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DDR in den Achtziger Jahren: Volker Herold ist verheiratet, ein junger Vater von zwei Kindern, arbeitet als Technologe in einem Baubetrieb, ließ sich als informeller Mitarbeiter von der Stasi anwerben und träumt davon, Schriftsteller werden zu können. Doch wenn aus der großen Liebe eine gute Ehe werden soll, gibt es viele Hemmnisse. Die Kinder fordern ihre Rechte, die tausend Pflichten des Alltags und der Beruf. Und gerade da will Volker Herold seinen Traum, Schriftsteller zu werden, in die Tat umsetzen. Ein neues Leben soll es werden! Der Abschied vom alten Leben fällt Volker Herold nicht leicht! Doch er wagt den Schritt. Er kündigt.
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Seitenzahl: 403
...studierte Geophysik, Literatur und Philosophie / freiberuflich seit 1984 als Kolumnist, Fotograf, Kabarettist und Schriftsteller … verheiratet… zwei Kinder…
Wir schreiben Freitag, den dreißigsten September 1983
Es ist fünf Uhr und fünfundzwanzig Minuten
In wenigen Sekunden ist es genau fünf Uhr und dreißig Minuten. Tüt tüt tüt.
Es ist fünf Uhr sechsunddreißig Minuten
Es ist sechs Uhr und fünfzehn Minuten
Es ist sechs Uhr und dreißig Minuten.
Es ist sechs Uhr und neununddreißig Minuten
Es ist sechs Uhr und fünfundvierzig Minuten
Es ist sechs Uhr und fünfundfünfzig Minuten
Es ist sieben Uhr und drei Minuten
Es ist sieben Uhr und fünfzehn Minuten
Es ist sieben Uhr und dreißig Minuten
Es ist sieben Uhr und vierzig Minuten
Es ist sieben Uhr und achtundfünfzig Minuten
Es ist acht Uhr und drei Minuten.
Es ist acht Uhr und fünfzehn Minuten.
Es ist acht Uhr und fünfundzwanzig Minuten
Es ist acht Uhr und fünfunddreißig Minuten
Es ist acht Uhr und fünfundfünfzig Minuten
Es ist neun Uhr und acht Minuten
Es ist neun Uhr und fünfundvierzig Minuten
Es ist zehn Uhr und sechsunddreißig Minuten
Es ist zehn Uhr und fünfundvierzig Minuten
Es ist zehn Uhr siebenundfünfzig Minuten.
Es ist elf Uhr und zweiunddreißig Minuten
Es ist zwölf Uhr und zehn Minuten
Es ist zwölf Uhr und fünfundzwanzig Minuten
Es ist zwölf Uhr und sechsundvierzig Minuten
Es ist dreizehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten
Es ist dreizehn Uhr und fünfzig Minuten
Es ist vierzehn Uhr und achtundzwanzig Minuten
Es ist vierzehn Uhr und fünfzig Minuten
Es ist fünfzehn Uhr und drei Minuten
Es ist fünfzehn Uhr und fünfzehn Minuten
Es ist fünfzehn Uhr und fünfundvierzig Minuten
Es ist sechzehn Uhr und fünf Minuten
Es ist sechzehn Uhr und zehn Minuten
Es ist sechzehn Uhr und elf Minuten
Tage kommen im Leben - nach Jahren, die man als braver Erdenbürger einfach so dahingelebt hat - da schwankt plötzlich der Boden. Die Zahncreme schmeckt nach Schokolade.
Bilder oder nur Schemen der abgelebten Zeit tauchen aus der Erinnerung auf, klumpen sich zusammen, stauen und bündeln sich in der Gegenwart. An manchen Tagen entzünden sich Leuchtfeuer, deren greller Schein in einer fremden Zukunft verloren geht. Irrlichter sind es bisweilen. Blendwerk.
Solch ein Tag steht ihm bevor. Ihm, Volker Herold, achtunddreißig Jahre alt. Mitte des Lebens könnte man aus statistischer Sicht sagen. Seit fünfzehn Jahren verdient er sein täglich Wurstbrot beim VEB Rohrleitungsbau. Ebenfalls fünfzehn Jahre ist er mit Irene verheiratet. Volker Herold ist zweifacher Vater. Erst kam Sohn Harry und kurz darauf Töchterchen Ariane.
Dass ihm heute solch ein schicksalsschwangerer Tag, bevorsteht, ist einer frühen, unbedachten Entäußerung seines romantischen Wesens geschuldet, welches er zweifelsohne nicht von seinem Vater geerbt hat, der stets pragmatisch und Bäcker gewesen war. Vor zwanzig Jahren nämlich hatte Volker Herold im Überschwang der Verliebtheit ein Gedicht für seine Angebetete verfasst. Jene trug der Mode der Zeit angepasst den schönen Namen Peggy. Mit Nachnamen Hempel. So war das Gedicht mit der Widmung "für Peggy Hempel" versehen. Peggy Hempel fehlte das Gefühl für Lyrik. Sie gab ihm den Laufpass. Spinner!
Das Schreiben von Gedichten gehört aber zu jenen Dingen in der Welt, die man nicht ungestraft erfolgreich tut. Es ist vergleichbar mit Leben schlechthin, oder mit Lieben - einmal angefangen damit, kann man es nicht mehr lassen. Es wird zur Sucht. Hinzu kam bei Volker Herold fatalerweise eine Vision, oder eher eine fixe Idee, welche ihm vorgaukelte, er - ausgerechnet er! - könnte dazu berufen sein, die Welt mittels Beschriftung unschuldigen Papiers zu retten.
Oder, wenn schon nicht zu retten, dann wenigstens doch erheblich zu bessern. Das konnte doch alles, so wie es war, nicht bleiben! Das musste doch alles ganz anders werden - die tagtägliche Arbeit, die Kollegen, die Chefs, die Leute in der Straßenbahn, die Artikel in der Zeitung, die Reden auf den Parteitagen, die Masken im Fernsehen... das alles konnte doch nicht länger ohne Widerspruch hingenommen werden. Einer musste anfangen. Dazwischen hauen! Munter machen!
Nein, Volker Herold durfte die Menschheit, die nun einmal aus der unbelebten Materie hervorgetreten war, nicht dumm sterben und untergehen lassen!
Oft träumte er sich auf einem Balkon stehend, sprechend zu tausenden von Menschen... der Balkon ähnelte meistens dem, von welchem der Papst seinen Segen in die Welt zu verteilen pflegt... und dann ein Jubel...
Seine Sendungsahnung bekam natürlich stets neue Nahrung durch die wachsende Verblödung der Gesellschaft. Er spürte förmlich, wie er von Tag zu Tag mehr herausragte - ein Pfahl im Sumpf.
Also schrieb Volker Herold, was die Feder, bzw. der Kugelschreiber hergab: Gedichte, Geschichten, Hörspiele, Theaterstücke, Schlagertexte, philosophische Essays... nein, nichts war vor ihm sicher.
Und nun, nach fünfzehn Jahren Rohrleitungsbau hatte Volker Herold einen Entschluss gefasst. Oder richtiger gesagt - die Zu- und Fälligkeiten des Lebens hatten ihn an den Rand eines Tages getrieben, an welchem er sich würde entscheiden müssen. Weichenstellung in eigener Sache. Herrgott der persönlichen Biografie! Schreiber oder Rohrleitungsbauer?
Die Kündigung war von Volker Herold fristgemäß bereits vor sechs Wochen beim Betriebsdirektor des VEB Rohrleitungsbau eingereicht worden. Doch bis zum heutigen Tag hatte kein Vorgesetzter ein Gespräch mit ihm gesucht. Keiner hat versucht ihn zu halten. Volker Herold fühlt sich übergangen, ist beleidigt und demzufolge entschlossener denn je: Heute ist der Letzte! Punkt Unterschrift gezeichnet Messias!
Nein, natürlich würde er mit seinem richtigen Namen gegenzeichnen müssen, mit Herold. Mit "Messias" unterzeichnet er die gelegentlichen Berichte, die er den Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit liefert. Messias!
Die Wahl war auf diesen Decknamen gefallen, weil Volker Herold seine selbst gemalten Bilder mit dem Künstlernamen "Messias" signiert hatte. Herold war ihm zu ordinär erschienen. Auch in Öl hatte er sich schon hier und da versucht. In den letzten Jahren aber immer seltener. Sein wichtigstes Bild ist ein fast lebensgroßes Doppelporträt seiner Kinder. Aber die Malerei war nur ein Hobby. Das Schreiben war Berufung - fühlte er.
Ein Leben komplett für den Rohrleitungsbau war ihm eine Horrorvision. Fünfzehn Jahre reichen. Was nützt es ihm, ein Fachmann zu sein. Anerkannt in Rohrlegerkreisen. Mit guten Chancen, die betriebliche Karriereleiter noch einige Stufen empor zu klettern. Er hat vor sechs Wochen gekündigt. Wenn er die Kündigung nicht doch noch zurückzieht, dann ist heute der Letzte; dann wird er sich heute den Laufpass geben.
Noch befindet sich der Tag im Dämmerzustand. Ob er für Volker Herold tatsächlich der letzte Arbeitstag als Technologe im VEB Rohrleitungsbau sein wird, ist noch fraglich. Vorläufig liegt Volker neben seiner Irene auf der ehelichen Doppelbettcouch, ringsum Bücherregale, die an den Wänden bis fast unter die Decke reichen, und schnarcht mittelschwer. Das Schlafzimmer dient auch als Lese- und Arbeitszimmer. Ein kleiner Schreibtisch steht direkt unter dem einzigen Fenster, welches nachts geöffnet ist, außer bei Temperaturen unter minus 10 Grad. Immer, wenn er auf dem Rücken zu liegen kommt, schnarcht er, was Irene, die einen leichten Schlaf besitzt, regelmäßig aus ihren Träumen reißt. Oh, was hat sie Volker dafür schon gehasst! Und wenn sie lange nicht wieder einschlafen kann, hasst sie ihn besonders ausführlich und intensiv. Erschlagen, einfach erschlagen, den Kerl. Dieses Vorhaben blieb bisher - sowieso mehr rhetorisch gemeint - im Bereich des Theoretischen, obwohl sich Irene ziemlich sicher wäre, von einem Gericht mildernde Umstände zuerkannt zu bekommen. Sie bräuchte nur die unmenschlichen Qualen beschreiben, die sie Nacht für Nacht erdulden muss. Das müsste für Freispruch genügen. Befindet sich Volker allerdings mehrere Tage auf Dienstreise, dann fehlt ihr manchmal das Schnarchen von nebenan. Und nicht nur das. Wenn man nicht dauernd so abgeschlafft und müde wäre, sollte man es mindestens zweimal täglich miteinander treiben, findet Irene - ebenfalls manchmal. Und manchmal versteht sie überhaupt nicht, weshalb es ihr erst kürzlich wieder so ausdrücklich nach Mann zumute war. Diese Hormone machen eben glatt, was sie wollen.
Um den Traum, der ihr heute Morgen durch Volkers Schnarchen zerrissen wird, ist es Irene allerdings nicht sehr leid. Ihr träumte, sie sei zum dritten Male schwanger, und wisse nicht, wer der Erzeuger gewesen ist. Ein bedrückender Traum, denn Irene, ist ihrem Mann nicht treu. Sie geht fremd, wie man landläufig sagt.
Volker ahnt davon nichts.
Rein theoretisch hätte er vielleicht Verständnis für Irene. Nach fünfzehn Jahren Ehe, da kommt man schon mal auf die Idee, dass es noch andere gibt. Wenn da Irene bestimmte Wünsche und Träume hätte... - ihm geht es schließlich auch nicht anders! Mal ein Stückchen fremde Haut...!
"Schnarch nicht!" - kommandiert Irene, dreht sich auf die andere Seite und schläft sofort wieder ein. Das Hassen unterbleibt. Volker, bei dem das Kommando "Schnarch nicht" durch jahrelange Einwirkung zu einem bedingten Reflex geführt hat, wendet sich, ohne dabei richtig munter zu werden, aus der Rückenlage in die so genannte stabile Seitenlage. So, nun herrscht wieder friedliche Stille im Schlafzimmer. Nur ab und an startet draußen knatternd ein Trabi. Oder etwas gedämpfter ein Wartburg. Die Leute beginnen zur Arbeit aufzubrechen, bzw. zu fahren. Von den alten Lindenbäumen schallt das Morgengezänk der Spatzen herein. Die Spatzen sind im dichten Blattwerk versteckt. Als könnten die Bäume zwitschern, denkt Volker manchmal. Momentan befindet er sich noch in einer eigenartigen Traum-Wach-Phase. Tausend stetige Tropfen höhlen ihm das Gehirn. Dieses ewig undichte Dach aber auch! Wenn wenigstens der Regenschirm Schutz bieten würde.
Weshalb die Bespannung des Regenschirmes, der da über ihm hängt, aus grobem Netzwerk besteht, wie es die Ostseefischer zum Makrelenfang benutzen, ist ihm schleierhaft. Es bietet nicht den geringsten Abschirmeffekt gegen diese bohrenden Tropfen. Wieder und wieder treffen sie auf dieselbe Stelle - kurz über dem linken Auge auf die Stirn. Hart, schwer, Quecksilbertropfen.
Mit jedem neuen Tropfen, der an der Stirn zerschellt, füllt sich sein Bett mit weiteren Silberperlen. Es sind winzige Spiegelkugeln, so wie sie zu Weihnachten am Tannebaum hängen, nur viel kleiner. Und in jeder dieser Kügelchen spiegelt sich eine grienende Larve. Es ist beim zweiten Hinschauen eindeutig sein eigenes Gesicht, wenn auch skurril verzerrt. Volker erkennt sich an seinem rostroten Schnauzbart mit den leicht herabhängenden Enden. Es ist gut, wenn man etwas hat, woran man sich erkennen kann, denkt er. So viele Fische schwimmen im Meer und fressen sich gegenseitig auf.
Ein weiteres Indiz sind die tiefen, dunklen Pupillen, die mit dem blassen Gesicht kontrastieren - winzige Brunnen. Bohrungen. Anstatt Erdöl kommen Tränen. Doch Volker kann sich nicht erklären, weshalb er flennt wie der berühmte Schlosshund. Wegen dieses undichten Daches womöglich? Wegen Dachschadens? Volker lächelt über den Doppelsinn. Er lächelt mit dem Wissen, im Traum zu lächeln und jeden Moment aufwecken zu können. Aber noch liegt er, liest in einem selbst geschriebenen Manuskript, trägt eine Brille auf der Nase, obwohl er sonst noch gar keine Brille braucht - weder fürs Nahe, noch für die Ferne -, rückt sich die Zipfelmütze zurecht und verspürt starke Abneigung, für das Spitzwegsche Gemälde vom armen Poeten noch länger Modell zu liegen. Er weiß doch, dass Modellstehen nur etwas einbringt, wenn man Akt steht. Damals im Grafikzirkel haben die Aktmodelle sechzig Mark für die Stunde bekommen. Meist waren es üppige Damen, die sich ihre Rente als Aktmodell aufbesserten. In den Sitzpausen schlenderten sie, ohne sich ihrer Fülle oder Nacktheit zu genieren, durch die Reihen der Zirkelmitglieder und gaben Tipps und gute Ratschläge zur Verbesserung der Zeichnungen. Doch auch bei den jüngeren und ansehnlicheren Modellen hatte Volker niemals einen Steifen bekommen. Anders jetzt, wo er die Konturen irgendeiner schlummernden Venus nachzeichnet. Besonders bei der spaltenartigen Vertiefung, die sich im Dreieck der Schenkel hinter dem Gestrüpp der Schamhaare abzeichnet, könnte er sich tagelang aufhalten. Aber nein, er muss selbst Modell sitzen - für diesen Spitzweg, diesen Idyllen Maler! Volker nimmt zwei Pferdeäpfel aus der Jackentasche, wie er sie als Dreikäsehoch für Großmutters Erdbeerbeet von der Straße hatte aufsammeln müssen, und wirft sie gezielt gegen die Leinwand, dass es nur so spritzt. Der Museumswächter kommt hereingestürmt und fuchtelt empört mit einer Kalaschnikow herum. Er hat Ähnlichkeit mit dem Hauptfeldwebel der Grenzkompanie, in welcher Volker gedient hat. Alarm! - so brüllt der Hauptfeldwebel, wobei seine Stimme nicht militärisch, sondern wie ein Wecker klingt - blechernes Scheppern.
Der Wecker der Familie Herold ist ein Ungetüm, aus den Anfängen der technischen Revolution. Oben befinden sich zwei metallene Glockenohren und ein überdimensionaler Tragbügel, der als Haltegriff in Straßenbahnen dienen könnte. Klappt man den Tragbügel nach hinten, stellt der Klöppel seine Nerven zerfetzende Tätigkeit zwischen den Glockenohren ein. Wie üblich wird zuerst Irene vom Wecker aufgescheucht. Sie tastet schlaftrunken nach dem Abstellbügel, findet ihn und sinkt, erleichtert über die zurück gewonnene Stille, zurück auf das Kopfkissen. Sie muss erst aufstehen, wenn Volker die Wohnung verlässt. Doch zu ihren ehelichen Pflichten, die eigentlich nirgendwo festgeschrieben sind, gehört es, zu überwachen, dass Volker spätestens fünf Minuten nach dem Wecksignal aus den Federn findet. Eine lästige Pflicht, weil Volker meistens gegen Morgen nach den Schnarch Exzessen unerschütterlich tief und fest schläft. Oft schon hat sich Irene geschworen, Volker einfach mal verschlafen zu lassen. Damit er sich's merkt!
Heute wird ihr das Amt allerdings leicht gemacht. Volker beginnt ganz von allein sich zu recken, sich zu strecken, sich zu drehen, sich hin zu Irene zu wenden. Er schiebt seine Hand unter ihre Bettdecke und streicht über die schlafwarme Haut, die sich wie chinesische Seide anfühlt. Oder wie japanische, jedenfalls sehr glatt und zart... es ist die hintere Gegend zwischen Taille und Oberschenkel. Volker fühlt sich zu weiteren Aktivitäten aufgelegt. Seine Hand wandert weiter.
"Lass mich!" - nörgelt Irene und schiebt Volkers Hand zurück. Das ist eigentlich nicht ihre Art. Sie gönnt Volker das Vergnügen. Sich auch. Und so oft kommen die tätlichen Annäherungsversuche nun auch wieder nicht vor. Zumindest nicht früh vorm Aufstehen. Volker registriert die Abwehr. Er überlegt und erinnert sich, dass der gestrige Abend nicht in absoluter ehelicher Eintracht beendet worden ist. Ihm fällt nach und nach ein, dass er sich wieder Mal nicht vom Fernseher hatte losreißen können. Bis Sendeschluss hatte er gesessen, ohne dabei die Sendungen wirklich zu verfolgen. Er saß einfach in dem Gefühl - es ist noch nicht morgen, noch brauchst du nichts zu entscheiden. Irene wollte schließlich ins Bett. Um den obligatorischen Gutenachtkuss abzuholen, war sie aus dem Bad kommend ohne Nachthemd an seinem Fernsehsessel herangetreten. Frisch geduscht. Sie beugte sich zu Volkers Wange nieder und er hatte ihre Brüste auf seinem Oberarm gespürt. Eindeutige Signale. Doch er war wie zugeschraubt. Er blieb vor dem Fernseher hocken. "Schlaf schön. Tschüß."
Es galt in der Ehe der Herolds allerdings nicht als Kapitalverbrechen, mal keine Lust zu haben, wenn der andere welche hatte. Diesbezüglich waren beide Parteien schon des Öfteren schuldig geworden. Als Strafe für eheliche Unlust war der Schuldige durch die ungeschriebenen Gesetze verpflichtet, bei nächstpassender Gelegenheit die intimen Kontakte wieder anzukurbeln. In diesem Sinne war Volkers Handwanderung unter Irenes Bettdecke nicht direkt falsch, aber eben doch zu früh. Volker beschließt, die Kontaktanbahnung auf den Abend zu verschieben - gleich nach der "aktuellen kamera", sobald die Kinder im Bett sind. Eine Flasche Wermutwein müsste er noch besorgen. Aber erst mal aufstehen. Heut ist der Letzte. Volker windet sich aus dem Bett. Irene dreht sich staunend nach ihm um. Ganz ohne Nachhilfe findet er sonst nur aus dem Bett, wenn die Fahrt in den Urlaub bevorsteht. Doch sie behält ihr Staunen für sich und sagt, was sie jeden Morgen sagt: "Weck mich, wenn du gehst." Und sie setzt - der Besonderheit des bevorstehenden Tages geschuldet - hinzu: "Toi, toi, toi für deinen letzten Tag. Und gib noch einen Kuss auf Irene."
Letzter Tag - es dröhnt wie Glockenschläge in seinem Kopf. Volker fühlt sich hellwach und möchte sich trotzdem wieder hinlegen und niemals mehr aufstehen. Ach, könnte er doch bloß dieser verdammten Entscheidung ausweichen! Entscheidungen sind ekelhaft, wenn man nicht weiß, welche Folgen sie haben werden. Einfach liegen bleiben. Er schließt die Augen und reißt sich hoch. Nicht mehr denken, nur noch handeln! Durchziehen, befiehlt er sich. Es gibt kein zurück, schließlich ist die Eintragung im Sozialversicherungsausweis bereits geändert. In der Spalte "Genaue Bezeichnung der Tätigkeit" steht seit einigen Tagen "Schriftsteller". Dieser Gedanke stimmt Volker ganz feierlich. Schriftsteller, wie das klingt. Aber gleich wird ihm wieder mulmig. Vom Klang der Berufsbezeichnung wird man nicht satt. Und wenn er nicht wenigstens 600 Mark monatlich mit nachweislich schriftstellerischer Tätigkeit verdienen kann, wird ihm die Lizenz wieder entzogen. Oh, er wird viel schreiben müssen. Und wenn alles ein Hirngespinst ist? Wenn er ein talentloser Möchtegern ist?
Volker versucht sich alle seine bisherigen literarischen Erfolge ins Gedächtnis zu rufen, aber sie muten ihm derart kümmerlich an, dass es ihn fröstelt. Den Gedanken, dass er keinen Verlag finden wird, der seine Manuskripte drucken will, schiebt er gänzlich in den Hintergrund. Irgendwann muss es einfach klappen. Er kann nicht zurück. Wann, wenn nicht jetzt, sollte er es versuchen? Mit siebzig ist es zu spät. Oder... sollte er lieber beim Rohrlei...
Volker wäre beinahe wieder ins wankelmütige Nachdenken abgerutscht, doch er bemerkt rechtzeitig Irenes karpfenartig zugespitzten Mund, den sie ihm geduldig in Erwartung des Gutenmorgenkusses entgegenhält. Sein Kuss fällt etwas flüchtig aus. Irene ist trotzdem zufrieden gestellt und rollt sich in ihre Igel-Schlafstellung ein. "Weck mich, wenn du gehst, Spatz!" - murmelt sie nochmals zur Erinnerung, als Volker das Schlafzimmer verlässt.
Volker Herold, der soeben von seiner Frau "Spatz" tituliert wurde, steht in Adamskostüm vor dem großen Wandspiegel im Flur und begutachtet seine Lebendmasse. Schöner Spatz! Fünfundachtzig Kilo sind mindest zehn zuviel. Aber gesund, und eigentlich nicht fett. Außerdem hat er nun mal diesen starken Knochenbau, und die Muskeln, mit denen er noch fast beinahe gegen einen Bodybuilder konkurrieren könnte. Zumindest gegen einen Anfänger. Volkers muskulöser Körperbau ist die Folge der sozialistischen Sportförderung. Er gehörte als Zehnjähriger zu einer Gruppe von Versuchskarnickeln, die mit dreizehn Jahren das Niveau der Leistungsklasse Männer im Geräteturnen erreichen sollte. Aber man hatte damals den Längenwuchs noch nicht so recht im Griff. Volker wurde um einige Zentimeter zu lang, was sich auf die Hebelverhältnisse derart ungünstig auswirkte, dass er aus dem Kader entlassen wurde. Gottseisgetrommeltundgepfiffen! So sind bei Volker Herold zwar die Muskeln, aber außer den kaputten Bandscheiben keine weiteren körperlichen Schäden zurückgeblieben.
Volker walkt seinen Bauch. Der ist seit dem letzten Urlaub zu einer nicht wegzudiskutierenden Tatsache gediehen. Mit Mühe gelingt es Volker, den Bauch soweit einzuziehen, dass nur noch der Eindruck von leichter Bindegewebsschwäche im Bereich der Bauchmuskulatur verbleibt. Um allerdings in der kommenden Badesaison im Freibad, im Urlaub am Strand, oder beim FKK stets eine gute Figur zu machen, ist die Einzieh-Methode zu strapaziös. Er müsste ja ständig mit geblähtem Brustkorb herumlaufen, wie ein balzender Gockel Hahn. Nein, der Bauch muss weg!
Dabei hat sich Volker für das neue Leben schon allerhand vorgenommen: Nicht mehr rauchen, nur noch zwei Tassen Kaffee pro Tag, viel Bewegung an frischer Luft, kein Alkohol vor dem Abendbrot, täglich spätestens sechs Uhr aufstehen, acht Stunden konzentriert schreiben...- und nun auch noch abmagern! Volker wird schier schummrig vor Augen. Was er von sich verlangt, erscheint ihm unmenschlich. Das neue Leben wird zweifelsohne ein Scheißleben werden. Und das Dumme an dieser Feststellung, die Volker soeben trifft, besteht darin, dass er nicht wirklich sicher ist, ob das neue Leben nicht tatsächlich ein Scheißleben wird. Er nickt sich mitleidig im Spiegel zu. Die Angst, die er vor der persönlichen Zukunft hat, erreicht Stärke zehn auf der nach oben offenen Bangemann-Skala.
Es ist also weniger die Faszination des eigenen lebensgroßen Aktes, der Volker vor dem großen Wandspiegel festhält, sondern es ist vielmehr wieder der innere Widerstand gegen die nächsten Schritte. Er ist noch nicht in Schwung. Er fühlt sich wie angenagelt. Er schaut den langen Korridor nach rechts, wo es hinter der noch verschlossenen Wohnungstür hinaus in den Hausflur und dann hinaus in die Welt geht; dahin, wo tausend wilde Tiere auf ihn harren, um ihn zu zerfleischen. Eine tiefe Zuneigung zu dieser Wohnung, die ihn abschirmt und schützt, die ihm Unterschlupf bietet, macht sich in Volker breit. Und nur dreiundvierzig Mark Miete. Diese Wohnung soll ab morgen auch seine Arbeitsstätte werden, sein eigener VEB - Volkers eigener Betrieb!
Aus dem Kinderzimmer dringt ein leises Schniefen. Söhnchen Harry hat einen Schnupfen. Ansonsten ist es totenstill in der Wohnung. Das Mauerwerk aus dem Jahre 1910 ist dick. Aus den Nachbarwohnungen, wo der Alltag ebenfalls beginnt, ist nur in äußerst phonstarken Ausnahmefällen etwas zu hören. Zum Beispiel dann, wenn der obere Nachbar am Sonntag seine Frau beglückt. Die kleine schmächtige Frau kann ihr Glück nur schlecht für sich behalten und schreit es daher immer lauthals in die Welt. Irene ist da anders. Bei ihr geht das Glück ganz nach innen ab.
Familie Herold wohnt in dieser Wohnung mittlerweile schon elf Jahre. Die Zimmer sind nach gutbürgerlichem Gründerzeitverständnis geräumig und hoch. Ursprünglich wollten die Herolds lieber eine Neubauwohnung haben. Gleich nach der Hochzeit hatte sich Volker bei einer Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft angemeldet und die Pflichtstunden auf diversen Baustellen erbracht. Kies schippen, Beton weghacken, Altholz aufsammeln, Schotterstraßen planieren und ähnliche Hilfsverrichtungen. Auch die Anzahlung in Höhe von 800 Mark war mit finanzieller Hilfe der Schwiegereltern geleistet. Nun hätte es nur noch zwei oder drei Jahre bis zur Zuteilung einer Zweieinhalbzimmerwohnung gedauert. Doch das Leben in der Übergangswohnung im Proletarierviertel auf dem Sonnenberg unterm Dach einer vergammelten Mietskaserne, wo die frisch vermählten Herolds in Erwartung ihres Nachwuchses und dem Drang nach eigenen vier Wänden folgend, eingezogen waren, war besonders für Irene mit dem Harry-Baby, welches ohne größere Komplikationen zur Welt kam, eine Zumutung. Plumpsklo eine Treppe tiefer - im Winter sibirisch kalt und sommers infernalisch stinkend. Bei Sturm rieselte aus den Fugen des Mauerwerkes der Sand, weil kein Putz mehr vorhanden war, der das hätte verhindern können. Elektrisches Licht gab es nicht. Nächtliche Besuche dieses grausigen Ortes mussten mit Kerze erfolgen. In der winzigen Küche war kein Wasseranschluss. Das schöne Lied vom Wasserträger war für Irene kein Trost. Was sie innerhalb einer Woche an Windelwaschwasser, an Baby-Bade-, Abwasch-, Kaffee-, Wisch- und anderen Wassern von halber Etage tiefer in Eimern nach oben schleppen musste, geht nicht in den Schlossteich. Als dann Irene völlig ungeplant, nur vier Monate nach der Geburt von Harry, wieder schwanger wurde, galt es schnell zu handeln. Zwei Babys hätte Irene in der Dachwohnung rein wassermäßig nicht bewältigen können. Abtreibung hatte man diskutiert und einstimmig abgelehnt. Komme, was da kommen soll! Doch was tun? Mit der Neubau-Wohnung war man erst weit übers Jahr an der Reihe. Volker hatte in dieser Situation sogar den Versuch unternommen, seine Kontakte zu den Genossen der Staatssicherheit auszunutzen. Wenn die bei der Arbeiter-Wohnungs-Genossenschaft ein gutes Wort einlegen würden... über ihre internen Kanäle...?
Die Genossen taten ihm den Gefallen nicht. Konnten nicht, oder wollten nicht. Volker Herold war das Licht mit Sicherheit für die Staatssicherheit zu klein. Ein mickriger IM, wie man die informellen Mitarbeiter nannte, der außerdem kaum verwertbare Informationen lieferte. Und seitens der Partei war die Überwindung des Wohnungsproblems in der DDR erst für das Jahr 1990 beschlossen worden. So kam es einem mittleren Wunder gleich, dass die Wohnungsbaugenossenschaft nicht nur menschliches Verständnis für die Probleme der Familie Herold zeigte, sondern auch einen Tauschhandel zuwege brachte, aus dem zwar keine optimale, aber eine schnelle Lösung erwuchs. Herolds verkauften ihre Anrechte auf die Neubauwohnung an eine alte Dame, die in einer für sie viel zu großen Altbauwohnung lebte. Mit diesen Anrechten erhielt die alte Dame eine kleine Neubau-Einzimmerwohnung. Die somit freiwerdende Altbauwohnung wurde den Herolds zugewiesen. Es lief, ohne dass Volker die Mitarbeiter der Wohnungsgenossenschaft geschmiert hätte, wie geschmiert. Eigenartig. Einfach Glück? Oder sollten die Genossen doch hintenherum leicht nachgeholfen haben? Aber wenn sie das getan hätten, dann hätten sie ihm das wissen lassen. Schon damit er sich stärker als bisher verpflichtet fühlen würde. Oder ähnlich. Jedenfalls - im November vor elf Jahren fand der ersehnte Umzug in die große Altbauwohnung statt, die immerhin drei Wohnräume, eine Toilette innerhalb der Wohnung, ein Badeverlies und Wasseranschluss in der Küche aufzuweisen hat. Das schönste aber an der Wohnung war der Balkon, der nach hinten hinaus zu den Kleingartenanlagen liegt. Besonders zum Wäschetrocknen hervorragend geeignet.
Im Januar bekam der kleine Harry ein Schwesterchen - genannt Ariane. Nun war Irene mehr als ausgelastet. Langeweile kam aber auch bei Volker nicht auf. In seiner dienstlichen Funktion als Technologe im Rohrleitungsbau war bei den vielen Auswärtsbaustellen ein pünktlicher Feierabend so selten, wie eine Gehaltserhöhung. Und in der Freizeit sowie an den Wochenenden musste die neue alte Wohnung schrittweise rekonstruiert werden. Die Decken, die elektrischen Installationen, das Bad, die Heizung, die Wasseranschlüsse, Fußböden, Fenster, Türen... und Handwerker waren wie Bananen - rar, krumm und teuer.
"Fliegende Zeit", so lautet der Titel einer Geschichte, die Volker Herold über die ersten Jahre seiner Ehe schreiben wollte. Die Geschichte sollte auch davon handeln, wie kompliziert sich die Beziehungen zwischen ihm und Irene im Bett, bzw. auf dem Sofa, oder auf dem Teppich, oder sonst wo gestalteten. Ganz ohne Selbstbefriedung kam Volker nicht über die Runden. Irene schien mit den Babys weitestgehend ausgefüllt zu sein, und sicher deshalb ziemlich genügsam. Doch es gab neben lang anhaltenden Sauregurkenzeiten in Abständen auch gewisse Sternstunden. Beinahe Orgien. Mit Kerzenschein und Wermut.
Es gibt viele Geschichten, die Volker schreiben wollte, die aber nie wesentlich über das erste Kapitel hinweggekommen waren. Alle liegen fein säuberlich gestapelt in seinem Hinterkopf unter der Rubrik "Unerledigtes".
Welche Geschichte soll er ab morgen zuerst aufschreiben? Die fliegende Zeit? Die Rohrleitungs-Baustory? Oder sollte er die Musical-Idee bearbeiten? Das angefangene Theaterstück? Die Reisebilder? Kabaretttexte, Hörspiele...
Volker Herold würde wohl noch bis zum Mittag vor dem Wandspiegel stehen und sinnieren, wenn ihn nicht endlich die natürlichen Körperfunktionen zwingen würden, sich vom Fleck zu bewegen. Die Blase fordert mit Nachdruck die Entleerung.
Volker wendet sich also zwangsläufig vom Spiegel ab und geht zur Toilette.
Die Toilette wird in der Familie "grünes Kabinett" genannt. Sie ist zweifelsohne Volkers handwerkliches und gestalterisches Meisterstück. Hinter dem grünbebrillten Klobecken verdeckt ein grüner Samtvorhang, der von der Decke bis zum Boden reicht und das Becken wie einen Thron halbkreisförmig rahmt, sämtliche wassertechnischen Einrichtungen. Die Spülung wird mittels einer goldfarbenen Kordelschnur betätigt, die oben in der Decke verschwindet und über ein System von Umlenkrollen hinter dem grünen Vorhang bis zum Spülkastenhebel verläuft. Wenn man zieht, tut man das mittels einer lindgrünen Quaste. Auch der Spiegelwandschrank, die Konsole, Handtuchhalter, Rohre, Lampe - alles ist lindgrün. Auf der Tapete schlängeln sich blütenreich lindgrüne Ranken.
In diese grüne Oase begibt sich Volker nun zielstrebig, stellt sich, leicht breitbeinig vor das Thron-Becken, zielt sorgfältig, damit Irene nicht wieder Grund zum Schimpfen finden kann, und genießt die zunehmende Erleichterung. Es ist so wie an jedem Morgen der bisherigen bewusst gelebten Jahre seines achtunddreißigjährigen Erdendaseins. Biochemische Notwendigkeit.
Volker überlegt, wie viele Liter er wohl in achtunddreißig Jahren so zusammengepinkelt haben mag. Pro Tag vielleicht einen Liter. Das ergäbe bei dreihundertfünfundsechzig Tagen pro Jahr... das ergibt... ohne Taschenrechner grob gerundet - in achtunddreißig Jahren vierzehntausend Liter. Das füllt einen kleineren Swimmingpool. Ein stolzes Lebenswerk. Und bei durchschnittlicher Lebenserwartung von zirka fünfundsiebzig Jahren kämen noch mal knapp vierzehntausend Liter dazu. Dann wird der Löffel abgegeben. Sense. Als wäre nie etwas gewesen. Fini. Achtundzwanzigtausend Liter Urin. Punkt.
Volker schüttelt den letzten Tropfen ab und spürt, wie ihm das Blut, ohne nachdrückliches Zutun seinerseits, in die Schwellkörper strömt. Sein Glied hebt sich in die Horizontale. Anstatt den Abend vor dem Fernseher abzusitzen und sich den Kopf über eine nicht abschätzbare Zukunft zu zermartern, hätte er besser daran getan, Irenes körperlichen Reizen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Die Erinnerung wird mehr als deutlich... frisch geduscht... der Duft dieser Apfelseife... die sonnengebräunte Haut mit den beiden hellen Zonen vom Bikini....
"Alter Esel!" - tadelt sich Volker. Die kalte Dusche, die er sich zur Strafe verordnet, kühlt das Blut etwas ab. Jeden Morgen bringt Volker den Heroismus zu einer kalten Dusche nicht auf. Erfrischt und stolz darauf, sich gerade an diesem besonderen Tag wieder Mal überwunden zu haben, geht Volker in die Küche. Über einem der Küchenstühle hängen seine Sachen - leichter Spätsommeraufzug, bestehend aus Slip, T-Shirt und Jeans. Der Wetterbericht hat Temperaturen bis 30 Grad im Schatten vorausgesagt.
Als Volker in den Slip steigt, treten wieder Schwierigkeiten mit seinem Glied auf. Trotz der kalten Dusche ist es noch immer leicht angesteift und widersetzt sich der beengenden Hülle. Zum dritten Mal ärgert sich Volker darüber, am Vorabend die Gelegenheit, seinen Hormonspiegel zu senken, vertan zu haben. Oder jetzt noch mal schnell zu Irene unter die Bettdecke? Nachholen? Unter Zeitdruck? Unsinn, entscheidet Volker und macht es sich selbst. Er stellt sich dabei vor, wie es gewesen wäre, wenn er gestern Abend nicht vorm Fernseher sitzen geblieben wäre.
Was eigentlich lässt sich im Leben wirklich nachholen? Gut, das Zähneputzen vielleicht, wenn man vergessen hat, es vor dem Anziehen zu tun. Oder Haarkämmen, oder Essen... aber Lieben, oder Leben, wenn man in der Hektik der Tage vergessen hat, zu lieben und zu leben?
Vielleicht kann man beim Aufschreiben von Geschichten ein bisschen nachholen - nachleben. Ab morgen! Ja, es wird ein ganz neues Leben sein - ein Künstlerleben. Erfüllt von Schöpfertum. Hoch lebe die Suppenkelle!
Das Quäntchen Ironie, welches sich Volker entgegenhält, ist angebracht. Die wenigsten, der reichlich vorhandenen Schriftsteller des Landes können allein vom Schöpfen leben. Mehr vom Abschöpfen verschiedener, in Betrieben und gesellschaftlichen Organisationen vorhandener Kulturfonds. Volker weiß Bescheid. Pro Lesung kann man bis zu 1000 Mark absahnen, wenn man im Schriftstellerverband ist. Für die Anleitung eines Zirkels "Schreibender Arbeiter" kann einer mehr verdienen, als ein Arbeiter im ganzen Monat, wenn er im Schriftstellerverband ist. Und in den Verband wird man nur aufgenommen, wenn man brav das schreibt, was die Partei "lesen lassen" will; ergo, was die Verlage drucken dürfen, ohne Gefahr zu laufen, eine ganze Auflage dem Reißwolf überantworten zu müssen.
Von Volker Herold wollte man bisher nicht allzu viel "lesen lassen". Daher ist er nicht im Verband. Aber besser nicht drin, als ewig heucheln müssen! So macht sich Volker wieder Mut. Irgendwer muss schließlich den realen Sozialismus so real beschreiben, wie er wirklich ist. Sonst weiß doch in hundert Jahren kein Schwein mehr, wie er wirklich war. Zeitungen, Filme, Bücher, Chroniken - die färben doch alle bloß schön. Nein, wahre Kunst ist immer der Realität verpflichtet. Und nicht zuletzt ist man als Schriftsteller auch Historiker. Selbst Karl Marx soll ja mehr von Balzac als von den Professoren der politischen Ökonomie gelernt haben.
Und doch - so ein klein bisschen Heuchelei... dazu wäre auch Volker Herold notfalls bereit. Für ein bisschen materielle Sicherheit... schließlich hat er Frau und zwei Kinder. Wie beneidet er solche Ausnahmeleute wie Volker Braun oder Christa Wolf, die in den siebziger Jahren, als die Partei unter Honecker die ideologischen Zügel etwas schleifen ließ, gleich über die Grenzen der DDR hinaus bekannt wurden, und seither nur ganz ganz wenig heucheln brauchten. Die vielleicht sogar gar nicht heucheln müssen, sondern nur bestimmte Dinge weglassen? Mein Gott, so ein paar kleine künstlerische Kompromisse würde er doch auch eingehen. Wenn man ihn lassen würde. Doch sobald er sich beim Schreiben vergaß, und er vergaß sich beim Schreiben regelmäßig derart, dass er hinterher stets Mühe hatte, sich wieder in den Alltag einzugliedern; also, wenn er sich so vergaß, schon waren bestimmte Wahrheiten, die nicht wahr sein durften aufs Papier gerutscht. Die Selbstzensur ist bei Volker Herold eindeutig die schwache Stelle hinsichtlich einer Karriere innerhalb der DDR. Er weiß das. Doch der Gedanke an Ausreise gen West ist ihm so fremd, wie der Westen an sich. Diesbezüglich stellt er allerdings eine große Ausnahme innerhalb des Staatsvolkes der DDR dar. Volker weiß das. Er schätzt, dass wenigstens 75 % der Bevölkerung geistig per Television im Westen lebt und keine Sekunde zögern würde, in das Land der Glückseligkeit auszureisen, wenn das nicht ganz so gefährlich wäre. 24% der DDR-Bürger hält er für parteibekloppt, oder karrieregeschädigt. Auf maximal 1% schätzt er jene, denen wirklich was an einer gerechten Gesellschaft liegt und die deshalb diesen realen Sozialismus überwinden wollen, ohne dabei gen Westen zu schielen.
Volker steht jetzt vor dem kleinen Spiegel, der in der Küche über der Spüle hängt, und schabt sich das Kinn. Er ist passionierter Nassrasierer. Im Radio singt Frank Schöbel den großen Sommerhit - von der Liebe, die wie ein Stern in einer Sommernacht... nun ja. Musik zum Munterwerden. Volker hat auch Texte für Schlager geschrieben. Besser gesagt, es waren Schlager-Chansons. Zwei Rundfunkproduktionen, die ihm über die AWA jährlich um die 15,50 Mark Tantiemen eintragen. Wenn man Hunderttausende verdienen will, wie es die Mitglieder der Schlager-Mafia tun, muss man dazugehören. Nein, Volker Herold gehört nirgendwo dazu.
Durch die weit geöffnete Tür, die von der Küche auf den Balkon führt, dringt ein kühler Luftzug. Eine Amsel sitzt auf der Teppichklopfstange und macht Frank Schöbel Konkurrenz. Die Gärten hinter dem Haus, auf die man vom Balkon aus blickt, vermitteln den Eindruck, als wäre man weit außerhalb der Stadt im Grünen. Im Sommer spielt sich daher das Familienleben der Herolds vorwiegend zwischen Küche und Balkon ab. Das Wohnzimmer würde glattweg verwaisen, wenn dort nicht der Fernseher stünde. Und Fernsehen muss sein. Schon wegen der aktuellen Informationen. Die Herolds gehören allerdings zu den wenigen in der Stadt, die auf Grund der ungünstigen Lage im Tal kein Westfernsehen empfangen können. Desto intensiver nutzt Volker die Möglichkeit, in den anderen Teil der Welt zu blicken, wenn er bei den Schwiegereltern zu Besuch ist. Er muss schließlich wissen, was in die Köpfe seiner Mitmenschen eingeimpft wird. Dabei gesteht er sich ein, dass er den eignen Kopf nicht völlig heraushalten kann, und auch, dass manche Impfstoffe ziemlich angenehm sind - unterhaltend und erstaunlich objektiv. Oh ja, der Klassenfeind hat es tatsächlich faustdick hinter den Ohren! Mit billigen Phrasen und Schönfärberei ist dagegen nichts auszurichten.
Volker ist während des Rasierens auf eine schwerwiegende Frage gestoßen: Wie ist sein bisheriges Leben eigentlich einzustufen? Es hat sich so dahingelebt, von einem Ereignis zum nächsten - fast wie vorbestimmt. Es gab keine dramatischen Krankheiten, keine Scheidung, keinen Lottogewinn. In den Beruf hat man sich hinein gewurschtelt, Kinder gesund, Bier schmeckt, Beischlaf klappt... soweit er das von seiner Seite her beurteilen kann... und überhaupt eine Biografie, wie man sie von einem DDR-Bürger nicht besser erwarten kann: Geboren im Jahr der Gründung der DDR, Kindergarten, Pionierorganisation, Sportschule, FDJ, Jugendweihe, Abitur, Studium, FDGB, Rohrleitungsbau, DSF, SED, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Stasi, was natürlich keiner wissen durfte, Vorsitzender der Konfliktkommission und Volkskünstler. Mehr als diese nichts sagenden Bruchstücke bringt Volker nicht als Antwort zustande. Einstufungen sind außerdem sehr subjektiv und vom jeweiligen Standpunkt des Einstufers abhängig. Was soll's. Bleiben wir - als vorläufige Bilanz - bei vierzehntausend Litern Urin! Volker Herold beendet die Rasur, indem er sich Rasierwasser auf die brennende Haut tupft.
Hört sich gut an - Lebensbilanz: Vierzehntausend Liter Urin! Das klingt ein bisschen bitter, fast böse. Volker ist gern böse.
Im Radio beginnen die Sechsuhr-Nachrichten. Spitzenmeldung ist die Entführung eines Flugzeuges irgendwo im Nahen Osten. Man hat sich dran gewöhnt. Aus Moskau wird gemeldet, dass Breshnew seit drei Wochen nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen wurde. Vielleicht ist er endlich abgekratzt? Die Truppen der Befreiungsarmee haben den sowjetischen Besatzern in Afghanistan erhebliche Verluste beigebracht. Nach Schätzungen westlicher Beobachter sind bisher über fünftausend sowjetische Soldaten getötet worden. Die armen Schweine. Ronald Reagan wird laut Umfrage des Nachrichtenmagazins "Newsweek" von siebzig Prozent der Amerikaner als der Präsident angesehen, der die USA wieder zu alter Stärke und Ansehen in der Welt geführt habe. Die Amis sind auch so eine Sorte für sich. Volker hat zum Beispiel gehört, dass die wenigsten Amis wissen, dass es ein geteiltes Deutschland gibt. Bei Nachrichten ist Volker immer ganz Ohr. Egal, ob sie von Ost oder West stammen. Man muss wissen, was in der Welt passiert. Ob man es allerdings erfährt...? Volker hält sich mit einer Antwort zurück. Aber er glaubt letztlich doch eher den östlichen Nachrichten; jedenfalls, wenn es um Meldungen von außerhalb der DDR geht.
Volker nimmt einen tiefen Schluck aus der Milchflasche und ist abmarschbereit. Richtig gefrühstückt wird im Betrieb.
Er will gerade hinüber ins Schlafzimmer gehen, um Irene auftragsgemäß zu wecken, da kommt sie ihm schlaftorkelig im Korridor entgegen und fällt ihm um den Hals: "Du willst mich verlassen, schnöder Geselle?"
Einer von Irenes theatralischen Anfällen, registriert Volker, und spielt, während er seine Hände über Irenes Hinterteil gleiten lässt, mit: "Geliebte, mich ruft der Kampf um die Ehre des Vaterlandes. Gehab dich wohl und vergiss nicht, neues Bier zu besorgen. Es ist keine einzige Flasche mehr im Kühlschrank."
Irene entlässt ihn aber noch nicht aus der Umarmung. Wenn man ein Stück Eisen von einer starken Magnetplatte lösen will, muss man das ruckartig tun. Volker ruckt also.
Irene meutert: "Was, du stößt mich von dir?! Das werde ich dir nie verzeihen! Hol dir dein Bier selber, oder verdurste wegen mir!"
Volker, dem die Zeit wegläuft, schaltet auf Sachlichkeit um: "Irene, ich muss los. Gerade am letzten Tag will ich nicht zu spät kommen."
Irene hat ein Einsehen, zieht das Nachthemd, welches bei der Umarmung schamlos weit nach oben gerutscht war, über den Hintern und verschwindet im grünen Kabinett. "Immer dasselbe" - nörgelt sie mit gespieltem Gnatz - "wenn man Lust auf Bockwurst hat, ist immer grade der Mostrich alle. Tschüss, Spatz!"
"Tschüss, Miez." antwortet Volker.
Spatz und Miez - eheliche Kosenamen sind sicher ein Kapitel für sich. Auf Dritte wirken sie unvermeidlich lächerlich. Einen echten und netten Klang haben sie nur, wenn keiner zuhört.
Volker angelt noch schnell die Brotbüchse aus dem Kühlschrank, die er beinahe vergessen hätte, und verlässt die Wohnung. Start! Wenige Sekunden später hört Irene den Motor seines Trabi, dem er aus unerfindlichen Gründen den Namen "Ignaz" verliehen hat, aufheulen. Sie ist auf dem Weg ins Badezimmer.
Irene Herold zieht ihr Nachthemd aus, tastete ihre Brüste nach eventuellen inneren Knötchen ab, die Krebs signalisieren könnten, und beginnt ihre hygienische Zeremonie wie jeden Morgen mit der Überprüfung ihres Körpergewichtes. Die kleinste Abweichung nach oben wird von ihr mit Schrecken quittiert: Nur nicht fett werden! Nicht so fett, wie ihre Mutter in ihrem Alter bereits war. Und man weiß ja, dass Töchter nach ihren Müttern kommen. Bloß nicht.
Volkers Versicherungen, er mag mollige Frauen, und sie könne seinetwegen ruhig noch ein paar Pfunde zulegen, schenkt sie wenig Vertrauen. Alle Männer mögen schicke Frauen! Was würde Werner sagen, wenn sie zulegen würde? Werner legt wert auf körperliche Ästhetik. Er treibt selbst viel Sport. Wenn sie gemeinsam im FKK-Bad sind, macht er sich immer über die dicken und unförmigen Figuren lustig. Die schicken Frauen sind nicht dick. Die schicksten Frauen sind die in den Modezeitschriften.
Diese Sorte schicke Frauen, wie sie in den Modezeitschriften vorherrschen, nennt Volker zweibeinige Kleiderständer. Die klappern, wenn du ihnen die Hand schüttelst.
Im Gegensatz zu Volker steht also Irene ihren ausgeprägt weiblichen Formen skeptisch gegenüber. Auch wegen Werner. Die breiten Hüften verursachen bei ihr immer wieder kleinere Selbstbewusstseinsschwankungen. Nein, bloß nicht noch mehr ausufern!
Außerdem - das Familienkonto wäre total überfordert, wenn sie sich infolge einer höheren Konfektionsgröße neu einkleiden müsste. Ihre nicht selten aus vorehelichen Zeiten stammende Garderobe darf nicht zu eng werden. Ein Kilo reicht, und die Mehrzahl ihrer Hosen sitzt wie angeschmiedet. Zwei Kilo - und die Nähte platzen auf. Auch bei den Röcken.
Die Aussichten auf größere Wachstumsraten des Familienkontos sind nicht rosig. Hoffentlich kann Volker überhaupt ein paar Mark hinzuverdienen, damit er seine Lizenz nicht verliert. Ja, Irene formuliert "hinzuverdienen". Sie kann sich nicht vorstellen, dass Volker ein vollwertiges Monatseinkommen erwirtschaften kann. Am besten wäre es sowieso, wenn er Technologe bleiben würde. Das sind monatlich 850 Mark festes und kalkulierbares Geld. Kein Vermögen, aber immerhin. Schuster bleib bei deinen Leisten!
Die Personenwaage zeigt - glücklicherweise für Irenes Seelenfrieden - ein Pfund unterhalb des kritischen Gewichtes an. Die Welt befindet sich im Lot. Alles okay! Ach, soll Volker ruhig versuchen, ob er es schafft. Wer nichts wagt, kommt nicht nach Waldheim.
Irene fühlt keinerlei Anlass, ihr bisheriges Leben tief schürfend zu betrachten, oder es womöglich in Liter Urin umzurechnen. Ihr Gewicht stimmt, und für sie wird sich mit der Entscheidung Volkers nur wenig ändern. Höchstens ihr Doppelleben, welches sie mit Werner führt, könnte Einschränkungen erfahren, wenn nun Volker nicht mehr so oft auf Dienstreisen ist. Abwarten!
Was allemal positiv für sie sein wird, ist, dass Volker nun die gesamte Hausarbeit übernehmen will. Bisher gab es eine gerechte Teilung - ab morgen würde sie einen Hausmann haben! Es wird einer zu Hause sein, der die Arbeit macht, die Kinder betreut... eben ein Hausmann! Welche Frau kann sich schon einen Hausmann leisten?
Die inneren Beweggründe Volkers und seinen künstlerischen Ehrgeiz versteht Irene nur sehr entfernt. Sie käme nie auf die Idee, sich wegen nichts und wieder nichts mit Papier und Schreibmaschine herumzuquälen. Ein diesbezügliches Sendungsbewusstsein geht ihr völlig ab. Überhaupt ist ihr dieser Mann oft genug wie ein Fremder, je besser sie ihn kennt. Werner ist eher wie sie - will in seinem Beruf etwas leisten und möglichst viel erleben. Jetzt in der Gegenwart - nicht irgendwann!
Als junges Mädchen hatte sich Irene ausgemalt, wie man schon nach wenigen Jahren gemeinsamen Lebens mit einem Mann, den man liebt, ein Herz, ein Sinn, ein Denken und ein Fühlen ist; wie man förmlich zum Zwilling des anderen wird. Das war nicht der einzige Irrtum, und vieles an der Ehe gefällt Irene besser, als sie erwartet hat. Dass ihr zum Beispiel das Sexuelle einmal derart wichtig werden könnte...?
Auch die häusliche Arbeitsteilung funktioniert erstaunlich gut. Von ihrem Elternhaus war sie gewohnt, dass der Herr des Hauses im Haushalt keinen Finger rührt. Es sei, um eine Flasche zu entkorken. Volker hingegen macht die Hausordnung, geht einkaufen, hängt Wäsche auf, putzt Schuhe... und das Kochen liegt seit Jahr und Tag gänzlich in seinem Verantwortungsbereich. Volker kocht gut. Wenn Irene an den Gulasch vom letzten Sonntag denkt, läuft ihr das Wasser im Munde zusammen. Die Soße!
Wie Volker das Kochen Spaß machen kann, versteht Irene nicht. Schon die Quälerei beim Zwiebelschneiden, dass einem die Augen auslaufen. Und dann Kartoffelschälen, Gemüseputzen... Volker macht das mit einer Freude, die ihr beinahe unheimlich ist.
Aber soll er nur. Solange er keine anderen Leidenschaften hat... und sie ist im Übrigen klug genug, um nicht wissen zu wollen, ob er nicht doch irgendwo eine kleine Leidenschaft hat, oder hatte. Was würde es bringen, wenn sie da was erfahren würde? Verdruss im Überfluss.
Nicht ausmalen darf sie sich, was passieren würde, wenn Volker von Werner erfahren würde! Volker kennt Werner, aber was er nicht erfahren sollte, ist die Art ihres Verhältnisses, welches sich seit Jahren nicht im Beruflichen erschöpft.
Besonders gefällt Irene an Volkers bevorstehendem Status als Freiberufler, dass die Kinder nicht in den Hort werden gehen müssen, wenn sie demnächst in die Schule kommen. Im Schulhort muss man sich behaupten können. Der jüngeren Ariane traut sie das zu, aber Harry, der nicht sehr robust ist, wird schon jetzt im Kindergarten von den anderen Kindern gehänselt und herumgeschubst. So klein wie sie sind, sie sind Bestien, denkt Irene. Oft wäre sie am liebsten zu den Eltern jener Kinder gerannt, die dem armen Harry mitgespielt hatten. Kräftig ans Schienbein treten, diesen Idioten. Denn von wem sonst, als von den Eltern hatten diese Kinder ihre Bösartigkeiten? Die Sorge um Arianes und Harrys Wohlergehen wird nun kleiner werden können. In der offiziellen Schulzeit bleibt sicher wenig Zeit, die Andersartigen zu quälen. Dabei besteht die Andersartigkeit ihrer Kinder lediglich darin, dass sie nicht dumm und brutal sind. Davon ist Irene überzeugt. Gut, wenn Volker zu Hause ist. Hinsichtlich der anstehenden Hausarbeiten allemal. Volker hatte ausdrücklich erklärt, die Hausarbeit komplett, außer Wäschebügeln, übernehmen zu wollen. Als körperlichen Ausgleich. Kein Mensch könne schließlich Tag um Tag volle acht Stunden am Schreibtisch sitzen und schreiben.
Ihr soll es recht sein. Vielleicht hat sie dann auch wieder Zeit und Muse, abends eines von den Büchern zu lesen, die sie andauernd kauft. Ach, wird das schön!
Irene hat die ausführliche Reinigung aller Köperteile erfolgreich beendet. Sie rubbelt sich mit dem großen Badetuch trocken. Anschließend cremt sie ihr Gesicht. Sie tut alles in Ruhe und Ausführlichkeit. Ihr Arbeitstag beginnt zwar offiziell um sieben Uhr, aber wenn sie um acht Uhr eintrifft, ist sie mit Sicherheit noch nicht die letzte in ihrer Abteilung. Stechuhren soll es in grauer Vorzeit gegeben haben. Hoch lebe der Sozialismus.
Seit fünf Jahren, seit der Zeit, da Töchterchen Ariane das Alter für den Kindergarten erreicht hatte, arbeitet Irene in der Forschungsabteilung des VEB Anlagenbau "8.Mai". Sie ist eine so genannte VBE, Vollbeschäftigteneinheit. Allerdings wird ihr laut staatlichem Gesetzeserlass täglich eine Dreiviertelstunde an Arbeitszeit erlassen, damit sie ihren Mutterpflichten besser nachkommen kann. Die morgendlich übliche Verspätung hinzugerechnet, hat Irene einen Sechsstundentag. Sie geht gern zur Arbeit.
Im Kollegenkreis hat sie Fuß gefasst, wird akzeptiert und fühlt sich wohl. Nur Mutter sein... ein Leben zwischen Kochtopf, Scheuerlappen und Bett, wie es ihre Mutter führen musste... nein, danke! Ihr genügen die drei Jahre, die sie zu Hause war, als die Kinder noch nicht in den Kindergarten gehen konnten. Dabei möchte sie diese drei Jahre keineswegs missen, aber sie haben genügt. Fast ein Jahr hat sie gebraucht, um den fachlichen Anschluss an die Kollegen einigermaßen wieder herzustellen. Irene ist stolz, dass sie das geschafft hat. Vielleicht wäre der Ehrgeiz, den sie in diesem Zusammenhang entwickelt hat, mit dem Ehrgeiz von Volker zu vergleichen? Durchaus möglich, denkt Irene, und akzeptiert seine Entscheidung um eine Winzigkeit mehr als vorher. Man muss was wollen!
Die laxe Einstellung bezüglich eines pünktlichen Arbeitsbeginns liegt also bei Irene keinesfalls an beruflicher Unlust oder mangelnder Einsatzfreude. Sie macht es nur so, wie es alle machen. Wer wird denn päpstlicher sein, als der Papst? Auch der Chef taucht auf, wann er will, und geht, wenn er kommt oder umgekehrt. Irene ist mit ihren Kollegen einhellig der Ansicht, dass für geistig-schöpferische Arbeit Bezahlung nach abgesessener Zeit eh Unsinn ist. Doch wenn man nur nach Erfolg bezahlt würde, wäre das auch sehr problematisch. Mancher würde bald am Hungertuch nagen. Oft geht wissenschaftliche Arbeit in die Irre, bevor der richtige Weg gefunden ist. Selbst in westlichen Forschungseinrichtungen soll man noch keine optimale Lösung für leistungsgerechte Bezahlung haben.
Volker lästert oft über ihre Forschungsgruppe. Mit solcher Schlamperei wäre bei der weltweiten wissenschaftlichtechnischen Revolution kein Blumentopf zu gewinnen. Sie erzählt deshalb schon gar nicht mehr so viel über ihre Arbeit in der Forschungsgruppe. Wodurch sich auch die Gefahr reduziert, dass sie versehentlich Werner zu oft oder zu nachdrücklich erwähnt. Und was die wissenschaftlich-technische Revolution betrifft... sie ist eigentlich ganz froh, dass es in ihrer Forschungsgruppe nicht allzu revolutionär zugeht. Da würde bestimmt die ganze Geselligkeit flöten gehen. Jeder würde der Beste sein wollen, der erfolgreichste. Einer wäre des anderen Teufel. Nein, so wie es ist, ist es viel gemütlicher. Lieber Kumpane als Konkurrenten.
Irene muss sich also bei ihren morgendlichen Vorbereitungen kein Bein ausreißen. Sie bürstet ihren blonden Lockenkopf gründlich und in aller Ruhe. Die Locken sind nicht echt, aber Mode. Auch Männer tragen Dauerwellenfrisur. Für Volker käme das allerdings nicht in Frage - am Hinterkopf leuchtet bei Ihm schon deutlich die Kopfhaut durch; die Kniescheibe, wie der Volksmund sagt. Ihr fällt der Spruch ein - Eunuchen haben niemals Glatze! Und dass Volker kein Eunuch ist, beweist sich nicht nur durch die Kniescheibe. Irene lächelt über ihre schlüpfrigen Gedanken. Sie mag ihren Mann. Seit sie Werner hat, fast noch mehr, als am Anfang der Ehe, wo sie sich vorwiegend in verliebter Verwirrung befand und schwanger war. Hoffentlich schafft Volker seinen Sprung in die Schriftstellerei!
Sie schwört sich, ihm alle mögliche Unterstützung, die sie ihm geben kann, zu geben. Und wenn es mit dem Geld etwas knapper werden sollte... sie verdient ja nicht ganz schlecht. Man wird schon irgendwie über die Runden kommen. Die großen Anschaffungen für die Wohnung, wie Möbel, Geschirr, Staubsauger, Fernseher und Kühlschrank sind ja bereits erledigt. Gut, eine Tiefkühltruhe wäre nicht schlecht. Auch ein richtiges Auto... aber das eilt nicht.
In den letzten Jahren hat Irene einige Biografien gelesen, über Friedrich den Großen, über Heine, Fallada, Goethe...
Die Lebensgefährtin eines berühmten Mannes zu sein, ist nicht die schlechteste Rolle, die sie sich auf ihr Alter hin vorstellen könnte. Sie als diejenige, die den Meister über die mageren Jahre hinweghalf, sie als seine erste Kritikerin; sie als die ewige Quelle seiner Inspiration. Irene lächelt ihrem Spiegelbild zu - warum nicht? Ich darf eben nur nicht fetter werden, so als Quelle der Inspiration! Nicht Qualle!
Ob die Nachwelt von Werner erfahren darf? Ist Werner der dunkle Fleck in ihrer Biografie?
Sie probiert, ob zu ihrer glorreichen Rolle, die sie vor der Nachwelt spielen wird, womöglich eine strengere Frisur besser passen würde. Die Haare straff nach hinten...?