würde …«
Kyle antwortete nicht. »Okay«, sagte ich. »Anne und ich müssen kurz reden.«
Kyle stand mit überkreuzten Armen da, während ich Annes Schulter berührte und sie durch die Bäume davonführte. »Sagt er die Wahrheit?«, fragte ich, als Kyle außer Hörweite war.
»Ich denke, ja«, sagte Anne. Einer der Nebeneffekte von Annes Fähigkeiten ist es, dass sie ziemlich gut darin ist, Leute zu lesen. Wenige Menschen sind kaltblütig genug, dir ins Gesicht zu lügen, ohne sich anzuspannen. »Du glaubst nicht, dass die Nightstalker noch da sind?«
»Nein, sie sind tot.« Der Anführer der Nightstalker war ein Adept namens Will gewesen; er war in jenem Haus gestorben, und ohne ihn war die Gruppe zerfallen. »Ich glaube, ich weiß, von welchem Boss er redet. Du bist ihm noch nicht begegnet, aber sein Wort gilt. Möchtest du gehen?«
»Mit Kyle?« Anne dachte eine Sekunde lang nach, dann zuckte sie mit den Schultern. »Na, er hat sich entschuldigt. Das ist mehr, als die meisten Menschen getan haben, die mich verletzen wollten.«
Wir gingen zurück zu dem Adepten, der versucht hatte, mich umzubringen. »Okay, Kyle«, sagte ich. »Lass uns gehen.«
Wir liefen durch Wälder und über Felder, und hohes Gras streifte meine Hose, während wir uns einen Weg zwischen knorrigen Bäumen hindurch suchten. Die Luft war bitterkalt, und mein Mantel half wenig, die Kälte fernzuhalten. Anne lief dicht neben mir her, rasch und wachsam, und ihre Reaktion verriet mir genau, wo der Mensch vor uns in Reichweite ihrer Lebenssicht kam. Die Bäume öffneten sich zu einer kleinen Lichtung, und in der Mitte stand ein Mann und wartete auf uns.
Cinder ist so groß wie ich und deutlich schwerer. Nicht viel davon ist Fett; er sieht aus wie ein Gewichtheber, mit dickem Hals und einer breiten Brust, obwohl ihn nicht die Muskeln gefährlich machen. Er ist auch Rachels Partner, doch wo Rachel verrückter ist als ein zugekokster Wolverine, ist Cinder vertrauenswürdig, zumindest mehr oder weniger. Ärgere ihn, und er killt dich, aber sein Wort gilt, und wenn er uns eingeladen hatte zum Reden, war ich mir ziemlich sicher, dass keine unmittelbare Gefahr drohte.
»Verus«, sagte Cinder mit seiner tiefen Stimme.
»Cinder.«
Cinder sah Anne abwartend an. »Du kannst mich Anne nennen«, sagte sie.
Cinder nickte. Den meisten Menschen wäre der Umstand entgangen, dass Cinder gute Manieren zeigte, indem er abwartete, dass Anne sich selbst vorstellte. Unter Schwarzmagiern ist es ein Zeichen der Etikette, einander nur bei dem Namen anzusprechen, den man genannt bekommt. »Wir müssen reden«, sagte Cinder zu mir. »Allein.«
Ich warf Anne einen Blick zu. Sie machte eine kleine bejahende Geste, und ich ging los.
»Warte hier«, sagte Cinder zu Kyle, als ich ihn erreichte. Kyle nickte, und Cinder wandte sich um und lief neben mir her. Wir verschwanden zwischen den Bäumen und ließen Kyle und Anne auf der Lichtung zurück.
»Das Wichtigste zuerst«, sagte ich, sobald wir außer Hörweite der jüngeren Zauberwirker waren. »Ist mir was entgangen, oder arbeitet Kyle jetzt für dich?«
Cinder nickte.
Ich dachte zurück an das letzte Mal, als ich Kyle gesehen hatte, wie er im Keller von Richards Herrensitz gelegen hatte, verkrüppelt und in die Ecke gedrängt. Cinder hatte mich gewarnt, und ich hatte den Ausweg genommen. Ich hatte keinerlei Grund gehabt zu glauben, dass Kyle noch am Leben war. »Warum?«
»Gebunden.«
Ich starrte Cinder überrascht an. »Du hast ihn gebunden?«
Jemanden zu binden ist eine eigenartige und sehr typische Tradition unter Schwarzmagiern. Wenn ein Schwarzmagier jemanden im Kampf schlägt, dann kann er anbieten, ihn zu binden. Lehnt die geschlagene Partei ab, wird sie getötet. Nimmt sie an, wird sie zum Diener des Schwarzmagiers. Nach Schwarzmagiersitte gelten Gebundene als Eigentum ihres Besitzers, und aus Sicht des Rats wären sie Sklaven, aber die Beziehung als Meister-Sklave zu bezeichnen, wäre nicht ganz korrekt. Ein gebundener Diener ist eher ein Lehrling oder ein Juniorpartner: Entscheidet sich ein Schwarzmagier dazu, jemanden zu binden, ist das ein Zeichen dafür, dass er denjenigen genug respektiert, um ihn in seiner Nähe haben zu wollen.
Nicht viele Schwarzmagier binden Diener. Die Einzigen, die dieser Tradition noch folgen, sind eher martialisch und der Ehre zugetan, und sie bilden eine Minderheit. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, beschrieb das Cinder jedoch ziemlich gut, also hätte ich vielleicht nicht so überrascht sein sollen.
Aber da war eine Sache, die ich nicht verstand. »Muss man nicht einwilligen, ein gebundener Diener zu sein?«
»Ja.«
»Kyle und der Rest von diesen Adepten waren auf einem Kreuzzug, um so viele Schwarzmagier wie möglich zu töten«, sagte ich. »Wie zur Hölle hast du ihn überzeugt?«
Cinder zuckte mit den Schultern.
»Was soll das heißen?«
»Frag ihn.« Cinder sah mich an. »Bist du fertig?«
Wir waren vielleicht fünfzig Meter gegangen. »In Ordnung«, meinte ich. Cinder hätte mich nicht hierhergeholt, wenn er nichts Wichtiges zu sagen gehabt hätte. »Lass hören.«
Cinder blieb stehen und wandte sich zu mir um. »Du arbeitest für Morden.«
»Ja, das ist nicht direkt ein Geheimnis.«
»Und Del auch.«
Ich hob eine Augenbraue. »Ich dachte, sie würde an Richard berichten.«
»Jetzt weniger.«
»Mh«, sagte ich. Als Letztes hatte ich gehört, dass Del – alias Rachel – die Erste unter Richards Dienern sei. Dass sie jetzt an Morden berichtete, klang sehr nach Degradierung. Ganz plötzlich ergab es mehr Sinn, dass sie mich hatte umbringen wollen.
Obwohl … Von all den Menschen, die ich heute getroffen hatte, war Anne die Einzige, die nicht versucht hatte, mich zu töten oder mir etwas Grauenhaftes anzutun.
Mein Leben ist wirklich verkorkst.
»Was ist mit dir?«, fragte ich.
Cinder hob eine Augenbraue.
»Arbeitest du wieder für Morden?«
»Wenn ich muss.«
»Du klingst nicht besonders begeistert.«
»Ich gehöre zu Del«, sagte Cinder einfach.
Kurz gefasst umriss das Cinders Problem. »Das habe ich soweit verstanden«, sagte ich. »Warst du dabei, als sie auf mich geballert hat?«
Cinder schüttelte den Kopf.
»Und ich schätze, du bist nicht hier, um die Sache für sie zu Ende zu bringen.« Ich kreuzte die Arme. »Was willst du dann?«
»Trenn sie von Richard.«
Ich starrte Cinder an. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Cinder blickte mich nur an.
»Falls du es nicht bemerkt hast, deine Partnerin wollte mich gerade in eine Aschewolke verwandeln«, sagte ich. Fast hätte ich »Freundin« statt »Partnerin« gesagt, hatte mich aber in letzter Sekunde umentschieden. »Und du willst, dass ich ihr einen Gefallen tue?«
»Hab’s mit Reden versucht«, sagte Cinder. »Hat nicht funktioniert.«
»Was jetzt? Du denkst, sie hört auf mich?« Ich war richtig angepisst. Vor nur einem Monat hatte Shireen mir das Gleiche gesagt. Sie war Rachels beste und engste Freundin gewesen, als sie noch gelebt hatte, und sowohl sie als auch Cinder erwarteten das Gleiche und Unmögliche von mir. »Ich bin Deleo genau zwei Mal im vergangenen Jahr begegnet. Das letzte Mal, als sie mich gesehen hat, hat sie keine fünf Minuten durchgehalten, bevor sie mich umbringen wollte. Dieses Mal hat sie keine fünf Sekunden geschafft. Von mir zu erwarten, dass ich mit ihr rede, ist einer der dümmsten Pläne, die ich je im Leben gehört habe.«
»Gibt sonst niemanden.«
Ich sah weg, frustriert und wütend. Rachel tauchte auf und versuchte, mich zu ermorden, und jetzt erwartete Cinder von mir nicht nur, dass ich das vergaß, sondern auch, dass ich ihr half. Ich hatte mehr Feinde, als ich in einem Leben verarzten konnte, und sowohl Shireen als auch Cinder erwarteten von mir, dass ich einen Kampf mit noch einem aufnahm. »Vielleicht solltest du jemand anderen finden.«
»Du bist klug, und du kennst sie am längsten«, sagte Cinder. »Außerdem. Scheiß zu machen, der als unmöglich gilt, ist dein Ding.«
»Fühlt sich im Moment nicht so danach an«, murmelte ich. »Was ist für mich drin?«
»Du hilfst Del, ich deck dir den Rücken«, sagte Cinder. »Solange es dauert.« Er sah mich an. »Und?«
Ich wollte Nein sagen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich Rachel von Richard wegbekommen sollte. Ich wusste nicht einmal, wie ich sie davon abhalten sollte, mich zu töten, sobald sie mich sah. Shireen (oder Shireens Geist oder was für eine Kreatur auch immer in Anderswo mit mir gesprochen hatte) hatte mich gebeten, Rachel zu erlösen, und auch da hatte ich keine Ahnung gehabt, wie ich das hinbekommen sollte.
Wobei … Shireen hatte mir auch gesagt, dass ich sterben würde, wenn ich es nicht schaffte. Und in Anbetracht dessen, wo sie diese Vorhersage herhatte, hatte ich das fiese Gefühl, dass ich diese Aufgabe nicht würde ablehnen können. Was hieß, dass ich wirklich keine Wahl hatte: Ich würde Rachel so oder so helfen müssen.
Wenn ich etwas Unmögliches tun musste, würde ich jede Hilfe brauchen, die ich kriegen konnte. Ich hatte mit und gegen Cinder gekämpft, und ich zog Ersteres deutlich vor. »Gut«, sagte ich. »Ich versuch’s. Aber wenn du willst, dass ich irgendwohin komme, brauche ich deine Hilfe.«
Cinder nickte, drehte sich um und lief los. Und so einfach hatte ich einen Verbündeten. Ich fragte mich bloß, wie lange das anhielt.
Anne und Kyle hatten sich leise unterhalten; sie verstummten, als wir durch die Bäume traten. Cinder gab Kyle mit einem Nicken zu verstehen, dass er zu ihm kommen sollte, dann öffnete er ein Portal und trat in die Dunkelheit. Kyle folgte ihm. Das Portal schloss sich hinter ihnen, und wir waren wieder allein.
»Was hat er von dir gewollt?«, fragte Anne.
»Das, was auch Shireen wollte. Ich erzähle es dir nachher.« Ich sah zu Anne. »Bist du bereit?« Sie nickte. Ich öffnete ein Portal, durch das wir zurück nach London gelangten. Ich hatte mich meinen Feinden gestellt. Jetzt galt es, mich meinen Freunden zu stellen.
Den restlichen Weg legten wir schweigend zurück.
Jetzt, wo Cinder und Kyle fort waren, wanderten meine Gedanken immer wieder zurück zu Richard. Für einen Außenstehenden mag es wohl etwas bizarr wirken, dass ich mich seinetwegen sorgte und nicht wegen der Menschen, die uns eigentlich angegriffen hatten. Vihaela hatte es auf Anne abgesehen, und Rachel war viel zu nah dran gewesen, mich zu töten, während Richard uns nur ein paar Befehle erteilt hatte. Aber Richard versetzte mich auf eine Art in Angst, wie es Rachel und Vihaela niemals vermochten. Dieses Herrenhaus ist für mich ein Ort des Schreckens, und mit ihm verbunden zu sein, wenn auch nur über eine Ecke, fühlte sich an, als wären all meine alten Albträume aufs Neue zum Leben erwacht. Vielleicht hatte es gewirkt, als verlangte Richard nicht viel von mir, aber so war es schon vor all den Jahren gewesen. Eine der Lektionen meiner Lehrlingszeit hatte gelautet, dass es die Dinge ohne Preisschild sind, die einen letztendlich am meisten kosten.
Anne blieb an meiner Seite, sprach aber nicht. Sie kann manchmal sehr still sein, so wie jetzt, und sie hielt den Blick gesenkt. Ich wusste, es war nicht das erste Mal, dass sie dazu gezwungen wurde, für einen Meister zu arbeiten, den sie lieber gemieden hätte, aber an ihrer Miene war schwer abzulesen, was sie davon hielt. Vielleicht war es für sie nur das Gleiche wie sonst auch. Ich hoffte nicht. Ich hasste es fast so sehr, dass Anne involviert war, wie ich es hasste, dass ich es war, und ich war nicht sicher, ob sie bereit war für das, was da kommen sollte.
Ein Portalstein brachte uns zu einem Park in Camden. Variam hatte uns gesagt, dass wir ihn bei der Great Portland Street treffen sollten, und so liefen wir gen Süden durch die Weite des Regent’s Parks, umgingen die Randgebiete des Zoos, wo Vögel in der Voliere saßen. Trotz der Winterkälte war der Park voller Menschen; Touristen und Einheimische spazierten über die Wege und saßen auf den Bänken. Die Stelle, an die Variam uns dirigiert hatte, befand sich auf der anderen Seite der Marylebone Street, neben einem großen Hotel, und wir gingen darum herum und zur Vorderseite des Gebäudes.
Variam lief auf dem Bürgersteig auf und ab, eine kleine, drahtige Gestalt in Straßenkleidern und mit einem Turban. Er stürzte sofort auf uns zu, als er uns erblickte.
»Bist du okay?«, fragte er Anne.
»Für den Moment«, sagte Anne leise.
Variam sah mich an. »Uns geht’s gut«, sagte ich.
Variam nickte, und dann umarmte er mich zu meiner Überraschung kurz und klopfte mir auf den Rücken. »Bin froh, dass ihr es geschafft habt.«
»Äh, sicher«, sagte ich. Zurschaustellungen von Zuneigung waren mir unangenehm, allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass es weniger an meinen persönlichen Problemen liegt als daran, dass ich einfach Engländer bin. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Anne ein Lächeln verbarg. »Geht es dir gut?«
»Kommt, lasst uns von der Straße runter.« Vari lief auf das Hotel zu. »Zu viele neugierige Augen.«
Das Innere des Gebäudes war weiß und nüchtern, mit dem entfernt seelenlosen Ambiente, das alle Hotels zu haben scheinen. Wir nahmen den Aufzug in den sechsten Stock. »Was ist passiert?«, fragte ich Variam, als sich die Türen geschlossen hatten.
»Wann?«
»Am zweiten Weihnachtstag.«
Variam sah verblüfft aus. »So lange her?«
»Wir haben den letzten Monat damit verbracht, gejagt zu werden«, sagte ich ihm. »Es war irgendwie schwierig, an neue Berichte zu kommen.«
»Na ja, daran hat sich vermutlich nicht so viel geändert, wie du denkst«, sagte Variam. »Und es war auch kein Witz mit der Überwachung. Eure Flucht von Canary Wharf hat eine Menge Aufmerksamkeit erregt, und es hat sich herausgestellt, dass Wächter es nicht mögen, wenn man sie dumm aussehen lässt. Ihr wart ganz oben auf der ›Most Wanted‹-Liste.«
»Ich hoffe, jetzt nicht mehr.«
»Die Bekanntmachungen gingen raus, aber im Augenblick bist du das Magier-Äquivalent von O.J. Simpson. Du willst dich vielleicht lieber bedeckt halten.«
Ich verzog das Gesicht. Morden vor den War Rooms zu treffen, würde mir dabei wirklich nicht helfen.
Der Aufzug hielt mit einem Ding an, und wir traten auf einen mit Teppich ausgelegten Flur. Variam führte uns nach links. »Was ist mit dir?«, fragte Anne.
»Oh, alles in Ordnung.«
»Es klang nicht so, als wäre es dir wirklich gut ergangen«, erwiderte ich. Zuletzt hatte ich gehört, dass Variam in Gewahrsam genommen worden war.
Er zuckte mit den Schultern. »Bin ein bisschen rumgeschubst worden. Hätte schlimmer sein können. Wenigstens ist Anne davongekommen.«
»Dank dir«, sagte Anne.
»Ach, Landis hat das geklärt.«
Variam blieb vor einem der Zimmer stehen, das genauso aussah wie all die anderen auch. »Übrigens«, fragte ich, »was hat es mit dem Hotel auf sich?«
»Was meinst du?«
»Ich dachte, du wohnst bei Landis?«
»Klar.«
»Warum …?«
»Das ist nicht für mich«, erklärte Variam. »Das ist für Luna.«
Ich sah Variam verwirrt an. »Warte«, sagte Anne. »Du hast erzählt, sie wäre sicher rausgekommen.«
Bis vor anderthalb Tagen waren Anne und ich auf der Flucht gewesen vor den Fahndern eines Seniorratsmitglieds, eines Magiers namens Levistus. Wir waren ihnen weit genug voraus geblieben, um ein Patt zu erzwingen. Dann aber hatte Levistus’ Hauptfahnder, ein schleimiger Bastard namens Barrayar, Lunas Wohnung mit Sprengstoff versehen, während sie geschlafen hatte. Ich war aufgetaucht, bereit für einen letzten Kampf, aber bevor Barrayar mich hatte erledigen können, war Morden eingeschritten. Er hatte Anne und mich als seine Verbindungsleute ernannt, hatte uns einen Platz beim Rat gegeben und unsere Todesurteile ausgesetzt. Ich hatte seither keine Gelegenheit gehabt, Luna zu sehen oder zu sprechen. Wenn ihr etwas zugestoßen war …
»Hat sie«, sagte Variam. »Aber sie konnte danach ja wohl kaum in der Wohnung bleiben, oder?«
»Können wir sie sehen?«
»Also«, sagte Variam. »Was das angeht …«
»Was?«
»Es könnte ein paar Probleme geben.«
»Welche Art Probleme?«
Variam zögerte, dann schien er nachzugeben und klopfte an die Tür. »Hey«, rief er. »Luna?«
Schweigen.
»Luna! Bist du da?«
Ich sah Anne fragend an. Anne nickte, und ihre Haltung verriet mir, dass Luna im Zimmer und unverletzt war. Aber sie öffnete nicht die Tür.
Variam zog eine Schlüsselkarte hervor und schob sie in den Schlitz an der Tür. Ein Licht blitzte grün auf, und er drehte den Griff, aber die Tür öffnete sich nur ein paar Zentimeter, bevor sie mit einem Klirr stoppte. »Oh, hm …«, murmelte Variam, dann sagte er lauter: »Mach die Kette weg!«
Schweigen.
Wo ist sie?, fragte ich Anne stumm.
Andere Seite, formte Anne mit den Lippen die Antwort.
»Ich bin nicht in Stimmung für diesen Scheiß, in Ordnung?!«, rief Variam durch die Tür.
»Geh weg!«, schrie Luna.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Es war eindeutig Lunas Stimme, aber ich hatte auf einen etwas fröhlicheren Empfang gehofft.
»Anne und Alex sind zurück, du Dumpfbacke!«, rief Variam.
»Ich weiß!«
»Dann mach die verdammte Tür auf!«
Schweigen.
»Scheiß drauf«, sagte Variam. Feuermagier sind bekanntermaßen nicht gerade ein Ausbund an Geduld, und Variam bildet da keine Ausnahme. »Wie wäre es, wenn ich einfach ein Loch reinbrenne und wir mal sehen, ob …«
»Vari?« Ich berührte ihn leicht an der Schulter. »Vielleicht lässt du es mich versuchen?«
Variam blickte finster, trat aber beiseite. Ich ging an die Tür. »Luna?«, sagte ich. Die Tür hatte sich nur einen Spalt weit geöffnet, bevor die Sicherheitskette sie angehalten hatte, und durch den Spalt konnte ich einen Streifen Wand sehen.
Es kam keine Antwort, aber ich spürte, dass Luna zuhörte. »Geht es dir gut?«, fragte ich. Ich sprach sanft.
Kurzes Schweigen. »Ja«, sagte Luna leise.
»Du bist aus deiner Wohnung rausgekommen? Du wurdest nicht gejagt?«
»Nein.«
»Gut.« Ich schwieg. »Können wir reinkommen?«
Schweigen.
»Weißt du, es ist nicht so angenehm hier draußen«, sagte ich.
»Ich möchte mit niemandem reden«, erwiderte Luna. Sie klang elend.
»Okay …«, sagte ich. »Gibt es einen Grund dafür?«
»Nein, es ist nur …« Lunas Stimme brach. »Geht einfach weg. Bitte.«
Ich sah zurück zu Anne und Variam. Variam hob mit einem Schulterzucken die Hände.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Vielleicht war es naiv, aber ich hatte erwartet, dass Luna froh sein würde, mich zu sehen. Okay, die Art, wie ich zurückgekommen war, war nicht die Beste gewesen, aber ich bin daran gewöhnt, dass Luna mich gern in der Nähe hat. Dass sie mir sagte, ich solle verschwinden, tat unerwartet weh.
Und die Tatsache, dass sie überhaupt so reagierte, war verwirrend wie Hölle. Luna ist tough, und ich habe sie ohne Zögern voll in den Kampf gehen sehen. Ich war wirklich nicht daran gewöhnt, dass sie sich so verhielt. »In Ordnung«, sagte ich. »Wenn du es dir anders überlegst, ruf uns an, ja?«
Keine Antwort. Ich wandte mich zu den anderen um. »Hab’s dir gesagt«, sagte Variam.
»Hast du eine Ahnung, was los ist?«, fragte ich ihn.
»Ich habe vielleicht eine Idee«, sagte Anne leise. »Gebt ihr mir etwas Zeit mit ihr allein?«
»Denkst du, sie redet mit dir?«
»Die meisten tun das.«
Ich dachte kurz nach. Ich war mir immer noch nicht sicher, was los war, aber wenn jemand Luna zum Reden bringen konnte, dann Anne. »In Ordnung«, sagte ich. »Wir sind nicht weit weg.«
Bei all dem Chaos der letzten paar Tage hatte ich nicht viel Gelegenheit zum Essen gehabt. Es gab einen Pizza Express ein paar Minuten zu Fuß vom Hotel entfernt, und Vari und ich suchten darin Schutz vor der kalten Winterluft.
»Also«, sagte ich, nachdem wir bestellt hatten. »Was haben wir verpasst?«
»Eine Menge«, erwiderte Variam finster. »Nachdem du und Anne davongejagt wurdet, haben die Wächter eure Wohnungen zerlegt, um herauszufinden, wohin ihr verschwunden sein könntet, und dann haben sie Späher postiert, die darauf warteten, dass ihr zurückkommt. Hat Wochen gebraucht, bis sie begriffen, dass ihr nicht kommen würdet, und da hatte der ganze Scheiß mit den Schwarzmagiern schon wieder angefangen. Im Grunde genommen das Weiße-Rose-Ding – erinnerst du dich?«
»Ich war mittendrin, Vari.«