Deiner Seele Grab (Dühnfort 6) - Inge Löhnig - E-Book

Deiner Seele Grab (Dühnfort 6) E-Book

Inge Löhnig

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Beschreibung

Eine inszenierte Leiche. Ein Mörder mit einer Mission. Ein Fall, der Kommissar Dühnfort alles abverlangt

Als Kommissar Dühnfort am Tatort in Schwabing ankommt, bietet sich ihm ein seltsamer Anblick: Wie eine Herrscherin liegt die tote alte Dame in ihrem Bett, in den Händen hält sie einen roten Apfel und Weintrauben. Das Werk eines Mörders, der sein Opfer inszeniert und Aufmerksamkeit möchte. Doch die Nachbarn haben nichts Verdächtiges bemerkt, und die mysteriöse Putzkraft Elena scheint wie vom Erdboden verschluckt. Wird es schon bald ein weiteres Opfer geben? Kommissar Dühnfort tappt im Dunkeln – und das ausgerechnet jetzt, wo er eine interne Untersuchung am Hals hat. Ein Ermittlungserfolg würde seinen angeschlagenen Ruf wiederherstellen. Wagemutig beschließt er, alles auf eine Karte zu setzen und den Mörder herauszufordern – bevor er erneut zuschlägt …

Lesen Sie auch Kommissar Dühnforts neusten Fall: »Der Spieler«.

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Seitenzahl: 571

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inge Löhnigs Krimireihe um Kommissar Dühnfort begeistert seit Jahren viele Leser*innen und erklimmt stets die Bestsellerlisten. Nach mehrjähriger Pause, in denen die Autorin unter dem Pseudonym Ellen Sandberg diverse SPIEGEL-Bestseller wie zuletzt »Keine Reue« und »Das Unrecht« veröffentlicht hat, meldet sich Kommissar Dühnfort nun zurück. Inge Löhnig schreibt seit vielen Jahren erfolgreich Romane und wurde 2022 mit dem Bayerischen Verfassungsorden ausgezeichnet. Sie lebt im Münchner Umland.

Eine inszenierte Leiche. Ein Mörder mit einer Mission. Ein Fall, der Kommissar Dühnfort alles abverlangt

Als Kommissar Dühnfort am Tatort in Schwabing ankommt, bietet sich ihm ein seltsamer Anblick: Wie eine Herrscherin liegt die tote alte Dame in ihrem Bett, in den Händen hält sie einen roten Apfel und Weintrauben. Das Werk eines Mörders, der sein Opfer inszeniert und Aufmerksamkeit möchte. Doch die Nachbarn haben nichts Verdächtiges bemerkt, und die mysteriöse Putzkraft Elena scheint wie vom Erdboden verschluckt. Wird es schon bald ein weiteres Opfer geben? Kommissar Dühnfort tappt im Dunkeln – und das ausgerechnet jetzt, wo er eine interne Untersuchung am Hals hat. Ein Ermittlungserfolg würde seinen angeschlagenen Ruf wiederherstellen. Wagemutig beschließt er, alles auf eine Karte zu setzen und den Mörder herauszufordern – bevor er erneut zuschlägt …

Außerdem von Inge Löhnig lieferbar:

Verflucht seist du

Der Spieler

www.penguin-verlag.de

Inge Löhnig

Deiner Seele Grab

Ein Fall für Kommissar Dühnfort

Kriminalroman

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Copyright © 2014 der Originalausgabe by List Taschenbuch, Berlin

Copyright © 2025 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Plainpicture (DEEPOL by plainpicture), Arcangel

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32480-3V001

Du spürst sie tief in dir, diese Unruhe. Ein unaufhörlich anschwellendes Kratzen, Scheuern, Schleifen, Schaben. Wundmachende Gedanken. Wie raspelnde Feilen. Sie zerfetzen und zerreißen dich, weiden dich aus, häuten dich. Du bist bereit zu kapitulieren, dich in seine Arme zu werfen. Der Dämon in dir wird siegen. Deine dunkle Seite. Das Böse. Das Teuflische.

Alle Demütigungen und Ungerechtigkeiten, die du erleiden musstest, formen dich zu dem, was du sein wirst.

Es ist nicht deine Entscheidung.

Sie machen dich dazu.

Du wirst nur die Antwort sein, das Echo. Mehr nicht. Nur der Widerhall ihrer Bosheit und Gleichgültigkeit. Der Spiegel ihrer Ablehnung, ihres Hochmuts. Ein Spiegel, in dem sie sich erkennen können. Wenn sie hineinblicken, werden sie ihr Werk sehen. Deine Fratze, in der sich deine gemarterte Seele zeigt, die nach Erlösung schreit, nach innerem Frieden, nach Gerechtigkeit und nach Liebe. All das möchtest du erlangen. Um jeden Preis. Wenn du ans Licht willst, musst du durch Dunkelheit gehen.

Der Dämon in dir tobt. Du akzeptierst, was unausweichlich ist, sein muss und sein wird. Du besänftigst ihn, raunst ihm zustimmende Worte zu.

Es ist, was es ist, sagt die Liebe.

Du wirst, was du wirst, sagt der Hass.

1

Vor den Fenstern des Vernehmungsraums senkte sich Dämmerung herab. Die Luft im Zimmer war stickig und abgestanden und von der Heizung völlig ausgedörrt. Dühnforts Augen brannten, als sei er in einen Mistral geraten. Sein Mund war trocken. Langsam und stetig stieg in ihm eine kaum zu unterdrückende Gereiztheit auf.

Kirsten, die neben ihm saß, streckte sich. »Ich mach mal Licht.« Die Stuhlbeine scharrten übers Linoleum. Flackernd ging die Neonröhre über dem Tisch an.

Mehr als drei Stunden dauerte die Befragung von Katja Behringer nun schon, in deren Verlauf sie von der Zeugin zur Beschuldigten geworden war. Dühnfort hatte sie über ihre Rechte belehrt. Dennoch hatte sie auf die Anwesenheit eines Anwalts verzichtet und schien sich sehr sicher zu fühlen. Das Gespräch drehte sich seit einer Stunde mehr oder weniger im Kreis. Sie gab nur zu, was sich nicht länger abstreiten ließ. Es gelang ihnen nicht, sie in Widersprüche zu verwickeln. Gebetsmühlenartig wiederholte sie die immer gleichen Phrasen, klammerte sich an Worte wie an Vorsprünge einer Steilwand, an der sie krampfhaft Halt suchte, während tief unter ihr der Abgrund lauerte. Doch sie kletterte ohne Seil. Sie würde abstürzen. Es war nur eine Frage der Zeit.

»Frau Behringer, ich weiß, dass Sie Manuel Ruge getötet haben. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen. Erleichtern Sie Ihr Gewissen. Es wird Ihnen guttun und wirkt sich strafmildernd aus.«

Sie senkte die Augen, betrachtete wieder einmal ihre Hände. Schmale, lange Finger. Mauvefarbener Nagellack. Ein Platinreif mit einem Diamanten steckte am linken Ringfinger. »Ich hätte Manuel nie etwas antun können.« Sie blickte auf und neigte den Kopf ein wenig. Mit großen Augen sah sie ihn an. Es machte ihn wütend, dass sie glaubte, er fiele auf dieses unschuldige Kindergetue herein, das sie immer wieder einsetzte. Sie war Anfang dreißig, und er erwartete, dass sie sich entsprechend benahm. Schließlich war sie Wettermoderatorin bei einem privaten Fernsehsender. Einen solchen Job bekam man nur, wenn man sich durchsetzen konnte. Für wie dumm hielt sie ihn?

»Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt. Warum hätte ich das tun sollen?« Ihre Mundwinkel zuckten, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich habe ihn doch geliebt.«

Wie er diesen Satz hasste! In der Regel wurde er von Männern bemüht, die ihre Frauen erschlagen, erdrosselt, erstochen oder auf andere Art getötet hatten, weil sie das Unfassbare gewagt hatten: ihn zu verlassen. Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie auch kein anderer haben. Doch es gab sie, die seltenen Fälle, in denen Frauen aus diesem Grund mordeten. Katja Behringer gehörte zu ihnen. Davon war er überzeugt.

»In aller Freundschaft getrennt? Manuel Ruge hat seiner Frau von Ihrem Auftritt in seinem Büro erzählt. Sie haben gesagt, er würde das büßen und bitter …«

»Mein Gott, was erwarten Sie denn? Sie ist eifersüchtig. Sie hasst mich und wird das Blaue vom Himmel lügen, um mich verdächtig zu machen. In ihren Augen bin schließlich ich die Böse, die ihre ach so tolle Ehe zerstört hat. Dabei hat sie Manuel nicht mehr geliebt als den nächsten Geldautomaten an der Ecke. Sein Einkommen war alles, was sie von ihm wollte. Und dann hängt sie ihm noch ein zweites Kind an. Es ist unglaublich.« In ihrer Stimme lag alle Verachtung, die sie der Frau ihres toten Exgeliebten entgegenbrachte.

»Kehren wir doch noch einmal zu dem Medikament zurück, das Sie sich wegen einer angeblichen Bronchitis …«

»Wieso angeblich? Ich habe mir die Seele aus dem Leib gehustet. Das wird Ihnen mein Arzt bestätigen. Grundlos hat er mir das Antibiotikum sicher nicht verschrieben.«

»Er wollte Ihnen kein Rezept dafür ausstellen. Sie haben darauf gedrängt.«

»Warum sagt er das? Das ist nicht wahr.«

»Und Sie haben das Medikament auch nicht eingenommen. Es fehlen nur zwei Tabletten aus dem Blister.«

»Weil es mir schnell besserging. Deshalb habe ich es abgesetzt.«

»In Ihrem Bad gibt es zahlreiche angebrochene Medikamentenpackungen. Sie werfen sie also nicht leichtfertig weg. Weshalb haben wir das Antibiotikum dann im Müll gefunden?«

»Ich habe es nicht weggeworfen. Nicht absichtlich. Die Schachtel lag auf dem Couchtisch bei den Illustrierten. Sie muss dazwischengeraten sein, als ich sie entsorgt habe.«

Endlosschleife, dachte Dühnfort. So kommen wir nicht weiter. Er brauchte eine Idee und eine Pause. Während er sich reckte und mit einer Hand den verspannten Nacken massierte, fing er Kirstens Blick auf. Sie schien genauso genervt wie er. Die Hoffnung auf ein Geständnis löste sich in Luft auf. Dühnfort war sich sicher, dass Katja Behringer ihren Geliebten hinterhältig getötet hatte, und zwar mit einem Antibiotikum, auf das er allergisch reagierte. Zweimal in seinem Leben hatte er es eingenommen und beide Male einen anaphylaktischen Schock erlitten, den er nur knapp überlebt hatte. Wissentlich hätte Manuel Ruge das Medikament kein drittes Mal geschluckt. Und das hatte er auch nicht. Es war im Dessert gewesen, einer Pannacotta. Doch bisher konnten sie Katja Behringer weder nachweisen, dass sie von der Allergie wusste, noch dass sie am fraglichen Abend in Ruges Wohnung gewesen war und ihm seine Lieblingsnachspeise mitgebracht hatte. Denn sie war häufig dort gewesen. Ihre Spuren am Tatort waren so erklärbar.

Kirsten unterdrückte ein Gähnen. Auch sie schien eine Pause zu brauchen. Dühnfort sah auf die Uhr. »Unterbrechung der Vernehmung Behringer um achtzehn Uhr zehn.« Er stellte das Aufnahmegerät ab. »Wir machen jetzt fünfzehn Minuten Pause. Möchten Sie etwas trinken oder essen?«

»Danke. Ich möchte jetzt gehen. Wir sind ja wohl fertig.«

Dühnfort öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. »Noch nicht ganz.«

»Wie lange wollen Sie diese Schikane noch fortführen?«

»Ich hole mir einen Kaffee. Magst du auch einen?«, fragte Kirsten.

Dühnfort nickte. »Gerne. Die Pavoni ist eingeschaltet.« Die Espressomaschine in seinem Büro war seine Antwort auf die Automaten, die in jedem Stockwerk des Münchener Polizeipräsidiums auf den Fluren standen und untrinkbare Plörre von sich gaben.

Er sah Kirsten nach, wie sie den Vernehmungsraum verließ. Seit vier Monaten gehörte sie jetzt zu seinem Team und machte ihre Arbeit gut, doch so richtig warm geworden war er mit ihr bisher nicht. Eine kühle Blonde, stets akkurat, überlegt und zielstrebig und dabei abweisend und unnahbar. Lediglich Staatsanwalt Christoph Leyenfels schien einen der Schutzwälle überwunden zu haben, die sie, nicht grundlos, umgaben. Was sie erlebt hatte, steckte man nicht einfach weg. Der Mordfall Manuel Ruge musste Kirsten erschüttern, doch sie hatte sich im Griff. Wie immer.

»Ich habe Sie etwas gefragt.« Katja Behringer schob den Stuhl zurück und stand auf. »Wie lange wollen Sie mich hier noch festhalten?«

»Nicht länger als nötig.«

»Soll heißen, bis ich einen Mord gestehe, den ich nicht begangen habe.«

Er spürte die Wut, die sie zu unterdrücken versuchte, eine latente Aggressivität, die dicht unter der makellosen Oberfläche dieser attraktiven Frau vibrierte. »Würden Sie sich bitte wieder setzen.«

»Das sind Polizeistaatmethoden«, fuhr sie ihn an. »Ich werde es öffentlich machen, wie ich hier behandelt und unter Druck gesetzt werde.« Zorn funkelte in ihren Augen. Eine Ader am Hals trat hervor. Er sah den Pulsschlag darin pochen.

Derartige Drohungen waren nicht neu für ihn. Häufig kamen sie, wenn ein Beschuldigter sich in die Enge getrieben fühlte, wenn das Unausweichliche absehbar wurde, wenn man sich langsam der Wahrheit näherte. »Es steht Ihnen frei, sich an meinen Vorgesetzten zu wenden. Sie sollten Ihre Vorwürfe allerdings beweisen können. Aus diesem Grund zeichnen wir Vernehmungen auf.« Er ging auf sie zu und wollte ihr die Hand beschwichtigend auf die Schulter legen. »Bitte setzen Sie sich.«

Sie schlug sie weg. »Fassen Sie mich nicht an. Sie Scheißkerl!«, schrie sie und schlug um sich. Plötzlich flogen ihre Hände und Arme. »Pfoten weg!« Ihr Unterarm traf seine Brust. »Scheißkerl!«

Das ging zu weit. Er wehrte den folgenden Schlag ab und versuchte, sie in Polizeigriff zu nehmen. »Au! Sie tun mir weh!« Mit der freien Hand hieb sie weiter auf ihn ein. »Hilfe!«

Herrgott, was für ein Theater! »Beruhigen Sie sich!« Hatte ihre Attacke ihn für den Bruchteil einer Sekunde amüsiert, schlugen seine Gefühle nun in Zorn um. Was war er doch für ein verdammter Idiot! Sie wollte Tatsachen schaffen und schlug weiter auf ihn ein. Bulle verprügelt Beschuldigte. »Jetzt ist es aber gut!« Er drehte ihr den Arm auf den Rücken, sah einen Uniformierten in den Raum stürzen, während er versuchte, sie im Polizeigriff zu halten, doch sie stellte ihm ein Bein. Krachend landeten sie beide auf dem Boden. Ihre Schreie gingen in ein Wimmern über. Der Kollege ging neben ihr in die Hocke und beugte sich über sie. »Sie sind ja verletzt!«

Dühnfort rappelte sich auf. Der Schutzpolizist sah zu ihm hoch. Sie kannten sich. Polizeiobermeister Arnold Gerstner. »Wir brauchen einen Arzt«, stammelte er. Abscheu lag in seinem Blick.

Wieso einen Arzt? Zornige Röte war einer Leichenblässe gewichen. Behringers Unterkiefer zitterte. Noch immer saß sie auf dem Boden und starrte auf den Ärmel ihres cremefarbenen Kaschmirpullovers. Ein Stück Unterarmknochen hatte das feine, inzwischen blutgetränkte Gewebe durchstoßen und ragte daraus hervor. Ein offener Bruch. Merde! Verdammter Mist! Sie war unglücklich gestürzt. Das hatte er nicht gewollt. Doch hätte sie nicht dafür gesorgt, dass sie beide zu Fall kamen, wäre das nicht passiert.

Plötzlich stand Kirsten neben ihm, zwei Tassen Espresso in den Händen. »Was ist denn hier los?«

»Er hat mich geschlagen«, stammelte Katja Behringer.

»Was?« Obwohl er es hatte kommen sehen, überraschte ihn diese Lüge doch.

»Ich habe doch nur gesagt, dass ich es nicht war. Ich kann doch nicht einen Mord gestehen …« Ihre Augen verdrehten sich, sie sackte nach hinten weg. Gerstner, der neben ihr kniete, erwischte sie gerade noch, bevor ihr Kopf auf den Boden knallen konnte.

Fragend suchte Kirsten Dühnforts Blick. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern und forderte einen Notarzt an, während Gerstner die Frau in stabile Seitenlage brachte. Zu guter Letzt zog er noch seine Uniformjacke aus und schob sie ihr unter den Kopf. Im Raum hatten sich inzwischen etliche Kollegen versammelt. Fragen wurden laut.

Gerstner stellte sich vor Dühnfort. Nur ein paar Zentimeter trennten sie. Bewusst verletzte er die Distanzgrenze, provozierte. »Das hätten Sie nicht tun sollen. Sie sind echt zu weit gegangen. Einfach drauflosprügeln, nur weil sie nicht gesagt hat, was Sie hören wollten. In Ihrer Position sollten Sie sich besser im Griff haben.«

2

»Das ist eine absurde Behauptung.« Wenn Dühnfort richtig wütend war, wurde er ganz ruhig. Eine Eigenschaft, von der er nicht wusste, woher sie kam. Von seinem Vater, der jeden Angriff messerscharf parierte, sicher nicht. Ebenso wenig konnte diese Facette seiner Persönlichkeit von seiner Mutter stammen, denn sie war eine Frau mit überbordenden Emotionen. Wie auch immer er diese Fähigkeit erworben hatte, er war in diesem Augenblick dankbar dafür. In ihm kochte zwar die Wut über Gerstners hanebüchene Beschuldigung, doch ein Deckel lag auf diesem Topf, schloss ihn hermetisch ab. Er würde sich nicht provozieren lassen. Diese Attacke trug eine Überschrift: Rache. Allerdings würde Gerstner mit dieser billigen Nummer Schiffbruch erleiden.

Der Notarzt drängte mit zwei Rettungssanitätern herein. Die Ansammlung der Kollegen löste sich auf, während Gerstner das große Wort zu führen begann. Hier wurde er nicht länger gebraucht. Dühnfort verließ das Zimmer, gefolgt von Kirsten. Vor dem Kaffeeautomaten wartete Moritz Russo. Er war ein sehniger Triathlet mit Stoppelhaarschnitt und silbernem Knopf im Ohr. Kein Gramm Fett zu viel am Körper. »Niemand wird das glauben.« Mit dem Kinn wies er Richtung Vernehmungsraum. »Also mach dir keinen Kopf. Vermutlich seine Revanche für die Sache mit der Schäfer.«

»Was für eine Sache?« Kirsten lehnte sich an den Automaten.

»Marlis Schäfer. Der Selbstmord.«

»Ach, er war das.«

»Ich habe das kommen sehen und trotzdem falsch reagiert. Sie ist auf mich losgegangen. Statt sie in den Polizeigriff zu nehmen, hätte ich besser die Kollegen dazugerufen. Sie hat mir ein Bein gestellt, so dass wir beide gestürzt sind. Das hat Gerstner gesehen. Und nichts anderes.«

Der Plastikbecher war gefüllt. Russo nahm ihn aus der Halterung. Dühnfort schauderte bei der Vorstellung, dieses Gebräu trinken zu müssen.

»Ich glaube nicht, dass er diese Geschichte aufrechterhalten kann.« Russo klopfte ihm auf die Schulter.

Doch Dühnfort befürchtete das Gegenteil. Die Behringer würde das durchziehen. Falls Gerstner sich auf ihre Seite schlug, gab es nur einen Weg. Agieren war immer noch besser als zu reagieren. Er ging in sein Büro, braute sich einen Espresso doppio, rührte zwei Löffel Dark Muscovado Sugar hinein und setzte sich an den PC. Eine halbe Stunde brauchte er für den Bericht. Er las ihn in aller Ruhe durch, schärfte Formulierungen und beseitigte Unklarheiten. Erst als er sicher war, den Sachverhalt präzise und frei von Emotionen dargelegt zu haben, schickte er ihn per Mail an seinen Vorgesetzten, Kriminaloberrat Leonhard Heigl, und an Matthias Potthoff, Leiter des KFD11, der Abteilung für Amtsdelikte. Behringers Anzeige würde von diesem Dezernat bearbeitet werden. Seine Anzeigen gegen sie und Gerstner wegen falscher Beschuldigung schickte er gleich hinterher. Danach fühlte er sich besser.

Kurz nach sieben verließ er das Präsidium. Die Abenddämmerung senkte sich über die Stadt. Doch das Gefühl, die Situation zu beherrschen, hielt nicht lange an. Mit jedem Schritt wuchs der Ärger. Am meisten über sich selbst. Er hatte die Falle erkannt und war dennoch hineingelaufen. Herrgott! Wie dämlich konnte man sein!

Am Stephansplatz nahm er die Abkürzung über den Alten Südfriedhof. Das Handy in seiner Manteltasche begann zu vibrieren, als er das Grab des Musikers passierte. Der Marmorengel, der dort seit über hundert Jahren wachte, blickte heute missmutig über sein Reich. Eine Taube flog im Tiefflug vorbei und landete auf dem bunten Laubteppich, der den Kiesweg bedeckte. Gurrend tippelte sie vor Dühnfort her.

Heigl meldete sich. Er hatte den Bericht gelesen, und auch der Buschfunk war schon bis zu ihm vorgedrungen. Die Nachricht verbreitete sich bereits im Präsidium: Dühnfort prügelt eine Beschuldigte krankenhausreif. Heigl räusperte sich. »Überflüssig, zu sagen, dass ich dir glaube. Ein derartiger Übergriff passt nicht zu dir. Dennoch gibt es Gesprächsbedarf. Wir müssen das aus den Medien raushalten.«

»Das wird sich nicht verhindern lassen. Die Behringer arbeitet bei einem Privatsender. Vermutlich sitzen bereits etliche Kollegen an ihrem Krankenbett.« Bei dieser Vorstellung sträubten sich sicher Heigls Nackenhaare, ebenso wie seine. Man würde ihn als prügelnden Bullen durchs mediale Dorf treiben. Tolle Aussichten!

»Hm. Nicht schön. Wenn sie in die Offensive geht, kommen wir um eine Pressekonferenz nicht herum. Wir besprechen das morgen früh. Um acht in meinem Büro. Passt dir das?«

Es passte ihm nicht. Er hatte einen Termin bei Ruges Bank. Doch Heigls Frage war rhetorisch. Er erwartete kein Nein und würde es auch nicht akzeptieren. »Kein Problem.«

Als Dühnfort das Handy einstecken wollte, entdeckte er eine SMS von Gina. Bin noch in Lohwies. Ein alter Fall läuft heiß. Bei mir wird es spät. :-x

Er antwortete ihr. Dann bis spät, Schatz. :-x

Enttäuscht kickte er einen Stein weg und traf die Taube, die davonflatterte. Heute war nicht sein Tag. Definitiv nicht.

Seit Gina in der Abteilung für Altfälle arbeitete, sahen sie sich seltener, obwohl sie nun zusammenwohnten. Es war paradox. Sie trafen sich nur noch abends und an den Wochenenden, und auch oft dann nicht, wenn viel zu tun war. Ein Gefühl des Bedauerns machte sich in ihm breit.

Am Ausgang Pestalozzistraße verließ er den Friedhof und stieg kurz darauf durch das düstere Treppenhaus hoch zur Wohnung. Die Beleuchtung in der zweiten Etage war ausgefallen. Vorsichtig tastete er sich durchs Halbdunkel, stolperte über ein Bobby Car und fing sich gerade noch. Dabei knallte er mit der Schulter gegen die Wand. Ein scharfer Schmerz. Er biss die Zähne aufeinander, um nicht laut zu fluchen.

In der Wohnung war es dunkel und kalt. Er hatte sich darauf gefreut, mit Gina zu Abend zu essen, ihr von Gerstner und der Behringer zu erzählen, von seiner eigenen Dummheit und von der latenten Angst, die Sache könnte eine zerstörerische Dynamik entwickeln, die ihm am Ende eine Anklage wegen schwerer Körperverletzung im Amt einbrachte. Was, wenn man ihm nicht glaubte?

Ach, Tino. Wenn du schwarzsiehst, dann immer gleich rabenschwarz. Du machst dich verrückt. Völlig grundlos, würde Gina sagen. Warum sollte man dir nicht glauben?

Weil ich keinen Zeugen habe und die Behringer schon. Wenn auch einen falschen.

Er wird sich in Widersprüche verwickeln und sich darin verheddern. Oder? Kein Grund zur Panik.

Sie hatte ja recht. Er sah die Post durch. Eine Karte seiner Mutter war darunter. Im November kam sie mit Georges nach München. Sie, um eine Ausstellung vorzubereiten, er, um sich durchchecken zu lassen. Gesundheitlich ging es ihm nicht so gut. Probleme mit der Prostata. Rita schrieb, dass sie bereits eine Unterkunft bei Freunden im Glockenbachviertel gefunden hatten. Du musst dich also um nichts kümmern. Ich freue mich, dich endlich mal wieder zu sehen, mein Lieber. Es ist viel zu lange her.

Es stimmte. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Bei der Taufe von Lizzy vor anderthalb Jahren zum letzten Mal. Er hängte die Karte mit einem Magneten an den Kühlschrank und nahm den vorbereiteten Auflauf heraus. Der Rand der Form war feucht. Sie glitt ihm aus den Händen, knallte auf die Fliesen und zerbarst. Scherben, Fleisch, Nudeln und Gemüse spritzten über Boden und Schrankfronten. Tomatensoße durchweichte seine Schuhe und Socken und lief am Geschirrspüler hinab. Die Küche sah aus wie nach einem Massaker.

»Merde! Mist! Verdammte Scheiße!« Wütend knallte er den Kühlschrank zu, donnerte die Küchentür ins Schloss und ging ins Bad. Was für ein beschissener Tag! So konnte das nicht weitergehen. Entweder ließ er sich jetzt in einer Kneipe volllaufen, was sicherlich keine gute Lösung war und genauso wenig zu ihm passte, wie Frauen krankenhausreif zu prügeln, oder … Ja, was?

Die Joggingsachen fielen ihm ein, die im Schrank Staub ansetzten. Eigentlich war er kein Sportler, doch jetzt verspürte er unbändigen Bewegungsdrang.

3

Mit Staubsauger und Putzzeug bewaffnet, betrat Elena das Schlafzimmer. Der muffige und saure Geruch nach alter Frau hing darin wie ein ranziges Stück Schwarte. Sie unterdrückte den Brechreiz, um nicht auf den Läufer zu kotzen, und riss das Fenster auf. Vor etlichen ihrer Kunden ekelte sie sich. Manche wuschen sich nicht und trugen wochenlang dieselben Klamotten. Einige warfen nichts weg, auch dann nicht, wenn die Sachen in Kühlschränken und Vorratsregalen zu leben begannen. Und manche lüfteten nie. So gesehen war die Kommandantin erträglich. Sie hatte nur etwas gegen frische Luft.

Elena lehnte sich hinaus und atmete tief durch. Die saubere Luft war schon alles, was sie an diesem Land mochte. Sie war klar und frisch, wie das Wasser des Jalpuch an seiner Quelle. Weiter flussabwärts wurde auch er zur Dreckbrühe. Nichts blieb sauber, unberührt und unverdorben. Wer das leugnete, war ein weltfremder Phantast und würde schneller untergehen, als er denken konnte. Die Spielregeln akzeptieren und sich anpassen, oder verrecken. Eine andere Wahl hatte man nicht. Natürlich hatte sie sich fürs Anpassen entschieden.

Sie lechzte nach einer Zigarette, zog eine aus der Packung und schob sie sich zwischen die Lippen. Das Zippo flammte auf, der Tabak knisterte. Eine Sekunde später sog sie mit dem Rauch Nikotin in ihre Lunge. Tat das gut! Sie hatte erst ein paar Züge gemacht, als auf dem Flur das gleichmäßige Klopfen des Stocks erklang. Rahat! Scheiße! Sie inhalierte noch einmal tief.

Als die Alte in der geöffneten Tür stehen blieb, blies Elena den Rauch ins Zimmer. Mit Habichtblick wurde dieses Vergehen registriert. Der Stock knallte auf den Boden. Eine knappe militärische Geste. Die Geste einer Frau, die es gewohnt war, dass man ihr gehorchte. Die Attitüde einer Kommandantin. Auf den Stock gestützt sah sie sich um. Eine ausgemergelte und verbitterte Gestalt. Eine Mumie, an der ein dunkelblauer Hosenanzug schlotterte und deren knochige Hände mit goldenen Ringen geschmückt waren, als könnte sie so den Unausweichlichen bestechen. Den Tod.

Auch du entkommst ihm nicht, dachte Elena. Er ist die einzige Gewissheit, die du hast. Und das weißt du. Deswegen bist du so verbittert und feindselig. Jetzt, wo er vor der Tür steht. Soll er dich doch holen!

»Bei mir wird nicht geraucht, Eva! Habe ich das gesagt oder nicht?«

War es so schwer, sich ihren Namen zu merken? Auch wenn es nicht ihrer war. »Elena.«

»Eva? Elena? Wo ist der Unterschied? Wenn du dich bitte an das Rauchverbot halten würdest.«

Sie mimte Zerknirschung. »Entschuldigung. Ich haben vergessen.« Wie um Nachsicht mit dieser dummen Ausländerin bittend, breitete sie die Hände aus, nahm noch einen Zug, dass die Glut rot aufleuchtete, und entließ den Rauch, scheinbar gedankenverloren aus ihrer Lunge. Erst dann drückte sie die Kippe auf dem Fensterbrett aus.

Die Alte hustete demonstrativ. »Nun fang schon an. Falls du mit deiner Trödelei länger als die vereinbarte Zeit brauchst, bezahle ich trotzdem nicht mehr. Und schließ das Fenster. Ich hole mir sonst noch den Tod.«

»Nichts Sorge. Ich putzen drei Stunden, ist fertig.« Gehorsam führte sie den Befehl aus. Die Kommandantin machte kehrt und dachte laut darüber nach, ob es von ihrer Tochter Elisabeth wirklich eine gute Idee gewesen war, eine Putzfrau zu engagieren. Noch dazu eine, die elend langsam war und mit der man sich nur schwer verständigen konnte, weil sie kaum Deutsch sprach. Auch das war ein Irrtum. Doch das konnte die Alte nicht wissen.

Im Wohnzimmer wurde der Fernseher lauter gedreht. Dröhnende Stimmen und scheppernde Musik drangen in den Flur. Elena öffnete das Fenster wieder und streifte Latexhandschuhe über, wie stets beim Putzen. Sie zog das Bett ab, trug die Schmutzwäsche ins Bad, wischte Staub, schüttelte die bunten Läufer aus, die rund ums Ehebett lagen, dessen eine Hälfte verwaist war, und saugte schließlich den Teppichboden. Im Spalt zwischen Bett und Nachttisch fand sie einen Zehneuroschein. Lächelnd hob sie ihn auf. Als sie vor einer Woche zum ersten Mal hier geputzt hatte, waren es drei Euro gewesen, die im Bad auf der Waschmaschine lagen. Wie vergessen. Mit der Hand strich sie den Schein glatt und wollte ihn schon auf dem Nachtkästchen mit der Flasche Eau de Cologne beschweren, als sie eine bessere Idee hatte.

Sie ging ins Wohnzimmer. Eine Talkshow lief. Die Kommandantin sah hoch, als Elena eintrat. »Ich gefunden. Unter Bett.« Sie gab der Alten das Geld, die sich in schlecht gespielter Verwunderung fragte, wie es wohl dahin geraten war. Natürlich bedankte sie sich nicht. Prüfung offiziell bestanden. Eins. Setzen. Die neue Putze war ehrlich. Ein weiterer Irrtum.

Frische Bettwäsche lag in der Kommode. Elena nahm eine Garnitur heraus und durchsuchte bei dieser Gelegenheit die Schubladen. In der Schachtel mit der Heizdecke entdeckte sie ein Kuvert, das nicht dorthin gehörte. Das Logo der Sparkasse war aufgedruckt. Ein Bündel Scheine steckte darin. Achthundert Euro. Wow! Nicht schlecht. Sie legte das Geld zurück und stellte den Karton an seinen Platz. Alles zu seiner Zeit.

Die Schmuckschatulle entdeckte sie im Nachtkästchen. Kein Bargeld darin. Auf rotem Samt lagen die Schätze der Kommandantin. Goldarmbänder, eine Perlenkette mit einem wunderschönen Verschluss, eine Brosche mit rotem Stein, Saphirohrringe, einige Ringe, eine Armbanduhr. Elena ließ die Schmuckstücke durch ihre latexbehandschuhten Finger gleiten, steckte einen Ring an, hob die Hand und begutachtete ihn. Wie das glitzerte und funkelte. Doch sie war keine Idiotin. Einen Moment betrachtete sie diesen Schatz noch, dann legte sie alles zurück und schloss die Schublade.

Im Schlafzimmer fand sie keine weiteren Geldverstecke. Allerdings konnte sie auch nicht intensiv danach suchen. Es würde auffallen, wenn sie so viel länger brauchte als beim ersten Mal. Mit dem Staubsauger ging sie ins Esszimmer und schaffte Ordnung.

Nach drei Stunden war die Wohnung aufgeräumt und sauber. Sie roch nach Möbelpolitur und frisch gewaschener Wäsche. Elena brachte noch den Müll runter und entdeckte dabei in der Tüte mit dem Altpapier Tolstois Anna Karenina, in einer deutschen Übersetzung. Liebe Mutter, alles Gute zum Geburtstag. In Liebe, Elisabeth. Die Kommandantin warf das Geschenk ihrer Tochter in den Müll. Kalt wie der sibirische Winter. Elena schlug das Buch zu und steckte es in den Rucksack.

Um halb sieben verabschiedete sie sich von der Alten, die ihr den Lohn überreichte, als gewähre sie eine Gunst. »Nächste Woche, um dieselbe Zeit?«

Elena nickte. »Ich punktlich. Wenn Problem, ich telefonieren.«

Sie steckte das Geld ein. Es war lächerlich wenig, im Vergleich zu ihrem früheren Job. Allerdings hatte sie davon so gut wie nichts gehabt. Unter dem Strich machte es also keinen Unterschied. Wer sich illegal in diesem gelobten Land aufhielt, musste für jeden Cent dankbar sein und wurde oft auch noch um den beschissen. Nicht selten von den eigenen Leuten. Die Illegalen waren machtlos. Man konnte sie ausbeuten und betrügen, man konnte sie demütigen und quälen, misshandeln, vergewaltigen und verkaufen. Sie waren Schattenwesen. Sie waren nichts.

Doch Elena hatte die Regeln geändert.

4

Es wurde bereits dunkel, als Clara Lenz den Eingang des Klinikums rechts der Isar ansteuerte. Seit gestern lag ihr Vater hier. Nachts war er gestürzt und hatte Glück gehabt, dass keiner seiner morschen Knochen gebrochen war. Die Mitarbeiterin des Pflegediensts hatte ihn gefunden. Morgens um acht im Bad, auf dem Fliesenboden, nur mit der Unterhose bekleidet und völlig unterkühlt. Mindestens zehn Stunden musste er dort gelegen haben.

Seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren baute er ab. Weniger körperlich als mental. Als sich im Frühling die Merkwürdigkeiten zu häufen begannen, war es ihr gelungen, ihn zu einer neurologischen Untersuchung zu überreden. Mit vernichtendem Ergebnis. Ihr Vater litt an Alzheimer. Die Erkrankung befand sich bereits im Übergang zum zweiten Stadium. Die Anzeichen des ersten hatten sie und Franziska falsch interpretiert und angenommen, dass es an der Trauer um Mutter lag, dass er sich derart zurückzog, und die zunehmende Vergesslichkeit seinem Alter zugeschrieben. Und dann diese vernichtende Diagnose!

Die Glastüren öffneten sich. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, Kaffee, Blumen und feuchten Mänteln schlug ihr entgegen. Am Kiosk kaufte sie eine Tafel Schokolade, Rum-Trauben-Nuss, Paps’ Lieblingssorte. Mit dem Lift fuhr sie nach oben zur Krankenstation.

Erst wollte sie mit dem Arzt sprechen. Im Schwesternzimmer war niemand. Im Arztzimmer auch nicht. Weiter hinten entdeckte sie einen Pfleger. Doch er war für die Station nicht zuständig und riet Clara, es später noch einmal zu versuchen.

Ihr Vater lag mit drei alten Männern in einem völlig überheizten Zimmer und schlief. Der Schnabelbecher mit Orangensaft wies noch denselben Pegelstand auf wie gestern Nachmittag, als sie ihn gefüllt und dort abgestellt hatte. Die Saftflasche ebenfalls. Auch vom Wasser hatte er keinen Schluck getrunken. Ärger machte sich in Clara breit. Die Haut an seiner Hand fühlte sich trocken an und brüchig wie Papier. Er öffnete die Augen. »Clara. Du bist spät.«

»Tut mir leid. Ich musste erst wegarbeiten, was gestern liegen geblieben ist.« Natürlich war sie im Krankenwagen mitgefahren und war dabei gewesen, als er untersucht und schließlich auf die Station verlegt worden war. Ein halber Arbeitstag war dabei flöten gegangen. Sie schlüpfte aus dem Mantel und warf ihn über einen Besucherstuhl.

»Immer hast du Ausreden.«

Nette Begrüßung. Sie atmete durch. Sie war es nicht anders gewohnt und hatte daher jahrelange Übung im Durchatmen. »Ich habe dir deine Lieblingsschokolade mitgebracht.« Sie reichte ihm die Tafel. Er musterte sie und gab sie zurück. »Rum-Trauben-Nuss? Habe ich ja noch nie gemocht.«

Clara sandte ein lautloses Omm zur Zimmerdecke. »Wie geht es dir? Weißt du schon, wann du entlassen wirst?«

»Mir geht es blendend. Du hättest mich nicht hierher schaffen müssen.« Ratlos sah er sich um. »Warum bin ich überhaupt hier?«

»Du bist im Bad gestürzt.«

»Das wüsste ich aber.«

Die Tür wurde geöffnet. Der Pfleger sah herein. »Frau Lenz, Sie wollten doch den Arzt sprechen. Er ist jetzt da.«

Clara drückte die Hand ihres Vaters. »Bin gleich zurück. Trink inzwischen etwas. Du trinkst viel zu wenig.«

Das Arztzimmer war eine fensterlose und mit zwei überquellenden Schreibtischen zugestellte Zelle, auf denen die PCs kaum Platz hatten. Dr. Wolfram Wernicke – so stand es auf dem Schildchen am Revers – wies auf einen Stuhl. »Bitte.«

Clara setzte sich. Er sah nicht aus wie ein Arzt. Eher wie ein demotivierter Finanzbeamter kurz vor der Pensionierung. Der weiße Kittel war zerknautscht. In der Brusttasche steckte ein Kugelschreiber, der auslief und einen blauen Fleck hinterließ. Die Brillengläser waren verschmiert. Clara fragte, wann ihr Vater entlassen wurde.

Wernicke sah auf den Monitor. »Ernst Kubisch. Da haben wir ihn ja.« Mit flinken Augen überflog er die Datei. »Ich würde ihn gerne noch ein paar Tage dabehalten. Die Nierenwerte gefallen mir nicht. Trinkt er denn ausreichend?«

Clara versuchte den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. »Mein Vater hat Alzheimer. Er vergisst alles Mögliche. Unter anderem auch zu trinken. Darauf habe ich gestern hingewiesen, als er eingeliefert wurde. Und ich habe auch die Schwester gebeten, darauf zu achten, dass er trinkt. Doch als ich vor fünf Minuten gekommen bin, standen die beiden Becher mit Saft und Wasser, die ich ihm gestern hingestellt habe, völlig unberührt vor ihm. Wenn er heute also überhaupt etwas getrunken hat, dann vermutlich nur den Kaffee zum Frühstück. Kein Wunder, dass Ihnen die Nierenwerte nicht gefallen.«

Über den Rand der verschmierten Brille hinweg sah Wernicke sie an. »In meinen Unterlagen steht nichts davon. Und die Schwestern haben keine Zeit dafür. Wir werden Ihren Vater an den Tropf hängen. Das wird das Beste sein.«

»Das Einfachste vielleicht. Nicht das Beste.«

Der Arzt nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. »Glauben Sie mir, Frau Lenz, wenn ich genügend Personal hätte, würde ich diese Station ganz anders führen. Im Moment ist es das Beste, wenn wir Ihren Vater mit Infusionen versorgen, um den Flüssigkeitshaushalt auszugleichen. Danach sehen wir weiter. Von der Unterkühlung hat er sich gut erholt. In der Lunge gibt es ein Geräusch. Hoffentlich wird das keine Lungenentzündung. Die Blutwerte sind in Ordnung. Derzeit sind keine Entzündungswerte nachweisbar. Wenn alles gutgeht, ist er in zwei oder drei Tagen wieder daheim.«

Clara war froh, das zu hören. Gleichzeitig legte sich die Last der Verantwortung wie ein Sandsack auf ihre Schultern. Heute hatte sie einen ganzen Tag ohne Unterbrechung arbeiten können und beinahe achtzig Seiten Lektorat geschafft. Das war seit Monaten nicht mehr der Fall gewesen, denn der Pflegedienst kam nur morgens und abends. Alle zwei bis drei Stunden unterbrach sie ihre Arbeit und sah nach ihrem Vater.

Dr. Wernicke setzte die Brille wieder auf. »Haben Sie sich denn schon Gedanken gemacht, wie Sie die Pflege künftig organisieren wollen? Sie werden das nicht mehr alleine schaffen. Die Stürze werden sich häufen und auch die Tendenz wegzulaufen. Er läuft doch weg?«

Clara nickte. Zweimal war Paps schon ausgebüxt, obwohl sie ihn gebeten hatte, nicht alleine aus dem Haus zu gehen. Er fand nicht mehr zurück. Einmal hatte ihn eine Nachbarin heimgebracht, das andere Mal hatte sie ihn gefunden. Am Pariser Platz. Keine zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Er hatte keine Ahnung gehabt, wo er war.

Wernicke legte seine Hände aneinander. »Sie können nicht den ganzen Tag an seiner Seite sein. Sie haben schließlich auch ein Leben. Sie sollten entweder eine Pflegekraft ins Haus holen oder für Ihren Vater einen Platz im Heim suchen. Er braucht professionelle Hilfe, und das bald rund um die Uhr. Das können Sie nicht leisten.«

Clara war sich seit Monaten im Klaren darüber, dass diese Entscheidung früher oder später anstand. Nun also früher.

»Ich werde es mit ihm besprechen.«

»Sehr schön.« Dr. Wernicke begleitete sie zur Tür.

In ein Heim wollte Paps auf keinen Fall. Das hatte er immer gesagt. Seit einigen Jahren gab es die Möglichkeit, über Agenturen Pflegekräfte zu engagieren, die mit in der Wohnung lebten. Es war Zeit, sich schlauzumachen, wie das genau funktionierte und was es kostete. Paps’ Wohnung war groß. Das Gästezimmer stand seit Jahren leer. Als ehemaliger Oberstudienrat verfügte er auch über eine gute Pension. Eigentlich sollte es problemlos klappen, ihn auf diese Weise betreuen zu lassen.

Als Clara das Krankenzimmer wieder betrat, saß Franzi an Paps’ Bett. Er war munter und aufgedreht. »Hallo Clara, schön, dass du mich auch besuchst. Sieh mal, Franziska hat mir meine Lieblingsschokolade mitgebracht. Rum-Trauben-Nuss.«

5

Clara sah auf, als Franzi das Tablett mit zwei Latte macchiato auf dem Tisch in der Krankenhaus-Cafeteria abstellte. Ihre kleine Schwester sah phantastisch aus. Wie immer. Niemand würde glauben, dass sie Mitte vierzig war, sondern sie für wenigstens fünf Jahre jünger halten. Wie machte sie das? Mit zwei pubertierenden Kindern, einem Vier-Personen-Haushalt und ihrem Café, das sie mit ihrer Freundin Beate betrieb. Sie trug Hüftjeans und einen pflaumenfarbenen Pullover. Sandelholzfarbener Lippenstift, dezentes Make-up. Die braunen Locken glänzten, die dunklen Augen strahlten, jede ihrer Gesten steckte voller Energie. Franzi glückte einfach alles. Für einen Moment spürte Clara Neid.

Der Latte war heiß. Clara legte die kalten Hände ums Glas. Ihr selbst ging es ja nicht wirklich schlecht. Gut, die Ehe mit Hannes war vor zwei Jahren gescheitert. Wenn irgendjemand ihr das vor drei Jahren prophezeit hätte, wäre sie in Gelächter ausgebrochen. Toller Witz. Sie und Hannes gehörten zusammen wie Birne und Helene, wie Struwwel und Peter, wie Topf und Deckel. Doch dann war die banalste aller Banalitäten passiert. Ein Plot, den sie keinem Autor durchgehen lassen würde. Pures Klischee. Hannes war mit Ende vierzig in eine Midlife-Crisis geraten. Als Therapie hatte er sich das Übliche verordnet, eine junge Geliebte, und die hatte er dann auch noch geschwängert. An ihm lag es also nicht, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war. Als hätte er je Kinder gewollt. Dieser Schwarze Peter war in ihrem Feld gelandet. Und so manch anderer war gefolgt.

Franzi trank einen Schluck. »Nicht gerade preisverdächtig. Bei mir gibt es Besseren.« Sie stellte das Kaffeeglas ab. Ihr Handy begann eine Melodie zu spielen. Sie sah aufs Display. Ein verträumtes Lächeln erschien. Ihre Lippen formten sich zu einem Kussmund, während ihre Finger über die Tasten flogen und eine SMS schrieben.

Als sie fertig war, sah sie auf, direkt in Claras überraschtes Gesicht. Ein entschuldigendes Lächeln erschien. Sie zuckte mit den Schultern. »Mein Lover.«

Clara verschlug es vor Verblüffung die Sprache.

»Na ja. Seit ich das Café habe, geht meine Ehe langsam über den Jordan. Klaus war ja immer dagegen, dass ich mich selbständig mache. Wir streiten nur noch. Da tut es einfach gut, mal wieder auf Händen getragen zu werden.«

»Weiß Klaus davon?«

»Gott bewahre.« Mit einem Mal sah Franzi besorgt aus. »Du darfst ihm das nicht verraten. Nie. Wenn er das erfährt, flippt er aus. Er schlägt mich tot.«

Diese Sorge war übertrieben, aber nicht ganz unbegründet. Klaus gehörte zu den Männern, die handgreiflich wurden, wenn sie sich hilflos oder in die Enge getrieben fühlten. Warum Franzi sich das bieten ließ? Vielleicht wegen der Kinder und des Bildes der intakten Familie? Clara hatte keine Ahnung. »Natürlich werde ich nichts sagen. Wo denkst du hin?«

»Ich weiß, das ist total wahnsinnig. Aber es tut so gut.« Sie lächelte, rührte im Kaffee und wechselte das Thema. »Ich bin froh, dass es Paps schon wieder bessergeht. Und es überrascht mich, dass er deinem Vorschlag mit der Pflegekraft zugestimmt hat. Zu mir hat er immer gesagt, Mama soll ihn pflegen, wenn es mal so weit kommen sollte.«

»Mutter ist tot. Und ich kann keine Vollzeitpflege übernehmen.« Der Tonfall war schärfer als beabsichtigt.

»Das erwartet doch auch niemand von dir«, lenkte Franzi sofort ein. »Mich wundert nur, dass er sofort einverstanden war. Vermutlich hat er es schon wieder vergessen. Ich kann dir ja helfen, eine Agentur auszusuchen.«

Natürlich ging Franzi davon aus, dass sie, Clara, das übernahm, und bot wie immer Hilfe an, die nicht kommen würde. Große Sprüche, denen selten Taten folgten. Das war so gewesen, als Clara eine Putzfrau für Paps gesucht hatte, und ebenso beim Pflegedienst. Sie hatte versprochen, sich schlauzumachen, doch wie immer war ihr etwas dazwischengekommen: »Sorry. Ich habe es nicht geschafft. Das Café und die Kids … Manchmal wünschte ich, ich hätte so ein ruhiges Leben wie du.«

Wie kam sie auf die Idee, dass Clara mit ihrem ruhigen Leben glücklich war? Als ob sie nur davon geträumt hätte, dass Hannes sie betrog und verließ und ihr als Sahnehäubchen obendrauf auch noch seine Schulden aufhalste. Doch wie immer hatte Clara nichts gesagt und die verletzenden Worte geschluckt. Sie hasste seit jeher Streit. »Danke. Das ist nett von dir.«

»Wie sieht es eigentlich mit den Finanzen aus? Paps’ Pension allein wird nicht reichen.«

»Er hat genügend auf den Sparbüchern.«

»Gut. Wir haben nämlich echt nichts übrig. Leonie will unbedingt Reitunterricht, und Justins Mathenachhilfe kostet ein Vermögen. Und eigentlich wäre es schon schön, wenn wir irgendwann auch noch was erben würden.«

Was sollte das jetzt? Paps hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sein Eingemachtes, wie er seine Ersparnisse nannte, in erster Linie zur Absicherung einer eventuellen Pflege gedacht war.

Clara war froh, dass er beizeiten vorgesorgt hatte. Auch sie wäre nicht in der Lage, ihn zu unterstützen. Was sie über den Pfändungsfreibetrag hinaus verdiente, landete bei der Bank.

Als sie auf das Stichwort Erbe nicht reagierte, fragte Franzi, ob Achim darüber informiert sei, dass Paps im Krankenhaus lag.

»Ich habe ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.«

»Weißt du eigentlich, dass er die Betreuung übernehmen will? Die Verfahrenspflegerin hat es mir erzählt.«

Das war in der Tat eine Neuigkeit. Da ihr Vater nicht mehr in der Lage war, seine Dinge selbst zu regeln, hatte der Arzt zu einer Betreuung geraten. Clara hatte sie beim Amtsgericht beantragt. Vor ein paar Tagen war der Gutachter da gewesen und hatte Paps unter anderem auch gefragt, wer sich denn um alles kümmern sollte. »Die Clara soll das machen«, war seine Antwort gewesen.

Die Clara. Wie immer. Die Clara, die sich stets in die ihr zugedachte Rolle fügte. Allerdings erledigte sie ohnehin schon alles für ihn. Es machte keinen großen Unterschied mehr. Franziska war mehr als beschäftigt, und Achim lebte in Augsburg. So blieb nur sie übrig. Geschieden. Kinderlos. Und sie wohnte nur einen Steinwurf von Paps entfernt im Hinterhaus.

»Paps will, dass ich das übernehme. Doch letztlich entscheidet das Gericht darüber. Von mir aus kann Achim sich gerne kümmern. Wäre mir eigentlich ganz recht.«

»Wie soll das denn funktionieren? Von Augsburg aus. Außerdem kümmert er sich doch sonst nicht um ihn. Vermutlich will er nur die Kontrolle über das Geld.«

Natürlich musste Franzi wieder auf Achim herumhacken. Die alte Rivalität. Wobei seit jeher sie, als das Nesthäkchen, die Siegerin gewesen war. Und natürlich hatte Clara sofort wieder das Bedürfnis, Achim zu verteidigen. »Du irrst dich. Er besucht Paps, wenn er in München Termine hat. Neulich war er mit ihm am Starnberger See essen. Das tut ihm gut. Danach ist er präsenter und vergnügt. Und ich hab auch mal ein paar Stunden für mich.«

Erstaunt zog Franzi die Brauen hoch. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

Clara sorgte sich eher, wie schnell die Krankheit voranschritt. Im Frühling hatten sich die Auffälligkeiten plötzlich zu häufen begonnen. Paps erinnerte sich nicht mehr an ein fünf Minuten zuvor geführtes Gespräch und erzählte von merkwürdigen Anrufen. Als Clara die Anruferliste des Telefons durchsah, war darin jedoch seit Tagen kein neuer Eintrag verzeichnet. Und eines Morgens hatte er von einem nächtlichen Besucher berichtet. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung sei zur Volkszählung gekommen. Gegen die Volkszählung hatte Paps damals in den Achtzigern demonstriert. Als er nun schilderte, wie er dem Beamten nachts willig Auskunft gegeben hatte, waren bei Clara die Alarmanlagen losgegangen. Ihr Vater schien keinen Zweifel an der Existenz des Besuchers zu haben und es obendrein völlig normal zu finden, dass Umfragen nachts durchgeführt wurden.

Sie hatte Franzi und Achim informiert und gefragt, was sie tun sollte. Achim war skeptisch gewesen, als Clara eine neurologische Untersuchung vorschlug, da sie eine Demenz befürchtete. »Er ist über achtzig und wird senil. Das ist doch fast normal. Und falls er wirklich Alzheimer bekommt, kann man das sowieso nicht stoppen. Wozu also der Stress?«, hatte er gemeint. Doch seither kam er regelmäßig vorbei und sah nach dem Rechten. Auch er machte sich Sorgen um ihren Vater, selbst wenn Franzi das nicht wahrhaben wollte.

Franzi leerte das Glas Latte macchiato und sah auf die Uhr. »Wie gesagt, wenn du Unterstützung brauchst, ruf an. Jetzt muss ich aber langsam los.«

6

Als Clara zwanzig Minuten später den Durchgang zum Hinterhaus in der Sedanstraße passierte, war es dunkel geworden. Nur eine Lampe spendete spärlich Licht. Vom Ahorn in der Hofmitte riss der Wind die ersten rot gefärbten Blätter und fegte sie in einer Ecke zusammen. Für ein paar Minuten setzte sie sich auf die Bank und genoss den Wind, der mit den Haaren spielte. Schon als Kind hatte sie das gemocht.

Die Drachen fielen ihr ein, die Paps mit ihnen gebastelt hatte. Sonntags waren sie damit aufs Land gefahren. Eine Thermoskanne mit Kakao und Mutters Marmorkuchen im Gepäck. Auf den Stoppelfeldern hatten sie die Drachen steigen lassen. Der Wind zauste die Haare. Paps erzählte Geschichten. Wie lange war das her?

Über vierzig Jahre. Wo war die Zeit geblieben? Zu schnell vergangen. Zu viel versäumt. Wer würde sich einmal um sie kümmern?

Einst war sie das Kind gewesen, um das er sich gesorgt, das er erzogen und das er beschützt hatte. Und nun, da seine Fähigkeiten, sich im Leben zurechtzufinden, erodierten wie abgeerntete Felder im Wind, verkehrten sich diese Rollen ins Gegenteil. Sie musste jetzt die Verantwortung für ihn übernehmen. Würde sie alles richtig machen, in seinem Sinn handeln? Würde es ihr gelingen, die Jahre, die ihm noch blieben, für ihn lebenswert zu machen, trotz dieser schrecklichen Erkrankung?

Sie würde es versuchen. Das war sie ihm nicht nur schuldig, sie tat es gerne. Das Bild von Waagschalen im Gleichgewicht stand ihr plötzlich vor Augen. Lächelnd stand sie auf. Harmoniesüchtig, wie sie nun einmal war, war es sicher passend.

Die Sprossenfenster der ehemaligen Schusterwerkstatt, die nun ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz beherbergte, schimmerten weiß im Zwielicht. Clara zog den Schlüssel aus der Manteltasche und schob ihn ins Schloss. Dabei sprang die Tür auf. Wieso war sie nur angelehnt? Sie hatte doch abgesperrt. Oder etwa nicht? Ihr Herz begann schneller zu schlagen, die feinen Härchen im Nacken richteten sich auf. Ihre Hand tastete nach dem Schalter.

Der Orleansplatz mit seinen Junkies, Pennern und Säufern war nicht weit entfernt. Sie machte sich darauf gefasst, gleich in ein Chaos zu blicken. Durchwühlte Schrankfächer, herausgerissene Schubladen, umgestürzte Stühle. Flammend ging die Deckenlampe an.

Ihr kleines Reich schien unberührt. Es bestand aus einem großen Raum mit Kochnische und einer Schlafecke hinter einem Paravent. Der Schreibtisch mit PC hatte seinen Platz vor dem Sprossenfenster. Daneben, in der Ecke, waren Sessel und Couch untergebracht und der alte Röhrenfernseher, der auf dem einzigen wertvollen Stück stand, das sie besaß, einer Kirschholzkommode. Vor der Wand befand sich der Kachelofen mit dem Korb voll Briketts und Holz. Alles war an seinem Platz. Eine Welle von Erleichterung spülte die Anspannung fort. Vermutlich hatte sie vergessen abzusperren. Sie schloss die Tür, hängte den Mantel auf den Bügel und setzte sich an den Schreibtisch, um am Lektorat eines historischen Romans weiterzuarbeiten. Dabei bemerkte sie, dass eine Schublade nicht richtig zu war. Sie zog sie auf. Stifte, Radiergummi und Lineale lagen wild durcheinandergewirbelt.

Es war doch jemand hier gewesen!

Plötzlich drang das leise Brausen des Straßenverkehrs lauter herein. Ein kalter Luftzug streifte sie. Die Tür fiel ins Schloss. Clara rannte nach vorne und riss sie auf. Ein Schatten verschwand im Durchgang zur Straße. Weg war er. Ihr Herz raste. Nach Luft ringend starrte sie in den Hof. Wo war der Kerl so plötzlich hergekommen?

Die Tür zum Bad stand offen. Als sie die Wohnung betreten hatte, war sie zu gewesen. Sie musste ihn überrascht haben, und er hatte sich im Bad versteckt! Clara sah sich um. Was sollte man hier schon klauen? Der PC stand an seinem Platz. Fernseher und Radio ebenfalls. Uralte Geräte, für die man auf dem Flohmarkt keine fünf Euro bekommen würde. Ihre Füße wurden kalt. Sie zog die Schublade der Kommode auf, um Socken herauszuholen, und fuhr zusammen. Ihre Wäsche war durchwühlt worden. Auch die anderen Schubladen hatte der Einbrecher durchsucht. Wonach denn, um Himmels willen? Nach ausgeleierten Socken? Nach Schmuck und Geld natürlich!

Mit bebenden Fingern schob Clara die Schiebetür des Kleiderschranks auf. Der Stapel mit Pullis und T-Shirts war verrutscht. Die kleine Schmuckschatulle, die sie dahinter versteckt hatte, lag obenauf.

Mutters Ring, die schmale Goldkette, die Paps ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und die Uhr von Hannes zum zehnten Hochzeitstag. Die Erinnerungsstücke ihres Lebens. Sie wollte es nicht wissen und zögerte den Moment hinaus, bis sie den Deckel öffnete, darauf gefasst, dass alles weg war. Doch es fehlte nichts.

7

»Er erwartet dich.« Marion Höffken wies auf die Tür zu Heigls Büro. »Seine Laune ist nicht die beste, wie du dir denken kannst.«

»Die Medien sind also schon im Bilde.« Obwohl Dühnfort nichts anderes erwartet hatte, wunderte ihn der frühe Zeitpunkt. Katja Behringer musste gestern tatsächlich noch Hof gehalten haben.

»Bei der Pressestelle laufen die Telefone heiß. Also Kopf hoch. Da musst du jetzt durch.« Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er klopfte an und trat ein. Heigl saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem sich Akten, Zeitungen und zahllose Fachbücher türmten. Die Ärmel des weißen Hemds waren aufgekrempelt, die dezent gemusterte Krawatte gelockert. Es sah aus, als arbeite sich sein Vorgesetzter bereits seit Stunden für Recht und Ordnung auf.

»Guten Morgen, Tino. Setz dich.« Sein Gesicht wirkte heute kantiger und sein Blick klarer und entschlossener als sonst. Ärger spiegelte sich darin und der Wille, den Ruf der Polizei zu verteidigen. »Die Presse hat sich schon darauf gestürzt. Wir gehen also in die Offensive. Für vierzehn Uhr habe ich eine Pressekonferenz angesetzt.« Er zog den Krawattenknoten noch ein Stück weiter auf. »Wir nehmen dich aus der Schusslinie. Du wirst nicht dabei sein.«

»Ist mir recht.« Dühnfort mochte diese Veranstaltungen im Allgemeinen nicht. Heute im Besonderen. Die Aussicht, sich vor Journalisten, die sich ihre Meinung ohnehin schon gebildet hatten, gegen eine haltlose Anschuldigung zu verteidigen, war absurd. Wobei sich die Medien vermutlich in zwei Lager spalten würden. Katja Behringers Hofmacht, die Boulevardzeitungen und einige private Fernsehsender, sahen in der Wettermoderatorin, die gerne mal ein bisschen mehr zeigte und für das eine oder andere Auflage bringende Skandälchen gut war, eine unschuldig Verfolgte. Für sie passte der prügelnde Ermittler perfekt ins Bild. Eine Steilvorlage, die man besser nicht groß hinterfragte. Daneben gab es einige seriöse Blätter, die grundsätzlich ihre Themen kritisch beleuchteten und das hoffentlich auch in diesem Fall tun würden.

»Wie willst du der Presse den Vorfall verkaufen?«, fragte er. »Ich meine, sie lügt zwar wie gedruckt, aber es steht Aussage gegen Aussage. Wenn wir die Behringer öffentlich als Lügnerin brandmarken, gießen wir ziemlich sicher Öl ins Feuer.«

Heigl zupfte sich am Ohrläppchen. »Sie hat einen Zeugen. Gerstner hat sich schon wichtiggemacht und dem Münchner Blick ein Interview gegeben, in dem er ihre Darstellung des Vorfalls stützt.«

Gerstner wollte das also tatsächlich durchziehen.

»Daher werden wir den Ball heute schön flach halten. Ich werde eine interne Ermittlung gegen dich ankündigen. So wird gleich deutlich, dass bei uns nichts unter den Teppich gekehrt wird. Dabei werde ich nicht unerwähnt lassen, dass du diese Ermittlung selbst angestoßen hast. Und dann lenke ich die Aufmerksamkeit auf das Kriminalfachdezernat 11. Diese Abteilung ist ja noch relativ neu. Bisher haben die Medien sie links liegen lassen. Potthoff ist bei der PK dabei, und schon haben wir dich aus dem Blickfeld und die Aufmerksamkeit bei der Arbeit der internen Ermittler.«

Dühnfort gefiel die Strategie. Dennoch ärgerte ihn die Situation. »Gerstner hat wirklich ein Interview gegeben? Ihm muss doch klar sein, dass er seine Lügen nicht aufrechterhalten kann. Wenn er auffliegt, wird die Presse ihn grillen. Spätestens bei seiner Aussage wird er sich in Widersprüche zu Behringers Einlassungen verwickeln. Es sei denn, er würde sich mit der Behringer …« Mist! Natürlich würde er das tun. Die beiden verfolgten schließlich dasselbe Ziel.

»Absprechen, meinst du.« Heigl blickte über den Tisch. »Er hat dienstliche Order, sich von ihrem Krankenzimmer fernzuhalten. Außerdem wollte ich dich als leitenden Ermittler fragen, ob du nicht auch der Ansicht bist, dass die Behringer Personenschutz benötigt. Gab es im Fall Ruge nicht einen anonymen Hinweis, dass es der Täter auf Ehebrecher abgesehen hat? Das sollten wir nicht unbeachtet lassen. Dann wäre die Behringer nach Ruge ein potentielles Opfer und im Krankenhaus nicht sicher.«

Nun musste Dühnfort grinsen. Anonyme Hinweise gab es in jedem Mordfall. In der Regel nicht ernst zu nehmen. An einen derartigen Tipp konnte er sich allerdings nicht erinnern. Schmunzelnd nickte er. »Gut möglich. Ich werde mich um den Personenschutz kümmern.«

»Ist bereits veranlasst. Alle Besucher werden registriert.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Ich lasse doch nicht einen meiner besten Männer ins Messer laufen.«

Als Dühnfort in sein Büro zurückkehrte, war die morgendliche Teambesprechung überfällig. Er rief Kirsten und Alois in den Besprechungsraum.

Kirsten sah angespannt aus und übernächtigt. Der verbitterte Zug um ihren Mund hatte sich ein Stück tiefer eingegraben. Offenbar private Probleme. Die Weihnachtsferien wollte sie mit ihrer Tochter auf Lanzarote verbringen. Diesen Urlaub hatte sie dringend nötig. »Geht es dir gut?«

Sie nickte. »Habe nur schlecht geschlafen. Und du?«

Alois kam herein und setzte sich zu ihnen, einen Pappbecher von Tea2Go in der Hand. Er trug einen neuen Anzug. Boss vermutlich oder Armani. Einen Großteil seines Einkommens investierte Alois in sein Aussehen. Teure Klamotten, passende Accessoires. Seinen Körper stählte er in einem exklusiven Fitnessclub. Alois war der Typ Schwiegermutters Liebling. Doch er hatte kein Glück mit den Frauen. Mit der Mutter seines Sohnes verband ihn eine Beziehung, die Stoff für einen Herzschmerzroman liefern könnte. Und alle anderen liefen unter der Rubrik Shortstorys. Er stellte den Becher mit grünem Tee ab. »Sag mal, was ist dran an dem Gerücht, du hättest die Behringer krankenhausreif geprügelt?«

Dühnfort setzte sich. »Nichts.«

»Hätte mich auch überrascht.«

Er hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen. Sich gegen Lügen verteidigen zu müssen, war entwürdigend. Immer blieb etwas hängen, ein leiser Zweifel, ein getuschelter Verdacht, ob nicht vielleicht doch ein Funke Wahrheit an all dem war. »Machen wir uns an die Arbeit. Ich habe in einer Stunde einen Termin bei der Bank und hoffe, dass ich endlich Ruges Kreditkartenabrechnung an Bord bekomme. Und dann wäre es schön, wenn wir jemanden finden könnten, der bezeugt, dass Katja Behringer sehr wohl von der Medikamentenallergie wusste. Wir sollten ihren Freundeskreis ebenso befragen wie seinen. Gut möglich, dass jemand in die Affäre eingeweiht war. Vielleicht gab es gemeinsame Unternehmungen. Kino- oder Restaurantbesuche, Runden, in denen man sich unterhält und wo solche Dinge zur Sprache kommen können.«

»Wozu brauchst du die Kreditkartenabrechnung?«, fragte Alois.

»In der Rekonstruktion von Ruges Tagesablauf fehlen uns anderthalb Stunden. Zwischen siebzehn Uhr, als er das Büro verließ, und achtzehn Uhr dreißig, als er heimkam, wissen wir nicht, wo er war. Das würde ich gerne ändern.«

»Ist das wichtig? Der Mord geschah erst gegen einundzwanzig Uhr.«

Wieder einmal wollte Alois es sich einfach machen. Zu den Gründlichen gehörte er wahrlich nicht. Trotzdem war auf ihn Verlass. »Wir werden nichts übersehen.« Dühnforts Handy klingelte. Er warf einen Blick darauf. Eine Nummer des KFD11 erschien im Display.

8

Kurz vor halb zwölf steuerte Dühnfort auf den Eingang der zentralen Ermittlungsstelle für Amtsdelikte zu und schnappte dabei Gesprächsfetzen in mindestens fünf Sprachen auf. Das KFD11 befand sich in einem heruntergekommenen Bürokomplex direkt am Hauptbahnhof. In der Ladenzeile im Erdgeschoss entfaltete sich Münchens Multikultiseite in voller Pracht. Asia-Lebensmittel, Döner-Kebap-Imbiss, bayerisches Trachtenoutlet, ein Bistro, ein Leihhaus, eine Schnitzel- und Hendelhütte und ein türkisches Internetcafé hatten sich in mal mehr, mal weniger freundlicher Nachbarschaft versammelt. Erst vor drei Wochen hatte es hier einen Toten bei einer Messerstecherei unter Ukrainern gegeben. Vom Hauptbahnhof hallten Lautsprecherdurchsagen herüber, das Quietschen einer Tram überlagerte kurz den Verkehrslärm. Ein Duftgemisch aus Kreuzkümmel und Leberkäs lag in der Luft.

Die Vorspeisen in der Auslage von Kelims Imbiss sahen vielversprechend aus. Dühnfort entschloss sich, nach dem Gespräch mit Potthoff hier zu Mittag zu essen. Vielleicht hatte Gina auch Lust auf Türkisch. Heute Morgen hatten sie sich nur kurz gesehen. Keine Zeit, ihr von Gerstners und Behringers Teamarbeit zu erzählen. Vermutlich erfuhr sie gerade durch den Buschfunk davon. Er zog sein neues Smartphone hervor, schickte ihr eine SMS und schlug ihr ein gemeinsames Essen vor.

Mit dem Lift fuhr er nach oben, betrat die Räume des Dezernats und meldete sich an. Eine Beamtin in Zivil brachte ihn zu Potthoffs Büro.

Der Leiter dieses noch jungen Dezernats war ein im Dienst ergrauter Beamter. Stoppelhaarschnitt, randlose Brille, schlaffe Wangen. Schlecht rasiert. Das Sakko war an den Schultern zu eng. Er reichte Dühnfort über den Tisch hinweg die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. Die Fenster waren schmutzig. Aus dem Teppichboden stieg ein muffiger Geruch. In der Ecke reckte eine Zimmerpflanze ihre vergilbten Blätter zum Licht. Das Büro wirkte, als würden darin seit zwanzig Jahren Akten und Mitarbeiter verstauben.

Potthoff kam ohne lange Vorrede zur Sache. »Eines vorab: Wir arbeiten hier unparteiisch und unvoreingenommen. Wir machen uns weder mit den Medien gemein, noch lassen wir uns von Vorgesetzten beeinflussen. Für uns zählen allein Fakten.«

»Schön zu hören.« Dühnfort entspannte sich. »Mein Bericht liegt Ihnen vor.« Musste er dennoch eine Aussage machen? In eine derartige Situation war er noch nie geraten. Vielleicht sollte er sich einen Anwalt nehmen.

»Ich habe ihn gelesen. Ungewöhnlich, sich quasi selbst anzuzeigen.«

»Ich hab das Heft gern in der Hand.«

»Der Anwalt von Frau Behringer ist auch keine Schnarchnase. Er war schon hier. Die Anzeige liegt vor. Schwere Körperverletzung im Amt.«

Das hatte er nicht anders erwartet.

»Als Zeuge wurde ein Arnold Gerstner benannt.« Potthoff stützte einen Ellenbogen auf und musterte Dühnfort nachdenklich, dabei zwirbelte er eine seiner buschigen Augenbrauen. »Ich habe Frau Behringer einen Besuch abgestattet. Ein offener Bruch, der operiert werden musste. Etliche Hämatome. Ein Schock. Der behandelnde Arzt meint, die Patientin wäre traumatisiert. Er will psychische Folgen nicht ausschließen. Das ist nicht ohne.«

Die Behringer stilisierte sich jetzt also auch noch zum traumatisierten Opfer! Es war nicht zu glauben! »Aber nicht meine Schuld. Ich habe ihren Angriff abgewehrt. Ein übliches Vorgehen in einer solchen Situation. Gerstner kam dazu, als ich sie in den Polizeigriff genommen hatte und wir stürzten.«

»Hm. Was mir nicht ganz klar ist: Sie werfen ihm wissentliche Falschbeschuldigung vor. Und verweisen bei dem Grund dafür auf ein Aktenzeichen. Ich habe mir die Unterlagen noch nicht rausgesucht. Können Sie es mir kurz erklären?«

»Natürlich.« Dühnfort berichtete vom Selbstmord einer Beschuldigten im Sommer. Sie hatte einen Mord begangen, ihr Mann war dahintergekommen und wollte die Tat auf sich nehmen. Er hatte sich mit der Tatwaffe erschossen. Der letzte Satz seines Abschiedsbriefs lautete: Ich habe alles falsch gemacht. Mit eben diesen Worten hatte die Beschuldigte ihr Geständnis beendet und gebeten, in die Zelle zurückgebracht zu werden. Gerstner war einer der beiden Kollegen gewesen, die sie abholten. Dühnfort hatte auf die bestehende Suizidgefahr hingewiesen. Man sollte die Frau nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Keine drei Minuten später war sie tot gewesen, aus einem Fenster gesprungen, das in dieser heißen Sommernacht offen gestanden hatte. Was nicht passiert wäre, wenn man ihr Handschellen angelegt oder sie wenigstens in die Mitte genommen hätte. Doch Gerstner hatte einen privaten Anruf erhalten und war zurückgeblieben, da sein Handy schlechten Empfang hatte und er befürchtete, das Gespräch zu verlieren. Erst in der folgenden Untersuchung des Vorfalls war die volle Wahrheit ans Licht gekommen. Denn das Telefonat hatte Gerstner zunächst wohlweislich verschwiegen. Die Folgen für ihn waren die Aussetzung einer anstehenden Beförderung und der damit verbundenen höheren Besoldungsstufe. »Er war wütend auf mich, denn ich konnte seinen Partner überzeugen, mit der Wahrheit über den Anruf herauszurücken.«

Mit einem bedächtigen Nicken legte Potthoff die verschränkten Hände auf den Tisch. Eine abwehrende Geste. »Ich verstehe. Wir werden eine sorgfältige Ermittlung durchführen. Zunächst werden wir weitere Zeugen suchen. Können Sie jemanden benennen?«

Dühnfort überlegte. Am Ende waren zwar ein halbes Dutzend Kollegen oder mehr im Raum gewesen, doch ob einer von ihnen beobachtet hatte, wie die Auseinandersetzung begonnen hatte, wusste er nicht. Man musste sie befragen. Er nannte Potthoff die Namen.

»Wäre gut, wenn wir jemanden finden, der Ihre Angaben bestätigen kann.«

»Natürlich wäre das gut. Aber mir fällt niemand ein. Am Ende steht möglicherweise Aussage gegen Aussage.«

»Das nicht. Katja Behringer hat Gerstner. Mit ihm habe ich schon gesprochen.«

Eine ungute Ahnung stieg in Dühnfort auf. »Und? Er hat sich doch sicher in Widersprüche verwickelt.«

»Er klang sehr überzeugend. Seine Angaben decken sich mit denen von Frau Behringer.«

»Das gibt es nicht. Er kam erst dazu, als wir zu Boden gingen. Was behauptet er denn?«

Potthoffs buschige Brauen stiegen in die Höhe. »Die Tür zum Vernehmungsraum stand offen. Richtig?«

Dühnfort bestätigte das.

»Gerstner war auf dem Weg zum Lift, als er vorbeikam. Er sah Sie mit Frau Behringer in der Nähe des Fensters stehen. Sie bedrängten die Frau, endlich ihr Gewissen zu erleichtern und den Mord zu gestehen. Dabei wurden Sie laut und schlugen Frau Behringer schließlich gegen die linke Schulter. Sie wehrte sich. Daraufhin verpassten Sie ihr eine Ohrfeige …«

»Was?«

»… und warfen sie brutal zu Boden.«

»Das ist von hinten bis vorne gelogen.«

»Wir haben nur das Problem, dass Frau Behringer dasselbe aussagt.«

Wann hatten die beiden sich abgesprochen? Es konnte nur gestern Nacht passiert sein. Nach der Operation. Gerstner musste sich als tief bestürzter Freund oder Verwandter ausgegeben haben, um zu dieser Zeit zu einer frisch operierten Patientin vorgelassen zu werden. Dieser Mistkerl. »Fragen Sie im Krankenhaus nach, wann Gerstner gestern Nacht Frau Behringer besucht hat. Dann wissen Sie, wann die beiden sich abgesprochen haben.«

»Unvoreingenommen. Unparteiisch«, wiederholte Potthoff sein Credo. »Wie wir vorgehen, überlassen Sie mal besser uns. Außerdem werden wir die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die beiden sich nicht absprechen mussten.«