Oh, Gott. Ohnmächtiger. - Stephan Dettmeyer - E-Book

Oh, Gott. Ohnmächtiger. E-Book

Stephan Dettmeyer

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Beschreibung

Inhalt: - anstatt eines Vorwortes: - Das Elend der marxistischen Philosophie - Der letzte Philosophie Kongress der DDR - Antithesen zum VII. Philosophie Kongress der DDR - Fortschritt in neuer Dimension - Es lebe Kant! - Who is who? - Polemismus - Der Mensch ist die Utopie - Hochbegabung - Verdrängung - Grundregeln der Demokratie - Oh Gott. Ohnmächtiger. - anstatt eines Nachwortes: - Kunst und Macht

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Autor

...studierte Geophysik, Literatur und Philosophie / freiberuflich seit 1984 als Kolumnist, Fotograf, Kabarettist und Schriftsteller

Inhalt:

anstatt eines Vorwortes:

Das Elend der marxistischen Philosophie

Aufsatz / 1991

Der letzte Kongress

Rückblick nach zwanzig Jahren / 2009

Antithesen zum VII. Philosophie Kongress der DDR

Versuch einer philosophischen Provokation / 1989

Fortschritt in neuer Dimension

Philosophischer Aufsatz / 1989

Es lebe Kant!

Fragment / 1993

Who is who?

Pamphlet / 1993

Polemismus

Essay / 2004

Der Mensch ist die Utopie

Gedanken eines fröhlichen Zeitgenossen / 2007

Hochbegabung

...

ein Gespenst geht um... -

Aufsatz / 2007

Verdrängung

Polemik /

2007

Grundregeln der Demokratie

Satire / 1993

Oh Gott. Ohnmächtiger.

Essay / 2013

anstatt eines Nachwortes:

Kunst und Macht

Pamphlet / 1991

Das Elend der marxistischen Philosophie

Man bedenke: Über reichlich 70 Jahre hinweg war in einem Teil der Welt die Philosophie, die auf dem Denken von Marx und Engels basierte, das Amen in der Kirche. Heerscharen von gut bezahlten Geistesarbeitern (mir widerstrebt bereits an dieser Stelle meines Aufsatzes, den Begriff "Philosophen" zu verwenden) strampelten sich damit ab, das Werk der beiden Klassiker möglichst aus- und inwendig nach-beten zu können und zwischen den Zeilen ihren eigenen winzigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus in seiner Gesamtheit zu installieren. So gelang es ihnen letztlich, die geistigen Kinder von Marx und Engels so zu verstümmeln und zu vergewaltigen, dass ihr ursprünglich springlebendiges Wesen in Altersstarrsinn umschlug.

Ja, die marxistisch-leninistische Philosophie (die sich einige Jahrzehnte als marxistisch-leninistischstalinistische verstand) hatte sich - wie in einem Teufelskreis - selbst geknebelt und gefangen. MANFRED BUHR (einer der Philosophiepäpste der ehemaligen DDR) schrieb in einem Vorwort zu einem Buch von JOHN ERPENBECK (einem Jungstar der DDR-Philosophie) folgende aufschlussreiche Sätze: "Die Studie (die von Erpenbeck) erhebt nicht den Anspruch, von Irrtümern frei zu sein, wohl aber den, einer Dialektik des Stillstandes nicht zu huldigen.(...) Sie geht aus von den Grundprinzipien der materialistischen Dialektik, wie sie von Marx, Engels , Lenin ausgearbeitet worden sind und kehrt, bereichert durch die denkende Betrachtung (bitte beachten Sie an dieser Stelle die gigantische Formulierung "denkende Betrachtung"!) von Prozessen der Gesellschaft, der Natur, des Denkens, der Wissenschaft und der Kunst, zu diesen zurück." Da haben wir es! Nicht Stillstand, sondern Kreislauf - von Marx, Engels, Lenin ausgehend - und zurück!

Und wehe nicht! Wehe, wer da womöglich in der Nähe von KANT oder HEGEL oder gar FROMM zurückkehren wollte! Und so kreiselten sie, und kreiselten... bis sie selbst nicht mehr wussten, was hinten und vorne ist. Sie stülpten ihre Kreise der Realität über, und was darüber hinaus ragte, das wurde abgeschnitten oder ignoriert. Die Weltanschauung wurde zur... zur "denkenden Betrachtung" vielleicht, was immer das nach BUHR auch darstellen will, jedenfalls nicht zur Lebenshilfe für die Menschen. Die Menschen, die sich dieser Weltanschauung in gutem Wollen bedienten, wurden willfährige Vasallen der Macht; Huren einer dogmatischen Politik; einer Politik, die eine philosophische Absicherung ihrer Strategien forderte.

Wie ist so etwas erklärbar? Wie kann eine offene, jeden Dogmatismus ablehnende Weltanschauung zur Grundlage von Dogmatismus werden? Waren denn diese Leute, die sich mit Philosophie beschäftigt haben und sich als Marxisten bezeichneten, allesamt Idioten? Wie wurden kluge Leute zu Marxisten? Schlüssige und allgemeingültige Antworten zu finden, wird nicht möglich sein. Aber eine Frage kann ich beantworten - nämlich die, warum ich kein Marxist wurde.

Um Marxist werden zu wollen, hätte ich - um ein paar exemplarische Beispiele anzuführen - in der zehnten Klasse im Fach Staatsbürgerkunde den berühmten Satz des HERAKLIT , in welchem der Kampf bzw. der Krieg als Vater aller Dinge bezeichnet wird, nicht für "bedenkenswert", sondern als "militaristisch" einstufen müssen ; nach dem Abitur hätte ich gemeinsam mit einigen meiner Klassenkameraden alles, nur nicht meine Stabü-Bücher und Hefter verbrennen dürfen ; hätte während meines Geophysikstudiums mehr als zwei M/L-Vorlesungen innerhalb von zwei Jahren besuchen müssen ; hätte niemals eigenmächtig, ohne fachmännische Anleitung erfahrener Marxisten zu den Werken von Marx und Engels greifen und... und das war das vielleicht Schlimmste... darin lesen dürfen! Sodom!

Die Konsequenz meines unbotmäßigen Verhaltens drückt sich darin aus, dass ich - in Hinblick auf die real existierenden Marxisten der DDR - zu der Einsicht vorgedrungen bin : Marx und Engels können keine Marxisten gewesen sein!

Aber zurück zur Ausgangsfrage - ich wurde also kein Marxist, weil mich der Marxismus (so wie er vermittelt und betrieben wurde) als jungen, zwar unwissenden, aber um selbständiges Denken bemühten Menschen abstieß; mir keinen Freiraum bot, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er war starr. Er war nicht fähig, die Welt, wie ich sie tagtäglich erlebte, zu erklären, oder durchschaubarer zu machen. Im Gegenteil - die Grundthesen des Marxismus wurden von der Realität mehr und mehr ad absurdum geführt. Allein die Tatsache der immens wachsenden Bedeutung von Wissenschaft und Intelligenz gab in meinen Augen alle Bemühungen, die These von der historischen Mission der Arbeiterklasse in die Zukunft hinüberzuretten, der Lächerlichkeit preis. Und was bleibt vom Marxismus ohne dem erklärten Subjekt all seiner Weisheiten, ohne historische Mission der Arbeiterklasse? Oder gar - ganz ohne Arbeiterklasse?

Es bleiben die Marxisten, die nach wie vor unfähig sind, ein weltanschauliches Konzept vorzulegen,

welches auf materialistischer Grundlage in die Zukunft weist und zugleich den Erscheinungen der Gegenwart Rechnung trägt - sprich, ihr Wesen transparent macht. Und solange dies so ist, solange ist die Mühe, die ein Kopf wie Gregor Gysi auf die PDS verwendet, glatt für die Katze.

Wo ein tragfähiges Konzept zu bekommen sein könnte? Naja, mich fragt ja keiner. Aber vielleicht könnte man noch mal bei Marx anfangen. Betone: Anfangen!

März 1991

Der letzte Kongress

Vor zwanzig Jahren, nämlich vom 1. bis 3. November 1989 fand der VII. Philosophie-Kongress der DDR statt. Es sollte der letzte sein. Aber noch einmal war damals alles, was Rang und Namen hatte in der philosophischen Landschaft der DDR - die bösartigen Gerüchten zufolge doch mehr ein Sumpf, denn eine fruchtbare Ebene gewesen sein soll - nach Berlin gekommen, um über "Die Dialektik von wissenschaftlich-technischer Revolution und Menschheitsfortschritt in unserer Epoche" zu palavern.

Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer, der antifaschistische Schutzwall, wie sie in den Sonntagsreden der führenden Genossen von Partei und Regierung der DDR gern betitelt wurde, geöffnet. Mehr oder weniger versehentlich, wie sich später herausstellen sollte. Die Genossen im Politbüro waren leicht verwirrt in jenen Tagen. Schabowski soll eine missverständliche Anweisung gegeben haben. Oder hat er womöglich die alte Zauberformel "Sesam öffne dich!" genuschelt? Es muss jedenfalls im Politbüro der SED zugegangen sein, wie in der kleinen Gruppe des Kindergartens Berlin Pankow.

Die erstaunlichste Tatsache an der Maueröffnung sowie an den gesamten Wendeereignissen ist deren relativ friedlicher Verlauf. Die Friedlichkeit und Zurückhaltung der staatlichen Schutzorgane war beinahe unbegreiflich. Weder die Armee, noch die Polizeikräfte, noch die Stasi, noch die Kampfgruppen griffen zu den Waffen, um den Erhalt des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden zu retten. Das beweist nicht zuletzt, dass die Wende unausweichlich geworden war. Niemand glaubte mehr an den Sieg des Sozialismus. Die Idee war längst gestorben. Auch bei den Waffenträgern.

Die Beerdigung der Idee hatte Montag für Montag bei den berühmt gewordenen Demonstrationen des Volkes auf den Straßen und Plätzen des Landes stattgefunden. Hinter den verschlossenen Türen des Parteiapparates hatte man die Idee zwar immer wieder lauthals beschworen, aber schon vor Jahren klammheimlich verhungern und verdursten lassen. Man sprach vom realen Sozialismus, um dem Vergleich mit der Idee vermeiden zu können. Das war zwecklos. Selbst der blindeste aller blinden Parteibonzen hatte erkannt, dass da wenigstens drei Räder im Dreck liefen. Der Sozialismus - und das traf in noch stärkerem Maß auch auf die anderen osteuropäischen sozialistischen Staaten einschließlich der Sowjetunion zu - hatte sich ökonomisch verhoben. In Ermanglung einer populären und überzeugenden Vision von einer sozialistischen Gesellschaft hatte man sich auf einen ökonomischen Wettlauf mit dem Kapitalismus der westlichen Staaten - einschließlich der USA - eingelassen. Das war's dann!

In welch hohem Maß sich der ideologische Nährboden für eine Wende innerhalb des Sozialismus vermehrte und fruchtbar wurde, scheint damals von außen wenig sichtbar gewesen zu sein. Die westlichen Staaten waren von "Perestroika" und "Glasnostch" ebenso überrascht, wie von der Wende in der DDR. Nach außen hin hatten es die dogmatischen Parteiapparate unter Führung der sowjetischen Genossen immer wieder geschafft, das Bild einer doch geschlossenen Formation darzubieten. Die Volksmassen spielten bei diesem Theater weitgehend mit. Man schwenkte die Fähnchen und lachte sich heimlich ins Fäustchen. Man sah zu, wie sich die Partei immer mehr zum Popanz machte. Die hohlen Phrasen boten den Stoff für eine Flut von Witzen. Das Volk stand - wie immer wieder heftig beschworen - fest und unerschütterlich hinter der Partei und krümmte sich vor Lachen. Manche Leute, die ein Mitleid mit der Idee hatten, grämten sich sehr darüber. Einige von denen, versuchten sich dann auch während der Wendeereignisse an die Spitze der Bewegung zu setzen - und zwar mit dem Ziel, nun den wahren, den echten Sozialismus aufbauen zu wollen. Der Weg sei jetzt frei. Doch die Idee ließ sich nicht exhumieren. Sie war bereits zu Staub zerfallen.

Auch ich hatte in jenen Tagen der Illusion gehuldigt, die alte Idee sei zu neuem Leben zu erwecken. Bei einer der vielen Zusammenrottungen wendewilliger Massen in einer Chemnitzer Kirche war ich mit dabei und hatte ein Redemanuskript in der Tasche, in welchem ich die historische Chance begrüßte, nun endlich - befreit von den Fesseln der Parteiidiotie! - den Weg zu einem echten Sozialismus einschlagen zu können. Der Zettel blieb in der Tasche, weil mir der letztendlich vor Aufregung der Mut fehlte, mich nach vorn zu drängen und auf die Kanzel zu steigen. Das muss im Oktober 89 gewesen sein.

Im August dieses Jahres, als von den Montagsdemonstrationen noch nichts zu spüren war, obwohl sich Ausreisewille und Widerwille gegen den Staat und seiner konstituierenden Idee schon deutlich Bahn zu brechen begannen, waren von den Göttern der DDR-Philosophie - im Vorfeld des VII. Philosophie-Kongresses - die Thesen zum Kongress in der "Deutschen Zeitung für Philosophie" und sicher auch in anderen Parteiblättern veröffentlicht worden. Die Autoren waren - im Auftrag des Wissenschaftlichen Rates für Marxistisch-Leninistische Philosophie - Wolfgang Eichhorn I, Hans-Martin Gerlach, Erich Hahn (Leitung), Herbert Hörz, Alfred Kosing, Heinrich Opitz und Harald Schliwa ausgearbeitet. Bei der Vorbereitung haben mitgewirkt: Sieglinde Heppener, Helga E.Hörz, Ernst Luther, Reinhard Mocek, Frank Rupprecht, Hartwig Schmidt, Jürgen Schmollack, Gottfried Stiehler, Lothar Striebing und Karl-Heinz Thieme. Die Creme de la Creme!

Ich studierte seit zwei Jahren in Dresden Philosophie. Ein Fernstudiengang. Ich war seit 1983 freischaffend als Schriftsteller tätig und wollte mir mit diesem Studium noch einige Fundamente schaffen, um dem Marxismus Marke "DDR" - also dem Murx! - den endgültigen philosophischen Garaus zu machen. Meine zentralen Angriffspunkte waren die Führungsrolle der Arbeiterklasse, die sture Planwirtschaft sowie der Wirtschaftswachstumswahnsinn, den man vom Westen übernommen hatte. Ich war der Ansicht, dass anknüpfend an die Marxschen Gedanken die Intelligenz zur revolutionären Klasse geworden ist, weil sie mit den modernsten Produktivkräften umging und verbunden war. Die Arbeiterklasse hingegen sah ich als entmachtete und somit reaktionäre Klasse an.

Hinsichtlich der sozialistischen Planwirtschaft war ich der Meinung - wieder mit Marx im Bunde -, dass solange es noch Produktion mit Handmühlen und Dampfmaschinen, sprich Handwerk und kleine Industrie gibt, es eben auch den sich selbst regulierenden Markt geben müsse, der dem Entwicklungsstand dieser Wirtschaftsbereiche entspricht. Das war einfach der Umkehrschluss aus der Marxschen Erkenntnis, dass die Dampfmaschine eine Produktion mit Kapitalisten erheischt. Der dialektische Zusammenhang von Produktionsmitteln und Produktionsorganisation gilt immer!

Und zum Dritten sah ich - auch durch die Grüne Bewegung im Westen angeregt - die wachsende Divergenz zwischen ökonomischen Wachstum und ökologischer Vernunft und definierte den Begriff Fortschritt dahingehend neu, dass er nicht automatisch an technisch-ökonomisches Wachstum gekoppelt sei. Und noch einige kleinere Problemfelder in der offiziellen philosophischen Linie - speziell die Revolutionstheorie Lenins und die Rolle der Partei - hatte ich mir als Zielscheiben auserkoren. Da alles das, was ich da so zusammenpolemisierte, im Schreibtischkasten blieb, gab es keinerlei Probleme. Ich erregte keine Aufmerksamkeit. Bis auf das eine mal - 1978 -, da hatte ich ein Pamphlet über das geistige Eigentum und die daraus resultierende Rolle der Intelligenz aus dem Schreibtischkasten heraus genommen und an die Parteizeitschrift für wissenschaftlichen Sozialismus "Einheit" gesandt. Da erfuhr ich eine Reaktion positiver Natur.

Ich war in jenen Tagen noch als Technologe in einem Chemnitzer Baubetrieb angestellt und saß nichts ahnend mehr oder weniger produktiv an meinem Schreibtisch in der Verwaltungsbaracke. Durch das geöffnete Fenster sah ich, dass ein schwarzer PKW der Marke "Tatra" - eine Bonzenschleuder, wie man sagte - auf das Betriebsgelände fuhr und vor dem Gebäude der Betriebsleitung hielt. Dann klingelte mein Telefon und der Betriebsdirektor bat mich zu ihm. Ein Genosse aus Berlin sei gekommen und wolle mich sprechen.

Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber mit Sicherheit war ich sehr verblüfft. Die Verblüffung dürfte sich noch gesteigert haben, als sich der Genosse aus Berlin als Redakteur der "Einheit" vorstellte. Er käme, um mit mir über meinen Artikel zu sprechen. Wir zogen uns in die Einsamkeit der Betriebskantine zurück, wo es wie immer nach Sauerkraut gerochen haben dürfte, und mir wurde auf sehr freundliche Art erläutert, wo das Problem bei meinem Artikel liegt. Letztmalig hätten sich einige Leute des Prager Frühlings 1968 mit dem Problem geistiges Eigentum und Intelligenz auseinandergesetzt und wären zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen, wie ich. Das freute mich sehr. Der Redakteur sah sich allerdings sofort gezwungen, meine freudige Erregung zu dämpfen, ja, sie sogar im Keime zu ersticken. Er spreche - was er nachdrücklich betonte - ohne Zeugen und wolle mir reinen Wein einschenken. Das Thema sei tabu. Weshalb? - fragte ich nach. Deshalb! - antwortete er mir.

Er ermunterte mich, trotzdem an dem Thema weiterzuarbeiten, nannte mir noch einige Textstellen, wo ich bei Marx und Lenin etwas zum Thema "Geistiges Eigentum" finden könne und verabschiedete sich freundlich.

Aber außer diesem Fall von erwiesener Aufmerksamkeit für meine Ergüsse, gab es keine weiteren. Die überarbeitete Fassung des Manuskriptes über die Intelligenz erhielt ich Monate später kommentarlos zurück. Und das ist natürlich bis auf den heutigen Tag so geblieben - also, das Aufmerksamkeitsdefizit wie auch die überwiegende Aufbewahrung der Manuskripte im Schreibtischkasten. Denn auch nach der Wende waren meine kämpferischen Manuskripte nicht erwünscht - nun gab es eine andere Philosophengötterschaft, die nicht bereit war, sich auf eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit Fehlern des postmarxschen Marxismus herabzulassen. Marx war pauschal erledigt. Die DDR-Philosophie natürlich erst recht. Meine Bemühungen auch.

Und trotzdem tut mir die Mühe, der ich mich unterzogen hatte, nicht leid. Im Gegenteil bin ich nicht wenig stolz auf mich, dass es mir gelungen war - auch wenn die Öffentlichkeit bisher keine oder nur ganz wenig Notiz davon nahm - anders zu denken, als man zu denken hatte.

Den massivsten Angriff gegen die offizielle "Denke" zettelte ich dann im Vorfeld des oben erwähnten Philosophiekongresses, der für die Zeit vom 1.-3. November anberaumt worden war, an. Ich verfasste gegen die offiziellen Thesen zum VII. Kongress sechsundzwanzig Antithesen. Die schickte ich nach Berlin und erhielt daraufhin eine offizielle Einladung zur Teilnahme am Kongress. Unterzeichnet von Professor Hahn persönlich. Ein Wunder!

Die Kongresshalle am Alexander-Platz, wo der Kongress drei Tage tagte... nein, getanzt wurde nicht! - war bis auf den letzten Platz gefüllt mit diplomierten, promovierten, habilitierten und zu Professoren berufenen Berufs-Philosophen. Gut zweitausend! Im Präsidium die unfehlbaren Stellvertreter von Marx-Engels-Lenin auf Erden. Und irgendwo in Reihe 23 saß ich - ein Fernstudent im zweiten Jahr.

Auf den Gängen und im Foyer traf ich natürlich auch Dozenten und Professoren der Dresdener Uni, bei denen ich noch kürzlich in der Vorlesung oder im Seminar gesessen hatte. Außer verwunderten Blicken und einem kurzen Nicken zum Zeichen, dass man mich von irgendwo zu kennen glaubte, gab es aber keine Reaktionen. Was will denn der hier? Fragen stellte mir aber keiner, weshalb ich leider auch nicht antworten konnte, dass ich Antithesen verfasst hatte.

Am liebsten wäre ich mit einem Transparent oder einem T-Shirt herumzulaufen, worauf ich zur allseitigen Information hätte meine Tat verkünden können: Hütete Euch! Ich habe 26 Antithesen verfasst! Deshalb bin ich hier!

Eine Chance gab es noch, allen kundzutun, wer ich war. Nach den Hauptreferaten sollte es die Möglichkeit geben, sich zu Wort melden zu dürfen. Ohne Voranmeldung. Einfach spontan. Ein Hauch von Basisdemokratie. Ein Ruch von Perestroika. Und ich hatte wieder ein Manuskript in der Tasche. Dort stand drinnen, dass die gesamte auf dem Kongress versammelte Sippschaft von Philosophen sich in den vergangenen Jahren zu Hure der Politik gemacht hatte. Dass man sich nicht Marxist nennen dürfe, weil der Marxismus von Marx niemals als eine Religion gedacht gewesen war.

So was stand messerscharf und ätzend in dem Manuskript in meiner Tasche.

Aber mein Mut reichte nicht zur Wortmeldung. So haben zirka zweitausend hoch bezahlte

Berufsphilosophen der ehemaligen DDR nie erfahren, dass es einen Amateur gegeben hat, der 26 Antithesen zu den Thesen des Kongresses formuliert und damit die herrschenden Dogmas der DDR-Philosophie ad absurdum führte.

Veröffentlicht wurde dann im Nachgang zum Kongress - da war die Mauer schon weg - mein Diskussionsbeitrag über "Fortschritt in neuer Dimension", den ich im Rahmen der Arbeitsgruppe, der ich zugeteilt war, aus Zeitgründen verzichtet hatte zu halten. Ich schämte mich meiner Feigheit und begriff erst später, dass ich eine historische Chance verpasst hatte.

Ich hätte während des Kongresses einen echten Eklat auslösen können.