Das Schwert der Wahrheit - Gilbert Morris - E-Book

Das Schwert der Wahrheit E-Book

Gilbert Morris

1,0

Beschreibung

England im 16. Jahrhundert. Durch tragische Umstände lernt Myles, unehelicher Sohn einer Magd, seinen adeligen Vater kennen: Sir Robert Wakefield. Plötzlich findet Myles sich im schillernden Hofleben voller verwirrender Liebesaffären und Machtkämpfe wieder. Als er in die Auseinandersetzungen um William Tyndale gerät, der die Bibel ins Englische übersetzt, muss er wählen zwischen der Frau, die er liebt, und dem Glauben, dem er seinen Lebenssinn verdankt.

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Eine gottesfürchtige Frau geht nach England, weil es ihr von Gott gesagt wurde. Das Buch ist voller Stereotypen und macht auf mich den Eindruck der Missionierung.
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur StiftungChristliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sichfür die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften,Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7464-0 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5929-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Sword of Truth© 1994 by Gilbert MorrisPublished by Tyndale House Publishers, Inc.

Übersetzung: Laura ZimmermannUmschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.comTitelbild: WAPPEN: Adler: © Potapov Alexander / shutterstock.com,Schild: pashabo © Valdis Skudre / shutterstock.comHINTERGRUND: Landschaft: © Valdis Skudre / shutterstock.com,Junge:©Simone van den Berg / shutterstock.com, Frau:©faestock / shutterstock.comSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Für meine Frau, Johnnie –Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen,seit wir nebeneinanderin einer kleinen Kirche standenund einander ein Versprechen gaben,habe an jeder Sekunde seither meine Freude gehabt!

Inhalt

Über den Autor

I | Der Knecht 1513–1522

1 | Gefährliche Reise

2 | Der Krieg des Königs

3 | Der Flug des Falken

4 | Am Pranger

5 | Das Turnier des Königs

6 | Die Brosche

7 | »Ich habe dich immer geliebt!«

8 | Die Entscheidung

II | Der Erbe 1522–1526

9 | Ein eigenes Heim

10 | Eine erwachsene junge Frau

11 | Ein neuer Stern am Himmel

12 | Der Hof Heinrich VIII.

13 | Ein paar dunkle Augen

14 | Eine Lektion in Sachen Macht

15 | Die Entscheidung

III | Der Höfling 1527–1530

16 | Das große Unterfangen des Königs

17 | Eine Botschaft von Lady Jane

18 | Ein alter Bekannter

19 | Der Tod eines Kardinals

20 | Die Falle

21 | »Ich komme zurück!«

IV | Der Flüchtling 1530–1534

22 | Ein schrecklicher Schlag

23 | »Liebe dauert ewiglich«

24 | Der Tower

25 | Das Beweismaterial

26 | Im Worte des Königs liegt Macht

27 | Heimkehr

Epilog

Geschichtlicher Überblick

Mehr über Wakefield in Band 2»Zwischen Liebe und Hass«

1 | Dunkle Wolken

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

GILBERT MORRIS (1929–2016) war Pastor, Englisch-Professor und Bestsellerautor.

Mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte er in Alabama, USA.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

IDer Knecht1513–1522

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1Gefährliche Reise

Das schrille Krähen eines Hahns irgendwo draußen im Scheunenhof riss Margred aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie schauderte und versuchte, sich tiefer unter den dünnen Decken zu vergraben. Trotz ihrer Bemühungen schien ihr die Kälte bis ins Mark zu dringen, und sie fand keine Wärme in der eisigen Luft der Hütte, in der sie wohnte. Sie schlang einen Arm um die schlafende Gestalt ihres sechsjährigen Sohnes, Myles, und bemerkte, dass er es wärmer hatte als sie. Sie freute sich darüber. Einige Augenblicke lang lag sie so da und fürchtete den Augenblick, in dem sie die Wärme ihres Bettes, so kärglich sie auch war, verlassen musste. Dann hörte sie die Jungkuh muhen und schlüpfte widerwillig aus dem Alkoven, wobei sie innehielt, um die dünnen, ärmlichen zerlumpten Decken um Myles’ eng zusammengekauerten Körper zurechtzuziehen.

Margred zitterte beinahe wie im Schüttelfrost, als sie in ihr grobes, wollenes Kleid schlüpfte und rasch das einzige Stück Oberbekleidung, das sie besaß, über den Kopf zog. Es war ein grob gewebtes Kleidungsstück aus Wolle, das aus den Überresten anderer Kleidungsstücke zusammengenäht war. Die Schuhe, die sie über die Füße zog, waren aus rohem, ungefärbtem Rindsleder gefertigt, und obwohl sie nicht viel dazu beitrugen, ihre Füße warmzuhalten, schützten sie sie wenigstens vor den scharfkantigen Steinen.

Als sie leise die Türe öffnete und über den offenen Platz auf die Scheune zuschritt, bemerkte sie, dass der Himmel im Osten eben erst hell wurde. Sie hielt einen Augenblick lang inne und freute sich an der Dämmerung, die sanft wie Buttermilch über den Himmel zog. Heute wird es kalt werden, dachte sie, während sie über den nackten Boden tappte. Ich wäre nicht überrascht, wenn es heute noch schneit.

Sie trat in die Scheune, ein kleines Fachwerkgebäude, nicht größer als fünfzehn Quadratfuß. Drinnen öffnete sie die Fensterläden, um das schwache Licht der Dämmerung einzulassen. Dann hob sie den Milcheimer auf und schritt zur Kuh hinüber, die sie mit einem Muhen begrüßte und den Kopf hob, um Margreds Näherkommen zu beobachten.

»Guten Morgen, Lady«, murmelte Margred und rieb mit der Hand über die samtige Nase des Tieres. Sie führte die Kuh zur Futterraufe, warf ein paar Handvoll Futter hinein und setzte sich dann auf einen niedrigen Schemel, um mit dem Melken zu beginnen. Ihre Hände waren steif und kalt, wurden jedoch bald vom Melken warm. Das Zischen, mit dem die Milch den kleinen Eimer füllte, hatte etwas Erfreuliches an sich. Der Hunger krampfte Margreds Magen zusammen, als der Duft der frischen Milch ihr in die Nase stieg, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht den Eimer zu heben und sich eine Kostprobe von der Flüssigkeit zu gönnen. Damit hätte sie sich den Zorn von Ianto Motshill, dem Besitzer des Herrenhauses, zugezogen. Weder die Kuh noch ihre Milch waren Margreds Eigentum, um sich daran zu erfreuen.

Ich muss wenigstens ein bisschen für Myles nehmen, dachte sie. Er ist immer so hungrig.

Als die Kuh gemolken war, stand sie auf und schob den Schemel zurück unter den Futtertrog. Dann öffnete sie den Pferch und ließ das Kalb, das darin eingesperrt gewesen war, frei, damit es auch sein Teil an der Milch bekam. Das Tier drängte eifrig an ihr vorbei, lief zu seiner Mutter hinüber und begann augenblicklich mit seiner Morgenmahlzeit. Margred lächelte amüsiert und beobachtete einen Augenblick lang, wie das Tier gierig saugte.

Sie war eine attraktive Frau, diese Margred Morgan. Ihr Haar war von hellerem Blond als das der meisten walisischen Frauen. Große blaue Augen leuchteten in einem ovalen Gesicht. Sie war nicht groß, aber selbst die groben Kleider, die sie trug, konnten ihre reizvollen Formen nicht verbergen. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas beinahe Mystisches an sich – und das war keine Täuschung, denn in ihr wohnte ein besonderer Geist, wie in den meisten walisischen Frauen. Während sie das Kalb beobachtete, konnte sie ihr hartes Leben ebenso aus ihren Gedanken verdrängen wie die Kälte und den Hunger, die an ihr nagten, und ihr Herz geistlichen Dingen zuwenden. Aber eine harte, kalte Stimme riss sie roh in die Welt, die sie umgab, zurück.

»Da steckst du also!«

Sie fuhr herum und sah die große, ungeschlachte Gestalt von Ianto Motshill vor sich. Er war eingetreten und versperrte den Weg zur Türe – und selbst im trüben Licht der Dämmerung konnte sie die finstere Lust auf seinem Gesicht erkennen. Einen Augenblick lang durchrieselte sie ein Schauder der Furcht, und sie machte eine instinktive Bewegung, sich an ihm vorbeizudrängen. Aber er war zu flink für sie.

»Nur nicht so eilig, Mädchen!«, sagte er mit rauer Stimme. Er streckte den Arm aus und umklammerte ihren Arm wie mit eisernen Zangen. »Gib einem Mann doch ein Küsschen, wie wär’s?« Er wirbelte sie herum, wobei er sie trotz ihrer Gegenwehr mühelos festhielt. Er presste ihr die Arme an die Seiten, dann lachte er roh. »Ich hab noch nie ’n Mädchen gesehen, das so oft vor den Männern auskneift! Was ist denn los? Du bist kein Unschuldslämmchen mehr, du warst mal verheiratet –« Er unterbrach sich und lachte. »Oder jedenfalls hast du einen Kerl gehabt. Du hast doch den Jungen, oder nicht? Den hat dir doch nicht der Storch gebracht, eh?«

»Lasst mich los!«, schrie sie und versuchte, sich dem Griff seiner massigen Hände zu entwinden. Er hatte seit Wochen ein Auge auf sie geworfen, aber so oft er sich tatsächlich auf sie zu stürzen versucht hatte, hatte sie es geschafft, ihm zu entkommen. Andere Frauen auf dem Gut waren weniger glücklich gewesen.

Margred wusste, dass Motshill die Frauen, die für ihn arbeiteten, kaum anders betrachtete als die Tiere, die ihm gehörten: Sie waren sein Eigentum, mit dem er tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Als er ihr seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, war sie mehr als einmal nahe daran gewesen, Myles zu packen und fortzulaufen. Aber wohin hätte sie gehen sollen? Seit zwei Jahren herrschte in Wales eine Hungersnot, und es wurde immer schlimmer. Wenn sie diesen Hafen der Zuflucht verließ – so jämmerlich er auch sein mochte – musste sie befürchten, dass ihrem Sohn Schlimmes bevorstand.

Sie kämpfte schweigend, aber sie war wie ein kleiner Vogel in den fleischigen Pranken des Gutsherrn. Er war unglaublich stark, und plötzlich wusste sie, dass es kaum noch Hoffnung für sie gab.

O Gott, hilf mir, zu entfliehen! Hilf mir!

Motshill schien Vergnügen an ihrer Gegenwehr zu empfinden. Er lockerte seinen Griff um einen ihrer Arme und begann, sie zu liebkosen, wobei er sagte: »Na na, Mädchen, nun stell dich mal nicht so an! Du brauchst ’n Kerl und ich brauch ein Mädel, das ist alles!« Er presste sie an sich und begann, sie zu küssen. Seine dicken Lippen glitten über ihre Wange, als sie verzweifelt den Kopf hin und her warf, während seine Hände an ihrer Oberkleidung zerrten.

Gott, hilf mir!

Plötzlich streckte Margred die Hand aus und fuhr ihm mit einem grausamen Ruck mit allen Nägeln übers Gesicht. Motshill stieß einen schrillen Schrei aus, dann einen Fluch, und ließ sie los. Sie sprang mit einem Satz quer durch den Raum, während er sich mit der Hand ans Gesicht fuhr. Blitzschnell raffte sie eine Heugabel auf, packte sie mit beiden Händen und richtete sie direkt auf das Gesicht des Mannes. Sie hatte vielleicht keine Chance zur Flucht, aber sie konnte sich noch verteidigen!

»Lasst mich in Frieden!«, sagte sie in kalter Wut. »Eh’ ich Euch das hier in die Kehle stoße!«

Motshill sah die blitzenden blauen Augen der Frau und die angriffsbereite Waffe. Er trat einen Schritt zurück, blinzelte und sagte dann zornig: »Was für ein Weibsstück bist du denn?« Er wollte wieder auf sie zukommen, hielt aber inne, als sie die Heugabel hob und die Spitzen genau auf sein Gesicht richtete. Mit einem frustrierten Schnauben wich er zurück. »Du bist’s ja gar nicht wert, dass ich mit dir herumraufe!« Er spie ihr die Worte förmlich entgegen, während er vorsichtig sein Gesicht betastete. Als er Blut auf seinen Fingern entdeckte, blitzte grausamer Zorn in seinen Schweinsäuglein auf.

»Es gibt genug Weiber, die auf einen guten Arbeitsplatz scharf sind, Margred Morgan! Also überleg’s dir! Heute Nacht schläfst du bei mir, oder du schläfst unter freiem Himmel. Und kratz mich nicht noch einmal wie ein wildes Tier! Also – denk drüber nach.« Er kehrte ihr den Rücken zu und schritt rasch aus dem Stall.

Sobald er verschwunden war, begann Margred zu zittern. Sie legte die Heugabel hin, sackte an der Wand zusammen und begann in tiefen Zügen die Luft in die Lungen zu ziehen, als wäre sie gerannt. Sie hatte im tiefsten Herzen gewusst, dass es so kommen würde. Und nun … hatte sie keine Wahl mehr.

Sie sank auf die Knie und blieb lange Zeit auf den Knien liegen, schweigend und reglos. Die Sonne stieg höher und höher in den Himmel, und immer noch rührte sie sich nicht. Aber es war nicht Furcht, die sie so reglos machte. Margred Morgan war eine Frau mit einem tiefen Glauben an Gott, und nun war sie tief ins Gebet versunken. Sie vergaß die Scheune, den Stall und das Kalb, das zu ihr kam und sie mit der Schnauze anstieß. Alles schien um sie herum zu verblassen, während sie sich an Gott wandte.

Schließlich stieß sie einen jähen, tiefen Seufzer aus, öffnete die Augen, und die Spur eines Lächelns malte sich auf ihre Lippen. Sie sah ihren Weg jetzt klar vor sich. »Hab Dank, Herr Gott!«, flüsterte sie; dann stand sie auf, ergriff den Milcheimer und verließ die Scheune.

Sie eilte augenblicklich zurück in die Hütte, die man ihr und Myles als Schlafplatz zugewiesen hatte. Sie stellte den Eimer auf dem Boden ab und lächelte liebevoll. Dann nahm ihr Gesicht wieder seinen nüchternen Ausdruck an. Es war gut, dass der Junge sich an diesem Morgen ordentlich ausgeschlafen hatte. Er würde seine Kräfte brauchen.

Sie ging zu ihm hinüber. Er setzte sich auf und schloss sie in die Arme. »Wie geht’s denn meinem Alterchen heute morgen?«, flüsterte sie mit sanfter Stimme, als er von Neuem seine jungen Arme um sie schlang.

»Guten Morgen, Mutter«, sagte er fröhlich.

»Zeit zum Aufstehen.«

Er kroch unter den zerlumpten Decken hervor, schlüpfte in seine groben Baumwollhosen, zog sich ein Hemd über den Kopf, das ihm viel zu groß war, und zog dann die wollene Jacke an, die ihm als Mantel diente. Margred rollte die Ärmel auf, so dass seine Hände frei waren, dann griff sie hinter sich und hob den Milcheimer auf. »Hier ist dein Frühstück, Alterchen«, sagte sie und lächelte von Neuem, als ihr Blick auf ihren Sohn fiel. Sie hatte begonnen, ihn »Alterchen« zu nennen, weil er so oft wie ein Erwachsener wirkte. Oft kam es vor, dass er sie nachdenklich und eindringlich betrachtete und offenbar über tiefe Fragen nachdachte.

Er hob den kleinen Eimer auf, blickte hinein und sah sie dann aus seinen blaugrauen Augen an. »Wieviel davon darf ich trinken, Mutter?«

»Soviel du kannst«, sagte sie ermutigend. »Trink, soviel dein kleiner Magen fasst.« Sie sah das Erstaunen in seinen Augen – ein solches Angebot war ihm noch nie gemacht worden. Ohne weitere Einladung hob er den Melkeimer hoch und begann zu trinken. Sie konnte beinahe hören, wie die Milch auf dem Grund seines leeren Magens aufklatschte, und sie legte eine Hand auf sein struppiges, kastanienbraunes Haar. Als er schließlich den Melkeimer abstellte, war es eine Freude, die Befriedigung auf seinem Gesicht zu sehen.

»Jetzt vergönne ich mir auch einen Schluck«, sagte sie, und auch sie trank die noch warme Flüssigkeit, bis sie nicht mehr konnte.

Sie stellte den Melkeimer ab, dann wandte sie sich um und legte die Hände auf seine Schultern. Vorsichtig wischte sie ihm den weißen Milchschnurrbart von den Lippen, lächelte ihn an und sagte: »Nun rate mal! Wir machen eine lange Reise, Myles.«

»Tatsächlich, Mutter?«, fragte er, und ein Lächeln spielte auf seinen Lippen. »Das wird lustig!«

»Es wird hart werden, Alterchen«, antwortete sie. »Aber Gott wird uns beistehen. Wir müssen alles anziehen, was wir an Kleidern haben, also machen wir uns fertig. Ich möchte so schnell wie möglich aufbrechen.«

Er kramte herum, suchte seine spärlichen Habseligkeiten zusammen, und sie tat dasselbe. Es dauerte nicht lange, bis sie alles zusammengesucht hatten. Sie machte einen kurzen Abstecher in die Scheune und suchte einen groben Futtersack heraus, dann zögerte sie einen Augenblick. Sie schüttelte den Kopf. Der Herr weiß, dass ich mir den ehrlich verdient habe! Sie schaufelte ein wenig von dem gedörrten Weizen, der für die Kuh aufbewahrt wurde, in ein Säckchen, dann steckte sie es in den größeren Sack. Sie zählte zehn von den Kartoffeln ab, die auf dem Dachboden zum Trocknen aufgelegt waren, dann ging sie in die Selchkammer und nahm ein wenig von dem Fleisch an sich. Es würde nicht reichen, das wusste sie, denn sie hatten eine lange Reise vor sich. Aber sie hatten keinen anderen Proviant.

Als sie in die Hütte zurückkehrte, stellte sie fest, dass Myles sich seine Bundschuhe aus Rindsleder an die Füße geschnürt hatte. Er blickte auf, als sie eintrat, und rief fröhlich: »Ich bin fertig, Mutter!«

Margred stopfte ihre dünnen Decken in den Sack, raffte ihre paar elenden Kleidungsstücke zusammen und steckte sie hinein. Dann griff sie unter den Strohsack, auf dem sie geschlafen hatten, und zog ein einzelnes Päckchen heraus – den Beutel aus Rehleder, der ihren einzigen persönlichen Besitz enthielt. Sie steckte den Beutel und den Proviant hinein, dann zog sie die Schnüre des Sacks kräftig zu. Während sie sie zuknüpfte, stellte sie ohne Gemütsbewegung fest, wie klein der Packen war, selbst jetzt, wo er all ihren Besitz enthielt. Dann fand sie einen kleineren Sack für Myles und füllte ihn mit dem Rest der Nahrungsmittel. »Da«, sagte sie. »Das bekommst du zu tragen.«

Er hob ihn hoch. »Ich kann viel mehr als das tragen, Mutter.«

»Das ist alles, was wir haben«, sagte sie. »Jetzt haben wir einen langen Weg vor uns, und weißt du, wer uns dabei helfen wird?«

»Wer?«

»Gott. Er wird immer bei uns sein. Also lass uns beten, dass er uns eine sichere Reise gewähren möge.« Augenblicklich neigte der Junge den Kopf, und Margred nahm ihn in die Arme und begann zu beten.

Myles hörte ihr aufmerksam zu. Er war daran gewöhnt, denn seine Mutter betete um alles und jedes. So erschien es ihm jedenfalls. Als sie fertig war, rief er munter: »Amen!«

Sie lachte und drückte ihn rasch an sich. »Komm schon, wir haben einen langen Weg vor uns.«

Sie verließen die Hütte und waren wenige Minuten später außer Sichtweite von Ianto Motshills Gut. Margred warf keinen Blick zurück. Sie hielt den Blick fest auf den fernen Horizont gerichtet, wo sich die Berge von Wales erhoben. Jenseits dieser Berge lag England – das Land, das sie im Geist vor sich gesehen hatte, als sie in der Scheune betete.

Da war keine hörbare Stimme gewesen, kein gewaltiger Befehl, der mit Donnerhall ertönte, aber sie hatte deutlich das Bild eines Hauses vor sich gesehen, das in einem Tal lag, ganz in der Nähe eines Flusses. Und dann eine Stimme … nein, ein Eindruck … irgend etwas, das zu ihr gesagt hatte: »Geh zum Fluss Severn. Dort findet sich ein Platz für dich.«

Während sie über den kalten, unebenen Boden dahintrabten, wusste Margred, dass Gott zu ihr gesprochen hatte. Das war nicht weiter überraschend, denn sie hatte gelernt, auf Gott zu hören. Sie blickte zur Sonne auf, die nun scharlachrote Strahlen über die Bäume im Osten warf und lächelte. »Ist es nicht schön, dass der Herr uns auf unserem ganzen Weg begleiten wird, Myles?«

»Ja, das ist gut, Mutter«, antwortete er fröhlich.

***

Die Nachmittagssonne begann warm auf sie herabzuscheinen, während die beiden Reisenden eine Straße entlangtrotteten, die kaum mehr als ein ausgetretener Pfad war. Sie bestand aus zwei Karrenspuren, die durch den Wald führten, und war so eng, dass zwei Wagen nicht aneinander vorbeigekonnt hätten. Margred und Myles begegneten nur wenigen Menschen auf der Straße, denn das kalte Wetter hielt die meisten an ihren Herdfeuern fest. Darüber hinaus war das Reisen in Wales gefährlich, vor allem in den Bergen. Die Menschen waren entweder in großen Gruppen unterwegs oder gar nicht.

Einmal kamen sie an einem alten Mann vorbei, der auf einem Karren fuhr. Er warf ihnen nur einen Seitenblick zu und sagte kein Wort. Ein paar Stunden nach Mittag hielten sie Rast, und Margred öffnete ihren Proviantsack und nahm eine der Kartoffeln heraus. Sie entzündete ein kleines Feuer, röstete die Kartoffel darin und holte sie mit einem Stöckchen aus der Asche, als sie heiß war und rauchte.

»Hier, Myles«, sagte sie, »iss dein Mittagessen.«

Er aß seinen Teil der Kartoffel, wobei er sich beinahe die Lippen verbrannte, und lachte. »Die ist heiß, Mutter! Aber gut!« Sie wusste, dass er noch längst nicht satt war, aber sie mussten ihre Vorräte sorgfältig rationieren. Sie fanden einen Bach und tranken sich satt, dann zogen sie weiter.

Den ganzen Nachmittag lang zogen sie die Windungen der Straße entlang. Margred freute sich, als sie sah, dass Myles, so jung er auch war, mit ihr Schritt halten konnte. Sie warf ihm mehr als einmal einen Seitenblick zu und bewunderte seine hagere, aber kräftige Gestalt und die Schönheit seines kastanienbraunen Haars, das die rotgoldenen Strahlen der Sonne auffing. Er ist ein hübscher Junge, dachte sie. Ich hab niemals einen Jungen gesehen, der besser ausgesehen hätte als er.

Als die Sonne im Westen sank, begann sie sich umzusehen, fand aber nirgends auch nur das geringste Anzeichen eines geschützten Schlafplatzes. Wenigstens nicht, was ein Haus anging. Abseits der Straße entdeckte sie jedoch eine Reihe von Klippen. Dort würde sich etwas finden lassen. Sie verließen die Straße und stießen auf eine kleine Höhle – eine Einbuchtung in den Klippen, die etwa fünf Fuß tief in den Berg hinein reichte und hinten mit einer Wölbung abschloss.

»Hier ist heute Nacht unser Haus, Alterchen«, sagte Margred mit einem Lächeln. »Warum suchst du nicht ein wenig Feuerholz zusammen? Bald werden wir es so gemütlich haben, als wären wir Schlossherren!«

Myles suchte rasch genug trockenes Holz zusammen, um das Feuer anzuzünden. Wie sie es als Kind gelernt hatte, benutzte Margred Feuerstein und Stahl, und bald loderte ein fröhliches Feuerchen. Sie saßen eng zusammengekauert daneben und beobachteten das Flackern der gelben Flammen. Vorsichtig zog sie ein Stück vom Fleisch heraus, dann zögerte sie, nahm stattdessen eine weitere Kartoffel, und sie aßen zu Abend. Sie legte eines der gröberen Holzstücke aufs Feuer, dann richtete sie nahe der Höhlenwand ein Lager aus Decken. Sie zog die Decke zurück und sagte: »Komm jetzt. Lass uns unser Nachtgebet sprechen, und dann gute Nacht. Wir haben morgen einen langen, langen Weg vor uns.«

Margred blickte aus dem Höhleneingang zum Nachthimmel auf. Während sie die Sterne betrachtete, die mit kaltem Glanz hoch über ihnen glitzerten, warnte sie die Weisheit ihrer walisischen Vorfahren: »Dieser Himmel hält Schnee bereit. Vielleicht noch nicht morgen, aber schon bald.«

Myles kroch schläfrig aufs Lager, kuschelte sich eng an sie und zog die dünnen Decken um sie beide zurecht. Als er eingeschlafen war, sprach sie ihr Nachtgebet, und bald lagen alle beide in tiefem Schlaf. Einmal erwachte Margred augenblicklich, weil ein wildes Tier schnüffelnd und grunzend dem Höhleneingang nahe kam. Sie wartete mit angehaltenem Atem. Es kam jedoch nicht näher, und sie sank von Neuem in Schlaf.

***

Der Schneefall hatte mit dem Gefühl intensiver Kälte in der Luft begonnen. Es dauerte nur eine Stunde, da fühlte Margred eine Schneeflocke auf der Wange während sie dahintrottete. Sie warf einen scharfen Blick auf den grauen Himmel. Das war es, was sie während der vergangenen drei Tage befürchtet hatte, und jetzt war es eingetreten. Sie blickte voll innerer Anspannung auf Myles in seinen dünnen Kleidern und fragte sich, wie sie einen Schneesturm überstehen sollten. Bald schwebten die Flocken herab, zeichneten weiße Streifen auf die aufgeworfenen Äcker und verwandelten die Büsche und knorrigen Bäume in fantastische Gebilde, die die Straße säumten.

Myles blickte zu ihr auf und schauderte. »Es ist kalt, nicht wahr?« Aber in seinen Augen funkelte es fröhlich. »Schau!«, sagte er glücklich und blickte auf seine Füße hinunter. »Schau nur, wie ich Fußstapfen machen kann. Siehst du?«

»Ich sehe es, Myles.« Es war erst zwei Uhr nachmittags, und sie wusste, dass der Schnee bald so dicht fallen würde, dass er über ihre dünnen Lappen von Schuhen hinausreichte. Sie ließ den Blick schweifen und suchte nach einem Unterschlupf. Sie waren anderen Reisenden auf der Straße ausgewichen – eine Frau, die allein unterwegs war, war jedem zufällig Vorbeikommenden hilflos ausgeliefert. Mehrmals hatten sie sich in die Büsche geschlagen, wenn ihnen eine Gruppe Menschen entgegenkam und gewartet, bis sie vorbeigezogen waren. Sie hatte Myles befohlen, sich still zu verhalten. Für ihn war es ein Spiel gewesen, seine Augen hatten fröhlich gefunkelt – und sie war dankbar gewesen, dass er sich keine Vorstellung von der Gefahr machte, in der sie schwebten.

Aber als sie nun dahinzogen war ihr bewusst, dass sie die Kälte nicht lange aushalten konnten. Ihr Proviant war beinahe aufgebraucht. Während sie lautlos durch den Flockenwirbel zogen betete sie, dass sie einen sicheren Platz finden mochten.

Zwei Stunden später lag der Schnee so hoch, dass er das Gehen erschwerte, vor allem für Myles, der die Knie anheben musste, um die Füße aus dem Schnee zu ziehen. Die Flocken fielen so dicht, dass Margred nicht weiter als ein paar Yard vor sich sehen konnte. Der Himmel war grau wie ein Sarg; die Dunkelheit zog herauf.

Sie sah, dass Myles krampfhaft zitterte. Sie blieb stehen und zog die Decken aus ihrem Sack, dann wickelte sie ihn in eine davon ein und legte die andere um ihre eigenen Schultern, wobei sie sie wie eine Kapuze über den Kopf zog. Sie nahm Myles an der Hand und stolperte weiter.

Eine halbe Stunde später entdeckte sie an einer Seite des Weges ein Gebäude und flüsterte: »Da, Myles! Rasch!«

Die beiden stolperten mühselig auf das Gebäude zu. Sie konnte jetzt erkennen, dass es ein primitives Bauernhaus war, von derselben Art wie alle, die sie bislang im Leben gesehen hatte. Sie war selbst auf einer solchen Farm in Wales aufgewachsen. Der Schnee lag in hohen Wächten um die Tür, und in der Vordertür befand sich ein einzelnes Fenster, durch das sie ein Feuer brennen sehen konnte. Sie klopfte an die Tür; ihre Hand war so gefühllos vor Kälte, dass sie das Holz nicht spürte.

Augenblicklich rief eine Stimme: »Wer ist da?«

»Reisende«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Ich und mein Sohn.«

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und sie sah einen weißhaarigen Mann herausspähen. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, und er fragte argwöhnisch: »Was habt ihr hier zu suchen?«

»Wir sind unterwegs nach England. Wir tun niemand etwas zuleide.«

Margred beobachtete ihn wie er angespannt über ihre Schulter blickte, dann entspannte sich sein Gesicht. Er öffnete die Tür. »Nun, dann kommt herein. Und zwar rasch! Sonst schleppt ihr mir noch die Kälte mit herein.«

Margred, die immer noch Myles’ Hand umklammert hielt, fiel beinahe ins Haus, und die gesegnete Wärme des Raumes umhüllte sie. Da war ein Herdfeuer, und eine Frau, die daneben gesessen hatte, stand plötzlich auf. Margred war so erschöpft, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, und das einzige, was in ihr Bewusstsein drang, war die Wärme und die Erkenntnis, dass sie es mit armen Leuten zu tun hatte.

Die Frau trat neben ihren Mann und sagte: »Du musst ja halb erfroren sein, Mädchen. Komm her und setz dich ans Feuer.« Sie streckte die Hand aus, als Myles auf sie zustolperte, und berührte seine Wange. »Der arme Junge ist beinahe blaugefroren!«, rief sie aus. »Samuel, mach Wasser heiß. Wir werden den beiden ein wenig Grütze kochen.«

»Ja, Betty«, sagte er. Er war ein kleingewachsener Mann, nicht größer als Margred. Er warf ihr einen Seitenblick zu, und wieder trat ein Ausdruck des Misstrauens auf sein Gesicht. »Ihr seid doch nicht am Ende auf der Flucht vor dem Gesetz, oder?«

»Nein«, sagte Margred mit klappernden Zähnen. »Wir versuchen nur, uns nach England durchzuschlagen.«

»Dann ist alles in Ordnung. Setzt euch nieder.«

Dreißig Minuten später saßen Margred und Myles am Feuer, den Bauch voll Weizengrütze und ein wenig gepökeltem Schweinefleisch, und erzählten ihren Wohltätern, wohin sie gingen. Die alten Leute hörten ungläubig zu, und als der Alte sagte, er habe noch nie von einem Fluss Severn gehört, nickte Margred. »Ich auch nicht, aber Gott hat uns gesagt, wir sollten dorthin gehen.«

Betty sah sie an, Verwunderung in den vom Alter blassen Augen. »Nein, so etwas! Ihr habt noch nie von dem Ort gehört, aber ihr zieht dorthin, weil Gott es euch befohlen hat?« Sie holte tief Atem und fuhr fort. »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«

Margred ließ sich auf keine Diskussion ein; sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Sie war so müde und schläfrig, dass sie sich kaum noch wachhalten konnte. Als die alte Frau sie und Myles näher betrachtete, befahl sie: »Nun komm schon, Samuel, richte diesen beiden einen Schlafplatz.«

Bald darauf lagen Margred und Myles in tiefem Schlaf unter dicken Decken. Betty betrachtete sie und sagte langsam: »Samuel, so etwas habe ich noch nie gehört. Aber vielleicht hat Gott sie zu uns gesandt, also wollen wir unser Bestes für sie tun.«

»Wie du sagst, Frau«, murmelte der magere alte Mann.

Der Schneesturm dauerte noch zwei weitere Tage an. In dieser Zeit ruhten Margred und Myles sich aus und bekamen so viel zu essen, wie sie nur wollten. Es war schlichtes, einfaches Essen, aber es war nahrhaft und füllte den Magen. Das Wetter zwang sie, im Hause zu bleiben, und Myles und seine Mutter schliefen den größten Teil der Zeit. Die beiden Tage gingen rasch vorbei, und beide fühlten sich wieder wohl und völlig bei Kräften, als der Sturm nachließ und die Sonne sich wieder hervorwagte.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Margred und lächelte ihre beiden neuen Freunde an. »Gott segne euch beide und sei euch gnädig, dass ihr zu einer Frau und ihrem Kind so freundlich gewesen seid.«

Samuel sah sehr verlegen aus, als er sagte: »Wir haben euch ein paar Kleinigkeiten eingepackt.«

Betty kam mit einem Bündel in der Hand herbei. »Hier sind ein paar wärmere Kleidungsstücke. Sie gehörten meiner Tochter, die im Kindbett gestorben ist. Ich glaube, sie könnten dir passen, und sie werden dich warmhalten. Ich habe auch ein paar von Samuels Sachen kleiner gemacht für den Jungen hier.«

Samuel sagte: »Und ich habe euch ein Päckchen mit Essen zurechtgemacht, das reichen wird, bis ihr zu diesem Fluss Severn kommt, wo immer das sein mag.«

Tränen traten Margred in die Augen, und sie senkte den Kopf. Einen Augenblick lang versagte ihr die Sprache. Schließlich zog sie Myles an sich, legte den Arm um seine Schultern und blickte die beiden lieben Menschen an. »Gott möge es euch reichlich lohnen«, sagte sie mit rauer Stimme. Tränen glitzerten in ihren schönen Augen, während sie und Myles die beiden Bündel schulterten, die die alten Leute für sie gepackt hatten.

»Es ist ein herrlicher Morgen«, sagte sie zu Myles, als sie ins Freie traten. »Und siehst du, wie Gott uns geholfen hat? Und jetzt machen wir uns auf den Weg.«

Sie wandte sich Betty und Samuel zu, dann ging sie zu ihnen hinüber und – zu ihrer Überraschung – umarmte sie beide. Als Myles das sah, trat er vor und bot ihnen die Hand, die sie beide ergriffen.

»Gott sei mit euch«, sagte er munter.

Margred wandte sich der Straße zu und Myles folgte ihr, und sie zogen weg von der kleinen Farm, die eisige Straße entlang. Nur einmal hielten sie noch an, um zurückzuwinken, ehe sie zu einer Straßenbiegung kamen.

Das Wetter war wärmer, und sie hatten jetzt bessere Kleidung – sogar Strümpfe! – die ihre Füße warm und trocken hielten. Sie kamen gut voran an diesem Tag, und Margred stellte voll Dankbarkeit fest, dass der Schnee zu schmelzen schien.

Später am Abend, als sie die Berge allmählich hinter sich ließen, sah Margred sich um und warf Myles dann einen Seitenblick zu. »Nun, Alterchen, ich glaube, jetzt werden wir Wales bald hinter uns lassen und nach England kommen.«

»Und was ist mit dem Fluss, von dem du geredet hast, Mutter?«, wollte er wissen.

Margred ließ den Blick in die Ferne schweifen und schwang das Bündel, das sie trug, auf die andere Schulter. »Dahin haben wir noch einen weiten Weg.« Aber sie lachte und befahl: »Komm schon, Alterchen! Gott wird uns begleiten, und wir werden den Fluss Severn finden. Und auch das Haus, von dem ich dir erzählt habe.«

Und so zogen die beiden wacker ihres Weges. Margred sang zuweilen eines der alten Lieder in der walisischen Sprache, die sie als Mädchen gelernt hatte, und Myles hob den Blick zu ihr auf und sang hin und wieder eine Strophe mit.

***

Nob, der seit fünfzehn Jahren die Falken und Habichte der Familie Bourneville betreute, ging in den Stallungen herum und kontrollierte sorgfältig die Vögel. Er war ein kleiner, hagerer Mann – fast so hager wie die Windhunde und Habichte, die er für Sir Geoffrey Bourneville hegte. Er hatte graues Haar, scharfe Züge und erstaunlich blaue Augen. Er bewegte sich langsam, überprüfte seine Ausrüstung und sah sich einen Falken, der krank gewesen war, näher an. Er streckte die Hand aus, kraulte die Federn auf der Brust des Raubvogels und sah, wie die wilden Augen aufleuchteten und der Schnabel sich öffnete. Er nahm ein Stückchen Fleisch aus seiner Tasche, reichte es dem Falken und murmelte: »Du kommst wieder in Ordnung, mein Junge. Ich glaube, du brauchst nur ein wenig sportliche Betätigung.«

Er wandte sich ab, verließ die Ställe und machte sich auf den Weg zum Herrenhaus, um Sir Geoffrey seinen Bericht zu überbringen. Aber eine Bewegung zu seiner Linken fesselte seine Aufmerksamkeit, und er blinzelte vor Überraschung, als er zwei Gestalten, eine große und eine kleine, auf der Kuppe des Hügels auftauchen sah. Seine Augen wurden schmal vor Argwohn – was hatten Fremde mitten im Winter in Harrow zu suchen? Dann sah er, dass es eine Frau und ein Kind waren, und er entspannte sich wieder.

Die Frau starrte das große Haus an, so reglos, als wäre sie zu Eis erstarrt. Schließlich bewegte sie sich, und die beiden kamen auf Nob zu.

Er wartete, bis sie nahe herangekommen waren, und nun sah er, dass sie sich schwer taten beim Gehen. Die Frau musste den Jungen stützen, damit er nicht fiel. Er trat einen raschen Schritt vor und blieb vor ihnen stehen, wobei er fragte: »Wo wollt ihr hin?«

Die Frau hob ihr Gesicht und sah ihn an, und er sah, dass ihre Lippen blau vor Kälte und ihre Wangen eingefallen waren. Er bemerkte, dass sie noch ziemlich jung war und recht hübsch gewesen wäre, wäre sie nicht so abgemagert gewesen. Ihre Lippen bewegten sich, und er konnte nur mit Mühe ihre Worte verstehen.«

»Mein Sohn und ich, wir suchen den Fluss.«

»Den Fluss?«, fragte Nob verdattert. »Meinst du den Severn?«

Ihre Augen leuchteten auf, und sie nickte eifrig. »Ja, den Severn!«

Er deutete mit der Hand nach rechts. »Der liegt dort drüben«, sagte er. »Aber was willst du mitten im Winter mit dem Fluss?«

Er betrachtete sie genauer und warf dann einen scharfen Blick auf den Jungen, der mit geschlossenen Augen dastand. Er zitterte vor Kälte und Erschöpfung. »Heiliger Strohsack, Frau! Was hast du mit dem Kind mitten im Winter auf der Straße zu suchen? Was denkst du dir dabei?« Er hatte gute Lust, zornig auf sie zu werden, aber als sie nur den Kopf schüttelte sagte er barsch: »Dann komm herein; wollen mal sehen, ob wir den kleinen Mann hier wieder auftauen können.«

Er führte sie zu einem kleinen Zimmer, das an die Stallungen angebaut war. Er lebte dort mehr oder weniger mit seinen Jagdhunden zusammen. Es gab keinen Kamin und keine Feuerstelle – ein Loch in der Decke diente als Rauchabzug – daher war es im Raum ziemlich rauchig, da das Feuer fast ausgegangen war. Er warf ein paar Scheiter darauf, blies in die glühenden Kohlen und hatte bald wieder ein fröhliches Feuerchen zum Brennen gebracht. Dann wandte er sich um und sah die Frau an, die wortlos dastand und vor Erschöpfung schwankte. Er sagte rasch: »Da. Setz dich nieder.«

Sie sank in sich zusammen, sagte mit schwacher Stimme: »Ich danke dir« und zog den Jungen an sich. Augenblicklich legte er sich nieder, den Kopf in ihrem Schoß.

Nob starrte die Frau an, noch verdutzter als zuvor, aber er war ein praktisch denkender Mann und wusste, dass jetzt nicht die rechte Zeit für Fragen war. »Hier. Ich suche etwas zu essen zusammen. Und ich habe einen Schluck Bier im Hause, der dir gut tun wird.« Er kramte auf einem Wandbrett herum, fand den Krug und schenkte den einzigen Becher, den er besaß, voll. »Gib das dem Jungen und trink selbst ein wenig. Ich brate dir ein Stück Fleisch.«

Während der Mann herumeilte, das Stück Fleisch abschnitt und auf einen spitzen Stock spießte, um es über dem Feuer zu braten, zog Margred Myles hoch, so dass er aufrecht saß, den Kopf an ihren Arm gelehnt, und hielt ihm den Becher an die Lippen. »Trink das, Myles«, flüsterte sie. Sie beobachtete ihn, wie er langsam aus dem Schlaf der Erschöpfung zu sich kam und dann beinahe den ganzen Becher austrank. Sie trank den Rest, und als der Falkner sah, dass das Getränk verschwunden war, kam er mit dem Krug herbei und füllte den Becher von Neuem.

»Greif nur zu, junge Frau«, sagte er. »Wie heißt du?«

»Margred Morgan, und dies hier ist Myles.«

Nob starrte sie an. »Kann es sein, dass du aus Wales kommst?«

»Ja.«

»Ich auch.« Er nickte nachdrücklich. »Vor langer Zeit, als ich noch ein Junge war. Ich erinnere mich aber immer noch an die Berge.« Er zog sein Jagdmesser aus der Scheide und begann kleine Stücke des gebratenen Fleisches in mundgerechte Bissen zu zerschneiden. »Gib dem Jungen davon etwas zu beißen. Er sieht aus, als könnte er es gebrauchen. Und nimm dir auch etwas.«

Margred rüttelte Myles von Neuem wach, und als er das gebratene Fleisch roch, kehrte das Leben in sein bleiches Gesicht zurück. Sie schob ihm den Bissen in den Mund, und er begann lebhaft zu kauen. Er schluckte und öffnete augenblicklich den Mund für den nächsten Bissen.

Nob grinste. »Sieht er nicht aus wie ein junger Spatz im Nest? Aber lass ihn nicht zuviel auf einmal essen, sonst wird ihm schlecht. Er kann später noch mehr haben.«

Margred fütterte Myles, dann aß sie selbst ein wenig. Sie spürte, wie ihre Energie zurückkehrte. Sie betrachtete den kleinen Mann, der ihr gegenüber am Feuer stand. »Ich danke dir«, sagte sie mit tiefem Ernst. »Wir haben in den letzten zwei Tagen keinen Bissen gegessen.«

»Ihr kommt wohl von weit her?«, erkundigte er sich. »Seid ihr am Ende den ganzen weiten Weg von Wales hergekommen?«

»Ja. Es war eine lange Reise«, seufzte sie. Essen und Trinken hatten ein wenig Farbe in ihre Wangen zurückgebracht, und Nob sah, dass sie tatsächlich eine sehr hübsche Frau war.

»Du suchst den Severn, sagst du. Was willst du dort?«

Margred zögerte. Sie empfand eine gewisse Scheu, über Gott und ihre Vision zu sprechen, aber der Mann war freundlich zu ihr gewesen, und trotz seiner rauhen Kleider und seiner wettergegerbten Gesichtszüge lag Güte in seinen Augen. Nach einem Augenblick des Überlegens nickte sie.

»Wir mussten Wales verlassen, weil wir … nun, wir mussten einfach gehen. Und ich betete, und da schien es mir, dass Gott es mir ins Herz gab, nach England zu ziehen. Er sagte, ich sollte zum Fluss Severn gehen, und er zeigte mir das große Haus, das hier steht. Es sieht genau so aus, wie ich es in meinem Traum sah.«

»Gott hat dir das gesagt, ach so?«, sagte Nob, dann presste er die Lippen zusammen. »Na, mir hat Gott noch nie etwas gesagt, obwohl ich manchmal wünschte, er täte es.« Er betrachtete das Paar genau, dann fragte er neugierig: »Du hast keine Verwandten? Keine Wohnung, keine Arbeit?«

»Nein, wir haben nichts.«

Wiederum zog Sturm in seinen grauen Augen auf, als er ihre Reaktion bemerkte, die ihm als Sorglosigkeit erschien. »Na, da hast du dir ja eine großartige Zeit zum Kommen ausgesucht! Im Winter, wo es kaum Arbeit gibt!«

Er begann auf und ab zu laufen, dann sah er, dass Margred schläfrig wurde. Der Junge war prompt wieder eingeschlafen, nachdem er einige Bissen Fleisch gegessen hatte, und die Mutter war drauf und dran, es ihm nachzutun. »Legt euch dort drüben zum Schlafen hin«, sagte er in rauem Ton. »Wenn ihr aufwacht, könnt ihr noch mehr zu essen haben.«

Er wandte sich um und eilte aus der Hütte, und Margred zog Myles in ihre Umarmung. Sie schlief augenblicklich neben dem warmen Feuer ein.

Mehrmals an diesem Tag kehrte Nob zu seinem kleinen Häuschen zurück, und jedesmal stellte er fest, dass die Frau und der Junge immer noch tief und fest schliefen. Er sprach mit niemand über die Besucher. Niemand kam jemals zu den Stallungen, jedenfalls nicht im Winter, also fühlte er sich sicher genug.

Er konnte sich zwar vorstellen, dass man in die Fremde zog, um eine bessere Arbeitsstelle zu finden, aber er konnte die Frau und ihr Gerede von Gott nicht verstehen. »Wie eine Närrin sieht sie nicht aus«, murmelte er vor sich hin. »Aber sie redet wie eine, meiner Treu! Ein Jammer ist das, und dabei hat sie diesen nett aussehenden Jungen.« Nob hatte keine Familie – die Pest hatte seine Frau und seine Kinder dahingerafft – und er erinnerte sich daran, dass sein Junge eine entfernte Ähnlichkeit mit diesem Knaben hier gehabt hatte. Kopfschüttelnd ging er wieder an die Arbeit.

Er sah um drei Uhr nachmittags noch einmal nach den beiden Reisenden und stellte fest, dass sie wach waren, also legte er frisches Holz aufs Feuer und briet noch mehr Fleisch.

Er beobachtete sie eindringlich während er sagte: »Ich weiß nicht, was ich mit euch beiden anfangen soll. Ihr werdet erfrieren, wenn ihr versucht, euch bis zur nächsten Stadt durchzuschlagen.« Er fügte trockenen Tones hinzu: »Ihr könnt nicht im Fluss Severn leben. Die Leute ertränken sich manchmal darin, sogar im Sommer. Was habt ihr vor?«

Margred sagte: »Ich weiß es nicht. Wir haben getan, was Gott uns gesagt hat.« Ihre Lippen kräuselten sich in einem schwachen Lächeln. »Ich klinge wohl wie eine Verrückte, nicht wahr?«

Nob senkte den Kopf und kratzte sich im Haar, dann zuckte er die Achseln. »Ich hab schon ärgere Narren gesehen.« Sie saßen da und starrten ins Feuer. Keiner von beiden sprach viel, während sie eine Entscheidung zu treffen versuchten, was sie tun sollten.

Schließlich gelangte Nob zu einer Entscheidung. »Ich werde den Herrn des Hauses fragen, ob ihr bleiben dürft. Bist du bereit, zu arbeiten?« verlangte er zu wissen. »Und der Junge auch?«

»O ja!« antwortete Margred augenblicklich. »Ich bin eine tüchtige Arbeiterin. Ich kann kochen und putzen und melken, alle Arbeit tun, die auf einem Bauernhof anfällt.« Sie warf einen Blick auf Myles und lächelte. »Und der Junge hier wird es auch lernen.«

Nob betrachtete sie schweigend, dann stand er auf und verließ abrupt die Hütte. Er schritt zum Herrenhaus hinauf, ging an die Hintertüre und fragte eine Frau, die eben mit einem Eimer Schmutzbrühe herauskam: »Ist der Herr zu Hause?«

Sie blickte ihn aus wässrigen Augen an und grunzte »Ja«, dann ging sie weiter.

Nob blickte beinahe furchtsam zum Haus hinauf. Er betrat das Herrenhaus nicht oft; wenn der Master ihn brauchte, suchte er ihn in seinem Schuppen auf. Nob war ein Mann des Waldes, ein Mann für die Hunde, ein Mann für die Vögel … Es machte ihn nervös, sich in dem großen Haus eingesperrt zu fühlen. Er stand da und starrte trübsinnig die Tür an, dann entschloss er sich, darauf zu warten, dass Sir Geoffrey herauskam. Vielleicht war der Master nach dem Essen eher in barmherziger Stimmung.

»He, was soll das? Wer seid ihr, und was habt ihr hier verloren?«

Margred hob den Kopf. Der Mann, der eingetreten war, hatte sie erschreckt. Er hatte kuhfarbenes Haar und hellblaue Augen, die sie scharf musterten. »Mein Name ist Margred Morgan. Dies ist mein Sohn, Myles. Seid ihr der Master?«

»Ja. Ich bin Sir Geoffrey Bourneville. Und du befindest dich im Augenblick in Harrow.« Er wartete. Sein Blick glitt von Kopf bis Fuß über die beiden Fremden, während sie sich aufrappelten. Nob hatte sich an ihn gewandt, Nob, der jetzt im Türrahmen stand und das heimatlose Paar aus wachsamen Augen betrachtete.

Zuerst hatte er Nob befohlen, sie wegzuschicken, aber Nob hatte gesagt: »Aye, Sir, wie Ihr befehlt. Aber eine der Zofen sagte mir, Lady Mary hätte sich beklagt, nicht genug Mägde zu haben. Ich glaube, das Mädchen hätte das Zeug zu einer guten Hausmagd. Und sie hat einen Jungen, den ich bei den Hunden gebrauchen könnte. Er ist jung, aber ich hab’s gerne, wenn sie jung sind, da kann ich ihnen von Anfang an alles richtig beibringen.«

Sir Geoffrey hatte gleichgültig zugehört. Er war in guter Laune, denn er hatte am vergangenen Abend beim Würfelspiel eine beträchtliche Summe gewonnen und hatte soeben ein ausgezeichnetes Mittagessen genossen.

Als er jetzt die beiden ansah, die vor ihm standen, stellte er fest, dass die Frau einen reinlichen Eindruck machte und der Junge intelligent wirkte. Er sagte mit rauer Stimme: »Hier können wir keine Faulpelze gebrauchen. Ihr werdet für euer Essen tüchtig arbeiten müssen. Und das ist auch alles, was ihr hier kriegt – einen Platz zum Schlafen, Essen und Kleider zum Anziehen. Was sagt ihr dazu?«

»Wir danken Euch, Herr.« Margred knickste graziös. »Wir werden sehr fleißig arbeiten, nicht wahr, Myles?«

»Ja, Sir!« Der Junge hob den Blick, und Sir Geoffrey dachte, dass er mit seinem rötlichen Haar und seinen hell glänzenden Augen an einen Vogel erinnerte.

Der Master nickte abrupt. »In Ordnung. Komm später am Tage ins Haus, ich werde veranlassen, dass man dir beibringt, was du zu tun hast. Nob, du unterrichtest den Jungen darin, dir bei den Vögeln und den Hunden zur Hand zu gehen.«

»Aye, Sir, das mache ich.«

Sobald Sir Geoffrey gegangen war, lief Margred hinüber und umarmte Myles. Ihr Gesicht glühte vor Freude. »Siehst du nun, mein Alterchen, wie Gott für uns sorgt? Er hat uns den ganzen weiten Weg von den walisischen Bergen bis zum Fluss Severn geführt, und nun hat er uns einen so schönen Platz zum Leben und Arbeiten geschenkt! Ist der Herr nicht gut zu uns?«

»Ja, das ist er«, stimmte Myles ihr zu. Er blickte zu Nob auf und fragte eifrig: »Ich soll dir helfen? Mit den Vögeln? Und den Hunden?«

»Das stimmt, Junge«, nickte Nob. »Und ich werde ein harter Lehrherr sein, wenn ich dich dabei erwische, wie du eins von meinen Tieren schlecht behandelst!« Er beobachtete Mutter und Sohn, wie sie einander umarmten, und entdeckte, dass ihn dabei ein angenehmes Gefühl überkam. Nun, wenn Gott sie hierher gebracht hatte, dann hat Gott vielleicht mich hierher gebracht, um dafür zu sorgen, dass sie einen Unterschlupf findet. Wäre ja auch an der Zeit, dass Gott etwas zu mir sagt, nach all den Jahren.

»Na, dann kommt jetzt und lasst uns noch ein bisschen von dem Fleisch essen. Später kannst du dann zum Herrenhaus hinaufgehen.« Damit begann er noch weitere Scheiben vom gebratenen Fleisch abzusäbeln. Er empfand tiefe innere Freude, als er die junge Frau und ihren Sohn vor dem Feuer sitzen sah.

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2Der Krieg des Königs

Sir Robert Wakefield schritt durch die große, mit Binsen bestreute Halle und machte im Geist eine Notiz, den Dienern aufzutragen, dass sie die Pflanzen wechseln sollten. Sie waren feucht und schmutzig. Er verließ die Halle und schritt durch eine Flucht von Räumen, wobei er an die neueren Häuser im England der Tudors dachte, die mit eingebauten Korridoren versehen waren. Da er einen logischen Verstand hatte, sprach ihn diese neue Bauweise an. Sein Herrenhaus, Wakefield, war ein altes Bauwerk, und als es erbaut worden war, hatte man von Korridoren noch nichts gewusst. Folglich öffnete sich ein Raum in den nächsten, so dass es unmöglich war, irgendwo die Türen zu schließen und sich ein wenig Privatsphäre zu vergönnen, ohne den Verkehrsfluss zu unterbrechen. Gelegentlich wurde ein Raum abseits der Hauptverkehrsadern gebaut, damit man ihn abschließen – engl. close – konnte, und diese Räume nannte man Klosetts.

In den meisten dieser Räume, die er passierte, hielten die Leute in ihren Tätigkeiten inne, um sich zu verbeugen oder zu knicksen, aber er schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Schließlich durchschritt er eine mächtige, acht Fuß hohe Eichentür und betrat seine eigene Kammer.

»Du bist spät dran, Robert«, sagte die Frau, die in dem riesigen Bett saß. Das Bett nahm einen Großteil des Raumes ein. Es war aus geschnitztem Eichenholz und geräumig genug, um mindestens für ein halbes Dutzend Menschen Platz zu bieten. Lady Jane Wakefield hob ihre warmen braunen Augen und lächelte ihren Gatten an. »Ich habe auf dich gewartet.« Sie war eine kleine und zierliche Frau, mit dem Aussehen einer kränklichen Person, obwohl sie nicht bettlägerig war. Eine Reihe von Fehlgeburten in ihrer Jugend hatte ihre Gesundheit untergraben, und nun waren ihr die meisten Tätigkeiten, denen sich Damen ihrer gesellschaftlichen Stellung gerne hingaben, verschlossen. Sie war jedoch fröhlich und beklagte sich niemals über ihr Schicksal. Als ihr Gatte ans Bett trat und die Hand ausstreckte, ergriff sie sie und küsste den Handrücken, wobei sie sagte: »Was hast du gemacht?«

Sir Robert Wakefield blickte von seiner Höhe von sechs Fuß auf sie herab. Er war ein kraftvoll gebauter Mann mit dunkelrotem Haar und blaugrauen Augen. Er hatte ein kantiges, trotziges Gesicht. Eine Narbe verlief über seine linke Wange – eine Erinnerung an seine Tage in der Armee. Sein kurzer Bart und sauber getrimmter Schnurrbart hatten dieselbe rötliche Farbe wie sein Haar und trugen zu seinem guten Aussehen – wie man es allgemein betrachtete – bei. Er machte nicht den Eindruck, 43 Jahre alt zu sein. Man musste schon genau hinsehen, um die feinen Linien in seinem Gesicht und die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf zu entdecken.

Nun lächelte er seine Frau an, drückte ihre Hand, dann ließ er sich müde in den Sessel neben ihrem Bett sinken. Er starrte zur Decke und erklärte: »Ich habe einige Arrangements getroffen.« Seine klare Tenorstimme trug im Freien ziemlich weit – eine nützliche Eigenschaft, wenn man mit den Hunden zur Jagd ritt. Er lehnte sich einen Augenblick lang in den Sessel zurück, dann setzte er sich gerade auf und drehte sich um, so dass er Jane ins Gesicht blickte. »Meine Liebe«, sagte er langsam, »ich habe einen Entschluss gefasst, was Ralph angeht. Ich möchte ihn als meinen Erben adoptieren.«

Bei seinen Worten wurden Lady Janes Lippen schmal, und ihre sanften Augen wurden aufmerksam. Sie sagte einen Augenblick lang kein Wort und blickte auf ihre Hände nieder. Da er wusste, dass sie sich nicht schnell zum Sprechen entschloss, wartete er. Schließlich hob sie das Gesicht und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich habe dir gegenüber versagt, Robert.«

Er wusste augenblicklich, was sie meinte. Er hatte sich in Lady Jane Harwich verliebt, kaum dass er sie zum erstenmal gesehen hatte. Nach einer stürmischen Werbung hatten sie geheiratet und sich dann behaglich eingerichtet, mit der Absicht, eine große Familie zu gründen. Die Jahre waren vergangen, und ein Kind nach dem anderen war tot geboren worden. Robert Wakefield hatte seiner Frau niemals Vorwürfe gemacht, weil sie keine Kinder hatten, aber er wusste, dass es ihr tiefen Kummer bereitete. Er blickte sie an, und da er sie so gut kannte, war ihm bewusst, welchen Gram sie bei dem Gedanken empfand, dass sie ihm keine Kinder geschenkt hatte.

Er neigte sich zu ihr und ergriff von Neuem ihre Hand. Er drückte sie sanft und lächelte, so gut er konnte. »Diese Dinge stehen in Gottes Hand«, murmelte er.

Sie schüttelte leise den Kopf, und er wusste, dass sie nicht überzeugt war. Er stand auf, beugte sich zu ihr und küsste sie, dann begann er mit einer Begeisterung zu sprechen, die sie schon lange nicht mehr an ihm gesehen hatte. »Nun, meine Liebe, wir werden einen Jungen an Ralph haben. Er wird unser Sohn sein, jemand, der unser Erbe antreten wird. Er wird heiraten und Kinder haben, und wir werden den Kleinen beim Spielen zusehen.«

Lady Jane lauschte und versuchte, sich zurückhaltend zu benehmen. Sie mochte Ralph Geddes nicht. Es stimmte, er war ein Verwandter, ein entfernter Cousin Roberts, und manchmal fühlte sie sich schuldig, weil sie ihm misstraute. Es gab zwar nichts in seinem Verhalten, ja überhaupt nichts in seinem Leben, das sie ihm konkret vorwerfen konnte. Das Einzige, was sie ihm ankreiden konnte, war die Tatsache, dass er nicht warmherzig und offen war, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Sie wusste, dass er Robert durchaus so erschien, aber das war in ihren Augen nur ein weiteres Zeichen für seinen Mangel an Ehrlichkeit. Sie wusste, dass er von Natur aus kein offenherziger junger Mann war, und sein Benehmen Robert gegenüber erschien ihr … berechnend. Als Robert kam und sich neben sie setzte, wusste sie, dass er auf ihre Zustimmung wartete.

»Ich verstehe, dass du einen Erben brauchst, Lieber«, sagte sie. »Und nichts würde mir mehr Freude machen, als eine junge Braut in Wakefield einziehen zu sehen – zu sehen, wie hier Kinder geboren werden.« Traurige Sehnsucht trat in ihre Augen, und sie fuhr fort: »Wenn ich nur ein Kind in den Armen halten könnte, würde ich nichts weiter auf Erden oder im Himmel verlangen.« Sie hielt nachdenklich inne. »Aber es ist ein so endgültiger Entschluss, jemand als Erben anzunehmen. Es ist so völlig anders als alles andere …«

»Es ist sehr ernst«, stimmte er zu, »und ich habe lange darüber nachgedacht.«

»Warum wartest du nicht noch ein Weilchen? Bring den jungen Mann nach Wakefield. Lass ihn hier wohnen, und wir werden sehen, wie wir zurechtkommen. Schließlich hast du später immer noch Zeit, die Formalitäten, die gesetzlichen Angelegenheiten zu regeln. Sobald du das einmal getan hast, kannst du es auf keine Weise mehr zurücknehmen.«

Robert warf ihr einen prüfenden Blick zu. Er hatte ihren Widerwillen gegen Geddes gespürt, aber sie hatte ihn niemals deutlich ausgesprochen. Er hatte jedoch großen Respekt vor ihrem Urteil, und er hatte den Eindruck, dass sie weise Worte gesprochen hatte. Er überlegte einen Augenblick, dann nickte er entschieden. »Ich denke, du hast recht. Ich werde sofort mit ihm reden, dann sehen wir weiter.«

»Das halte ich für das Beste, Liebster.« Sie lächelte ihn strahlend an. Es war eine Sache, hin und wieder zu schauspielern, aber eine andere, jeden Tag eine Maske zu tragen … wenn Ralph Geddes mit ihnen zusammenlebte, würde er doch gewiss eines Tages enthüllen, was wirklich in ihm steckte. Lady Jane selbst war sich keineswegs sicher, was das nun sein mochte, und fragte sich, ob sie ihn vielleicht falsch beurteilt hatte … aber sie konnte nicht leugnen, dass sie Erleichterung empfand, weil ihr Mann sich entschlossen hatte, noch zuzuwarten.

»Ich habe andere Neuigkeiten, die dir nicht gefallen werden«, sagte er und verzog das Gesicht.

»Ja, Liebster?«

»Eine Botschaft des Königs kam heute morgen an.« Er fuhr ungeduldig mit den Fingern durch sein dickes, rötliches Haar. »Er möchte, dass ich mit ihm in diesen törichten Krieg gegen Frankreich ziehe.«

»Ach, und ich hoffte, er würde dich nicht darum bitten!«

»Nun, er hat es getan, und natürlich muss ich gehen.« Wakefield erhob sich und begann seine Kleider abzulegen, die er liegen ließ, wie sie fielen. Er schritt hinüber und blies die Kerzen aus, dann schlüpfte er unter die Bettdecken. Als sie dicht beisammen lagen, streckte er die Arme aus, hielt sie zärtlich fest und streichelte ihr Haar. Selbst nach all diesen Jahren und trotz ihrer Unfruchtbarkeit war er immer noch sehr verliebt in seine Frau.

»Ich muss gehen«, wiederholte er mit gedämpfter Stimme.

Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Wie lange wird es dauern?«

»Keine Ahnung. Und es ist keine gute Sache. Aber du kennst Heinrich. Er hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt und nichts auf Erden wird ihn aufhalten.« Er versank in nachdenkliches Schweigen, während er ihren Arm streichelte und wie immer die Glätte ihrer Haut bewunderte. Dann fuhr er fort: »Ich glaube nicht, dass es lange dauern wird. Ich glaube, die Schlacht wird am grünen Tisch stattfinden.« Ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, und er sagte: »Ich werde den Jungen mitnehmen. So können wir einander besser kennenlernen.«

Sie hatte Angst, wohl wissend, wie unsicher das Kriegsglück ist, und schlang die Arme um ihn, um ihn eng an sich zu ziehen. »O Robert. Ach, sei vorsichtig!«

***

Um sieben Uhr am Donnerstag, dem 30. Juni 1513, standen Sir Robert Wakefield und Ralph Geddes an Bord eines der Kriegsschiffe, die die englische Armee nach Calais gebracht hatten. Für den jungen Geddes war es eine aufregende Zeit gewesen. Er stand an Wakefields Seite, seine dunklen Augen durchforschten die Küste, seine Rückenmuskeln waren starr vor Aufregung. Er war mittelgroß, wirkte aber größer, da er sich immer sehr gerade hielt. Er war eine adrette Erscheinung, und sein schwarzes Haar und seine Augenbrauen passten gut zu seiner dunklen Haut. Er trug einen schwarzen Schnurrbart, der einen eher schwächlichen Mund verbarg, und seine Augen standen ein wenig zu nah aneinander. Davon abgesehen war er ein gutaussehender Mann, ein ausgezeichneter Fechter und ein vorzüglicher Reiter. Auf jeden Fall war er ein schlauer junger Mann für seine achtzehn Jahre.

»Nun, Sir, hier sind wir endlich! Ich dachte, wir würden es niemals schaffen, den Kanal zu überqueren.«

Wakefield wandte sich um und lächelte den jungen Mann an. »Das habe ich auch gedacht, Ralph.« Er ließ den Blick über den Hafen schweifen, in dem die Schiffe ausgeladen wurden. »Es dauert seine Zeit, dreißig- bis vierzigtausend Männer in voller Rüstung zu transportieren. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt jemals hier angelangt sind.« Er betrachtete die Küstenlinie. »Ich meine, wir sollten lieber an Land gehen. Wir treffen heute nachmittag mit dem König zusammen und werden uns seinen Schlachtplan anhören.« Er zögerte, dann sagte er mit gedämpfter Stimme: »Sofern er überhaupt einen hat.«

Geddes warf ihm einen scharfen Seitenblick zu. »Worum geht es bei diesem Krieg eigentlich, Sir? Mir will das nicht in den Kopf.«

»Das geht niemand so leicht in den Kopf, Ralph«, sagte Sir Robert in trockenem Ton. Er versuchte die Sache zu erklären, indem er sagte: »Das Ganze hat irgendwie mit Heinrichs Ehe mit Katharina zu tun. Du weißt doch, dass sie die Frau seines Bruders Arthur war, obwohl einige Leute behaupten, die Ehe wäre nie vollzogen worden. Auf jeden Fall wurde nach Arthurs Tod Heinrich VIII. König von England anstelle von Arthur I.«

»Findest du nicht, dass er ein guter Herrscher ist?«

»Er ist überaus fähig. Ich bezweifle, dass England jemals einen König mit so viel Potential hatte«, gab Sir Robert zu. »Aber vor drei Jahren verbündete sich Papst Julius in einer Heiligen Allianz mit Maximilian, dem Kaiser der deutschen Staaten, und mit Ferdinand, dem spanischen König. Er wollte Louis XII. von Frankreich den Weg versperren.« Sir Roberts Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an, als er fortfuhr. »Heinrich war so verärgert darüber, dass er nicht miteinbezogen worden war, dass er das Angebot machte, England würde Louis allein verbläuen. Ich denke, er sieht sich als eine Art Robin Hood; Papst Julius spielt die Unterdrückten und König Louis von Frankreich den Sheriff von Nottingham.« Er schritt langsam über das Deck, wobei er sich durch die Scharen von Soldaten drängte, die sich bereit machten, von Bord zu gehen, und fügte hinzu: »Diese königliche Invasion hat den Zweck, zu beweisen, dass Heinrich König von England ist und die Welt sich das gefälligst hinter die Ohren schreiben soll!«

Die beiden Männer kletterten in ein kleines, gedrängt volles Boot und wurden zusammen mit einer Schiffsladung Bogenschützen und ihren Offizieren an Land gebracht. Als sie an Land gingen, schoben sie sich durch die brodelnde Masse der Truppen, die genauso sinn- und zwecklos umherzuwimmeln schienen wie Ameisen auf einem Hügel. Die uniformierten Soldaten schwärmten dahin und dorthin, schleppten Ausrüstungsgegenstände, brüllten Flüche, stießen einer den anderen aus dem Weg. Schließlich machte Sir Robert einen Offizier ausfindig und fragte: »Wie kommen wir zum Zelt des Königs?«

»Dort drüben, genau auf der Kuppe des Hügels«, sagte der Lieutenant und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Gebäude.

»Komm mit, Ralph. Wir wollen sehen, was wir herausfinden können.«

Sie drängten sich durch das Menschengewühl, ließen die Küste hinter sich und fanden das große Zelt, das von uniformierten Wachen umgeben war. Ein Offizier trat vor und lächelte. »Guten Morgen, Sir Robert. Der König hat bereits nach Euch gefragt. Geht lieber gleich hinein. Sir Thomas Wolsey ist bereits bei ihm.«

»Danke, Lieutenant«, sagte Robert, dann wandte er sich Ralph zu. »Warte hier draußen. Ich komme so bald wie möglich zurück.«

Er betrat das große Zelt und stellte fest, dass es luxuriöser ausgestattet war als irgendein Zimmer in seinem Herrenhaus. Persische Teppiche waren auf dem Boden ausgebreitet worden, und große Möbelstücke standen auf ihrem Platz. Neben einem großen Tisch standen die beiden Männer, die England beherrschten: Heinrich VIII. und Sir Thomas Wolsey. Beide wandten sich um, und Heinrich trat vor. Als Sir Robert niederknien wollte, rief er: »Keine Zeremonien! Keine Zeremonien, Robert! Kommt hier herüber und helft Wolsey und mir, zu einer Entscheidung zu kommen, wie wir diesen Lumpen von einem Franzosenkönig in Klump und Asche hauen!«

Heinrich VIII. war eindeutig ein Mann von königlicher Erscheinung, dachte Robert wie jedesmal, wenn er dem König gegenüberstand. Sechs Fuß drei Zoll groß, mit breiten Schultern, mit hellblondem Haar gesegnet, das sich eines rötlichen Schimmers rühmen konnte, einem kurzen roten Bart – alles an dem Mann sprach von edlem Geblüt. Er war muskulös und massig genug, um einen Ringkampf mit den besten seiner eigenen Soldaten zu gewinnen. Jede seiner Bewegungen verriet seinen Hochmut. Obwohl er dazu neigte, seinen Ratgebern mit leutseliger Freundlichkeit zu begegnen, wusste Robert, dass der König niemals einen Erlass unterzeichnete, hinter dem er nicht von ganzem Herzen stand.

Nun trat Sir Robert an den Tisch und besah sich die Landkarte. Ein Lächeln kräuselte seine Lippen. »Es will mir scheinen, dass Ihr und Sir Thomas bereits die ganze Planung erledigt habt.«