Daughter of Darkness and Light. Schattenprophezeiung - Karin Kratt - E-Book
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Daughter of Darkness and Light. Schattenprophezeiung E-Book

Karin Kratt

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Beschreibung

**Verliere dich im Labyrinth der Schatten**  Jenna Sanders führt ein Leben, von dem andere nur träumen können. Sie ist in einem noblen Stadtpalais zuhause, besucht eine exklusive Privatschule und hat eine wundervolle Familie. Doch als ihre Eltern ermordet werden, stellt sich alles, was sie bisher zu wissen glaubte, als Lüge heraus. Denn die Sanders waren nie ihre wahre Familie. Jenna begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und ihr einziger Hinweis dabei ist eine magische Kupferscheibe, auf der ein Labyrinth abgebildet ist. Sie führt Jenna in eine Welt, in der die Finsternis herrscht. Aber die Schatten ihrer Vergangenheit beginnen sich erst zu lüften, als sie einem geheimnisvollen Fremden begegnet – Katesh, der ebenso anziehend wie gefährlich ist…

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Karin Kratt

Daughter of Darkness and Light. Schattenprophezeiung

**Verliere dich im Labyrinth der Schatten** Jenna Sanders führt ein Leben, von dem andere nur träumen können. Sie ist in einem noblen Stadtpalais zuhause, besucht eine exklusive Privatschule und hat eine wundervolle Familie. Doch als ihre Eltern ermordet werden, stellt sich alles, was sie bisher zu wissen glaubte, als Lüge heraus. Denn die Sanders waren nie ihre wahre Familie. Jenna begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln und ihr einziger Hinweis dabei ist eine magische Kupferscheibe, auf der ein Labyrinth abgebildet ist. Sie führt Jenna in eine Welt, in der die Finsternis herrscht. Aber die Schatten ihrer Vergangenheit beginnen sich erst zu lüften, als sie einem geheimnisvollen Fremden begegnet – Katesh, der ebenso anziehend wie gefährlich ist …

Wohin soll es gehen?

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Vita

Danksagung

Glossar

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© privat

Karin Kratt ist eine lesesüchtige Mathematikerin, die sich nach ihrem Studium in der Bankenbranche Frankfurts wiederfand. Doch so sehr sie ihre Zahlen auch zu schätzen weiß, die Macht der Buchstaben begeistert sie noch weitaus mehr. Sie nutzt jede freie Minute, um ihre Träume auf Papier zu bannen. Träume, die bei ihren Streifzügen durch die endlosen Felder des hessischen Rieds entstehen oder auch mal ganz simpel auf der Liege im heimischen Garten.

Für meine Leser

Möget ihr durch jedes Labyrinth den richtigen Weg finden und sei es noch so verworren.

Aus einem der geheimen Bücher von Mister Rivera

Wenn Mond und Sonne sich berühren und die Ebenen dunkel von vergossenem Blut glänzen, dann wird ein Kind zweier Völker über das Schlachtfeld wandeln, ein Kind zweier Welten. Ein Schattenkind. Ein Königskind. Ein Kind, das der unsrigen Welt eine goldene Zukunft bescheren wird. Oder aber die ewige Finsternis. So oder so wird das Leben, wie wir es kennen, für immer enden.

Uralte Prophezeiung, Verfasser unbekannt

Kapitel 1

Riesige, gelbe Augen starrten auf mich herab und ich schwöre euch, der Ausdruck darin war viel zu verschlagen und zu intelligent für ein Tier!

Die Steine des felsigen Untergrunds bohrten sich mir schmerzhaft in den Rücken und meine Arme und Seite brannten von den Krallenhieben und Bissen, denen ich nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können. Mein blutender und verstauchter Knöchel machte die Sache nicht gerade besser und als ich mit letzter Kraft versuchte mich trotz der schweren Vorderpfoten des Gigantowolfs auf meiner Brust zu bewegen, ertönte sogleich ein warnendes Knurren. Das Biest senkte den Kopf und Geifer tropfte direkt in mein Gesicht. W-i-d-e-r-l-i-c-h hoch zehn, das könnt ihr mir glauben! Oder eher hoch hundert!

Vor Ekel und der hier herrschenden Kälte erschauderte ich, doch seltsamerweise empfand ich dafür kaum noch Angst. Gut möglich, dass mein Leben innerhalb der nächsten Sekunden enden würde, schließlich schielte der Wolf bereits auf meine Kehle und schleckte sich genüsslich über die Lippen. Etwas, das Tiere eigentlich gar nicht tun sollten, oder?

Egal, denn während mir nun der Wolfssabber langsam über die Wange rann, war alles, woran ich noch denken konnte, mein luxuriöses Badezimmer mit endlos heißem Wasser und all den herrlich duftenden Shampoo- und Duschgelfläschchen in meinem einstigen Zuhause in London. Dort, wo ich mich vor wenigen Momenten noch aufgehalten hatte, bevor ich an diesen kargen und unwirtlichen Ort geflohen war. Einen Ort, von dem ich immer gedacht hatte, er wäre ohne jegliches Leben.

Ein dämlicher, unverzeihlicher Fehler, das weiß ich jetzt auch. Aber manche Erkenntnisse kommen eben zu spät.

Ich spüre einen heißen und feuchten Atemzug an meinem Hals. Und dann – nichts mehr.

***

Zwei Monate zuvor

Der Tag, an dem sich alles änderte, war ausgerechnet der dreizehnte Geburtstag meiner kleinen Schwester Carlee. Carlee ist ein zartes Geschöpf mit leuchtend blauen Augen und schulterlangen, blonden Locken und wird in der Regel von jedem gemocht. Sie ist nur knapp vier Jahre jünger als ich, aber mir kommt es oft so vor, als wären es zehn. Vermutlich ist das so eine Große-Schwester-Verantwortungsgefühls-Sache oder es liegt daran, dass sie immer noch völlig vernarrt in diesen ganzen typischen Mädchenkram ist, anstatt dass sie sich wie ein rebellischer Teenie aufführt. Meine Schwester liebt absolut alles, was pink ist, mit Einhörnern oder Glitzer zu tun hat!

Ich hingegen – mein Name lautet übrigens Jenna – kann Pink nicht ausstehen, außer die gleichnamige Sängerin. Die finde ich toll.

Meine Haare sind schwarz, lang und glatt, meine Augen so dunkelbraun, dass sie ebenfalls schon als schwarz durchgehen könnten und ich habe bereits die ein Meter fünfundsiebzig geknackt, obwohl ich mit meinen sechzehn dreiviertel Jahren ja durchaus noch wachsen kann. Dank des ausgedehnten Sportprogramms meiner Schule lässt sich meine Figur als schlank und athletisch beschreiben, ein richtiges Sportass bin ich jedoch nie gewesen. Diese Ausdauersachen liegen mir nicht so, zu einer Herausforderung im Fechten würde ich aber keinesfalls Nein sagen.

Der Galasaal in unserem weiß getünchten Stadtpalais im Nobelviertel Kensington war schon festlich geschmückt, denn natürlich hatte Carlee die halbe Schule zu ihrer Disco- und Karaoke-Party eingeladen. Passenderweise war es Freitagnachmittag, das bedeutete, uns stand das ganze Wochenende bevor, um uns von dem geplanten Singmarathon und dem wilden Getanze zu erholen, zu welchem Carlee mich in letzter Zeit schon öfter genötigt hatte – aus Übungszwecken.

Die Bewegungen meiner Schwester sehen tatsächlich immer wesentlich eleganter aus als meine unbeholfene Hopserei. Ich bin eher der Typ, der sich nur mit einer Papiertüte auf dem Kopf auf eine Tanzfläche trauen sollte.

Null Taktgefühl, urteilte Carlee häufig mit einem verzweifelten Kopfschütteln. Seit Wochen war sie nun bereits völlig aufgeregt und überdreht wegen ihrer Geburtstagsfeier, hatte sich alles bis ins kleinste Detail ausgemalt, denn an diesem wichtigen Tag sollte einfach alles perfekt werden. Und dann passierte ausgerechnet das!

»Schätzchen, es tut uns leid, wir müssen noch kurz weg.« Mit einem nervösen, ja fast schon fahrigen Blick eilten Mom und Dad durch die große Halle auf Carlee zu, die gerade unser Dienstmädchen Mary – eine überaus herzliche und mollige Frau Ende Dreißig – gebeten hatte, noch mehr goldene Sterne auf den großen, mit einem roten Samttuch verhüllten Tisch zu streuen, auf dem bald die Leckereien eines kalten und warmen Buffets aufgebaut werden sollten.

Früher hatte Dad an der Spitze eines großen Wirtschaftskonzerns gearbeitet, heute beschäftigt er sich jedoch ausschließlich mit Politik, wobei er hauptsächlich die Londoner Unterschicht zu unterstützen versucht. Er ist nur noch eine knappe Handbreit größer als ich und seine Schläfen werden bereits grau. Wie fast immer trug er einen seriösen, dunklen Anzug, nur die Krawatte hatte er ausnahmsweise weggelassen.

Mom, von der Carlee ihr engelsgleiches Aussehen geerbt hat, während ich nach sonst wem komme, knöpfte sich hastig den Mantel zu, den sie über ihr helles Kleid gezogen hatte. Trotz des Frühlingsbeginns vor zwei Wochen war es immer noch sehr frisch draußen. Mom arbeitet nicht wie Dad in der Politik, sie versucht auf einem anderen Weg unsere Welt jeden Tag ein klein wenig zu verbessern. Mit einem enormen sozialen Engagement, unzähligen Benefizveranstaltungen, Stiftungen, gemeinnützigen Wohnprojekten und vielem mehr setzt sie sich unermüdlich für all jene ein, die keine Millionen auf dem Konto haben und kein so sorgloses Leben führen, wie es unserer Familie vergönnt ist.

Im Gegensatz zu einigen unserer Mitschüler sind Carlee und ich dank des Vorbilds und der Erziehung unserer Eltern sehr bodenständig geblieben oder zumindest bilde ich es mir ein, dass wir keine Snobs sind.

Als Mom Carlees empörte Miene aufgrund des überstürzten Aufbruchs jedoch gar nicht wahrzunehmen schien und ihr nur abwesend einen Kuss auf den Lockenkopf hauchte, hätte man durchaus mal einen anderen Eindruck von meiner sonst so braven und sanftmütigen Schwester gewinnen können.

»Das … das könnt ihr nicht machen! In einer Stunde sollen doch schon alle Gäste eintreffen. Es ist mein Geburtstag! Könnt ihr nicht erst morgen wieder die Menschheit retten?«

Carlees Stimme schwankte zwischen Flehen und Zorn und als sie mir einen kurzen Blick zuwarf, konzentrierte ich mich rasch auf die funkelnden Diskokugeln, die extra für Carlees Party an der Stuckdecke befestigt worden waren.

Ich wollte den Streit nicht noch verschlimmern. Schließlich wünschte ich mir manchmal im Stillen ebenfalls mehr Zeit und Aufmerksamkeit von Mom und Dad. Insbesondere, da wir zwar jede Menge Freunde und Bekannte besaßen, es ansonsten jedoch nur ein paar weit entfernte Verwandte in Amerika gab, die wir höchst selten sahen oder sogar gar nicht kannten.

Mom und Dad lieben uns über alles, das ist mir schon klar und das zeigen sie uns auch immer wieder. Trotzdem sind sie halt sehr viel – um nicht zu sagen andauernd! – unterwegs.

Ich unterdrückte ein Seufzen und erinnerte mich daran, dass meine Eltern eben nicht irgendwer waren. Und wie hatte es schon Peter Parker alias Spiderman so treffend gesagt? Aus großer Macht folgt große Verantwortung oder so. Eine Verantwortung, die unsere Eltern sehr ernst nehmen und worauf ich im Allgemeinen auch sehr stolz bin.

»Wir werden uns beeilen, Mädels, versprochen. Es ist eine extrem dringliche Angelegenheit. Wir haben schon so lange danach gesucht und –«

Dad brach ab und ich sah wieder zu ihnen hinüber. Seltsamerweise blickten Mom und Dad beide mich an statt Carlee, deren Augen nun einen verdächtig nassen Glanz aufwiesen.

»Schwört es mir!«, verlangte sie leise und wehrte die Hand ab, die Dad besänftigend nach ihr ausstreckte. »Schwört mir, dass ihr rechtzeitig zu meiner Party zurück seid und mit mir – mit uns – zusammen feiern werdet. Bitte, ich möchte von euch gar nichts anderes haben als diesen gemeinsamen Nachmittag und Abend!«

Sowohl Dad als auch Mom schworen es, mit einem sichtbar schlechten Gewissen im Gesicht, aber dennoch bereits im Laufschritt in Richtung Tür. Da Carlee und ich schon seit etlichen Jahren vehement darauf beharrten, wir würden in der Abwesenheit unserer Eltern keine Nanny mehr benötigen, sondern könnten selbst auf uns aufpassen, war es nun an mir, meine Schwester bis zum Beginn ihrer Geburtstagsfeier abzulenken und ihre Stimmung von Zu-Tode-Betrübt in Himmel-Hoch-Jauchzend zu verwandeln.

Wie ich das anstellte? Ich überreichte Carlee mein Geschenk, das ich mir für sie überlegt hatte. Traditionell werden die Familiengeschenke von uns immer erst am späten Abend geöffnet, ein krönender Abschluss des Tages sozusagen, aber heute galten eben andere Regeln.

Carlee sah das genauso und das Geschenkpapier flog nur so davon, als sie es kurzerhand in Fetzen riss.

»Pinke Pummel-Einhorn-Hausschuhe! Die wollte ich schon ewig haben. Jenna, du bist die Beste!«

Mit einem entzückten Aufschrei fiel mir Carlee um den Hals und obwohl ich nicht das kleinste bisschen verstand, wie man seine Füße in solche verrückten – und zugegebenermaßen ausgesprochen flauschigen – Treter stecken konnte, so erwiderte ich die Umarmung überaus innig. Meine Schwester und ich stehen uns sehr nahe, wahrscheinlich gerade aufgrund der vielen Arbeit von Mom und Dad.

»Happy Birthday, meine Süße!«, flüsterte ich und drückte Carlee noch etwas enger an mich, bevor ich sie wieder freigab. »Und jetzt lass uns nachsehen, ob Mary noch mehr von diesen goldenen Glitzersternchen hat. Die können wir doch auch im Eingangsbereich auf den Boden streuen.«

Mit einem Lächeln deutete Mary, die immer noch den Tisch herrichtete, auf drei randvolle Deko-Behälter am Boden. »Bedient euch«, sagte sie und Carlee, die meine Idee total genial fand, schnappte sich umgehend das Glitzerzeugs.

Die nächste knappe Stunde verzauberten wir nicht nur den Eingangsbereich, sondern auch unsere Zimmer, die Bäder, das Treppenhaus und sogar die Küche in ein wahres Sternenmeer. Mary, unser indischer Koch Shamal und unsere anderen Angestellten, die allesamt bei uns im Palais lebten, amüsierten sich sehr darüber. Sie witzelten, dass in der Nacht kein einziger Stern mehr am Himmel zu sehen sein würde, weil wir sie alle für unsere Dekoration benötigt hätten.

Dann klingelte der erste Gast an der Tür – überpünktlich. Als Carlee freudestrahlend zum Eingang flitzte, stellte sich jedoch heraus, dass es niemand von ihren Freunden war.

Es waren die Cops.

Kapitel 2

Ich hatte bereits genügend Zeit in dem Obdachlosenasyl Little Hope verbracht, das meine Mom vor einigen Jahren gegründet hatte, um zu wissen, wie unfair und tragisch das Schicksal manchmal zuschlagen konnte.

Aber erst in dieser Nacht sollte ich erfahren, wie es sich wirklich anfühlte, wenn Stück für Stück alles zerbrach, was einen bislang ausgemacht hatte. Wenn plötzlich alles, was zuvor noch wichtig gewesen war, an Bedeutung verlor, wenn sich die Gewissheit, wie der kommende Morgen und die kommende Woche und das kommende Jahr aussehen würde, in Rauch auflöste und nichts im Herzen mehr zurückblieb als Unsicherheit, Angst und Schmerz.

Mit Carlee im Arm kauerte ich Stunden um Stunden in dem sterilen Wartezimmer des Krankenhauses, in das man unsere Eltern eingeliefert hatte. Vor Erschöpfung und mit rot verquollen Augen war meine Schwester kurz nach Mitternacht eingenickt und ich war dankbar, dass sie die betroffenen Blicke der Krankenschwestern nicht mehr mitbekam, die hin und wieder nach uns sahen.

»Du solltest dich auch ein wenig ausruhen«, wisperte Mary, die neben mir auf dem Stuhl saß, doch ich schüttelte sofort den Kopf. Immerhin hatten die Ärzte gesagt, es gäbe kaum noch Hoffnung, nicht es gäbe gar keine Hoffnung mehr. Und so klammerte ich mich wie eine Ertrinkende an diesen schmalen Strohhalm, der besagte, dass doch noch alles gut werden würde. Dass der Albtraum bald ein Ende hätte, Mom und Dad sich von ihren Verletzungen erholen würden und wir dann alle zusammen Carlees Party nachfeiern konnten.

Aber das alles sollte nie passieren. Ich wusste schon, was der übermüdete Arzt sagen würde, der im Morgengrauen an mich herantrat, bevor er ein einziges Wort von sich gegeben hatte. Sein Zögern und seine gebeugte Haltung verrieten ihn.

»Es tut mir leid«, murmelte er schließlich nach einem auffälligen Räuspern. »Wir konnten weder Mister noch Misses Sanders am Leben erhalten. Sie hatten bereits zu viel Blut verloren und …«

Mary stieß einen kummervollen Laut aus, griff nach meiner eiskalten Hand und der Arzt – Doktor Brooks, wie auf seinem Namensschild zu lesen war – räusperte sich erneut.

»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Meine herzliche Anteilnahme zu diesem schweren Verlust. Ich bin deinen Eltern selbst schon einige Male begegnet und wie viele, viele andere auch kann ich nur sagen, dass dies wahrlich eine schwarze Stunde für London und unser gesamtes Königreich ist. Deine Eltern waren etwas ganz Besonderes und niemand wird sie jemals vergessen.«

Ich musste heftig schlucken und meine Glieder fühlten sich plötzlich bleischwer an. Tot, tot, tot, hallte es in meinen Gedanken wider. Sie sind tatsächlich tot!

Einige Momente lang konnte ich kaum Luft holen, so als hätte ich vor lauter Schmerz vergessen, wie man atmet. Meine Sicht trübte sich, doch ich erkannte noch, wie mich Doktor Brooks mit einem gleichermaßen ernsten wie mitfühlenden Blick bedachte.

»Ich kann dir und deiner Schwester ein Beruhigungsmittel für die nächsten Tage mitgeben. Bis es nicht mehr ganz so weh tut«, erklärte er fürsorglich und zog eine Tablettenpackung aus seinem Arztkittel.

Zuerst wollte ich trotz meines Schwindelgefühls ablehnen, denn ich befürchtete, wenn ich einmal mit solchen Tabletten anfangen würde, könnte ich womöglich nie wieder damit aufhören. Aber dann spürte ich, wie Carlee sich verkrampfte und hörte ein leises Schluchzen. Meine Schwester war aufgewacht, ausgerechnet jetzt.

»Ja, bitte«, antwortete ich Doktor Brooks also hölzern. »Und danke, dass Sie … dass Sie alles versucht haben.«

Die letzten Worte konnte ich nur noch mit Mühe hervorwürgen und als ich Mary signalisierte, dass ich jetzt so schnell wie möglich nach Hause wollte, sprang sie umgehend auf.

Wie sie mich und Carlee zu unserem bereitstehenden Wagen führte und an die Fahrt durch das erwachende London erinnere ich mich kaum, ich weiß nur noch, dass ich meine Schwester für keine einzige Sekunde losließ. Wie einen kostbaren Schatz hielt ich sie eng an mich gepresst, stützte sie und trug sie schließlich sogar fast die Stufen in ihr Zimmer hinauf, obwohl sie eigentlich viel zu schwer für mich war und unser Chauffeur Paul bereits angeboten hatte, Carlee nach oben zu bringen.

Mein Shirt war nass von Carlees Tränen, doch erst, als wir dicht aneinander gekuschelt unter ihrer pinken Bettdecke lagen, begann auch ich still zu weinen.

»Was jetzt?«, flüsterte Carlee mit erstickter Stimme. »Was sollen wir jetzt nur tun? Ohne sie?«

»Weiß ich noch nicht genau. Aber eins weiß ich ganz bestimmt – wir werden zusammenbleiben! Wir werden das zusammen hinkriegen. Wir sind doch immer noch eine Familie.«

Trotz all der Trauer und Dunkelheit, die ich verspürte, versuchte ich meiner Antwort Entschlossenheit und Stärke zu verleihen und energisch wischte ich mir die Tränen vom Gesicht. Schon jetzt war mir klar, dass ich auf meine kleine Schwester aufpassen und immer für sie da sein würde, so wie es bisher ja auch der Fall gewesen war. Und egal, was nötig wäre, damit Carlee eines Tages wieder unbeschwert und glücklich lachen konnte – ich würde es tun!

»Ich verstehe nicht, warum. Warum mussten sie sterben?« Carlees Stimme klang noch tonloser als zuvor und weil mir keine tröstenden Worte mehr einfallen wollten, stand ich schweigend auf und lief zu der kleinen Sitzecke in Carlees Zimmer, um aus der auf dem Tisch abgestellten Karaffe ein Glas mit Wasser zu befüllen. Ich zog die Tablettenpackung, die Doktor Brooks mir mitgegeben hatte, aus meiner Hosentasche und löste eine Tablette in dem Wasser auf, dann kehrte ich zu Carlee zurück und drückte ihr das Glas in die Hand.

»Trink«, forderte ich sie auf und sie tat es sofort.

»Und du?«, fragte sie, während sich ihre Gesichtszüge langsam entspannten und ihre Augenlider schwerer wurden.

»Vielleicht später.« Ich stellte das Glas auf dem Boden ab und schlüpfte wieder zu meiner Schwester unter die Bettdecke. Zu gerne hätte ich auch diese entsetzliche Qual in meiner Brust gedämpft, doch mittlerweile traute ich mich noch aus einem anderen Grund als meiner Abhängigkeitsbefürchtung nicht mehr.

Denn was würde passieren, wenn ich aufgrund der Tabletten so tief einschliefe, dass ich absolut nichts mehr mitbekäme? Und beim Aufwachen feststellen müsste, dass auch Carlee plötzlich verschwunden und ich somit ganz allein wäre? Das könnte ich niemals ertragen!

Natürlich war es keine rationale Angst, die ich da empfand. Trotzdem brachte sie mich dazu, meine Arme behutsam um Carlee zu schlingen und die nächsten Stunden nur leicht zu dösen, während meine Schwester die gesamte Zeit über wie ein Stein schlief. Sie bekam nicht einmal mit, als Mary gegen Mittag leise an die Zimmertür klopfte, weil die Cops unbedingt erneut mit meiner Schwester und mir sprechen wollten.

Für uns beide beantwortete ich jede Menge Fragen, aber etwas Brauchbares konnte ich zur polizeilichen Ermittlung leider nicht beisteuern.

»Jenna, weißt du, zu wem deine Eltern in Chelsea wollten?«

»Nein.«

»Weißt du etwas über das Paket, das sie bei sich hatten?«

»Nein.«

»Haben deine Eltern in letzter Zeit Drohungen erhalten? Fühlten sie sich verfolgt? Haben sie euch von irgendwelchem Ärger mit jemandem erzählt?«

Wieder verneinte ich und meine Finger klammerten sich stärker um die massiven, hölzernen Armlehnen des Wohnzimmerstuhls, auf dem ich Platz genommen hatte. Als ob es nicht schlimm genug gewesen wäre, wenn Mom und Dad bei einem Autounfall oder dergleichen ums Leben gekommen wären, die Fragen der Cops offenbarten nur zu deutlich die bittere Wahrheit – meine Eltern waren ermordet worden. Dad mit mehreren Messerstichen in den Rücken, Mom, die sich wohl noch zu dem Angreifer hatte umdrehen können, mit einem Stich direkt in die Brust.

John, der meine Eltern gefahren und mit dem Auto in einer Parklücke am Ende der Straße hatte warten sollen, hatte Mom schreien gehört. Bis er jedoch ausgestiegen und in die Richtung geeilt war, die meine Eltern zuvor eingeschlagen hatten, war der Mörder schon längst über alle Berge gewesen. John hatte sofort den Krankenwagen alarmiert und erste Hilfe geleistet, aber … nun ja.

Ich biss die Zähne aufeinander und verbot mir den Polizisten meinen inneren Aufruhr zu zeigen. Stattdessen versuchte ich einigermaßen sachlich über das nachzudenken, was sie mir vor wenigen Augenblicken erzählt hatten.

Die Wertsachen meiner Eltern waren nicht gestohlen worden, aber es fehlte ein größeres Paket, das meine Eltern laut John zuvor aus einer Post-Packstation abgeholt hatten. Was sich darin befunden hatte, von wem es kam oder wohin genau sie es hatten bringen wollen, wusste er auch nicht, nur dass dieser Ort eben in Chelsea lag.

Ich verstand nicht, wieso Mom und Dad nicht gewollt hatten, dass John ihr exaktes Ziel erfuhr, denn ansonsten hätten sie sich ja von ihm direkt dort absetzen lassen können. Was konnte nur dermaßen Kostbares in dem Paket gewesen sein, um für dessen Besitz den kaltblütigen Mord an zwei Personen zu rechtfertigen, die ihren Mitmenschen immer nur hatten helfen wollen?

Die abgebrochene Erklärung meines Dads geriet mir wieder in den Sinn. Dass er und Mom schon sehr, sehr lange nach etwas Bestimmten gesucht hätten … – offenbar nicht nur sie.

»Warum waren Mark und Amber Sanders bloß ohne Bodyguard unterwegs?«, überlegte einer der Cops laut, ein junger Kerl, der sich als Jake Taylor vorgestellt hatte. Ich unterbrach meine wenig erfolgsversprechenden Grübeleien und starrte den Mann wütend an.

»Meine Eltern haben sich nur bei größeren öffentlichen Terminen von Personenschützern begleiten lassen. Ansonsten wollten sie nicht so einen Trubel um sich selbst veranstalten und sie hielten die meisten Gegenden von London für durchaus sicher.«

»Tut mir leid.« Jake Taylor wurde rot. »Das war in keiner Weise als Vorwurf gemeint oder so, als ob deine Eltern Schuld an dem trügen, was passiert ist. Vergiss meine Frage bitte wieder.«

Xander Bennett, der Leiter dieser Ermittlungseinheit, warf seinem jungen Kollegen einen tadelnden Blick zu. Mich bat er, ihm sofort Bescheid zu geben, falls mir, Carlee, John oder jemand anderem vom Personal noch etwas einfallen sollte und überreichte mir eine Visitenkarte mit seinen dienstlichen sowie privaten Kontaktdaten.

»Es gibt bislang keinerlei Indizien, dass du und deine Schwester ebenfalls in Gefahr schweben könntet. Achtet bitte trotzdem auf alles Ungewöhnliche und ruft mich umgehend an, wenn euch etwas merkwürdig erscheint. Oder wendet euch an die Streifenpolizisten, die diese Gegend in den nächsten Tagen verstärkt kontrollieren werden.«

Nach dieser letzten, eindringlichen Ermahnung dirigierte Mister Bennett seine Begleiter zügig nach draußen und mir war das mehr als nur recht. Ich wollte so schnell wie möglich zu Carlee zurückkehren. Vor der Treppe fing mich allerdings Shamal mit einem vollbeladenen Tablett ab. Darauf befanden sich zwei Gläser mit Orangensaft, Teller mit Rührei, Speck, Bohnen, gegrillten Pilzen und Tomaten, Würstchen sowie ein halbes Dutzend Marmeladentoasts. Zudem waren mehrere Schalen mit Cornflakes und klein geschnittenem Obst befüllt – inklusive der Granatapfelkerne, die ich für gewöhnlich über alles liebe – und in zwei großen Tassen dampfte heißer Tee vor sich hin.

Ein wirklich lecker aussehendes Frühstück, dennoch verspürte ich so gar keinen Hunger. Mir wurde sogar übel, als all die verschiedenen Gerüche an meine Nase drangen und ich wich einen hastigen Schritt zurück.

»Danke, aber ich glaube nicht, dass ich auch nur einen einzigen Bissen herunterbekomme.«

»Jenna, du und Carlee müsst etwas essen!« Kummer und eine tiefe Zuneigung glommen in Shamals dunklen Augen auf.

Shamal ist der älteste Angestellte meiner Familie, kocht schon seit über zwei Jahrzehnten für uns und kennt deswegen meine Schwester und mich von Kindesbeinen an.

Kein Wunder, dass er nicht dabei zuzusehen wollte, wie Carlee und ich vor Trauer abmagerten und zum Schatten unserer Selbst wurden.

»Eure letzte Mahlzeit liegt schon fast vierundzwanzig Stunden zurück. Das kann so nicht weitergehen! Ihr werdet essen!«

Mit einer Stimme, die keinerlei Protest duldete, wiederholte Shamal seine Aufforderung noch zwei, drei Mal, dann drückte er mir das Tablett einfach in die Hand und machte sich auf den Rückweg in die Küche.

Ich starrte ihm verblüfft hinterher, denn so gebieterisch kannte ich Shamal gar nicht. Andererseits, warum sollte der Tod meiner Eltern nur mich verändert haben?

Nachdenklich und das Tablett vorsichtig balancierend stieg ich die Treppenstufen hinauf. Immer wieder vernahm ich leises Geklapper oder gedämpfte Stimmen aus den verschiedenen Räumen und als ich schließlich im Flur vor Carlees Zimmer stand, wurde mir bewusst, dass ich viel ruhiger war als noch vor wenigen Augenblicken.

Die Angespanntheit, die mich durch die Fragerei der Cops befallen hatte, war dem Gefühl der Vertrautheit meines Zuhauses gewichen. Und obwohl ich es eben noch so eilig gehabt hatte, nach Carlee zu sehen, hielt ich jetzt erst einmal inne, schloss die Augen und atmete tief durch.

Wir werden das hinkriegen, ermahnte ich mich innerlich selbst an das Versprechen, das ich meiner Schwester am frühen Morgen gegeben hatte. Mom und Dad würden nicht wollen, dass wir mit unserem Leben aufhören.

In der Praxis war dieser Gedanke natürlich sehr viel schwieriger umzusetzen als in der Theorie, doch für den Anfang zwang ich mich dazu, mir eine Gabel voll mit Rührei in den Mund zu schieben, sobald ich mich wieder zu Carlee ans Bett gesetzt hatte und sie mich verschlafen anblinzelte.

»Ich mag nichts essen.« Angeekelt starrte Carlee auf den Marmeladentoast, den ich ihr mit meiner freien Hand entgegenstreckte. Als ich aber daraufhin abrupt meine Gabel sinken ließ und verkündete »Gut, dann ess ich auch nichts mehr!« knabberte sie schließlich doch zögerlich an ihrem Toast.

Ich erzählte Carlee von dem Besuch der Cops und dem mysteriösen Paket. Ihr sagte das alles ebenfalls nichts, so wie ich es befürchtet hatte. Wir rätselten eine Weile hin und her, fühlten uns dadurch aber nur noch depressiver und schalteten schlussendlich den Fernseher an, um uns ein wenig abzulenken.

Den Nachmittag, Abend und fast die gesamte Nacht lagen wir dann eng aneinander geschmiegt in den Kissen von Carlees Bett, während über die Mattscheibe des Fernsehers ein Tanzfilm nach dem anderen flimmerte – Step Up, Street Dance, Honey, Dance Academy, Center Stage sowie die ein oder andere Fortsetzung.

Carlee war schon immer verrückt nach diesem Kitsch gewesen und ich muss gestehen, dass sie mich schon vor einiger Zeit mit dieser Leidenschaft angesteckt hatte. Zwar gefallen mir action- und fantasylastige Hollywood-Filme immer noch einen Tick besser, trotzdem haben diese Tanzgeschichten ebenfalls etwas für sich. Es gibt stets ein Happy End und die meisten männlichen Hauptdarsteller sehen wirklich zum Anbeißen aus. Letzteres hatte ich vor Carlee natürlich nie laut gesagt, denn das hätte nur wieder einen Fragesturm ausgelöst, warum ich im Gegensatz zu so vielen meiner Mitschülerinnen noch keinen festen Freund an meiner Seite hatte.

Meine Erklärung dafür ist jedoch ganz einfach. Seit ich als Zwölfjährige meinen ersten feuchten und ungeschickten Kuss erhalten habe – von einem Jungen namens Toby, den ich zwar ganz nett gefunden, für den ich aber keine tieferen Gefühle gehegt hatte –, war ich fest entschlossen, auf denjenigen Kerl zu warten, bei dem mir mein Bauchgefühl »Der ist der Richtige!« verkünden würde.

Bislang war Carlee allerdings so gar nicht bereit gewesen diese Erklärung zu akzeptieren. Denn woher wollte ich bitte schön wissen, wer der Richtige sei, wenn ich niemandem auch nur den Hauch einer Chance geben würde? Die Logik einer kleinen Schwester eben …

In den Stunden, in denen Carlee und ich uns all die verschiedenen Tanz-DVDs ansahen, lugte Mary ab und an zu uns ins Zimmer. Immer dann, wenn Freunde oder Bekannte an der Haustür geklingelt oder angerufen hatten und uns ihr Beileid aussprechen wollten. Dank einer Eilmeldung in den Nachrichten wusste mittlerweile jeder Londoner von der Ermordung unserer Eltern.

Carlee und ich wollten jedoch niemanden sehen und mit niemandem sprechen und bald schon fragte Mary uns gar nicht mehr, sondern wimmelte die Leute von sich aus ab.

Shamal brachte uns am Abend wieder ein Tablett mit Essen und obwohl er nicht besonders glücklich darüber zu sein schien, dass wir so viel vom Frühstück übrig gelassen hatten, war er andererseits doch froh, dass wir überhaupt etwas angerührt hatten.

Am frühen Sonntagmorgen schluckte Carlee wieder eine Beruhigungstablette, während ich erneut darauf verzichtete und ähnlich schlecht schlief wie am Tag zuvor. Als ich um die Mittagszeit, nach einer raschen Dusche in dem angrenzenden Badezimmer meiner Schwester, einen Blick in den Spiegel warf, stellte ich dementsprechend fest, dass ich niemals größere und dunklere Augenringe besessen hatte. Aber ich wollte ja auch gar nicht zu Beginn der Woche als nächste Highschool-Beauty-Queen kandidieren.

Im Gegenteil, momentan konnte ich mir nicht mal vorstellen, je wieder zur Schule zu gehen. Dabei mochte ich sie – die Kensington Park School – sehr und hatte mich vor Kurzem noch wie irre darüber gefreut, dass es nun sogar möglich war, das Abitur dort zu machen und ich deswegen an keine andere Schule hatte wechseln müssen.

Aber jetzt? Was interessierten mich jetzt noch Spanisch, Französisch, Geschichte oder Psychologie?

Meine Schwester besucht übrigens die gleiche Schule, wobei die Mittelstufe in einem anderen Gebäude weiter nordwestlich in Kensington untergebracht ist. Im Vergleich zu mir ist Carlee eine noch weitaus fleißigere Schülerin, trotzdem ging ich davon aus, dass sie ebenfalls nicht wieder so schnell am Unterricht teilnehmen wollte. Und –

»Jenna? Kommst du?« Carlees Stimme drang gedämpft durch die geschlossene Tür des Badezimmers. »Ich habe gerade Street Dance II gestartet.«

»Noch eine Minute«, rief ich zurück und während ich mich hastig trocken rubbelte und in Unterwäsche, Jeans und einen langärmeligen, schwarzen Pullover schlüpfte, der meine rechte Schulter freiließ, vermied ich sorgfältig jede weitere Überlegung zu Carlees und meiner schulischen oder außerschulischen Zukunft.

Erneut verbrachten meine Schwester und ich den gesamten Tag in ihrem Bett. Wir sahen uns die Siege und Niederlagen von Hip-Hoppern, Ballerinen und Salsa-Tänzern an und wechselten hin und wieder ein paar Worte mit Mary oder Shamal, die uns Essen brachten oder nur so nach uns sehen wollten.

Ich fühlte immer noch dieses qualvolle Brennen in meiner Brust, doch als es schließlich so dunkel in Carlees Zimmer geworden war, dass wir nur noch aufgrund des flackernden Scheins des Fernsehers etwas erkennen konnten, da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es irgendwann – in tausend Jahren oder so – vielleicht nicht mehr ganz so weh tun würde, wenn vor meinem inneren Auge das Bild meines Dads aufblitzte, wie er eine eindringliche Rede über soziale Ungerechtigkeiten hielt. Oder das Bild meiner Mom, die sich lächelnd für einen Spendenscheck bedankte. Oder von beiden, wie sie sich etwa am letzten Wochenende vor einem Pressetermin gedrückt hatten, nur um mit Carlee und mir ein Eis im Hyde Park essen gehen zu können.

Meine Schwester und ich hatten von der Schule und unseren Freunden erzählt und Mom und Dad hatten uns andächtig zugehört. Anschließend waren wir herumspaziert, hatten die vielen, farbenfrohen Frühlingsblumen bewundert und gemeinsam über das fröhliche und schiefe Konzert einiger kleiner Kinder gelacht, die am Artemis Springbrunnen voller Inbrunst »London bridge is falling down« geschmettert hatten. Es war ein so schöner Nachmittag gewesen!

Ein melancholisches Lächeln huschte über meine Lippen und in genau diesem Moment sah Carlee zu mir auf.

»Woran denkst du?«, wisperte sie und ich verriet es ihr. Meine Schwester lächelte dann ebenfalls, wobei ihr gleichzeitig eine einzelne Träne über die Wange rollte.

»Ich vermisse Mom und Dad so«, murmelte sie, den Blick wieder auf den finalen Dance Battle der verschiedenen Tanzcrews gerichtet.

»Ich auch.« Sanft strich ich Carlee über den Arm und sie kuschelte sich daraufhin noch enger an mich. Ein klitzekleiner Hauch von Frieden breitete sich um uns herum aus. Und dann kam er.

Brody – das Arschloch – Miles.

Kapitel 3

Brody Miles zählte zu denjenigen unserer Verwandten aus Amerika, welche Carlee und ich nie zuvor persönlich getroffen hatten. Er ist ein Cousin dritten Grades unseres Dads und die äußerliche Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ sich nicht leugnen. Die Haare unseres überraschenden Gasts waren zwar vollständig ergraut und er musste schon über fünfzig sein, während Dad erst einundvierzig gewesen war. Von der Größe, Statur und den Gesichtszügen her hätten Brody und Dad allerdings durchaus Brüder sein können.

Was diesen Eindruck noch verstärkte, war der elegante, schwarze Anzug, den Brody Miles trug, inklusive akkurat gebundener Krawatte. Eine Sache hätte jedoch nicht unterschiedlicher zwischen den beiden sein können – während mich Dad immer, selbst wenn ich etwas ausgefressen hatte, mit warmen, moosgrünen Augen angeblickt hatte, waren die Augen von Brody kalt und das Grün darin wirkte viel zu grell. Zu giftig.

Unser Groß-Groß-was-weiß-ich-Onkel stand neben dem schwach glimmenden Kamin in unserem Bibliothekszimmer und musterte Carlee und mich kritisch von oben bis unten. Mary, die meine Schwester und mich hergeführt hatte, verschwand mit lautlosen, hastigen Schritten, so als würde sie vor Brody Miles fliehen.

Am liebsten hätte ich mir Carlee geschnappt und wäre mit ihr zusammen ebenfalls geflohen – zurück in ihr warmes, kuscheliges Bett, unsere sichere Zufluchtsstätte der letzten beiden Tage. Noch bevor Brody uns mit knappen Worten sein Beileid aussprach und den Grund seiner Anwesenheit erläuterte, wusste ich, er würde für mich immer ein Fremder bleiben, ein Eindringling in der Vertrautheit meines Zuhauses. Eine Gefahr.

Carlees ablehnender Miene nach zu urteilen, wollte sie den Großcousin unseres Dads ebenfalls nicht hier haben. Änderte nur leider nichts daran, dass wir uns ein paar Minuten später alle in ledernen Lesesesseln gegenübersaßen und Brody uns erneut kritisch musterte.

»Ist meine Erklärung bezüglich der Vormundschaft verständlich gewesen?«, vergewisserte er sich in einem steif klingenden Tonfall.

»Ja«, murmelte ich, während meine Schwester fest die Lippen aufeinanderpresste und überall hinsah, nur nicht in das Gesicht ihres Gegenübers. »Du bist gestern über den Tod unserer Eltern informiert worden und hast augenblicklich deinen Job an der New Yorker Börse gekündigt und die wichtigsten Sachen aus deiner Penthousesuite zusammenpacken lassen. Denn bis Carlee und ich unser achtzehntes Lebensjahr erreicht haben, wirst du bei uns in London bleiben und als unser gesetzlicher Vertreter und Verwalter unseres Besitzes fungieren, so wie Mom und Dad das in ihrem Testament festgelegt haben.«

Keine Ahnung, wie unsere Eltern auf die blöde Idee gekommen waren, einen für Carlee und mich völlig unbekannten Mann als Vormund auszuwählen. Vermutlich waren sie davon ausgegangen, dass es nie so weit kommen würde und so unsympathisch ich Brody auch instinktiv empfand, ich musste ihm immerhin zu Gute halten, dass er ehrlich zu sein schien. Er hatte umgehend zugegeben, dass er für seine Arbeit einige satte Prozente an unserem Familienvermögen erhalten würde. Manch anderer hätte uns hier wohl etwas von reiner Herzensgüte vorgeheuchelt, dass man sich uns armen, armen Kindern einfach hatte annehmen müssen. Man war ja schließlich kein Unmensch!

Im Laufe unseres Gesprächs sollte mir allerdings noch schmerzhaft bewusst werden, dass Brody Miles nicht einfach nur ehrlich, sondern vielmehr brutal ehrlich war. Denn auf meine Antwort hin schüttelte er betont langsam den Kopf.

»Falsch, Jenna. Ich sagte, ich bin sofort nach der Mitteilung über den Tod von Carlees Eltern aufgebrochen, um bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr für sie hier in London als Vormund zu fungieren, so wie das Testament meines Großcousins und seiner Frau es vorsieht.«

»Bitte … was?« Bislang hatte ich geglaubt, Brody hätte sich lediglich versprochen. Doch er hatte mich in seiner Erklärung mit vollster Absicht ausgespart. »Was soll das bedeuten?«

Ein harter, eisiger Knoten bildete sich in meinem Magen, während Brody schweigend darauf wartete, dass ich selbst zu einer Antwort fand. Und glücklicherweise fiel mir gleich darauf eine ein.

»Ach, du wirst nur Carlees Vormund sein, weil ich bereits über sechzehn bin, stimmt’s? Ich brauche gar nicht mehr zwangsläufig einen gesetzlichen Vertreter.«

Erleichtert blickte ich zu Carlee hinüber, die ziemlich blass aussah und immer noch keinen einzigen Ton von sich gab. Rasch griff ich nach ihrer Hand und drückte sie, um ihr zu signalisieren, dass ich sie keinesfalls alleine lassen würde. Wenn Brody Miles auf irgendwelche manipulativen Spielchen bei meiner kleinen Schwester gehofft hatte, hatte er seine Rechnung ohne mich gemacht!

Ein zaghaftes Lächeln glitt über Carlees Lippen und sie verschränkte ihre Finger mit meinen. Niemand würde uns beide je trennen können, auch dieser fremde Onkel nicht.

»Wieder falsch.« Brody Miles schnaubte unwillig auf. »Du wirst einen staatlichen Vormund erhalten. Denn wie es mit dir weitergehen soll, haben Mark und Amber in ihrem Testament nicht festgelegt. Du wirst darin mit keinem einzigen Wort erwähnt. Sie haben lediglich eine Vorsorge für ihre einzige Tochter – für Carlee! – getroffen.«

Carlee riss die Augen weit auf und der Knoten in meinem Magen nahm übelkeitserregende Ausmaße an. »Für … für ihre einzige Tochter Carlee«, echote ich abgehackt, wie jemand, der die Bedeutung dieser Worte einfach nicht begreifen konnte. Nicht begreifen wollte. »Aber … aber ich bin doch auch die Tochter meiner Eltern. Carlee ist meine Schwester.«

»Ist sie nicht.« Brody schien es gleichgültig zu sein, dass er mir gerade völlig den Boden unter den Füßen wegriss und mich in einen tiefen, dunklen Abgrund stieß.

»Carlee ist nicht deine Schwester. Und Mark und seine Frau waren nicht deine Eltern. Du bist weder ihr leibliches Kind, noch haben sie es jemals für notwendig erachtet, dich offiziell zu adoptieren. Ich habe mich bereits vergewissert, dass es tatsächlich keinerlei solcher Unterlagen gibt. Alle bürokratischen Entscheidungen, die mein Großcousin hinsichtlich dir treffen musste, hat er wohl nur dank seines enormen Einflusses umsetzen können. Für die Behörden existierst du gar nicht. Niemand weiß, wer genau du bist und woher du kommst, auch wenn du offenkundig bei den Sanders gelebt hast, seitdem du ein kleines Baby warst.«

»Er lügt!« Während ich wieder einmal Mühe hatte, mich daran zu erinnern, wie man atmete, deutete Carlee in blinder Wut auf Brody. »Das denkt er sich alles nur aus, um an Moms und Dads Geld ranzukommen!«

Ich hätte meiner Schwester so gerne zugestimmt. Hätte behauptet, dieser Kerl vor uns sei ein Erbschwindler und vermutlich gar nicht wirklich mit uns verwandt, obwohl Mary die Echtheit seines Ausweises durch ein kurzes Telefonat mit Xander Bennett polizeilich hatte bestätigen lassen. Und uns obendrein John vor der Tür des Bibliothekszimmers zugeraunt hatte, dass er diesen Mann von den Geschäftsreisen meines Dads in die USA flüchtig kennen würde.

Aber … – es gab da plötzlich dieses unbestimmte Gefühl tief in mir. Ein Gefühl, das mir sagte, dass nichts und zwar absolut gar nichts an Brody Miles Geschichte gelogen war, so absurd das auch alles klang.

»Ich möchte das Testament sehen«, verlangte ich mit heiserer Stimme und Brody zog schulterzuckend einen dicken Briefumschlag aus einer schwarzen Aktentasche hervor, die er neben seinem Ledersessel abgestellt hatte.

»Selbstverständlich. Das hier ist nur eine beglaubigte Kopie, doch in den nächsten Tagen steht für Carlee und mich ein Termin bei Mister Scott an, dem Anwalt, der im Auftrag ihrer Eltern das Original verwahrt. Du kannst uns begleiten, falls du das wünschst.«

Statt zu antworten, stand ich mit wackeligen Knien auf und nahm einen Brieföffner in der Form eines Dolches von einem kleinen Lesetisch, um damit den Briefumschlag zu öffnen.

Carlee stellte sich sofort neben mich und schweigend überflogen wir das Testament unserer Eltern. Je juristischer und unverständlicher die Textpassagen wurden, desto schneller blätterte ich durch die Seiten, doch das Entscheidende hatte ich ohnehin längst erfasst – Carlees Namen, der bestimmt hundert Mal auftauchte. Und meinen, der sich in keiner einzigen Zeile wiederfand.

»Ihr hättet nur zusammen in einen Spiegel sehen müssen«, verkündete Brody Miles kopfschüttelnd, als ich schließlich mit brennenden Augen das Testament sinken ließ. »Es ist so offensichtlich, dass ihr niemals Schwestern seid!«

»Dann haben wir eben nicht die gleiche DNA, na und?« Aufgebracht warf ich den Papierstoß in Brodys Richtung, der völlig ungerührt in seinem Sessel thronte. Und das, obwohl Carlee mittlerweile so bleich war, dass ich Angst bekam, sie könnte jeden Moment umkippen.

Leider verfehlten die Seiten Carlees neuen Vormund um ein gutes Stück, aber statt ihm auch nur eine einzige weitere Sekunde meiner Aufmerksamkeit zu schenken, legte ich beide Arme um meine Schwester und zog sie dicht zu mir heran.

»Mir egal, was in diesem Testament steht«, beschwor ich sie, obwohl das so gar nicht stimmte. »Und mir egal, was dieser Typ sagt – für mich wirst du immer meine Schwester sein!«

Und das stimmte zu eintausend Prozent. Was auch immer dieses seltsame Testament meiner Eltern zu bedeuten hatte – ich würde es schon noch herausfinden. Würde herausfinden, was es mit all den Geheimnissen auf sich hatte, die Mom und Dad so sorgfältig vor Carlee und mir gehütet hatten.

Es tat verdammt weh zu erkennen, dass es solche Geheimnisse überhaupt in unserer Familie gab, und ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass meine Eltern einen sehr, sehr guten Grund dafür gehabt hatten, Carlee und mir gewisse Dinge vorzuenthalten. Trotzdem änderte das nichts an meiner wilden Entschlossenheit herauszufinden, wer meine leibliche Eltern waren. Wer ich war.

Das versprach ich mir selbst. Doch völlig egal, was ich bei meiner Suche entdecken würde – was ich zu meiner Schwester gesagt hatte, meinte ich auch so.

»Und du bist meine Schwester!«, flüsterte Carlee mit einem leisen Schniefen zurück. »Ebenfalls für immer.«

»Da ihr offenbar so sehr aneinander hängt …« Brody verzog das Gesicht, ihm passte diese Tatsache wohl ganz und gar nicht. »… wird es euch bestimmt freuen, dass ihr euch auch zukünftig hin und wieder sehen könnt. Das Heim, in dem Jenna leben wird, bis sie volljährig ist und finanziell auf eigenen Beinen stehen kann, liegt gar nicht weit von London entfernt. Ich habe bereits mit der dortigen Leiterin telefoniert und sie erwarten dich morgen früh um Punkt acht Uhr. John wird dich hinbringen.«

Ich starrte Dads Cousin an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, unfähig mich auch nur um einen einzigen Deut zu bewegen. Ich sollte meine Heimatstadt verlassen, mein Zuhause, meine Schule? Alle meine Freunde und jede einzelne Person, die ich seit Jahren kannte? Und – mein Blick flackerte zu Carlee – und ich sollte das einzige Wesen verlassen, das ich tatsächlich noch als meine Familie betrachtete?

»Du solltest packen gehen.« Brodys Stimme klang in keiner Weise gehässig oder gar grausam, sondern nur pragmatisch und nüchtern. Das machte alles noch sehr viel schlimmer. Er klatschte einmal kurz in die Hände. »Das Dienstmädchen – wie hieß sie gleich? Mary? – kann dir gewiss beim Packen behilflich sein. Mehr als einen Koffer wirst du nämlich nicht mitnehmen können und …«

Brody Miles nächste Worte verstand ich nicht mehr, ich hörte nur noch das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren. Immer noch stand ich wie erstarrt da, während Carlee sich verzweifelt an mir festklammerte und mich mit ihren Augen anflehte irgendetwas zu tun, um das Versprechen einzuhalten, das ich ihr gegeben hatte.

Mein Kopf war jedoch wie leergefegt, mir fiel absolut nichts ein, was ich gegen diesen kaltschnäuzigen Mistkerl tun sollte, der meinen Rauswurf offenbar bereits bis ins letzte Detail durchdacht hatte.

Nur am Rande registrierte ich, wie Mary und John die Bibliothek betraten und entgeistert Brodys Anweisungen entgegennahmen, mit denen er sie sogleich überschüttete. Und dann, plötzlich, war es meine kleine Schwester Carlee, die handelte, statt lethargisch auf ein Wunder zu hoffen.

»Entweder wir beide …«, sagte sie und der drohende Tonfall ihrer Stimme übertönte sogar das Rauschen in meinen Ohren. »Oder keine von uns!«

Mit diesen Worten schnappte sich Carlee den glänzenden Dolch, der doch eigentlich zum Briefe öffnen gedacht war, und fuhr sich mit der scharfen Spitze quer über das linke Handgelenk.

Kapitel 4

»Carlee, nein!«, brüllte ich und vor Panik schlug mein Herz wie verrückt. Aber mein Ruf kam zu spät, es quollen bereits einzelne Blutstropfen aus dem Schnitt hervor, den meine Schwester sich selbst zugefügt hatte.

Instinktiv wollte ich auf sie zueilen und ihr den Dolch aus der Hand reißen. Denn völlig egal, wohin Brody Miles mich zu verbannen gedachte, das Leben meiner Schwester war viel zu wertvoll, um es als Druckmittel gegen dieses Arschloch einzusetzen!

Carlee wich einen raschen Schritt zurück und drückte den Dolch nur noch fester gegen ihr Handgelenk. »Bleibt weg«, verlangte sie und Tränen – vor Angst? Schmerz? Zorn? – rollten ihre Wangen hinab. Ihr Blick heftete sich auf Brody, dessen bislang so gleichgültige Miene ein Ausdruck tiefster Bestürzung aufwies.

»In dem Testament meiner Eltern gibt es einen Paragrafen«, verkündete Carlee, während sich niemand von uns mehr zu bewegen traute. Trotz ihrer Tränen klang die Stimme meiner Schwester ruhig und entschieden.

»Sollte ich mein achtzehntes Lebensjahr aus gleich welchem Grund nicht erreichen, geht das gesamte Vermögen meiner Eltern an verschiedene, von meiner Mom ausgewählte, gemeinnützige Organisationen. Du als mein Vormund erhältst nicht einen einzigen Penny.«

Das stimmte, ich hatte diesen Abschnitt ebenfalls gelesen, jedoch sofort wieder die Möglichkeit verdrängt, dass Carlee in den nächsten fünf Jahren etwas zustoßen könnte.

»Also überlege es dir – Jenna UND ich oder du verschwindest am besten sofort zurück nach New York. Und glaube nicht, du könntest mich mit einer Lüge hinhalten!«

»Carlee, hör auf damit«, bat ich so flehentlich wie ich nur konnte. Carlee deutete bloß ein Kopfschütteln an und starrte weiterhin in Brodys Gesicht, in dem es heftig arbeitete. Die giftgrünen Augen hatten sich verengt, die Kiefernmuskeln traten deutlich hervor und eine steile Falte zeichnete sich auf seiner Stirn ab.

Ich bemerkte, wie sich John im Schatten eines Buchregals langsam näher an Carlee heranschob. Er ist noch ein gutes Stück größer als ich und besitzt einen extrem breiten Oberkörper, trotzdem schien meine Schwester seine vorsichtige Annäherung zunächst nicht wahrzunehmen. Oder sie ignorierte sie bewusst.

Ja, feuerte ich John stumm an. Nimm ihr bloß diesen verfluchten Dolch weg! Hatte Dad mir nicht erzählt, John wäre für einige Jahre beim Militär gewesen, bevor er sich für einen gänzlich anderen Job entschieden hatte? Ein fähiger Soldat konnte bestimmt eine Dreizehnjährige entwaffnen, ohne ihr dabei weh zu tun, oder?

In genau diesem Moment gab eine der Dielen unter Johns Gewicht ein leises Knarren von sich und Carlees Blick schnellte zu ihm hinüber.

»Entscheide dich«, wiederholte sie knapp und ihre Worte galten zweifellos Brody, obwohl sie John fixierte. »Und zwar jetzt!«

Weitere Blutstropfen rannen über Carlees Handgelenk und ich fühlte mich so hilflos wie nie zuvor in meinem Leben. Selbst die Stunden, die ich im Krankenhaus verbracht und gebangt hatte, ob Mom und Dad ihre Verletzungen überstehen würden, kamen mir plötzlich weniger entsetzlich vor, als das, was sich da gerade unmittelbar vor meinen Augen abspielte. Und wenn dieser oberdämliche Brody Miles nicht sofort –

»In Ordnung.« Erschüttert und nervös nestelte Brody an seinem Hemdkragen und dem Krawattenknoten herum. »Jenna kann hier wohnen bleiben. Du hast mein Wort. Herr im Himmel, ich hatte doch keine Ahnung, wie labil –« Er unterbrach sich selbst. »Hast du gehört? Jenna bleibt. Jetzt lass endlich diesen Dolch fallen!«

Carlee hatte sich wieder in seine Richtung gewandt und nach einem kurzen Zögern lockerte sie nun tatsächlich ihren Griff. Keine Sekunde später stand John direkt vor ihr und entwand ihr behutsam den Dolch. Und noch einen winzigen Moment später hatte ich meine schluchzende Schwester bereits fest in meine Arme geschlossen.

»Schon gut«, murmelte ich, immer noch völlig geschockt von Carlees drastischer Reaktion auf unsere Trennung. »Schon gut. Wir bleiben zusammen, so wie wir das vereinbart haben, ja?«

Ich kann gar nicht beschreiben, wie elend ich mich fühlte, dass ich Carlees Absicht nicht rechtzeitig erkannt hatte. Dass ihre tiefe Verzweiflung in meiner eigenen Fassungslosigkeit untergegangen war. Meine kleine Einhorn- und Glitzerverrückte Schwester hatte nur meinetwegen einen Selbstmordversuch in Betracht gezogen. Das war so etwas von … von falsch! Wie hatte es nur soweit kommen können?

Nie wieder! Sanft strich ich Carlee über die blonden Locken, während ich sie aus der Bibliothek und in ihr Zimmer führte. Nie wieder würde ich zulassen, dass Carlee keinen anderen Ausweg sah, als sich selbst zu verletzen.

Ich drückte sie behutsam auf die Matratze ihres Bettes hinunter und setzte mich neben sie, den Arm immer noch um ihre bebenden Schultern geschlungen.

John, der uns schweigend gefolgt war, besah sich nach einer leisen Bitte Carlees blutendes Handgelenk. »Hm, es ist nur ein leichter Schnitt, nicht weiter schlimm«, murmelte er. »Das ist bald wieder verheilt.«

Was man über die Verletzungen in Carlees Innerem wohl kaum behaupten konnte.

John verschwand, um gleich darauf mit einem breiten Pflaster zurückzukehren, das er vorsichtig auf Carlees Handgelenk klebte. Ich erhob mich derweil und löste eine weitere von Doktor Brooks Tabletten in einem Wasserglas auf, um es anschließend Carlee zu reichen.

»Tut mir leid, Jenna«, raunte sie und ihre Finger krampften sich um das Glas. »Ich … ich wollte das gar nicht tun. Nur –«

»Ja, ich weiß.« Ich holte einmal tief Luft, um meiner Stimme nicht die Furcht anmerken zu lassen, die mich immer noch fest in ihren Klauen hielt. »Mir ist klar, warum du das gemacht hast. Aber bitte, tue so etwas nie, nie wieder! Verstanden? Ich werde eine andere Lösung finden, falls sich dieser Kerl da unten in den nächsten fünfzehn Monaten erneut irgendeinen Schwachsinn ausdenken sollte.«

Bevor meine Schwester noch falsche Rückschlüsse aus meinen Worten ziehen konnte, ergänzte ich rasch: »Sobald ich achtzehn bin, wäre es doch gelacht, wenn wir nicht jedes Gericht dieser Welt davon überzeugt kriegen würden, dass ich als Vormund weitaus besser für dich geeignet bin als irgendein entfernter Verwandter. Fünfzehn Monate, das kriegen wir schon hin! Oder was meinst du?«

Carlees Schluchzen ebbte schlagartig ab und ein hoffnungsvolles Leuchten trat in ihre Augen. »Das klingt schön. Ich will dich viel lieber als Vormund haben als Dads Cousin!«

Mit kleinen, zaghaften Schlucken leerte meine Schwester das Glas und John nahm es ihr aus der Hand, um sich anschließend diskret aus dem Zimmer zurückzuziehen. Ich deckte Carlee bis zur Nasenspitze zu und blieb so lange neben ihr sitzen, bis ihr leises Gemurmel über fünfzehn Monate, die wirklich nicht sooo lange seien, verstummte und ihre Atemzüge tiefer und gleichmäßiger wurden.

Dann erhob ich mich abrupt von Carlees Bett und spähte in den Flur hinaus.

»Braucht ihr noch etwas?« Mary, die keine drei Meter entfernt in einer Nische gestanden hatte, eilte umgehend auf mich zu. Sie wirkte verstört, bemühte sich aber gleich darauf um einen neutralen Gesichtsausdruck, so als wollte sie mich nicht unnötig mit ihren Gefühlen belasten.

»Kannst du bitte bei Carlee bleiben?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme. »Ich muss kurz raus, etwas frische Luft schnappen. Und ich will nicht …«

Noch bevor mir eine passende Formulierung dafür einfiel, dass ich meine Schwester auf keinen Fall in der Nähe eines Mannes lassen würde, dem ich nicht im Mindesten vertraute, nickte Mary bereits eifrig.

»Natürlich. Ich werde nicht eine Sekunde von ihrer Seite weichen.«

»Danke.« Ich wusste, auf Mary konnte ich mich verlassen. Genau aus diesem Grund mag ich sie auch so. Trotzdem erledigte ich noch eine Sache, bevor ich die breiten Treppenstufen hinuntereilte, um mir eine dringend benötigte Auszeit von dem Scherbenhaufen zu nehmen, den ich bis vor Kurzem noch mein Leben genannt hatte.

Ich trat an die kleine Sitzgruppe in Carlees Zimmer heran und versenkte die Packung mit den Beruhigungstabletten tief in meiner Hosentasche. Klar gab es unzählige weitere Varianten, wie man einen Selbstmord begehen konnte, doch wenigstens diese eine Möglichkeit wollte ich noch ausschließen.

»Jenna«, rief Mary leise von Carlees Bett, wo sie sich neben meiner schlafenden Schwester niedergelassen hatte und ihr fürsorglich eine verirrte Locke aus der Stirn strich. »Du solltest wissen, dass es den meisten hier im Haus völlig egal ist, dass Mister Miles von nun an unsere Gehälter bezahlen wird. Wir stehen dennoch fest hinter Carlee und dir! Einen Job können wir notfalls woanders finden, aber ihr beide seid etwas ganz Besonderes für uns. Also verschwende keinen Gedanken daran, auf wen wir im Zweifel hören würden.«

Hätte Brody Miles diese Worte mitbekommen, hätte sich Mary wohl gleich am nächsten Tag nach einem neuen Arbeitgeber umsehen müssen. Doch ihr eindringlicher Blick verriet mir, dass es ihr völlig ernst mit dieser Beteuerung war. Ein unglaublich warmes Gefühl flackerte in meiner Brust auf und vor Rührseligkeit bekam ich kein einziges Wort heraus. Also nickte ich nur stumm und Mary schien das vollauf zu genügen. Sie wandte sich wieder Carlee zu und ich lief die Treppen hinunter und hielt zielstrebig auf die Haustür zu.

Ich musste endlich etwas Ordnung in meine chaotischen Gedanken bringen. Mir einen Plan zurechtlegen, wie es denn jetzt tatsächlich weitergehen sollte. Und dafür … – mein Blick huschte unwillkürlich in Richtung Küche und ich stoppte mitten im Schritt.

Bevor ich mich in unseren kleinen Garten verzog, sollte ich unbedingt noch etwas klären, auch wenn ich mich jetzt schon vor der Antwort fürchtete.

Als ich die geräumige und moderne Küche betrat, war Shamal gerade dabei, ein wunderschönes Muster in eine Wassermelone zu schnitzen. Er legte das Messer jedoch sofort zur Seite und sah mich freundlich an.