Charly-Marx-City - Stephan Dettmeyer - E-Book

Charly-Marx-City E-Book

Stephan Dettmeyer

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Beschreibung

Ein Stadtrundgang durch Chemnitz - der Führer ist Dr.Karl Marx: Guten Tag ! Schön, dass wir uns hier in Chemnitz zufällig begegnen. Gestatten - Marx, Karl, Doktor der Philosophie. Wenn Sie mich mit Charly ansprechen würden, wäre mir das eine besondere Ehre. Und Sie brauchen vor mir wirklich keine Bange zu haben, ich bin doch schon über 100 Jahre tot. Begraben in London. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stadt, die sechsunddreißig Jahre meinen Namen trug, und in der ich zu Lebzeiten nie gewesen bin. ------------------------------------------------------------ Die Illustrationen sind vom Autor.

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Autor

...studierte Geophysik, Literatur und Philosophie / freiberuflich seit 1984 als Kolumnist, Fotograf, Kabarettist und Schriftsteller

Guten Tag!

Schön, dass wir uns hier in Chemnitz zufällig begegnen.

Gestatten - Marx, Karl, Doktor der Philosophie. Wenn Sie mich mit Charly ansprechen würden, wäre mir das eine besondere Ehre. Und Sie brauchen vor mir wirklich keine Bange zu haben, ich bin doch schon über 100 Jahre tot. Begraben in London.

Nein, zu Lebzeiten bin ich niemals in dieser Stadt gewesen. Sie dachten sicher...jaja, weil die Stadt siebenunddreißig Jahre meinen Namen tragen musste...und weil das Denkmal errichtet wurde, dieser Riesenschädel, oder auch Nischel, wie die echten Sachsen sagen...jaja...

Großes Ehrenwort - an diesen Dingen bin ich wahrhaftig völlig unschuldig. Über diese gigantische Nachbildung meines armen Kopfes bin ich oft genug selbst erschrocken. In meinen schlimmsten Alpträumen träumte mir, der Schädel würde mitternächtlich das Maul öffnen und Zitate speien über die schlafende Stadt.

Nein, mir gefällt der Schädel nicht.

Denken Sie dabei nicht, ich wäre besonders eitel - nein, nur stellen Sie sich bitte vor, man hätte Ihren Kopf in Bronze gegossen und zur Abschreckung gegen Ihre Philosophie aufgebaut! Sie würden sich sicherlich auch vielmals bedanken.

Wie bitte? Sie meinen, man hat den Kopf eigentlich zum Ruhme meiner Philosophie errichtet? Nicht zur Abschreckung?

Nein, das kann nicht sein! Die Herren Genossen dieser SED haben doch stets mit aller Gewalt dafür gesorgt, dass meine theoretischen Schriften in der gesellschaftlichen Praxis keine Anwendung fanden. Die waren es doch, die aus meiner streitbaren Philosophie ein starres Dogma, ja, eine unanfechtbare Religion gemacht haben!

Nein, das kann ich nicht glauben - zum Ruhme meiner Philosophie...?!

Da hätten diejenigen, die meine Philosophie kastriert haben, mich ehren wollen? Pardon, es tut mir leid - das ist irre!

Und wenn Sie mich wirklich hätten ehren wollen, weshalb dann mit solch einem schrecklichen Schädel.

Wahrhaftig - ich hatte in meinem Leben viele schwere Stunden zu durchleben, aber derart griesgrämig habe ich selbst in den schwersten Stunden nicht dreingeblickt.

Ganz bestimmt nicht.

Nein, nein - wenn mein Kopf ein Denkmal ist, dann nicht für mich und meine Philosophie. Dieses Denkmal entspricht mir nicht. Es entspricht wahrscheinlich im Gegenteil dem Größenwahn derer, die es errichtet haben.

So gesehen müsste man wünschen, der Schädel bleibt stehen; bleibt als Denkmal, als WARNmal für spätere Machthaber.

Wer mich ehren will, der soll sich mit meinen Gedanken kritisch auseinandersetzen; soll mich meinethalben vom Kopf auf die Füße stellen, wie ich es dereinst mit dem guten alten Hegel getan habe. Das wünschte ich mir.

Ja, ich wünschte mir, dass auf dem Fundament meiner Gedanken, weitergebaut wird.

Aber ich will Sie nicht weiter belästigen mit meinen Problemen. Sie haben sicherlich noch viel zu tun heute.

Ach, Sie wollten sich heute mal etwas Zeit nehmen, um Chemnitz ein bisschen näher kennen zu lernen?

Ja, also - wenn ich mich Ihnen als Stadtführer zur Verfügung stellen dürfte...oder als Stadtbilderklärer, wie man in Fachkreisen sagt,...ich lustwandle seit damals, seit dem Tage, als man dieser Stadt meinen Namen gab, ruhelos wie ein Geist durch die Straßen und kenne mittlerweile sogar die Namen der Laternen.

Ja, sicher - auch Laternen haben Namen. Die da drüben, die moderne Peitschenleuchte heißt zum Beispiel Peggy. Ihre linke Nachbarin heißt Olivia. Die rechts Carmen...

Ja, wahrhaftig - von mir könnten Sie viele Dinge über Chemnitz erfahren. Also, abgemacht? Okay!

Begeben wir uns also zuerst dahin, wo die Stadt ihren Anfang nahm - auf den Schlossberg.

Aus der Stadtchronik:" Im Mittelalter dringen die deutschen Könige über die Saale nach Osten vor, unterwerfen das von Slawen bewohnte Land und reißen dabei auch den unbesiedelten Miriquidu an sich.

Dieses große Urwaldgebiet, das das Erzgebirge und sein Vorland bedeckt, machen sie zur Randzone des Reichsterritoriums Pleißenland. Mit solchen Reichsgebieten - es gehört noch das Vogtland und das E-gerland dazu - wollen sich die Könige ein Gegengewicht gegen die machthungrigen Fürsten schaffen.

Da der Miriquidu für die Könige nur einen Wert hat, wenn sie dort Bauern ansetzen und den Handel mit Böhmen in die Hand bekommen, stiftet Lothar III. in den letzten Jahren seiner Regierungszeit (vermutlich 1136 oder 1137) im menschenleeren Urwald das Benediktinerkloster Chemnitz...."(1)

Bloß gut, dass es immer wieder diese Historiker gibt, die nach unseren Spuren in der Vergangenheit forschen.

Ohne zu wissen, was einmal war, kann man nicht erkennen, warum das Heute so ist wie es ist, und kann auch nicht sehen, wo der Weg in die Zukunft verläuft. Davon bin ich überzeugt.

Und stellen Sie sich vor, was diese Benediktinermönche für mutige Leute gewesen sein müssen! Mitten in den wilden Miriquidu ausgesetzt - allein auf sich gestellt...

ohne Frauen...stellen Sie sich vor!

Schön, sie hatten ihren Glauben an einen Gott, aber allein mit dem Glauben wären sie sicher nicht weit gekommen. Handwerkliches Geschick, Organisationstalent und Zielstrebigkeit müssen sie reichlich besessen haben. Es waren Pioniere der Zivilisation - Vorreiter des Fortschritts. Charaktere wie Albert Schweizer vielleicht.

Ich bewundere solche Menschen, die die Welt im wahren Sinne des Wortes verändern. Und bedenken Sie - es gab weder Telefon, noch konnte man das "know how" anderer Menschen aus der Fachpresse entnehmen:

"In der anfänglichen Geschichte musste jede Erfindung täglich neu und in jeder Lokalität unabhängig gemacht werden."(2)

Ja, ich sitze gern hier oben an der Balustrade unter den mächtigen Kastanienbäumen. Der Blick über den Schlossteich hinüber zum Stadtkern ist sicherlich nicht eben sensationell, aber hübsch allemal. Die Skyline von Chemnitz!

Das herausragende, weil höchste Bauwerk, das ist das Schnarchsilo.

Schnarchsilo - so nennen die Chemnitzer das Bettenhaus vom Hotel Kongress, weil es aus purem Beton besteht - eben wie ein Silo. Jaja, der boshafte Volksmund!

Und dabei waren die Architekten dazumal so stolz: Endlich ein Bauwerk, welches nicht angeputzt und verkleidet werden muss, sondern welches die Herstellungstechnologie, also die Beton-Gleitbauweise offenbar macht! Das ist die wahre Architektur!

Es dürfte kaum ein zweites Gebäude in der Welt geben - abgesehen von Industriebauten - welches derart konsequent seine Ästhetik aus der Technologie schöpft.

Oja, die Architekten hatten schwere Kämpfe zu bestehen, um ihre funktionalistische Sicht gegen die Verfechter des so genannten "Sozialistischen Realismus" in der SED-Bezirksleitung durchzusetzen. Zuckerbäcker-Architektur hätte es leichter gehabt.

Und der Dank?

Tja, Undank ist der Welten Lohn - die Chemnitzer hatten den gleichen Geschmack wie die Parteibonzen - man empfand das Betonmonument als Ausbund der Hässlichkeit.

"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden

Gedanken." (3)

Nunja, von hier oben, aus guter Entfernung sieht dieses Schnarchsilo eigentlich ganz attraktiv aus, oder?

Und die Gaststätte - "Miramar" - ..... ob im Freien, oder im Innern - man isst und trinkt hier ganz hervorragend. Besonders das Kassler-Kotelett mit Knödel und Sauerkraut kann ich Ihnen auf das wärmste empfehlen. Dazu die freundliche Bedienung - schauen Sie doch nur... das nette Fräulein mit dem neckischen Hinterteil! Und dem offenen natürlichen Gesicht! - und überhaupt, die gastfreundliche Atmosphäre ganz im Allgemeinen - die ist auch hier eine echte Errungenschaft der Rückkehr zur Marktwirtschaft.

Natürlich begrüße ich den Wiederaufbau marktwirtschaftlicher Strukturen!

Sie wundern sich?

Aber wieso - ich habe doch in meinen Werken stets betont, dass die Produktionsverhältnisse bestimmt sind, durch den Entwicklungsstand der Produktionskräfte.

"Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise....Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten."(4)

Diesen Zusammenhang mussten doch schon die Kinder in den Schulen auswendig hersagen können.

Jaja, Sie haben sicher recht - die Betonung liegt zweifelsohne bei "auswendig hersagen können" - was der Zusammenhang eigentlich bedeutet...- ach, Sie fragen mich das auch?

Nun, in Bezug auf die Gegenwart bedeutet er ganz einfach, dass es marktwirtschaftliche Verhältnisse geben muss, weil es die Formen der handwerklichen und kleinindustriellen Produktion gibt. Diese Formen der Produktion bedürfen des Marktes zu ihrer Regulation und Stimulierung. So einfach ist dies.