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Pflicht und Ehrgefühl bestimmen sein Leben – doch diese Lady könnte alles verändern
Die viktorianische Liebesromanreihe von Kerrigan Byrne geht leidenschaftlich weiter
Declan Chandler führt ein Leben im Schatten – und im Dienst der Krone. Als ein Auftrag den Earl of Devlin zu der faszinierenden Lady Francesca Cavendish bringt, ahnt er zunächst nicht, dass sie sein ganzes Leben durcheinanderbringen wird …
Tagsüber geht Francesca ihren Pflichten als Countess of Mont Claire nach und ist ein angesehenes Mitglied der feinen Gesellschaft. Doch nachts macht sie Jagd auf diejenigen, die für den Tod ihrer Familie verantwortlich sind. Dabei kommt ihr ausgerechnet der Teufel selbst, der charmante Earl of Devlin, in die Quere. Sind ihre dunklen Geheimnisse eine Gefahr für ihre wachsende Leidenschaft und die wahre Liebe?
Alle Bände der Victorian Devils-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Erste Leser:innenstimmen
„Ein fesselnder historischer Liebesroman, der Intrigen, Romantik und Geheimnisse meisterhaft kombiniert. Absolute Empfehlung!“
„Kerrigan Byrne versteht es in Band 3 der Victorian Devils-Reihe meisterhaft, die Spannung zwischen geheimen Identitäten und sich entwickelnden Gefühlen einzufangen.“
„Declan und Francesca sind Charaktere, die man einfach ins Herz schließt. Eine Regency Romance, die man nicht aus der Hand legen kann.“
„Die Mischung aus Adel, Intrigen und persönlicher Rache ist unwiderstehlich. Ein absolutes Muss für Liebhaber von viktorianischer Romance.“
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Seitenzahl: 434
Declan Chandler führt ein Leben im Schatten – und im Dienst der Krone. Als ein Auftrag den Earl of Devlin zu der faszinierenden Lady Francesca Cavendish bringt, ahnt er zunächst nicht, dass sie sein ganzes Leben durcheinanderbringen wird …
Tagsüber geht Francesca ihren Pflichten als Countess of Mont Claire nach und ist ein angesehenes Mitglied der feinen Gesellschaft. Doch nachts macht sie Jagd auf diejenigen, die für den Tod ihrer Familie verantwortlich sind. Dabei kommt ihr ausgerechnet der Teufel selbst, der charmante Earl of Devlin, in die Quere. Sind ihre dunklen Geheimnisse eine Gefahr für ihre wachsende Leidenschaft und die wahre Liebe?
Alle Bände der Victorian Devils-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2023
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-522-5
Copyright © 2021, Kerrigan Byrne Titel des englischen Originals: The Devil in her Bed
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin´s Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Übersetzt von: Nadine Erler Covergestaltung: Dream Design – Cover and Art unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © mexrix shutterstock.com: © LeManna, © Erik Laan, © djgis periodimages.com: © Mary Chronis, VJ Dunraven Productions Korrektorat: Susanne Meier
E-Book-Version 27.09.2023, 11:33:37.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Mont Claire Estate, Hampshire, 1872
Pippa Hargrave drohte das Herz zu brechen. Als sie hörte, dass die Cavendish-Zwillinge an diesem Nachmittag so früh aus dem Klassenzimmer geschickt worden waren, rannte sie über das Anwesen von Mont Claire. Sie wusste, sie würden nach draußen gehen und sich in ihrem Heckenlabyrinth verstecken.
Ihr Vater, Charles Hargrave, stand an einem Tisch und labte sich an kaltem Huhn und Salat, als sie durch die Küchentür hereinplatzte. Jetzt blickte er auf.
„Was ist los, Kleines?“ Um seine Augen bildeten sich freundliche Fältchen und er kniff ihr mit seinen behandschuhten Fingern liebevoll in die Nase. „Wohin so eilig?“
Neben ihrer Mutter Hattie stand eine elegante Romafrau und würzte die Suppe im Kessel mit Kräutern.
„Du hattest es schon eilig, auf die Welt zu kommen, Pip“, sagte Serana herzlich. Sie gebrauchte wie der ganze Haushalt den Spitznamen, der aus ihrem Mund seltsam klang. Hattie sagte, das sei ihr karpatischer Akzent. „Kein Wunder, dass du nun auch durch die Welt eilst.“
Man hatte Pippa gesagt, dass sie Serana ihre Existenz verdankte, denn ihre Eltern hatten jahrzehntelang vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Dann hatte Serana Hattie einen Trank gegeben und sie war sofort mit Pippa schwanger geworden. Pippas Vater, der Butler auf Mont Claire und elf Jahre älter als Hattie, war so alt wie die Großväter der meisten Kinder. Er behandelte seine Tochter wie seinen Augapfel.
„Ich gehe Declan Chandler suchen.“ Pippa wollte nach draußen.
„Ich glaube, ich habe gesehen, dass er den Springbrunnen sauber gemacht hat, als ich hereingekommen bin“, sagte Serana mit einem kleinen Zwinkern.
„Oh nein, dann muss ich ihm helfen“, klagte Pippa dramatisch. „Er hasst es so, den Springbrunnen zu säubern, er hat Angst davor. Aber er ist so mutig, dass er es nicht sagt.“ Sie seufzte, weil er so mutig war, und schloss die Augen, um seine ritterliche Tapferkeit angemessen zu würdigen.
„Meine Tochter ist vernarrt.“ Hattie strich mit ihrer warmen Hand über Pippas Wange und gab Serana eine Kelle.
Pippa rümpfte die Nase. Ver- was?
„Dieser Declan Chandler hat die Seele eines Tigers“, sagte Serana. „Und du, Pip, hast die eines Drachens.“
„Es gibt keine Drachen“, erklärte Pippa ihr kichernd.
„Nicht?“, fragte Serana mit einem belustigten Zwinkern. „Ich war schon in vielen Orten, in denen man dir nicht recht geben würde.“
„Hast du Pfefferminzbonbons in der Tasche?“ Pippa wandte sich an ihren Vater und war schon dabei, sein Wams zu durchsuchen. Declan liebte Pfefferminzbonbons. Nach der Brunnensäuberung war er immer so blass und schlecht gelaunt, aber Pfefferminzbonbons heiterten ihn auf und brachten ihn zum Lächeln – dem Lächeln, bei dem sie immer Schmetterlinge im Bauch hatte.
„Himmel, die müssen irgendwo sein.“ Charles durchsuchte alle seine Taschen mehrmals, dann förderte er eine Handvoll Bonbons für die Kinder zutage.
Pippa schnappte sie sich und teilte sie auf. Eins für Fernand, eins für Francesca und eins für sich selbst. Die beiden letzten reservierte sie für Declan. Er hatte mehr verdient.
Sie küsste ihren Vater auf die Wange und hüpfte zur Tür. Dann rannte sie über den Rasen, der von prächtigen Lebensbäumen gesäumt war, und eilte zu dem Jungen, dem ihr Herz gehörte. Declan Chandler war, als er vor ein paar Jahren auf den Stufen von Mont Claire gestrandet war, so klein gewesen wie sie und außerdem viel zu dünn, schmutzig, verfroren und halb verhungert.
Er aß so viel, dass es für ein Pferd gereicht hätte, und blieb trotzdem mager. In letzter Zeit konzentrierte Pippa sich nicht mehr auf die Fibeln, die Francesca sie lesen ließ, sondern erging sich in albernen Träumen von Declan Chandler. Heute hatte sie einen großen Teil des Nachmittags damit verbracht, an ihrem Bleistift zu kauen und bröselige Bissspuren zu hinterlassen. Derweil hatte sie darüber gegrübelt, wie passend der Ausdruck „wie vom Blitz getroffen“ war. Endlich wusste sie, wie sie die Wirkung beschreiben konnte, die der Hausdiener auf sie hatte. Sie lief durch die prächtigen Gärten, die in voller Blüte standen, und eilte dann durch das Heckenlabyrinth, dessen Wege sie längst auswendig kannte. Sie erreichte den Mittelpunkt mit dem Springbrunnen und ihr bot sich ein Anblick, bei dem ihr das Herz brach. Declan stand bis zu den Knien im Brunnen, seine Haut war von Tröpfchen übersät, die über seine mageren und doch muskulösen Arme liefen. Es sah aus, als wäre einer der Marmorgötter lebendig geworden.
Und Francesca Cavendish steckte ihm ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Das Lächeln, das er ihr schenkte – das Pippa hätte gelten sollen –, überstrahlte beinahe die Mittagssonne. Er sagte etwas, das Pippa nicht hören konnte, strich Francesca eine glänzende Strähne ihrer herrlichen roten Mähne hinters Ohr und küsste ihr die Hand mit sehr viel mehr Ehrerbietung, als der Tochter des Hauses zustand und die nicht mehr ganz unschuldig wirkte … sondern interessiert.
Der Springbrunnen spie immer noch Wasser aus den Hörnern des Satyrs und den Mündern und Körben verschiedener Götter und Göttinnen. Das Sonnenlicht brach sich in Regenbogenfarben auf den versprühten Tropfen.
Pippas Herz krampfte sich zusammen. Ihre Hände wurden kalt und feucht, ihre Kehle war ausgedörrt und ihr Magen schwer wie Blei.
Der dreizehnjährige Declan war für Pippa die Verkörperung der Schönheit. Jetzt schaute sie Francesca an, um zu erkennen, was Declan vielleicht in ihrer Freundin sah. Eine schmale, perfekte Nase in einem herzförmigen Gesicht. Schlank, auch für ein Mädchen, das kurz davor war, eine Frau zu werden, und anmutiger, als ein Kind sein sollte. Wallendes rotes Haar und scheu blickende Augen, deren Farbe an ein Meer im Sturm erinnerte – blau oder grün, aber überwiegend grau.
Pippa sah passabel aus, hatte ein rundes Kindergesicht und eine Vorliebe für einen Nachschlag beim Essen. Ihre Schönheit, sagte ihre Mutter, liege in ihren grünen Augen. Diese Augen brannten jetzt und ihre Kehle schmerzte so, dass sie kaum atmen konnte.
War Declan – ihr Declan – in Francesca Cavendish, ihre beste Freundin auf der Welt, verliebt? Konnte das Schicksal so grausam sein? Gab es etwas Schlimmeres als diesen nagenden Schmerz? Nein, erkannte sie. Nein, es konnte keinen schlimmeren Schmerz geben. Wie konnte er blind dafür sein, dass sie die Richtige für ihn war?
Francesca steckte ihre schönen Schuhe nicht in den Brunnen, aber Pippa watete oft neben Declan durch das Wasser, auch wenn es ihr bis zu den Ellbogen reichte – alles nur, damit er schneller fertig wurde und sie spielen konnten. Wenn die Melancholie ihn überkam, warfen sie sich matschige Moosbüschel an den Kopf und lachten und kreischten, bis sie Seitenstechen hatten. Francesca würde sich nicht dazu herablassen, ihre Kleider schmutzig zu machen. Sie konnte es nicht, denn sie würde eines Tages eine Dame sein.
Pippa brauchte keine Dame zu werden. Sie würde eine Frau werden. Declans Frau. Das hatte sie schon lange beschlossen. Ungeachtet dessen, was ihre Eltern sagten, konnte niemand jemanden so unerwidert lieben.
Die Götter des Springbrunnens würden es nicht zulassen. Und doch waren die beiden da … Declan und Francesca … und hatten nur Augen füreinander.
„Es kommen Reiter den Weg hinauf“, rief Fernand, Francescas Zwillingsbruder. Er thronte oben in der Krone der Esche auf der anderen Seite des Irrgartens.
Mama hatte Pippa gesagt, dass Fernand seit seiner Geburt zu wenig Luft bekam und an einer Krankheit namens Asthma litt. Deshalb schimmerten die Adern durch seine Haut und seine Lippen waren oft bläulich verfärbt. Trotzdem war er ein wunderbarer Junge und da Pippa keinen Bruder hatte, war Fernand ihr bevorzugter Partner für Abenteuer. Er hatte ihr einmal versprochen, dass er sie zur Gräfin machen würde, wenn er alt genug wäre. Sie hoffte, dass er damit keine Ehe meinte, denn sie würde natürlich Declan Chandler heiraten. Davon war sie felsenfest überzeugt. Sie würde Mrs. Chandler werden und übte sogar schon die Unterschrift.
„Erwarten wir Besuch?“, fragte Francesca.
„Es sind zu viele Leute für einen Besuch.“ Fernand krümmte die Finger und tat so, als sähe er durch ein Fernglas. „Vielleicht zwanzig!“
„Es gehört sich nicht, mit zwanzig Leuten aufzutauchen und sich nicht einmal anzumelden.“ Francescas Mund verzog sich zu einem hübschen Schmollen. „Mrs. Hargrave wird so spät nicht noch so viele belegte Brote machen!“
Pippa schaute von Francesca zu Declan und sah an seinem Stirnrunzeln, dass er sich Sorgen machte.
„Vielleicht solltest du mit Pip zu Mr. und Mrs. Hargrave gehen und ihnen Bescheid sagen“, sagte er und half Francesca vom Rand des Brunnens. „Sie wissen schon, was zu tun ist.“
„Ich gehe den Reitern entgegen und begrüße sie“, erklärte Fernand. Er war von seinem Ausguck heruntergeklettert und wollte sich auf den Weg machen.
„Fernand, lass das lieber.“ Declan ließ Francesca los und blinzelte Pippa zu, dann folgte er dem künftigen Earl of Mont Claire. „Erst müssen wir wissen, wer sie sind.“
Trotz ihres Kummers nahm Pippa ihre Freundin bei der Hand und lief mit ihr Richtung Haus. Francesca war so ein Schatz. Immer lieb und nett. Und damenhaft. Alles, was Pippa nicht war. Aber sie würde versuchen, es für Declan zu sein, falls er es wollte. Sie rannten ein paar Meter wortlos nebeneinander her, dann konnte Pippa sich die Frage nicht mehr verkneifen: „Bist du in Chandler verliebt?“
„Was?“ Francesca lachte.
„Ich glaube, er liebt dich“, brummte Pippa.
„Ich bin ein bisschen in ihn verliebt. Er sieht doch ganz gut aus, nicht wahr?“ Francesca drückte ihr die Hand. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich würde nie etwas mit ihm anfangen.“
Plötzlich hatte Pippa das absurde Bedürfnis, ihn zu verteidigen. „Und warum nicht? Er ist mehr als gut genug.“
Francesca zog an ihrem Arm, damit sie langsamer wurde, und sah sie an. „Weil ich dich lieb habe, Pip. Ich würde dich nie hintergehen.“
Pippa stürzte auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Ich habe dich auch lieb“, sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung.
„Außerdem würde Vater nie erlauben, dass ich jemanden heirate, der nicht mindestens Viscount ist“, jammerte Francesca.
George Cavendish, der Earl of Mont Claire, war ein ausgemachter Snob.
Pippa schaute Francesca über die Schulter. Vom Rasen aus, der zum Haus hin leicht abfiel, sah sie die Männer trotz der Entfernung ganz deutlich. Sie beugten sich tief über die Hälse ihrer Pferde. Alle waren dunkel gekleidet, die Gesichter nicht zu erkennen – oder maskiert?
Fernand war schon fast bei ihnen und gestikulierte heftig zur Begrüßung. Dann blieb er stehen, schnappte nach Luft und war wohl der Meinung, dass er sich genug verausgabt hatte; schließlich waren die Männer ja nicht mehr weit weg.
Die Männer wurden nicht langsamer, als sie näher kamen. Die gnadenlosen, trommelnden Hufe wirbelten Erdklumpen auf. Nein. Sie würden doch nicht … sie hatte bestimmt Halluzinationen … Wie betäubt wartete Pippa darauf, dass die Reiter anhalten würden. Warum taten sie es nicht? Fernand stand doch direkt vor ihnen!
Sie fuhr mit einem Schrei herum und schloss die Augen vor dem, was sie schon mitangesehen hatte. Sie brachten ihn um! Ungläubiges Entsetzen lähmte sie. Sie hatten ihn umgebracht und galoppierten einfach weiter. Und das hieß, dass sie als Nächste dran waren.
„Lauf“, hauchte Pippa, nahm Francesca bei der Hand und rannte in Richtung Haus. „Schau dich nicht um!“ Ihre Freundin sollte den verstümmelten Körper ihres Zwillingsbruders nicht sehen.
Pippa würde diese Szene nie vergessen. Sie rannten über den Rasen zur Küchentür und hechteten hinein, gerade als die Marodeure sich in vier Gruppen maskierter Schreckgestalten aufteilten, um das Herrenhaus zu umzingeln.
„Fernand!“, schrie Pippa, als ihre Mutter sie und Francesca in die Arme schloss. „Sie … sie … die Pferde!“ Ihr blieben die Worte im Hals stecken, sie erstickte fast an ihrem Schluchzen. Es war unvorstellbar. Unaussprechlich. Was geschah hier? Wer konnte solche Grausamkeiten begehen?
„Atme erst einmal tief durch und erzähl mir, was passiert ist“, sagte Hattie beruhigend. „Serana ist nach draußen gegangen und dein Vater sieht nach, was los ist. Er hat alle Diener mitgenommen und …“
Die Tür zur Küche flog auf und knallte so heftig an die Wand, dass das Glas ihres Fensters zersplitterte. Große, finstere Männer strömten herein.
„Hier sind nur Frauen und Kinder“, sagte ein dunkel gekleidetes Ungeheuer mit einem roten Tuch vor dem Gesicht. Er sprach den londoner Dialekt.
Ein dickerer Mann mit amerikanischem Hut schien das Kommando zu haben. „Sie haben gesagt: Keine Zeugen!“
Er trat einen Tisch beiseite und zog ein Messer aus dem Gürtel, das größer war als alle ihre Küchenmesser.
Hattie schubste die beiden Mädchen hinter sich und griff nach ihrem Hackmesser. „Lassen Sie die Kleinen in Ruhe!“ Sie fuchtelte mit der Klinge herum wie mit einem erhobenen Zeigefinger. „Wir haben nichts gesehen. Wir können einfach gehen und Sie hören nie wieder von uns. Hauptsache, Sie tun den Mädchen nichts.“
„Das Problem ist“, säuselte der Amerikaner hinter seiner Stoffmaske, „wir können das Mädchen da nicht am Leben lassen.“
Er wies mit seiner Klinge auf Francesca. Sie wimmerte, dann entleerte sich ihre Blase – der Urin lief ihr die Beine hinunter und breitete sich in einer Pfütze auf dem Boden aus.
Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stieß Hattie Francesca und Pippa durch die Tür in Richtung Dienstbotentrakt. „Macht, was ihr wollt – bleibt nur am Leben. Bleibt am Leben! Verschwindet aus diesem Haus!“ Sie knallte die Tür zu und schloss sie hinter ihnen ab.
Diesmal lief Pippa nicht nur vor den Männern weg, sondern sie floh auch vor den Lauten, die ihre Mutter von sich gab, als sie um ihrer aller Leben kämpfte, und den Schreien, die sie ausstieß, als sie scheiterte.
Pippa konnte die Dienstbotentreppe durch ihre Tränen nur verschwommen sehen und fiel hin, als sie nach oben stolperte. Eine Tür auf der Hauptetage führte zu einem kleinen kellerartigen Raum. Der Ofen darin wärmte das Haus. Declan hatte ihr ein Kohlenlager gezeigt, das nach draußen führte. Es war wahrscheinlich nicht bewacht. Wenn sie dort hingelangten, konnten sie vielleicht ungesehen in den Wald flüchten, es war nicht weit. Im Wald konnten sie ihre Verfolger abschütteln. Die Kinder von Mont Claire hatten ihr ganzes Leben damit verbracht, durch Höhlen zu schlüpfen, sie hatten Wurzelsysteme aus grauer Vorzeit untersucht und Bäume erklommen. Pippa bahnte sich und Francesca einen Weg durch Gewalt und Chaos. Ihre Hände waren schweißnass, doch sie klammerten sich fest aneinander. Die Worte ihrer Mutter wurden zum Mantra, sie hämmerten in ihrem Kopf, stachen ihr ins Herz, doch sie gaben ihr auch die Kraft zum Laufen. Leben. Leben. Raus aus diesem Haus.
Die Heftigkeit, mit der Francesca aus Pippas Klammergriff gerissen wurde, brachte sie fast selbst aus dem Gleichgewicht. Sie fuhr herum und sah den Amerikaner mit dem weißen Cowboyhut. Er setzte ihrer besten Freundin ein Messer an die Kehle. Francesca Cavendish, die grauen Augen schreckgeweitet, war der letzte Mensch, der Pippas Namen sagte … Und es war ihr letztes Wort. Die Klinge blitzte auf und Pippa rannte davon. Ein Schrei durchschnitt die Luft, ohrenbetäubend, nervenzerfetzend. Er übertönte die Schreie, die Pippa verfolgten.
Konnte niemand diese Männer aufhalten? Würden sie wie die Termiten durch das Haus schwärmen und alles Leben vernichten? Pippa musste entkommen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte durch die Halle, doch ein anderer maskierter Mann hielt sie auf, bevor sie den Kohleraum erreichte.
„Schnappt euch die kleine Schlampe!“, befahl der Amerikaner.
Pippa machte einen Satz zur Seite, stolperte durch einen schmalen Korridor und fand sich in einer großen Marmorhalle wieder. Der Schrei gellte ihr immer noch in den Ohren. Sie stürmte durch Hallen, stolperte blindlings durch Türen und sprang über die Leichen der Menschen hinweg, die sie ein Leben lang gekannt hatte. Sie war dankbar für ihre Tränen, denn die verschleierten den schrecklichen Anblick, der sich ihr bot – Gemetzel, Blut und Gesichter mit toten Augen. Die Leichen derer, die sie geliebt hatte.
Ein Mann packte sie am Zopf und zerrte so heftig daran, dass sie das Gleichgewicht verlor. Es war nicht der Amerikaner, sondern ein anderer Feind, kleiner, aber mit einem ebenso furchterregenden Messer. Er hob es über den Kopf und ließ die Klinge in unmissverständlicher Absicht auf ihre Brust niedersausen.
Ein Schlachtruf ertönte. Declan Chandler sauste aus dem Arbeitszimmer und zog dem Mann einen Feuerhaken über den Kopf. Er schlug immer wieder zu, auch noch, als der Mann schon wie ein gefällter Baum zu Boden gegangen war. Declan drosch blindlings drauflos und in seinen Augen funkelte eine Wut, die Pippa nicht verstand. Nach dem fünften Hieb schleuderte Declan den Feuerhaken auf den zertrümmerten Schädel des Mannes und packte Pippa. Er hielt ihr den Mund zu und der Schrei, der sie verfolgt hatte, verstummte auf wundersame Weise.
Halb zog, halb trug Declan sie durch das Arbeitszimmer und in die Bibliothek von Mont Claire, ein zweistöckiges Ungetüm mit mehr Büchern, als man zählen konnte. Sie kam nicht dazu, sich zu widersetzen oder zu fragen, was er tat, so sehr weinte sie. Declan schleifte sie zum Kamin, der so riesig war, dass eine kleine Pächterfamilie darin hätte wohnen können, und legte einen Finger auf die Lippen.
„Wenn du nicht still bist, bringen sie uns beide um, verstehst du?“
Sie nickte. Er nahm die Hand von ihrem Mund und packte sie an den Handgelenken. Dann starrte er entsetzt auf die Blutflecken auf ihrer Haut und den weißen Ärmeln. „Pip, bist du verletzt?“
Sie schüttelte nur den Kopf, denn ihr fehlten die Worte für das Schreckliche.
„Was ist das?“, hakte er nach. „Wessen Blut ist das?“
Francesca. „Meins nicht“, war alles, was sie herausbrachte.
Schritte schwerer Stiefel und wütende Rufe klangen in der großen Marmorhalle wider. Ein Geschwader von Männern drohte sie zu entdecken.
„Hierhin“, flüsterte er und schob sie den Schornstein hinauf. Dann folgte er ihr. Ruß und Schmutz rieselten auf sie herab, als sie den breiten Zylinder hinaufkletterten. Es war so eng, dass Pippa fürchtete, sie würden nicht wieder hinauskommen,trotzdem machte sie sich so klein wie möglich und kauerte sich zusammen. Die rauen Wände schürften ihre Arme und ihren Rücken auf und zerrten an dem groben Stoff ihres Kleides und ihrer Strümpfe. Declan spreizte die Beine unter ihr, damit sie so etwas wie einen Sitz hatte, und hielt sie beide mit einem Arm im Gleichgewicht. Den anderen schlang er um sie. Pippas Brust brannte von der Strapaze und vor Kummer, ihr war, als würde ihre Lunge bersten. In dem finsteren Schornstein konnte sie nichts sehen, nur fühlen – und hören. Männerstimmen, die erst aufgeregt und dann wütend klangen, als sie zu der Leiche in der Halle kamen. Sie suchten das Arbeitszimmer und die Bibliothek nach dem Störenfried ab.
Als sie sich dem Kamin näherten, wurden Pippa die Knie weich. Declan ahnte es offenbar, denn er zog sie an sich und hielt sie fest an sich gedrückt. Auch er zitterte, ob vor Angst oder Anstrengung, wusste Pippa nicht. Sein Herz hämmerte an ihrem Ohr und verscheuchte alle anderen Gedanken und Geräusche. Sie hielt den Atem an, wenn Declan es tat. Wenn sie alles verlieren sollte, blieb ihr immer noch dieser Junge. Dieser Herzschlag. Sie hatte immer gewusst, dass er die Kraft und Güte eines mythischen Helden besaß. Jetzt würden es alle erfahren. Weil er sie gerettet hatte.
Pippa wusste hinterher nicht mehr, wie lange sie so ausgeharrt hatten. Vielleicht Minuten, vielleicht Stunden. Doch als die Männer weiterzogen und eine beängstigende Stille eintrat, flüsterte Declan ihr ins Ohr: „Fernand …“, sagte er und seine Stimme brach vor Kummer. „Hast du es gesehen? Hast du gesehen, was sie getan haben?“
Pippa nickte und wünschte, sie würde nicht mehr vor sich sehen, wie der winzige Körper sich wand.
„Was ist mit Francesca, ist sie … hat sie es geschafft?“ Wieder ließ die Verzweiflung ihr den Atem stocken und sie unterdrückte ein paar Schluchzer, dann begriff sie, dass sie nicht antworten konnte. Sie brauchte es auch gar nicht. Die Spannung in seinen zitternden Muskeln und sein unterdrücktes Schluchzen sagte ihr, dass Declan es begriffen hatte.
„Wo … wo ist mein Papa?“ Pippa wusste, dass ihre Hoffnung albern war. Denn ihr Vater hätte sie nie zurückgelassen. Nicht einmal, um sein eigenes Leben zu retten.
Declan schwieg einen Moment, und als er endlich antwortete, war seine Stimme heiser. „Dein Vater … sie … sie haben ihn erstochen. Es ging schnell. Es … es tut mir leid. Er hat mir aufgetragen, dich zu finden.“
Eine scharfe Klinge aus Schmerz durchfuhr sie und stach ihr ins Herz. „Bin ich jetzt ein Waisenkind?“, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf ihn.
„Ja.“
„Wie erträgst du es?“
Er schlang den Arm um sie und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. „Das kann ich dir nicht erklären. Für mich war es anders.“
„Warum?“
„Weil – weil ich keine guten Eltern verloren habe, Pip … Sie waren nicht so wie deine.“
Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg. „Ich dachte sowieso nie, dass deine Eltern gut wären.“
Er verzog das Gesicht. „Ich habe doch nie ein Wort über sie verloren.“
„Aber du warst schon traurig, als du hierhergekommen bist. Eine Traurigkeit, die immer noch da ist … und vielleicht nie verschwindet.“
Seine Augen füllten sich mit Tränen und er schloss sie. „Pip … Diese Traurigkeit wird nie vergehen. Aber …“ Er hielt inne. Erstarrte. Sog die Luft ein. „Riechst du das?“
Sie schnupperte. Etwas brannte.
Sie sahen nach unten in den leeren Kamin. Kleine Rauchwölkchen ringelten sich empor und waren im einfallenden Licht deutlich zu sehen.
„Verdammt noch mal“, fluchte er. „Sie haben das Haus angezündet!“
„Was?“, rief sie. „Warum?“
„Wahrscheinlich, um ihre Verbrechen zu verschleiern. Um die Leichen zu verbrennen.“ Er schob sie zurück. „Kannst du allein hinunterklettern, Pip? Wir müssen hier raus.“
Sie klammerte sich verzweifelt an ihn. „Verlass mich nicht“, rief sie. Konnten sie nicht für immer hier in der Stille bleiben? Konnte sie nicht einfach seinem Herzschlag lauschen, bis sie Frieden fand?
„Warum ist das passiert?“, jammerte sie.
„Ich weiß nicht, Pip“, sagte er sanft. „Ich weiß nur, dass wir hier heraus müssen. Jetzt. Komm mit. Und was auch passiert, lass mich nicht los, ja?“
„Das tue ich nicht“, schwor sie. „Nie!“
Sie klammerte sich an ihn und er bahnte ihnen den Weg durch Zimmer voller Schätze und Erinnerungen, die sie verwahren würde. Der Rauch kam aus allen Richtungen. Er führte sie durch die Halle zum Kohlenraum. Die Luft war zum Ersticken. Francescas kleiner Körper war aus der Halle verschwunden, doch Pippa fiel vor der Blutlache auf die Knie und konnte ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken.
„Komm, Pip!“ Declan packte sie. „Ich weiß, ich weiß, aber wir müssen gehen. Dafür haben wir später Zeit. Ein Leben lang.“
Pippa ließ sich von ihm hochziehen und stolperte hinter ihm her. Sie schlängelten sich durch den Kohlenraum. Pippa schnappte sich ein paar Tücher von einem Regal, mit denen sie ihren Hustenreiz unterdrücken konnten. Sie sprang von einem Fuß auf den anderen und Declan krabbelte durch die Kohlentür. Er vergewisserte sich, dass die Luft rein war, dann fasste er hinter sich und zog sie heraus. Der Rauch war insofern ein Segen, da er sie davor schützte, gesehen zu werden, als sie in Richtung Wald rannten. Jedenfalls glaubte Pippa, dass das der Fall sei, doch dann verriet ein Schrei, dass man sie entdeckt hatte.
Declan stieß einen Schwall von Flüchen aus, die Pippa noch nie gehört hatte, und zerrte sie zwischen die Bäume. Der erste Schuss knallte und ein Schauer von Rinde rieselte auf sie herab. Sie rannte, so schnell ihre Kräfte es zuließen. Ihre Lungen brannten und es fühlte sich an, als würden ihre Beine jeden Augenblick unter ihr nachgeben, doch sie rannte weiter.
Es knallte noch ein Schuss und schreckte die Vögel und andere Tiere in den Wäldern von Mont Claire auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Bein und sie fiel mit solcher Wucht hin, dass sie sich Hände und Knie aufschürfte. Sie war so außer Atem, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte.
Declan hockte sich neben sie und rief ihren Namen.
„Mein Bein“, zischte sie.
Er sah in Panik nach und atmete erleichtert auf. „Pip, es ist nur ein Streifschuss“, versicherte er ihr. „Kannst du gehen?“
Pippa nickte und wischte sich die Tränen weg, die auf ihren Wangen brannten. Wenn er tapfer war, würde sie es auch sein. Doch die Wade knickte unter ihr weg und sie fiel mit einem Stöhnen zu Boden.
Declan sah sich um und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er hörte, dass die Männer durch das Unterholz kamen.
„Hierhin.“ Er zog sie eine Schlucht hinunter und schob sie zwischen die Wurzeln eines ihrer Lieblingsbäume. Dann bedeckte er das Ganze mit abgefallen Zweigen und anderem Geröll. „Leg dieses Blatt auf dein Bein und drück drauf, dann blutet es nicht so sehr.“
„Komm mit rein.“ Pippa rückte zur Seite und machte ihm Platz.
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. Ganz in der Nähe ertönte ein beunruhigendes Geräusch. „Du bleibst hier. Ich lotse sie weg.“
„Das kannst du nicht machen!“ Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Sie werden dich finden!“
Er beugte sich zu ihr, schob sie noch tiefer unter den Baum, und sein Blick war beängstigend ernst. „Du bist hier sicher. Und ich überlebe immer am besten, wenn ich allein bin. Vertrau mir einfach.“
Sie hatte noch nie jemandem so sehr vertraut. Sie küsste ihn – mitten auf den Mund. Ihre Lippen trafen sich verzweifelt, gemischt mit Tränen und Asche.
„Ich liebe dich“, sagte sie heftig.
Er blinzelte und öffnete den Mund, doch dann lenkte ihn ein Poltern zu ihrer Rechten ab. Und weg war er. Schritte folgten ihm dicht auf den Fersen, Pippa kauerte sich zusammen und hielt sich den Mund zu. Mehrere Schüsse im Dunkeln ließen sie zusammenfahren, dann hallte ein siegesgewisser Schrei im Wald wider. Der Amerikaner rief nach seinen Kameraden. Mehrmals dachte Pippa daran, hinzugehen und sich auf seine Leiche zu werfen, doch sie war vor Schmerz und Angst wie gelähmt. Also blieb sie in ihrem Versteck inmitten der Wurzeln des Baumes und schluchzte lautlos vor sich hin.
Schließlich raschelten die Blätter und ein dunkles, geliebtes Gesicht kam zum Vorschein. Serana. Mit einem verzweifelten Laut warf Pippa sich ihr in die Arme und vergrub das Gesicht an der Schulter der drahtigen Romafrau.
„Ich weiß.“ Serana strich ihr übers Haar. „Wir müssen fliehen. Jetzt.“
„Aber Declan!“, jammerte Pippa.
„Liebling, sie haben ihn umgebracht. Sie … haben ihm in den Rücken geschossen.“
Seranas braune Augen leuchteten milde im gedämpften Licht der Flammen. Pippa ließ sich von der Frau wegtragen und auf ein Pferd setzen, das in der Nähe stand. Ihre Lungen schmerzten und in ihrem Bein pochte es, doch das war nichts gegen die Qual ihrer Seele. Sie hockte zusammengesackt da, als die starke Frau sich ebenfalls auf das Pferd schwang und breitbeinig wie ein Mann im Sattel saß.
Sie saßen auf dem nervösen Pferd und sahen zu, wie die Flammen ihre Kindheit auffraßen. Alle, die sie kannte und liebte, waren in dem Haus. Sie dachte daran, wie sie alle verbrannten, an die verschiedenen Tiere, die ihre Mutter gebraten hatte, und daran, was mit dem Fleisch geschah, wenn die Flammen es anleckten. An das Zischen des Bratensaftes und das Kräuseln der Haut.
Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
„Warum?“, flüsterte sie mitten in einem Nebel aus Schmerz und Wut. „Warum habe nur ich überlebt und niemand sonst?“
Seranas Griff wurde fester. „Vielleicht hast du gar nicht überlebt.“ Ein leichter Wind seufzte in den Bäumen, als würde er Anlauf nehmen. Der Geruch von Entscheidungen und Schicksal lag in der Luft. „Vielleicht … ist Pippa Hargrave mit ihren Eltern in den Flammen umgekommen und nur Francesca hat überlebt. Die Erbin des Cavendish-Titels und -Vermögens. Die der Tragödie entronnen ist und genug Geld hat, um etwas zu unternehmen.“
Pippa drehte sich um, starrte Serana an und fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. „Ich bin nicht wie Francesca. Sie war … zart.“
„Zart ist ein anderes Wort für schwach. Du bist nicht schwach. Ich wusste schon in dem Augenblick, in dem ich dir auf die Welt geholfen habe, dass du Feuer im Herzen hast wie ein Drache. Ich ahnte nur nicht, dass das Feuer hier entzündet werden würde, mit einer solchen Tragödie.“ Ein sonderbares Licht blitzte in Seranas Augen auf, als sie Pippa ansah. „Du hast überlebt, weil die Untaten dieser Nacht eine Zeugin brauchten. Weil es dir bestimmt ist, deinen ermordeten Lieben Gerechtigkeit zu verschaffen.“
„Aber … ich bin doch nur ein Mädchen.“
Serana stieß einen Seufzer aus, in dem all die abgrundtiefe Traurigkeit mehrerer Leben lag, die sie in ein paar Jahrzehnten durchgemacht hatte. „Ich glaube, du bist nicht mehr nur ein Mädchen. Und wenn du willst, finde ich Menschen, die dich lehren, eine Frau zu werden, die für Gerechtigkeit sorgen kann.“
„Ich weiß nicht, was Gerechtigkeit bedeutet“, flüsterte Pippa unter Tränen.
„Und Rache? Verstehst du das?“
Pippa ließ sich das Wort durch den Kopf gehen. Rache. Es entzündete einen Funken in ihr, der von Verlust und Kummer zu einem lodernden Feuer angefacht wurde. Vergeltung. Es hieß, dass alle, die für die Ereignisse der Nacht verantwortlich waren, brennen würden. Ihren schlimmsten Zorn würde sie sich für denjenigen sparen, der ihr Declan Chandler genommen hatte.
London, 1892. Zwanzig Jahre später
Lady Francesca Cavendish betrachtete den nackten Mann, der sich auf dem Bett rekelte, mit Abscheu. Dieses Stelldichein würde ihr ewig nachhängen. Die oberen Zehntausend würden außer sich sein. Warum gibt sich eine Frau wie sie – jung, reich und mit Titel – mit einem widerlichen alten Sack wie Lord Colfax ab?, würden sich die Leute fragen. Hatte sie es wirklich so nötig? War sie zu unvorsichtig? Würden ihre Feinde erraten, was sie vorhatte?
Francesca runzelte die Stirn, rollte mit den Augen und zog noch ein paar Nadeln aus ihrer Frisur. Sie begutachtete ihre Erscheinung in dem vergoldeten Spiegel von Lord Colfax’ Schlafzimmer. Sie durfte gern aussehen wie eine unverheiratete Frau, die lockere Moralvorstellungen hatte und eine Nacht zügelloser Lust genossen hatte. Jedoch nicht die Art von Nacht, von der andere unglückliche Frauen berichtet hatten.
Er war ein berüchtigter Schürzenjäger. Ruinierte die Kleider und den Ruf von Frauen. Nutzte sie aus und tat noch Schlimmeres. Ein Mann, der verdiente, was er bekommen würde. Sie schürzte die Lippen und stieß einen ungeduldigen Seufzer aus.
Was konnte sie an ihrer Erscheinung ändern, damit die Täuschung glaubwürdiger wirkte? Ihr goldenes Mieder hing in Fetzen herab, die Schnüre waren zerrissen. Ihr Rock lag wie ein Meer aus Seide auf dem Teppich und eins ihrer Strumpfbänder war verschwunden. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, die Hälfte der Nadeln fehlte. Ihre Haare waren immer widerspenstig gewesen und nun waren ihre Locken mehr als nur ein bisschen zerzaust. Aber trotzdem … es sah nicht richtig aus. Sie sah nicht richtig aus. Sie strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn und zuckte mit den schmalen Schultern.
Der alte Colfax würde es wahrscheinlich nicht merken. Männer bekamen ja ohnehin nichts mit. Sie glaubten jeden Unsinn, solange er Nahrung für ihr Ego gab, das meistens ohnehin schon über Gebühr aufgebläht war.
Aber … wie konnten sie ihre Täuschung nicht durchschauen?
Die Haut einer Frau schimmerte wie Tau, wenn sie Sex gehabt hatte. Ihre halb geschlossenen Augen starrten träumerisch vor sich hin. Ihre Lippen waren oft geschwollen und die Haut um den Mund etwas abgeschürft, als wäre etwas Raues darübergefahren. Zum Beispiel die Bartstoppeln eines Mannes. Manchmal fanden sich diese Spuren auch an anderen Stellen. Dem Hals oder dem Schlüsselbein. Oder noch tiefer.
Francesca versuchte, das brillantharte Smaragdgrün ihrer Augen zu mildern, indem sie verschlafen blinzelte. So wirkte es beinahe wie …
Ein lautes Schnarchen brachte die funkelnden Kristallglasanhänger, die an den Wandfackeln hingen, zum Vibrieren. Sie fuhr herum und untersuchte ihren sogenannten Liebhaber nach Anzeichen von Bewusstsein. Ihr Herz machte ein paar heftige Schläge und drohte, die Gelassenheit zu verlieren, die sie ihm anerzogen hatte.
Lord Colfax war größer als die meisten Männer, mit denen sie dieses Spiel spielte. Nicht direkt hochgewachsen, aber breit und stämmig, stark trotz fortgeschrittenen Alters. Nur wenige Männer waren in den Fünfzigern noch so rüstig, doch er gehörte ja auch einer mächtigen und korrupten Gesellschaft an. Ein Mann mit vielen Feinden. Man durfte ihn nicht für schwach halten. Sein Mund klappte auf und ließ abstoßende, schiefe Zähne sehen, die von allen erdenklichen Lastern verfärbt waren.
Francesca schluckte ihren Ekel hinunter und schlich zum Bett zurück. Ihr Spiegelbild sah nie so aus, wie es sollte, egal, wie sehr sie ihre Haut rieb und sich auf die Lippen biss. Es gelang ihr nie, so zu tun, als wäre sie befriedigt worden. Denn es war nie der Fall gewesen. Sie hatte auch gar keine Zeit und Lust dazu. Bei Lord Colfax musste sie nicht einmal so tun, als sei er gut gewesen, denn Männer wie er dachten nur an ihre eigene Befriedigung.
Sie musste ihn überzeugen, dass sie eine Nacht voller Ausschweifungen miteinander verbracht hatten und dass er zu betrunken gewesen war, um sich zu erinnern. Ihr Gebräu aus Belladonna, Sennesblättern und ein paar anderen exotischen Kräutern, die Serana nur in der chinesischen Zeltstadt auftreiben konnte, würde innerhalb einer Stunde ihre Wirkung verlieren. Ein paar Tropfen machten einen Menschen schläfrig und empfänglich für Einbildungen. Sie musste ihnen nur etwas ins Ohr flüstern, bevor sie entschlummerten, schon hielten sie es für eine Erinnerung. Und wenn ihre Liebhaber dann schliefen, entdeckte sie ihre Geheimnisse.
Lord Colfax’ Schicksal war schon besiegelt. Sein Geheimnis war unter ihrem Korsett und in ihrem Kopf sicher verwahrt. Ihr Verdacht war richtig gewesen. Er war eine Kröte aus dem Sumpf des Crimson Council, einer geheimen Gesellschaft, über die nur in den finstersten Ecken getuschelt wurde. Ihr Ziel war es, Macht, Geld und Einfluss einzusetzen, um die Welt nach ihren Wünschen zu formen. Und diese Wünsche wurden immer sadistischer. Fleischlich. Und vielleicht verräterisch. Böse genug, um jeden zu massakrieren, den Francesca je geliebt hatte, und Kindern die Kehle durchzuschneiden. Ihr ganzes Leben, jede Entscheidung, die sie getroffen hatte, hatte sie ihrem Ziel – sie zu finden – näher gebracht. Ein alter Hass stieg in ihr auf und sie musste dreimal schlucken, denn er brannte wie eine ätzende Substanz in ihrer Kehle.
Lord Colfax hatte nichts mit dem Massaker von Mont Claire zu tun, doch er hatte andere Verbrechen begangen. Und er erklomm die Leiter innerhalb des Council und stärkte dessen Einfluss mit seinen politischen Kontakten. Unterstützte die Korruption mit seinem guten Namen und Geld wie Heu. Während er von ihrem Trank betäubt gewesen war, hatte Francesca sich in seine Bibliothek geschlichen, in sein Arbeitszimmer und überallhin. Sie hatte seinen Sekretär durchsucht. Sie fand die Dokumente, aus denen hervorging, dass er die Wahl des Londoner Bürgermeisters gefälscht hatte. Doch ein anderer Umschlag brannte förmlich in ihren Händen, denn der war viel wertvoller. Sie hatte ihn aus einer Schatulle unter seinem Bett gestohlen. Es war eine Einladung zu einer Veranstaltung, die in ein paar Wochen stattfinden würde, unterschrieben vom Lord Chancellor persönlich und gestempelt mit einem Siegel, das eine dreiköpfige Schlange zeigte. Wie sie herausgefunden hatte, wurde dieses Siegel nur von der Triade verwendet – den drei Männern an der Spitze des Crimson Council. Jetzt hatte sie den Beweis dafür, dass es diese dreiköpfige Schlange gab.
Und Lord Cassius Gerard Ramsay – der Mann, den ihre beste Freundin Cecelia heiraten würde – hatte der Schlange unwissentlich einen Kopf abgeschlagen, indem er den Lord Chancellor verhaftet hatte. Also blieben noch zwei. Wenn sie nicht schnell genug handelte, würde ein dritter Kopf nachwachsen.
Neben ihr regte sich Lord Colfax. Francesca legte sich in einer Haltung hin, die sie „die entspannte Verführerin“ nannte. Ein Bein angewinkelt, sodass ihr schmaler, cremeweißer Schenkel zu sehen war. Das linke Bein mit der Narbe blieb unter ihrem Rock verborgen. Sie stützte den Kopf in die Hand und blinzelte ihn schläfrig an.
Lord Colfax erwachte von seinem eigenen Schnarchen. Er hob eine Hand, wischte sich einen Tropfen Sabber von seinem graumelierten Bart und sah sie.
„Bei Jupiter, Francesca“, raunte er und räusperte sich. Es klang abstoßend. „Du bist immer noch da.“ Sein Atem war rau und trocken, dabei hatte er nur ein paar Stunden geschlafen.
„Wo sollte ich sonst sein, Liebling?“, flötete sie und schenkte ihm ein träges Lächeln. „Du hast mich völlig ausgelaugt. Ich weiß gar nicht, ob ich noch gehen kann.“
Verwirrt ließ er seine Kinnlade sinken. Er rieb sich die Stirn, aber das half nicht gegen die rasenden Kopfschmerzen, die er haben musste. Senneskraut dehydrierte Männer noch schlimmer als Rotwein. Und sie sorgte dafür, dass sie reichlich davon zu sich nahmen. Dann waren sie beim Aufwachen so schwach, dass sie nichts mehr von ihr wollten.
„Meistens verschwinden sie“, murmelte er vor sich hin. „Sie laufen weinend davon. Bist du sicher, dass wir …?“ Er hob seine Decke hoch und schaute an seinem Körper hinunter. Einem Körper, den sie ausgezogen hatte und der eher wabbelig als sehnig war.
Sie unterdrückte einen Schauder. „Wer weint, Mylord?“, hauchte sie so süßlich, dass ihr beinahe schlecht wurde. „Die Frauen, die nicht das Glück haben, das Bett mit dir zu teilen?“
„Nein.“ Er zog das Wort in die Länge und sah sie seltsam an. Sein Blick war von Übelkeit und Verwirrung verschleiert. „Nein, die Frauen, die das Pech haben, meine Aufmerksamkeit zu erregen.“ Er musterte den Zustand ihres Kleides, ihrer Haare und der Flecken, die er vermeintlich auf ihrem Hals hinterlassen hatte.
„Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen“, sagte sie kühn. „Ich kann mehr verkraften als die meisten anderen Frauen.“ Das stimmte in gewisser Hinsicht. Sie steckte so viel weg.
„Ich … ich habe dir keine Angst gemacht?“, fragte er. „Ich habe dir nicht wehgetan?“
„Nein.“ Sie strich ihm mit dem Finger über die Brust.
„Was für ein Jammer.“ Enttäuschung flackerte in seinen trüben blauen Augen auf. „Dann wundere ich mich, dass ich überhaupt konnte.“ Sein Schwanz war bei dem Gedanken, ihr wehzutun, steif geworden. Er hatte sie an den Armen gepackt, nach oben gezerrt und es gerade noch zum Bett geschafft, dann hatte ihre Mixtur gewirkt.
Francescas kaltes Herz wurde zu einem eisigen Klumpen, der härter war als Stein. Härter als Stahl, vielleicht sogar härter als Diamanten. Wieder schwanden etwas mehr Unschuld und Güte, doch ihre Maske tat es nie. „Nun, Mylord. Sie haben nicht bekommen, was Sie wollten“, sagte sie eisig. „Aber ich schon!“ Sie rollte zur Seite, als er halbherzig nach ihr griff.
„Was redest du für einen Unsinn?“, fragte er.
Francesca rauschte wortlos aus dem Zimmer. Colfax’ Gebrüll folgte ihr die prächtige Treppe hinunter und in die Nacht hinaus. Sie lief durch den Garten und fand im fahlen Mondlicht die Pforte, an der Seranas Mann Ivan mit der Kutsche wartete.
Er zog den Hut und sie erwiderte den Gruß. Sobald sie eingestiegen und in Sicherheit war, zog sie die Dokumente aus dem Ausschnitt und überflog sie atemlos.
Sie wusste, wo die anderen Anführer des Crimson Council sein würden. Sie würde vielleicht einen von ihnen berühren … mit ihm tanzen. Ihn verführen und zerstören. Ihre Hände zitterten. Jetzt hatte sie sich auf das Spiel eingelassen. Sie musste Entscheidungen treffen. Geheimnisse wahren, sogar vor den Menschen, die sie am meisten liebten. Gerade vor ihnen. Denn falls es irgendwann kein Zurück mehr gab, durften sie nicht hineingezogen werden. Wer sich mit dem Crimson Council anlegte, überlebte meistens nicht.
Besessenheit. Der Teufel von Dorset nutzte sie oft als Waffe, doch er gab ihr nie nach. Er hatte gesehen, dass Besessenheit die mächtigsten Männer in die Knie zwingen konnte, weil sie sie von den Dingen ablenkte, die sie hätten tun sollen. Als Spion für den Geheimdienst hatte er schon für Geheimnisse und Blut seine Seele verkauft und sollte alles Mögliche tun. Doch er blieb auf einem Balkon in St. James hocken und beobachtete durch ein Fenster, wie Francesca Cavendish, die Countess of Mont Claire, die Knöpfe ihres Mieders öffnete.
Ihre geschickten, entschlossenen Bewegungen präsentierten noch ein Stück Dekolleté und raubten ihm seine Konzentration. Sein Puls ging schneller und auch sein Schwanz regte sich, als sie die Bluse von ihren schmalen Schultern streifte.
Sie trug kein Korsett. Skandalös! Aber sie brauchte auch keines. Das merkte er, als sein Blick gierig über ihre sommersprossige Brust wanderte. Dann versperrte ihm ein seidenes Unterhemd die Sicht. Sie war ja nur ein Hauch von Nichts. So schmal, beinahe jungenhaft. Kleine feste Brüste, die unter dem dünnen Stoff eine Gänsehaut hatten. Er konnte ihre Brustwarzen sogar von hier aus erkennen, denn ihre Unterwäsche war schlicht und ohne Verzierungen. Sein Körper reagierte, als hätte er noch nie gesehen, wie eine Frau sich auszog. Dabei hatte er das sogar schon oft. Einige waren Verbündete gewesen, andere Feindinnen, ein paar sogar Geliebte. Die meisten Frauen, die er verführt hatte, waren jedoch nur Fußnoten in seinem Leben gewesen. Keine von ihnen war so gefährlich gewesen wie die Countess of Mont Claire.
Der Teufel von Dorset war Lady Francesca von der Swifton Street aus gefolgt und stellte fest, dass er außer Atem war, was sehr untypisch für ihn war. Normalerweise geriet er nicht einmal ins Schwitzen, wenn er in einen Laden einbrach, vier Stockwerke hinaufrannte, aus dem obersten Fenster rutschte, sich mit der bloßen Kraft seiner Arme am Dach hochzog und in der Mittagshitze über mehrere Dächer eilte. Er sprang mit einem Satz auf den Balkon und blieb zusammengekauert sitzen, doch es fiel ihm schwer, die herrliche Luft einzuatmen.
Vom Balkon aus hatte er freie Sicht auf die Gräfin. Er sah sie durch das große Fenster im Obergeschoss der Schneiderin. Sie stand zwischen ihren beiden Freundinnen und stellte beide in den Schatten. Eine unverschämte Diebin, es verschlug ihm den Atem. Die selbst ernannte Red Rogue Society bestand aus drei bildhübschen Rotschöpfen mit einer Neigung zu Streichen und Zeitvertreiben, die sich nur für Männer gehörten. Lady Alexandra Atherton, Archäologin und Duchess of Redmayne, galt überall als die Schönheit des berüchtigten Trios, doch die dunkle Mahagonifarbe ihres Haares konnte man nur mit gutem Willen „rot“ nennen, und ihr Gesicht war zu vollkommen, um interessant zu sein.
Die üppige Miss Cecelia Teague würde den gnadenlosen Lord Chief Justice, Cassius Gerard Ramsay, heiraten. Sie war vielleicht wirklich so süß und dekadent, wie ihr Erdbeermund vermuten ließ, doch sie war auch eine brillante Mathematikerin und mittlerweile die reichste Geschäftsfrau in ganz London. An ihrer Intelligenz bestand kein Zweifel. Und Ramsay, der mürrische Schotte, war auch nicht der kühle, tadellose Charakter, den er zur Schau trug. Jedenfalls nicht, was Miss Teague betraf.
Die Damen Alexandra und Cecelia hatten mit seinen letzten Untersuchungen zu tun, doch sie waren für die Krone und den Geheimdienst nicht mehr von Interesse. Er musste sie nicht mehr auf Schritt und Tritt beobachten. Doch er musste sie wiedersehen – die Countess of Mont Claire. Und sei es nur, um sicher zu sein, dass es sie wirklich gab. Ein feiner Herr hätte weggeschaut, als die Dame sich auszog und ihren Rock und ihre Turnüre abstreifte und zu Boden gleiten ließ. Ihm würde nicht bei dem Anblick ihrer langen Beine das Wasser im Mund zusammenlaufen und er würde nicht die formlosen Unterhosen verwünschen, die ihre Rückansicht verhüllten, als sie sich bückte und der Schneiderin half, ihre abgelegten Kleider aufzusammeln.
Aber der Teufel von Dorset war kein Herr. Im Gegenteil, er war Voyeur von Beruf und tödlich, sowohl auf Hinterhöfen als auch im Schlafzimmer. Er konnte auf einer Soiree alle anderen in den Schatten stellen und hatte seine Zuhörer immer im Griff. Er konnte ihnen alles einreden, was er wollte. Er konnte in einem Zimmer voller Menschen jemanden umbringen, doch niemand erinnerte sich, wie er aussah. Er war ein Geist. Ein Chamäleon. Ein Schatten von einem Mann, dessen einziger Lebenszweck darin bestand, gleichzeitig berüchtigt und unsichtbar zu sein. Diese Fähigkeit legte er jetzt an wie einen Mantel und stand in der glühenden Sommersonne, die auf die Dächer schien. Wenn die Frauen in seine Richtung schauen würden, wären sie geblendet. Francesca war genauso ein Geist wie er. Die Welt hatte sie für tot gehalten, nachdem Mont Claire dem Erdboden gleichgemacht worden war. Aber sie war irgendwo auf dem Kontinent auferstanden wie ein Phoenix aus der Asche und hattet behauptet, sie wäre wegen einer Rauchvergiftung tagelang bewusstlos gewesen. Man erzählte sich, eine Angehörige der Roma hätte sie rechtzeitig aus Mont Claire geholt und das Kind sei in einem Krankenhaus auf dem Land wieder zu sich gekommen.
Der Teufel von Dorset hatte zur gleichen Zeit wie der Rest von London gehört, dass sie auf wundersame Weise überlebt hatte. Sie war in einem Pensionat am Genfer See gewesen und hatte mit ihren ebenfalls unverheirateten Freundinnen schon den halben Globus bereist, als sie fünfundzwanzig war.
Er blinzelte durch das Fenster und sah, dass Francesca Tee, Punsch und Champagner ablehnte – sie bevorzugte einen kräftigen Scotch. Ihr goldener Hut lag umgestülpt auf einem Sofa; sie hatte ihn dort hingeworfen. Ein rubinroter Schimmer lag auf ihrem hochgesteckten Haar. Diese Frisur brachte ihren anmutigen Schwanenhals zur Geltung.
Die Red Rogues – der Name passte. Innerhalb von ein paar Monaten war die Countess of Mont Claire die berüchtigtste von allen geworden. Sie hatte die Hälfte der oberen Zehntausend gevögelt und die verheirateten Männer gleich zweimal.
Es juckte ihm in den Fingern. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ein Zeichen für inneren Aufruhr. Er wollte alle Finger brechen, die sie antasteten. Jede Zunge herausreißen, die an ihr geleckt hatte. Jeden Schuft entmannen, der in ihr Befriedigung gefunden hatte.
Und deshalb war Besessenheit gefährlich. Falsch. Es musste aufhören. Die Rückkehr der Countess of Mont Claire war anfangs ruhig verlaufen. Die Verlobung und die anschließende Hochzeit des Dukes und der Duchess of Redmayne waren gefeiert worden, es hatte ein paar Essen in kleinem Kreis und andere Zusammenkünfte gegeben. Gerade genug, um bemerkt zu werden, und nie weit von ihren beiden Gleichgesinnten entfernt. Es war ein Wunder, dass sie eine solche Sammlung an Liebhabern zusammenbekam, und ein Rätsel, warum sie es tat. Die Geschichten über ihre Abenteuer waren so vielfältig wie die Männer an sich. Einige behaupteten, sie wäre sanft wie eine Taube, die bei gekonnter Berührung gurrte. Andere hielten sie für ein verspieltes Kätzchen, das zufrieden schnurrte, wenn man sie in den siebten Himmel katapultierte. Wieder andere Liebhaber beteuerten, sie sei eine Löwin mit ohrenbetäubendem Gebrüll, leidenschaftlich, eine heidnische Jägerin und unersättlich. Was stimmte davon? Waren ihr Geschmack und ihre Künste so weitreichend und wandelbar wie seine eigenen? Gott, wie sehr er darauf brannte, es herauszufinden! Er blinzelte durch das Fenster und sog ihren Anblick auf wie jemand, der bald das Augenlicht verlieren wird. Wonach sehnte sie sich? Warum war sie so eine schamlose Frau geworden? Hatten Verlust und Schmerz sie in dunkle Gefilde getrieben, wo Sünde und Laster die Lücke schlossen, die eine sinnlose Gewalttat in ihr Leben gerissen hatte? Wollte sie die Leere füllen, indem sie sich Ausschweifungen hingab? Waren sie einander so ähnlich? Er musste es herausfinden. Denn ihre Rückkehr hatte nicht nur die Lichter der oberen Zehntausend auf den Plan gerufen, sondern auch die Schatten. Ihr Name wurde in Flüchen und Gesängen geflüstert. Was wusste sie darüber, was ihrer Familie widerfahren war? Was – wenn überhaupt etwas – hatte sie jetzt noch damit zu tun? War sie wirklich eine ungebundene Verführerin? Oder eine schlangenhafte Sirene?
Der Teufel von Dorset schwor sich, es herauszufinden, und sei es nur, um sich von dieser Besessenheit zu befreien.
Francesca spürte einen Blick auf sich, wie man die Gegenwart eines Geistes wahrnahm. Oder die eines Dämonen. Die feinen Haare auf ihrem Körper stellten sich auf. Sie wehrte sich gegen den Impuls, sich umzudrehen und aus dem Fenster zu schauen. Ihr Nacken war so angespannt, dass es wehtat. Doch schließlich gab sie nach und wandte mit einem Ruck den Kopf. Sie sah das glühende Auge von Ra – die Sonne.
Sie blinzelte den Schleier weg, der sich auf ihren Blick gelegt hatte, und wandte sich wieder ihren Freundinnen zu. Die beiden waren dabei, sich auszuziehen, um die Kleider anzuprobieren, die sie auf Cecelias Teagues Verlobungsfeier tragen würden.
„Weißt du, was der schlimmste Feind einer Frau ist?“ Francesca stellte die Frage, um das Gespräch anzufangen, dem sie schon den ganzen Tag entgegenfieberte.
Cecelia hielt inne und ihr Strumpf blieb halb aufgerollt. „Deiner Meinung nach ist es ein Mann, nicht wahr?“
„Es ist die Unterwerfung“, korrigierte Francesca und runzelte besorgt die Stirn. „Cecil.“ Sie benutzte den männlichen Spitznamen, den sie Cecelia auf dem Chardonne Institute für Mädchen am Genfer See gegeben hatten. Dort hatten sie sich vor Jahren kennengelernt und waren Freundinnen geworden. „Du bist die gütigste Seele der Welt und ich fürchte, dein Schotte wird mit seinem Ehrgeiz dein weiches Herz brechen. Bist du sicher, dass eine so schnelle Heirat ratsam ist?“
Cecelia zog den Strumpf ganz aus und zupfte ihn sorgfältig zurecht. Erst dann streifte sie den anderen ab. „Ich höre, was du sagst, Frank, und deine Besorgnis rührt mich, aber Ramsay ist nicht so fordernd, wie du glaubst. Er erwartet keine Unterwerfung von mir, nur Verständnis, und das gebe ich ihm gern.“
„Ja, aber …“
„Ich bin kein züchtiges Veilchen.“ Cecelia richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und wirkte sogar in Unterwäsche wie eine breitschultrige Walküre. Schön, stark und bereit, jeden Mann zu vernichten, der sich ihr in den Weg stellte. Doch sie senkte züchtig die Lider. „Jedenfalls nicht mehr.“
Es wäre glaubwürdiger gewesen, wenn sie nicht ihre Lieblingsfarbe – Veilchenblau – getragen hätte. Aber nein, an Cecelia war nichts züchtig. Ihre Figur war fülliger denn je, jetzt, da sie mit ihrem Verlobten das Leben in vollen Zügen genoss. Der Lord Chief Justice war ein Riese, was Körpergröße, Entschlossenheit und Appetit betraf.
„Nicht alle Männer sind so schräge Vögel wie die, mit denen du dich abgibst, Frank“, sagte Alexandra, die Duchess of Redmayne. Sie nahm ein Stück Schokolade von einem Teller.
Francesca verzog den Mund. „Du weißt genau, dass ich Männer nicht hasse. Es ist nur so, dass ich …“
„Sie verabscheue?“, schlug Cecelia hilfsbereit vor.
„Sie verachte?“, stimmte Alexandra ein.
Francesca rollte die Augen. „Ihnen misstraue.“
„Das solltest du natürlich auch.“ Alexandra eilte zu Francesca und zupfte an einer Schleife, die sich in ihrem Hemd verfangen hatte. „Ich gebe jedoch zu bedenken, dass wir alle nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen betrogen wurden – und wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie doppelt so tückisch sein können, wenn es sein muss.“
„Sehr richtig“, sagte Cecelia. „Frauen können genauso heldenhaft sein wie Männer, aber das Gegenteil stimmt leider auch. Sie sind fabelhafte Miststücke.“ Sie schaute in den Spiegel und strich über ihre Rundungen. „Ich erinnere euch beide daran, dass viele Frauen über unanständige Dinge tratschen, während sie sich für einen Verlobungsball zurechtmachen – aber nicht über geheime Gesellschaften, Taugenichtse und Verdächtigungen.“
Alexandras dunkle Lockenmähne schimmerte im Sonnenlicht kastanienbraun. Sie drückte Francesca mit leiser Missbilligung den Arm. „Es tut uns leid, nicht wahr, Frank?“
„Ja“, murmelte sie.
Die Schneiderin kam mit ein paar Helferinnen herein und ließ eine Wolke aus Seide und Spitze über Cecelia niedergehen.