Nun ruhet sanft - Inge Löhnig - E-Book
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Nun ruhet sanft E-Book

Inge Löhnig

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Beschreibung

Der neue Fall für Kommissar Dühnfort Ein Mann tötet seine Frau und seine Kinder. Kommissar Konstantin Dühnfort ist erschüttert. Wie kann ein Vater zu einer solch grausamen Tat fähig sein? Der Fall trifft Dühnfort persönlich, gerade hat Gina ihm offenbart, dass sie schwanger ist. Es fällt ihm daher schwer, mit kühlem Kopf an diesen Fall heranzugehen. Kurz nach dem Mord taucht der Familienvater plötzlich am Tatort auf. Mit einem Strauß roter Rosen für seine Frau. Steht er tatsächlich unter Schock, oder ist er ein guter Schauspieler? Ist der Vater wirklich der Schuldige?

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Das Buch

Noch nie hat Kommissar Dühnfort etwas Vergleichbares gesehen: ein abgebranntes Haus, darin eine Mutter und ihre zwei Kinder, im eigenen Zuhause brutal ermordet. Selbst vor dem Familienhund hat der Mörder nicht haltgemacht. Nur der Ehemann und Vater ist wie vom Erdboden verschluckt. Ist er der Schuldige? Wie kann jemand so grausam sein und seine eigene Familie auslöschen? Dühnfort ist erschüttert wie nie zuvor – besonders, da er gerade erst erfahren hat, dass seine Freundin Gina schwanger ist. Er ist fest entschlossen, den Vater hinter Gitter zu bringen. Doch als der in katastrophalem psychischem Zustand wieder auftaucht, ist gar nicht mehr so sicher, was eigentlich geschah. Verdächtigt Dühnfort den Falschen? Je tiefer der Kommissar in diesen Fall eintaucht, umso mehr menschliche Abgründe tun sich auf …

Die Autorin

Inge Löhnig studierte an der renommierten Münchner Akademie U5 Graphik-Design. Nach einer Karriere als Art-Directorin in verschiedenen Werbeagenturen machte sie sich mit einem Designstudio selbständig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie und einem betagten Kater in der Nähe von München. Nun ruhet sanft ist der siebte Fall ihrer erfolgreichen Kommissar-Dühnfort-Reihe.

Besuchen Sie Inge Löhnig auf ihrer Homepage: www.inge-loehnig.de

Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Kommissar-Dühnfort-Serie:

Der Sünde Sold · In weißer Stille · So unselig schön · Schuld währt ewig ·Verflucht seist du · Deiner Seele Grab · Nun ruhet sanft

Außerdem:

Mörderkind

Inge Löhnig

NUN RUHET SANFT

Kriminalroman

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1083-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015© Inge Löhnig, www.inge-loehnig.deUmschlaggestaltung: bürosüd˚ GmbH, MünchenTitelabbildung: plainpicture/BY

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1

Genau genommen war es kein Mord. Nicht einmal Totschlag. Eher ein Unfall. Eine Art Glücksspiel oder Roulette. Meine Güte, ich war damals zehn und sowieso nicht strafmündig. Ich war ein Kind, das sich wehrte.

Es war ein grauer Sonntagvormittag. Die Sonne verbarg sich hinter der geschlossenen Wolkendecke, und der Wind war ein wenig zu frisch für einen Sommertag. Wir machten einen Ausflug zu den Wasserfällen, und ich trottete hinter meinen Eltern und Babsi her. Es fiel ihnen nicht auf, dass ich langsamer wurde und zurückblieb. Natürlich nicht. Ich war unwichtig. Ganz und gar unwichtig. Mit jedem Schritt stiegen böse Worte in mir auf, ballten sich in meinem Kopf, bis er schier platzen wollte.

Ich. Hasse. Sie!

Sie stauten sich darin, wollten aus meinem Mund quellen wie das Weiße aus Maiskörnern, wenn sie zu Popcorn zerplatzen. Ich presste die Lippen aufeinander, damit das nicht geschah. Wie konnte ich das nur denken! Aber dieser Gedanke war einfach da, dachte sich von allein, begann durch meinen Schädel zu tanzen wie die Fledermäuse in der Villa Dracula, die wir eine Woche zuvor im Tierpark besucht hatten. Dunkel und gespenstisch. Man konnte sie nicht sehen, nur spüren. Sie streiften uns beinahe in der Finsternis. Es war zugleich schaurig und schön. Es verursachte mir ein Kribbeln. Genau wie dieser Gedanke.

Ich hasse sie, hasse sie, hasse sie! Ja, ich hasste meine Schwester. Meine behinderte, blöde kleine Schwester. Auch wenn ich sie nicht hassen durfte, sondern Mitleid mit ihr haben sollte. Ich habe es versucht. Es ging nicht.

Der Druck in mir wurde stärker und stärker. Die Worte wollten raus. Sie mussten! Ich flüsterte sie so leise, dass selbst ich sie kaum hören konnte, nur der Wind, der sie schnell forttrug: »Ich hasse sie.«

Der Druck ließ nach. Ich blieb stehen und probierte es noch einmal. Diesmal lauter. »Ich hasse sie.« Meine Stimme klang kalt und erbarmungslos. Erschrocken duckte ich mich. Heute lache ich darüber. Es war eine Befreiung. Doch damals fürchtete ich Strafe.

Ich wurde verschont. Kein Blitz krachte donnernd vom Himmel. Die Erde tat sich nicht vor mir auf, um mich zu verschlingen. Ich richtete mich auf, blickte in die grauen Wolken und schrie: »Ich! Hasse! Sie!« Der letzte Rest Scham löste sich wie Schorf von einer Wunde, und ein Lied fiel mir ein, das wir in der ersten Klasse gelernt hatten. Die Gedanken sind frei. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Erst jetzt verstand ich, was es bedeutete. Ich durfte das denken. Niemand konnte es mir verbieten. Ich fühlte mich leichter und kickte einen Stein in den Bach, der neben dem Weg dahinrauschte, und warf einen abgebrochenen Ast hinterher. Er wurde mitgerissen, verschwand in einem tosenden Strudel.

Die Wolken hingen noch immer tief. Gegen Mittag sollte das Wetter schön werden. Das hatte mein Vater gesagt. Der Umriss eines Berges erschien im Dunst, als wir der Biegung des Pfades folgten, der zu den Wasserfällen führte. Ich zuckelte im Schneckentempo hinter den dreien her. Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich Schritt für Schritt. Meine Mutter redete. Ich konnte sie nicht hören, aber ich sah es an den Bewegungen ihrer Arme und ihres Kopfs. Bla, bla, bla. Mein Vater trug Babsi huckepack. Das Unglück hat sie zusammengeschmiedet. Drei wie Harz, Pech und Schwefel, wie Glut, Feuer und Rauch. Seit Babsi vor einem Jahr von einem Laster überfahren wurde, drehte sich alles nur noch um sie. In ihrem Kopf ist etwas kaputtgegangen, hatte meine Mutter mir erklärt. Das ließ sich nicht heilen. Was ja wohl nichts anderes bedeutete, als dass sie geistig behindert war. Ein Vollspast, wie Michi aus meiner Klasse es nannte. Mir erschien sie mehr wie ein Vampir, der meine Eltern aussaugte. Ich war ihnen völlig gleichgültig geworden. Babsi hier, Babsi da, Babsi dort.

Der Weg führte stetig bergauf. Früher hat mein Vater mir bei unseren Ausflügen immer alles Mögliche erklärt. Einmal hat er mir aus einer Weidenrute eine Pfeife geschnitzt, und ein andermal zeigte er mir, wie man mit einem Grashalm Musik macht. Man muss ihn in die schmale Öffnung spannen, die entsteht, wenn man die Daumen aneinanderlegt, dann die Hände dahinter zu einem Hohlraum formen und durchpusten. Ein weiterer Stein landete im Wasser. Seit Babsis Unfall war ich so unsichtbar wie eine Qualle oder ein Urzeitkrebs, ganz durchsichtig.

Sie überquerten die Brücke über den Bach und redeten und redeten und sahen sich nicht einmal nach mir um. Ich zog das Schweizer Taschenmesser hervor, das mein Vater mir geschenkt hat. Die Klinge war scharf. Meine Mutter hat deswegen mit ihm geschimpft, das wäre angeblich nichts für ein Kind. Zu gefährlich. Ständig hatte sie Angst, etwas Schlimmes könnte passieren. Nicht ganz unbegründet. Zugegeben.

Ich suchte nach einem Stock und spitzte ihn an. Vielleicht gelang es mir, einen Fisch zu fangen, so wie die Indianer es taten. Mein Vater würde Augen machen. Als ich den Kopf hob, waren sie weg. Wirklich weg. Ein Klumpen rutschte in meinen Hals. Wenn ich in den reißenden Bach fiel, würden sie es nicht einmal bemerken.

Auf der schmalen Brücke blieb ich stehen. Tosend schoss das Wasser unter den Brettern hindurch und rauschte über scharfkantige Steine ins Tal. Mit beiden Händen hielt ich mich am Geländer fest, wippte mit den Beinen, versuchte die Brücke zum Schwingen zu bringen und stellte mir vor, wie das morsche Holz unter mir brach und ich ins Wasser stürzte.

Hilfe! Papa! Hilfe! In meiner Vorstellung vervielfältigte das Echo meine Schreie und warf sie in der engen Schlucht hin und her. Ich malte mir meinen Vater am Ufer aus, mit schreckgeweiteten Augen. Gib mir deine Hand!, brüllte er und streckte mir seine entgegen. Unsere Fingerspitzen berührten sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann riss mich die Flut mit sich, schlug meinen Körper gegen die Felsen, brach mir alle Knochen, mein Blut färbte es rot. Das Letzte, das ich hörte, war der verzweifelte Schrei meines Vaters. Dann ging ich unter, Wasser drang durch Mund und Nase. Schwarzsamtene Stille umfing mich.

Die Brücke brach natürlich nicht. Aber ich malte mir das Unglück weiter aus und stellte mir vor, wie sie alle ein paar Tage später an meinem Grab standen. Mit verheulten Augen. Nur Babsi weinte natürlich nicht. Sabbernd sah sie sich um und kapierte gar nicht, was los war, während meine Eltern sich mit Vorwürfen quälten. Unser geliebtes Kind! Warum haben wir nicht besser aufgepasst? Ach, jetzt tat euch das leid! Jetzt war es zu spät. Jetzt mussten sie ohne mich leben. Mein Sarg war weiß und mit Blumen geschmückt. Er wurde in die Grube hinabgelassen, während meine Mutter sich in ihrem Schmerz die Haare raufte und mein Vater sich die Hand schluchzend vor den Mund schlug. Babsi glotzte nur doof in die Runde.

Kinderphantasien eben. Natürlich wollte ich nicht sterben. Nicht wirklich. Ich riss mich also los und holte die drei bei der nächsten Brücke ein. Sie hatten sie schon überquert und stiegen über Felsen zu einem Plateau hinauf. Von dort hatte man eine tolle Aussicht über die Wasserfälle. Zu Weihnachten hatte mein Vater sich einen Camcorder gekauft. Seither filmte er ständig. Nun richtete er ihn auf die Wasserfälle. Dreißig Meter stürzten sie in die Tiefe. Ich lief über die Brücke, stieg die Treppe nach oben und gesellte mich zu ihnen. Niemandem war aufgefallen, dass ich weg gewesen war. Ich hätte wirklich tot sein können.

Meine Mutter teilte Brotzeit aus. Die Sonne kam heraus. Nachdem wir gegessen hatten, kletterte mein Vater ein Stück höher, um besser filmen zu können. Er fragte nicht, ob ich mitkommen wollte. Meine Mutter lehnte sich an einen Felsen und schloss die Augen. »Kannst du einen Moment auf Babsi aufpassen?«, fragte sie, ohne mich anzublicken. Mein Nicken kann sie also nicht gesehen haben. Sie dachte einfach, dass ich es tun würde. Der Klumpen war wieder da. Er drückte in meinem Hals. Früher haben sie mich geliebt. Früher war ich ihr Sonnenschein und nicht unsichtbar.

Die blöde Babsi saß auf einem Stein und beobachtete sabbernd einen Käfer. Ich ging bis zur Absperrung, hinter der die Felsen und der Bach senkrecht in die Tiefe stürzten. Das Geländer bestand lediglich aus einigen Stützen und einem waagrecht darübergenagelten Baumstamm. Er reichte mir bis zur Schulter. Eine wirklich gefährliche Konstruktion. Ich nahm Anlauf und sprang ab. Meine Hände umklammerten das Holz. Ich schwang mich unten hindurch, weit hinaus, spürte den Abgrund, der mich einsaugen wollte wie ein schwarzes Loch. Ich klammerte mich fest, ließ nicht los, pendelte zurück und landete mit wackligen Beinen im Gras.

Die Brotzeit wollte raus. Ich würgte sie wieder hinunter. Im Brustkorb flatterte mein Herz wie ein irrsinnig gewordener Vogel, und die Spreißel in meinen Handflächen brannten wie Feuer. Erst jetzt bemerkte ich, dass Babsi mich beobachtet hatte. Eine Idee stieg in mir auf. Ich ging in die Hocke, winkte sie zu mir. Neugierig kam sie näher. Mama döste in der Sonne. Von Papa war weit und breit nichts zu sehen. Ich senkte meine Stimme. »Komm, Babsi«, sagte ich. »Was ich kann, kannst du auch. Du wirst sehen, es macht Spaß.«

2

»Guten Morgen, München!« Die Stimme des Radiomoderators vibrierte vor Fröhlichkeit. »Es ist Sonntag, der siebzehnte August, sechs Uhr fünfzehn. Vor vier Minuten ist die Sonne aufgegangen, und der Wetterfrosch sitzt bereits auf der obersten Sprosse seiner Leiter. Ein wahrhaft traumhafter Sommertag mit Temperaturen um die dreißig Grad erwartet uns. Mit dem nächsten Song wünsche ich allen Frühaufstehern einen wundervollen Morgen.« Die ersten Takte erklangen und mit ihnen das spröde Timbre Billie Holidays. Summertime and the livin’ is easy.

Dühnfort drehte das Autoradio lauter und sang mit. »Fish are jumpin’ and the cotton is high.« Er wollte das Hochgefühl, das ihn seit Freitag begleitete, nicht loslassen. Ein paar Minuten noch, bis ihn der Alltag seines Berufs einholte. »So hush, little baby, baby, don’t you cry.«

Die Sonne stieg als orangeroter Ball hinter den Wipfeln des Waldes auf, der die Rodungssiedlung umgab. Rotes Morgenlicht fiel auf Getreidefelder und Häuser mit weißem Rauputz, auf dunkle Holzbalkone voller Geranien und mit Solarpaneelen besetzte Ziegeldächer, auf die Kirche St. Georg, die auf einem Hügel im Zentrum des Ortes thronte, und auf das Ortsschild: Schäftlarn, Landkreis München. Er folgte der Route durchs Dorf, die das Navigationsgerät vorgab, und entdeckte die Löschfahrzeuge und Streifenwagen am Ortsrand vor der rauchenden Ruine eines alten Bauernhauses, das als Wohnhaus für gehobene Ansprüche umgebaut worden war.

Das Gefühl von Leichtigkeit und Freude, das ihn begleitete, seit Gina ihm am Freitag den Teststab gezeigt hatte und er wusste, dass er Vater wurde, verflüchtigte sich, gab dem Raum, was ihn erwartete. Er schaltete das Radio aus und stoppte neben einem Löschfahrzeug.

Der Morgen war noch kühl. Er nahm das Sakko vom Beifahrersitz und zog es an. Auf dem Gehweg entlang des Zauns hatten sich trotz der frühen Stunde Schaulustige versammelt. Jemand fotografierte. Zwei Kollegen von der Schutzpolizei bewachten den Zugang. Er wies sich aus und konnte passieren. In der Luft lag der beißende Geruch von Rauch und Qualm. Das Feuer war beinahe gelöscht, die Männer der Feuerwehr verhinderten ein erneutes Aufflackern des Brandes. Dühnfort betrachtete das Haus mit der angebauten Doppelgarage. Verrußte Scheiben, verkohltes Holz. Rabatten und Beete im Vorgarten waren zertrampelt. Löschwasserpfützen überall. An Spurensicherung hatte hier niemand gedacht. Neben dem Mülltonnenhäuschen ein Kinderfahrrad. Himmel! Was kam da auf ihn zu?

Er ging ums Haus. Die angesengten Reste einer Markise bewegten sich träge im Morgenwind. Am Wintergarten und den Terrassentüren waren zahlreiche der Sprossenfenster geborsten, der Rauputz war verrußt. Pia Cypris mit ihrem graumelierten Lockenkopf entdeckte er zwischen den Männern der Feuerwehr. Sie war eine Kollegin vom Kriminaldauerdienst und hatte ihn und seine Leute angefordert, weil es zwei Tote gab und das Ganze nicht nach Unfall aussah.

»Guten Morgen, Tino.« Sie nickte ihm zur Begrüßung zu und wies auf ihren Gesprächspartner. »Darf ich vorstellen? Johann Geiß. Er leitet den Einsatz der Feuerwehr. Kriminalhauptkommissar Dühnfort. Er wird den Fall übernehmen.«

Geiß war das, was man in Bayern ein Brackl Mannsbild nannte. Ein Schrank. Um die vierzig. Rotblonder Vollbart, blaugraue Augen. Einer, der auf den ersten Blick Autorität ausstrahlte. Dühnfort reichte ihm die Hand und wandte sich dann an Pia. »Zwei Tote, sagst du. Müssen wir mit weiteren rechnen? Das ist das Haus einer Familie.«

»Geiß und seine Leute waren in jedem Raum. So wie es aussieht, sind der Eigentümer Thomas Sassen und sein Sohn Leon nicht zu Hause. Sassens Auto steht jedenfalls nicht in der Garage. Bei den Toten handelt es sich – unter Vorbehalt – um die Ehefrau Nina Sassen und die sechsjährige Tochter Sophie. Noch sind die Leichen nicht identifiziert.«

Dühnfort schluckte. Seit er das Kinderrad gesehen hatte, hatte er es geahnt. »Wer hat das Feuer entdeckt?«

»Ein Nachbar. Harald Schäfer.« Sie wies auf einen hageren Mann mit Stirnglatze, der zu den Schaulustigen gehörte. Seine Hand lag auf der Schulter eines Jungen mit blonder Igelfrisur, der dem Geschehen mit hängenden Mundwinkeln folgte. Er sollte sich das nicht ansehen, dachte Dühnfort. Was waren das für Leute, die sich anhand des Unglücks ihrer Nachbarn vergewisserten, dass es ihnen gutging, dass das Schicksal sie verschont oder wenigstens vorläufig aus dem Blickfeld verloren und anderswo zugeschlagen hatte? Und dazu schleppten sie auch noch ihre Kinder mit.

»Sein Notruf ging um zwei Uhr siebenunddreißig ein«, fuhr Pia fort. »Die Kollegen der Streife waren ein paar Minuten vor Feuerwehr und Notarzt hier. Da stand das Erdgeschoss bereits in Flammen.«

Geiß übernahm. »Verschiedene Brandherde. Das war sofort klar. Das Feuer wurde gelegt. Ich tippe auf Benzin als Brandbeschleuniger.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Etliche Fenster sind geborsten. Das passiert bei Verpuffungen.« Mit der Hand strich Geiß sich über den Bart. »Mir hat gleich nichts Gutes geschwant. Keine Personen zu sehen. Weder vorm Haus noch an den Fenstern oder auf dem Balkon. Niemand hat sich irgendwo bemerkbar gemacht. Die Garage war offen. Es stand nur das Auto der Frau darin. Das des Mannes ist weg. Meine Leute und ich haben gehofft, dass niemand zu Hause ist, dass sie weggefahren sind. Wir haben uns an mehreren Stellen Zugang verschafft und sind mit vier Trupps rein. Im Wohnzimmer lag der Hund. Lucky heißt er. Er war tot. In der Diele haben wir Frau Sassen gefunden und oben im Flur die Kleine. Das Obergeschoss war voller Rauch. Man sieht nicht weit. Im Licht der Stablampe lag sie plötzlich vor mir.«

Geiß verlor die Kontrolle über seine Gefühle. Seine Kiefer mahlten, die Augen wurden feucht. »Die Sophie … Sie geht …« Verärgert räusperte er sich. »Die Sophie ging mit meinem Sohn in dieselbe Klasse. Ich kenne die Familie. Alle kennen die Sassens hier.«

Damit erübrigte sich Dühnforts Frage, woher Geiß wusste, wer welches Auto fuhr. »Vier Personen also.«

»Nina und Thomas Sassen. Er ist Arzt. Hat eine Praxis in der Stadt. Sophie und Leon, ihr Bruder. Acht Jahre alt.«

»Vater und Sohn sind sicher nicht im Haus?«

»Wir waren in jedem Zimmer. Auch im Keller. Keine weiteren Personen im Gebäude.«

Pia klappte den Notizblock zu. »Im Garten haben sich die Kollegen von der Streife umgesehen. Da ist niemand, und das Auto ist ja weg.«

»Hast du eine Handynummer von Thomas Sassen?«

»Ein Nachbar hat sie mir gegeben. Er hat mir auch erzählt, dass es am Abend lautstarken Streit bei den Sassens gab. Kam wohl häufiger vor, dass bei denen die Fetzen flogen.« Sie reichte Dühnfort einen Zettel. »Ich habe noch nicht versucht, ihm das beizubringen.« Mit dem Kopf wies sie Richtung Haus.

Dühnfort zog sein Smartphone hervor und wählte die Nummer. Nach dem ersten Läuten sprang die Mailbox an. Er legte auf. Eine solche Nachricht sprach man besser nicht auf Band.

»Wo sind sie?«

»Dort drüben.« Pia deutete auf zwei signalrote Tragen der Feuerwehr, die unter einem Haselnussbusch standen. Fernab von den Blicken der Schaulustigen. Jemand hatte die Leichen mit einer schwarzen Plane abgedeckt. »Der Notarzt konnte nicht warten. Er musste zum nächsten Einsatz. Er hat den Tod festgestellt und die Totenscheine ausgestellt. Ursache unklar. Bei dem Mädchen könnte es ein offener Schädelbruch sein, meinte er, und bei Nina Sassen vermutet er eine Rauchgasvergiftung. Ich habe den Leichenwagen bereits angefordert. Er müsste längst da sein.«

Dühnfort sammelte sich, bevor er in die Hocke ging und die Plane zurückschlug. Es war nicht die erste Brandleiche, die er sah. Er wusste, was ihn erwartete.

Nina Sassens Leiche wies großflächige Verbrennungen vierten Grades auf. Verkohlungen, die weit vorgedrungen waren. An Kopf, Oberkörper und Bauch war das Gewebe trocken und brüchig, an einigen Stellen weißgrau, an den meisten schwarz. Die bei Brandopfern typische Fechterstellung fehlte. Aus der Sakkotasche nahm Dühnfort Latexhandschuhe, streifte sie über und zog die Haut neben dem linken Auge der Toten mit Daumen und Zeigefinger behutsam auseinander. Die feinen Fältchen waren berußt. Nina Sassen hatte die Augen nicht zusammengekniffen, wie man das reflexhaft tat, wenn man Feuer und Rauch ausgesetzt war. Das sah in der Tat nicht nach einem Unfall aus.

Er wandte sich an Geiß, der neben ihn getreten war. »Haben Sie die Leiche geborgen?«

»Zusammen mit einem Kollegen.«

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Unten im Flur, am Fuß der Treppe. Wir haben den Löschangriff sofort unterbrochen und sie herausgebracht. Doch der Notarzt konnte nichts mehr tun.«

»Erinnern Sie sich, wie der Boden unter der Toten aussah? War er verrußt?«

Geiß’ Schultern stiegen in die Höhe, blieben allerdings auf halber Strecke stecken. Er ließ sie wieder fallen. »Jetzt, wo Sie es sagen … Das ist ein heller Steinboden. Ihre Silhouette hat sich darauf abgezeichnet, fast wie ein Scherenschnitt. Sie war also …«

Dühnfort nickte. »Als das Feuer ausbrach, war sie bereits tot.« Eine dunkle Ahnung streifte ihn, legte sich kühl in seinen Magen. »Und von dem Jungen gibt es wirklich keine Spur?«

»Er ist nicht im Haus. Ganz sicher. Er muss mit seinem Vater unterwegs sein.«

Wo trieb man sich nach einem Streit mit der Frau die ganze Nacht mit einem Achtjährigen herum? Das fragte Dühnfort sich und versuchte die Ahnung abzuschütteln. Noch wussten sie nichts. Vielleicht war Sassen mit seinem Sohn bei Verwandten oder Freunden untergekommen. »Kann ich rein?«

Geiß schüttelte den Kopf. »Nicht bevor alle Glutnester beseitigt sind und die Ruine ein wenig abgekühlt ist. Kann sein, dass wir einen Statiker hinzuziehen müssen.« Einer seiner Männer rief nach ihm. Geiß entschuldigte sich.

Abwartend sah Pia ihn an. »Bist du bereit?«

Ein Kind. Er wappnete sich für diesen Anblick und nickte. Pia hob die Plane an.

Ein Mädchen, etwa einen Meter zehn groß. Kleine Hände mit kurzen Fingern, zwischen verbrannter Haut ein Rest rosa Nagellack. Dühnfort schluckte und presste die Kiefer aufeinander. Weitermachen!Distanz wahren!

Brandverletzungen an Armen, Bauch und Hals. Nicht so schwerwiegend wie bei der Mutter. Das Schlafanzugoberteil mit rosafarbenem Blumenmuster war an einigen Stellen geschmolzen und klebte auf der Haut. Angesengte Haarsträhnen. Etwas hing darin. Wie Pech, dachte er im ersten Moment, doch dann wurde ihm klar, dass es getrocknetes Blut war. Die rechte Seite des Schädels war deformiert, wie eingedrückt. Dühnfort hob den Kopf an, um ihn zur Seite zu drehen, und ertastete dabei ein weiteres Loch im Hinterkopf. Ihm wurde schlagartig kalt. Merde! Mist! Er atmete scharf aus.

»Was ist?«, fragte Pia.

»Das ist kein Schädelbruch. Sieht so aus, als ob die Kleine erschossen wurde.« Er stand auf und hob die Plane an, die Pia wieder über die Leiche von Nina Sassen gebreitet hatte, tastete den Schädel ab und fand die Bestätigung seiner Befürchtung. Auch hier eine Schussverletzung.

3

Ein schwarzer Mini stoppte hinter Dühnforts Kombi. Alois stieg aus. Trotz der frühen Stunde war er wie aus dem Ei gepellt. Schmale Designerhose, Poloshirt, Sneaker. Die Wangen glatt. Vermutlich hatte er sich während der Fahrt rasiert. Dennoch bemerkte Dühnfort die Schatten unter den Augen und einen missmutigen Zug um den Mund. Eine Laus war Alois über die Leber gelaufen, und Dühnfort ahnte, welche. Die Koryphäe, die es gewagt hatte, sich Evi zu angeln.

Eigentlich war die Beziehung zwischen Alois und Evi tragikomisch. Beide stammten aus Regensburg. Dort hatten sie sich vor sieben Jahren auf der Maidult kennengelernt. Ein One-Night-Stand mit Folgen. So schnell konnte man Vater werden. Doch von Evi hatte Alois nichts gewollt. Er schätzte seine Freiheit und band sich nie länger als ein paar Wochen an eine Frau. An seinem Sohn Simon hatte er allerdings einen Narren gefressen und daher über die Jahre guten Kontakt zu Evi gepflegt, was sich seit seiner Versetzung in die Landeshauptstadt als schwierig erwiesen hatte, bis Evi eine Stelle als Krankenschwester in München annahm und mit dem Jungen gefolgt war.

Dühnfort war klar, weshalb sie das getan hatte. Sie hoffte, dass aus ihnen doch noch eine Familie wurde. Doch das hatte Alois bis heute nicht verstanden, und schon gar nicht, dass sie die Richtige für ihn wäre. Er brauchte jemanden, der ihn erdete, und genau so eine war Evi. Bodenständig, zupackend, ohne vereinnahmend zu sein, und obendrein eine attraktive Frau. Jetzt, da sie einen Freund hatte, einen Arzt, den Alois nur die Koryphäe nannte, weil er auf seinem Gebiet ein Spezialist war, jetzt also hatte er es endlich verstanden, doch nun war es zu spät.

Er schlug die Wagentür zu, schob die Ray-Ban-Sonnenbrille in die Brusttasche und gesellte sich zu ihnen. »Guten Morgen, Tino. Hallo, Pia.« Sein Blick wanderte zu den beiden Tragen. »Was ist passiert?«

Sein Verstand sagte Dühnfort, dass es zu früh war, um sich festzulegen. Seine innere Stimme flüsterte: Erweiterter Suizid. »Eine Frau und ihre Tochter wurden erschossen. Der Mann ist nicht erreichbar und hat den Sohn bei sich. Am Vorabend gab es Streit.«

»Du denkst, er war das? Ein Amoklauf, und jetzt bringt er den Rest anderswo zu Ende?«

Genau das war es, was Dühnfort befürchtete. »Ich kann ihn nicht erreichen. Die Mailbox springt sofort an.« Er wandte sich an Pia. »Hast du das Kennzeichen von Sassens Wagen?«

Sie gab ihm die Nummer. »Er fährt einen silbergrauen BMW X5.«

Bei der Verkehrsunfallaufnahme meldete sich die bekannte Stimme von Horst Beerwein. Dühnfort fragte nach den Unfällen der vergangenen Nacht, während Alois die Planen anhob und sich die Leichen ansah. Sassens Wagen war in keinen verwickelt. Ein Anruf bei der Rettungsleitstelle brachte Dühnfort auch nicht weiter. Kein Einsatz, bei dem Thomas Sassen eine Rolle spielte, keine namenlosen Toten oder Verletzten. Er ließ sich von Pia die Personenbeschreibung geben – zweiundvierzig, eins fünfundachtzig, dunkelbraune Haare, athletische Figur – und veranlasste die Fahndung, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Sassen möglicherweise bewaffnet war.

Dann wandte er sich an Alois. »Checkst du mal, ob eine Waffe auf Sassen angemeldet ist, und organisierst die Nachbarschaftsbefragung?«

Kaum war Alois weg, traf Kirsten ein. Ihr Wagen rollte neben einem Löschfahrzeug aus. Der Motor erstarb. Sie trug eine türkisgrüne Caprihose, Segelschuhe und eine ärmellose Bluse und erinnerte ihn an Audrey Hepburn in Blond. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie zusammen mit Christoph Leyenfels kommen würde. Sie und der Staatsanwalt waren seit einigen Monaten ein Paar, und an diesem Wochenende hatte er Bereitschaftsdienst. Der Fall Sassen würde daher auf seinem Tisch landen.

Mit einem Pappbecher von Coffee To Go blieb sie bei ihm stehen. Kaffeegeruch – Duft konnte man das nun wirklich nicht nennen – stieg ihm in die Nase. Er hatte heute noch kein Milligramm Koffein zu sich genommen, da seine Espressomaschine eine halbe Stunde brauchte, bis sie aufgeheizt war. So viel Zeit hatte er heute Morgen nicht gehabt und lechzte plötzlich nach einem Espresso doppio. »Guten Morgen, Kirsten. Christoph kommt nicht?«

»Bin ich seine Chauffeurin?« Im nächsten Augenblick entschuldigte sie sich. »Tut mir leid, Tino. Es wird ohnehin bald die Runde machen. Ich habe mich von ihm getrennt. Es ging einfach nicht mehr. Womit haben wir es hier zu tun?«

»Das ist schade.« Lauter verkorkste Beziehungen. Nur bei ihm und Gina lief alles wunderbar. Er wurde Vater! Ein leises Glück stieg in ihm auf und ein wenig Bedauern für Kirsten. »Lässt sich das nicht einrenken?«

»Menschen ändern sich nicht. Er ist ein Kontrolletti und nimmt mir die Luft zum Atmen, das habe ich von Anfang an gespürt, und leider hat es sich bestätigt. Ist einfach so. Mir tut es leid wegen Kathi. Sie versteht sich gut mit ihm. Und was ist hier passiert?«

Seine Befürchtung, was hier geschehen war, konnte Kirsten nicht gefallen. Sie selbst und ihre Tochter waren vor einigen Jahren einer Familientragödie nur knapp entkommen.

Er setzte sie ins Bild und bat sie, Alois zu unterstützen. »Er hört sich bereits bei den Nachbarn um. Und sorgt dafür, dass das Gelände abgesperrt wird. Ich will hier keine Reporter sehen und keine Kamerateams, geschweige denn Schaulustige, die durch Fenster gucken.«

Kirsten zog von dannen. Dühnfort forderte über die Einsatzzentrale die Brandfahnder des LKA an. Anschließend scheuchte er Frank Buchholz aus dem Bett, den Leiter des Erkennungsdienstes, gemeinhin Spurensicherung genannt.

Pia verabschiedete sich. Er blickte ihr nach und sah sich dann in der Garage um. Ein Van stand darin. Die Familienkutsche. Auf der Rückbank zwei Kindersitze voller Kekskrümel. Daneben Papierchen von Schoko-Bons und eine aufgerissene Tüte Gummibärchen. Auf der Ablage unter dem Armaturenbrett lagen Sonnenbrille, Lippenstift und ein Päckchen Papiertaschentücher. Auf dem Beifahrersitz eine Zeitschrift. Homes & Gardens. Im Handschuhfach fand er ein schwarzes Büchlein und nahm es heraus. Es war ein Foto-Leporello mit zwölf Bildern. Lauter Familienfotos. Die Kinder lachend und vergnügt. Sophie auf einem Pony, Leon am ersten Schultag mit seiner Schultüte, Thomas Sassen vor seinem Auto, Nina bei der Gartenarbeit, mit Sonnenhut und erdigen Händen. Alle zusammen irgendwo an einem Strand, Palmen im Hintergrund. Lucky mit Leon an der Isar beim Stöckchenwerfen. Bilder einer glücklichen Familie.

An einer Seitenwand der Garage befand sich ein Regal mit allerlei Werkzeug und Malersachen. Lammfellrollen, Kantenpinsel, Abdeckfolien, Kreppklebeband, Abstreifgitter und Eimer, eine aufgerissene Packung Einwegoveralls. Als Dühnfort die Garage verließ, war die Sonne wieder ein Stück höher gestiegen, es wurde immer wärmer, und er fragte sich, wo Sassen mit seinem Sohn war.

4

Dühnfort ging ums Haus. Aus der Ruine stieg noch immer Rauch auf. Die abstrahlende Hitze der Wände drang durch die Kleidung, der Geruch von verkohltem Holz und verbranntem Kunststoff begleitete ihn. Auf der Terrasse lagen zwischen den angesengten Korbmöbeln Scherben in Löschwasserpfützen.

Der Garten war groß, geradezu riesig. Staketenzäune und Buchseinfassungen begrenzten Gemüse- und Blumenbeete. Dahlien, Rosen, Sonnenblumen. Zucchini- und Tomatenstauden, Kräuter und Salate. Eine blühende Pracht. Hier hatte jemand viel Zeit und Liebe und Geld aufgewandt, um ein kleines Paradies zu schaffen. Vermutlich Nina Sassen.

Für die Kinder gab es Schaukelgestell und Sandkasten, ein Trampolin und ein kleines Indianerzelt. Er sah hinein. Eine blaue Fleecedecke und eine Wasserpistole lagen darin, sonst nichts. Weiter hinten im Garten befand sich ein Pavillon aus Schmiedeeisen und in den Ästen einer alten Buche ein Baumhaus. Eine Leiter führte nach oben. Dühnfort kletterte hinauf, erreichte eine Plattform, stieß die Tür auf und sah in einen leeren Raum. Für einen Augenblick setzte er sich, ließ die Beine baumeln und den Blick schweifen. Eine Welle von Gewalt war durch dieses Paradies gerollt. Warum? Wo war der Junge? Und wo der Vater? Wo würden sie ihre Leichen finden? In einem zerschellten Auto? Im See treibend? Würden sie sie von den Schienen kratzen oder in einem Hotelbett entdecken, scheinbar friedlich schlafend?

Die Sonne tauchte die Welt in Sommerlicht, als ob sie das Dunkle und Böse verleugnen wollte, als ob nichts geschehen wäre, als ob einfach alles immer weiterging. Immerfort und immerfort.

An den Garten schloss sich eine Streuobstwiese an. Zwischen den Bäumen schimmerte das Dach eines Schuppens auf. Dühnfort stieg die Leiter wieder hinunter. Das taufeuchte Gras streifte seine Knöchel. Der Schuppen entpuppte sich als Stall mit einem weit überstehenden Schleppdach. Auf der Vorderseite war er offen, lediglich von einer hüfthohen Brüstung begrenzt, daneben führte ein Durchgang in einen eingezäunten Bereich mit aufgewühltem Sandboden. Abdrücke von Hufen zeichneten sich darin ab.

Die Tür auf der Rückseite stand sperrangelweit offen. Im Stroh lag ein braunscheckiges Pony. Dahinter Flecken an der hellen Holzwand. Blutspritzer und ausgetretene Hirnmasse. Dühnfort beugte sich über das tote Tier. Sein Fell fühlte sich struppig an und der Leib bereits kalt. Mit einem Auge starrte es ins Leere, das andere war nur noch eine blutige geronnene Masse. Hinter dem Ohr fehlte ein Stück Schädelknochen. Weggesprengt vom austretenden Geschoss, das anschließend die dünne Holzwand durchschlagen hatte. Splitter umrahmten die Öffnung. Der Täter musste einen Schalldämpfer benutzt haben. Anderenfalls wäre das ganze Dorf aufgewacht.

Dühnfort trat an die Wand, sah durchs Loch und direkt auf den Stamm eines Apfelbaums. Die Rinde war abgesplittert. Das Projektil musste darin stecken. Er umrundete den Stall und bemerkte am Rand der Auslauffläche einen Trog mit Wasser. Rundherum war die Erde aufgeweicht und schlammig. Der Abdruck einer Schuhsohle zeichnete sich im Matsch ab. Grobes Stollenprofil. Geschätzt Größe dreiundvierzig bis fünfundvierzig. Nicht weit vom Stall entfernt endete das Grundstück der Sassens. Ein Wäldchen erstreckte sich hinter dem Lattenzaun.

Alois rief an. Sassen besaß einen Waffenschein, aber keine Waffe. Jedenfalls war keine auf ihn angemeldet. Über die Einsatzzentrale forderte Dühnfort weitere Kollegen für die Suche nach der Tatwaffe an und ging wieder nach vorne.

Während er sich hinten im Garten umgesehen hatte, waren zu den zahlreichen Einsatzfahrzeugen weitere gekommen. Die VW-Busse der Spurensicherung parkten auf dem Gehweg und dahinter die Fahrzeuge des LKA. Frank Buchholz war also mit seinen Leuten bereits da und auch die Brandfahnder. Die Sicherung des Geländes kam voran. Kollegen der Streifenpolizei spannten Absperrbänder und drängten die Menge der Schaulustigen zurück, die sich in der letzten halben Stunde vergrößert hatte.

Dühnfort entdeckte Franks massige Gestalt vorm Haus. Er befand sich im Gespräch mit Geiß. Allein die Gestik verriet, dass Buchholz’ Laune nicht die beste war.

»Dass das ein Tatort ist, konnten wir nicht wissen«, sagte Geiß. »Wir gehen rein, so schnell wir können und wo wir können. Leben retten, Brand bekämpfen. Das sind unsere Prioritäten und kein Eiertanz, wie Sie ihn sich vorstellen. Und auch für Sie heißt es warten. Niemand betritt das Haus, bevor ich grünes Licht gebe. Und das wird frühestens in zwei Stunden der Fall sein.« Geiß ließ Buchholz stehen.

Bettina Lautenschläger gesellte sich zu Dühnfort. Sie war die Leiterin des Sachgebiets Physik beim LKA und für die Brandfahndung zuständig. Eine sympathische Frau Anfang vierzig mit ausladenden Hüften, stämmigen Beinen und einer tiefen, kehligen Stimme. »Guten Morgen, Herr Dühnfort. So wie es aussieht, dauert es wohl noch, bis wir loslegen können. Ich organisiere mir erst mal ein Frühstück. Wollen Sie auch was?«

Das war ein tolles Angebot. »Sehr gerne. Ein Kaffee wäre wunderbar.«

»Sollte kein Problem sein.«

Dühnfort war sich nicht so sicher. Doch mittlerweile war er bereit, Plörre zu trinken. Hauptsache, Koffein. Lächelnd verschwand Bettina Lautenschläger Richtung Straße.

Buchholz begrüßte ihn. »Servus, Tino. Weißt du, was das hier ist? Ein einziger großer Mist. Ein verdammter Saustall. Wie sollen wir hier verwertbare Spuren finden? Verrate mir das. Ich packe zusammen und fahr heim und lege mich wieder ins Bett. Und überhaupt könntest wenigstens du dir mal angewöhnen, einen Overall anzuziehen, bevor du einen Tatort mit deinen Spuren verseuchst. Himmel, Herrgott, Sakrament! Muss ich das in Kreuzstich sticken und an die Wand hängen oder euch auf die Stirn tätowieren, damit sich endlich jemand daran hält?«

Dühnfort ließ diesen Ausbruch über sich ergehen. »Ihr könnt hinten beginnen«, sagte er, als Buchholz fertig war. »Im Garten gibt es reichlich Arbeit. Ein erschossenes Pony, ein Sohlenabdruck im Matsch beim Wassertrog, und im Baumstamm steckt das Projektil.«

»Na, wenigstens etwas.« Buchholz stapfte zum VW-Bus, um die Alukoffer mit dem Equipment zu holen.

Die Leichenwagen trafen ein, als Dühnfort Kirsten bemerkte, die den Weg zum Haus heruntergelaufen kam.

Atemlos blieb sie vor ihm stehen. »Eine Nachbarin hat mich gerade abgepasst. Stefanie Wagenbach, sie wohnt dort drüben.« Kirsten deutete auf ein Einfamilienhaus, das sich jenseits der Wiese befand, die an das Grundstück der Familie Sassen grenzte. »Sie hat gehört, dass wir davon ausgehen, Sassen sei mit seinem Sohn unterwegs. Stimmt nicht. Kurz nach elf hat sie die Gartenmöbel aufgeräumt, als Sassen mit seinem BMW an ihrem Grundstück vorbeifuhr. Er saß allein im Wagen. Er hat den Jungen nicht dabei. Er muss hier irgendwo sein.«

5

Geiß schüttelte den Kopf. »Er ist nicht im Haus. Wir waren in jedem Raum.«

»Haben Sie auch im Keller nachgesehen? Unter den Betten? In den Schränken? Dort, wo ein Kind sich verstecken würde?«

»Niemand versteckt sich, wenn ein Haus in Flammen steht. Die Leute rennen an die Fenster, flüchten auf Balkone oder aufs Dach. Lieber springen sie, als zu verbrennen.«

»Wenn der Junge nicht im Haus ist, muss ich eine Hundertschaft anfordern und die Umgebung absuchen lassen. Ein paar Minuten und zwei Ihrer Männer. Mehr brauche ich nicht.«

Jetzt verstand Geiß. »Sie denken, dass auch Leon da drinnen liegt, dass er schon tot war, als das Feuer ausbrach?« Ein Ruck ging durch den Mann. »Ich suche nach ihm.«

»Ich komme mit.«

»Ganz sicher nicht. Die Rauchentwicklung ist noch zu stark.«

»Geben Sie mir ein Atemschutzgerät.«

Ein grimmiges Lächeln erschien auf Geiß’ Gesicht. »Einverstanden. Im Gegenzug ermittle ich dann bei Ihnen mit. Na, sehen Sie. Sie machen Ihre Arbeit und ich meine. Belassen wir es dabei.« Er winkte zwei seiner Leute heran. »Maik und Günther, ich brauche euch. Eine Person ist abgängig. Der Junge. Wir beide gehen noch mal rein.« Er wies auf Maik. »Günther, du sorgst dafür, dass die Lüfter aufgestellt werden, damit die Kripo schnellstens ihre Arbeit aufnehmen kann, und passt auf, dass ihr keine Spuren zerstört.«

Mit routinierten Griffen legten Geiß und sein Kollege Atemschutzmasken an, zogen Flaschen mit Druckluft auf die Rücken und gingen los.

Vielleicht war es Leon ja gelungen, zu fliehen, und er versteckte sich im Wald. Das war Dühnforts Hoffnung, der er allerdings nicht recht traute.

Mit einem Kollegen schleppte Günther einen Überdrucklüfter ins Haus, ein anderer warf den Dieselgenerator an. Knatternd ging er in Betrieb. Oben öffnete Maik Fenster und Balkontüren. Geiß war nirgendwo zu sehen.

»Mit Milch und Zucker?«

Bettina Lautenschläger trat neben ihn. Am kleinen Finger baumelten zwei Brezen, in den Händen balancierte sie zwei Pappbecher mit weißblauem Rautenmuster und Deckel. Er nahm ihr einen ab. »Danke. Ich trinke ihn schwarz.«

»Auch eine Breze?«

Er lehnte ab. Der Fall lag ihm schon jetzt quer im Magen. Der Kaffee schmeckte überraschend gut. »Wo haben Sie den denn aufgetrieben?«

»Die Bäckerei hat am Sonntagmorgen geöffnet. Die machen dort noch richtig altmodischen Filterkaffee.« Mit der nun freien Hand zog sie ein Papiertütchen aus der Hosentasche, riss es mit den Zähnen auf und ließ Zucker in den Kaffee rieseln. »Ich habe mich mal ein wenig umgesehen. Mit der Brandstiftung scheint der Feuerwehrkommandant richtigzuliegen. Sieht nach einer Verpuffung aus. Ich werde einen Brandmittelhund anfordern, sobald wir hineindürfen.«

An einem der Fenster im Obergeschoss erschien Geiß. Er machte Dühnfort ein Zeichen und verschwand wieder. Dühnfort entschuldigte sich bei Lautenschläger und ging auf die Terrasse.

Einen Moment später trat Geiß aus dem Haus und zog Helm und Atemschutzgerät vom Kopf. Dort, wo die Maske aufgelegen hatte, zeigten sich rote Striemen auf der Haut. Der Rest war kalkweiß. Er atmete schwer. »Sie haben recht. Der Junge ist in seinem Zimmer. Im … Er hat sich …« Die Stimme des Mannes wurde rau. Zwei Tränen lösten sich. Zornig wischte er sie weg. »Scheiße! Der Kleine … Ich habe ihn im Schrank gefunden. Hoffentlich hat der Sassen so viel Mumm gehabt, sich selbst zu richten. Sonst … Bisher war ich kein Fan der Todesstrafe, doch für ihn sollte man sie glatt einführen.«

»Sie denken, er war das? Wie kommen Sie darauf?«

Geiß zog die Nase hoch. »Alle tot, und er ist weg. Mitnahmeselbstmord. Das kennen Sie doch. Und es würde zu ihm passen. Der Sassen ist ein arrogantes und cholerisches Arschloch. Der rastet schnell aus und schlägt auch mal zu. Letztes Jahr hat die Nina auf dem Volksfest beim Tanzen ihren Spaß gehabt. Das hat ihm gar nicht gefallen. Er ist dazwischen und hat den Kerl verprügelt, der es gewagt hat, seine Frau anzubaggern. Wehe, er ist mal nicht der King. Und gestern Nacht soll es ja wieder einmal ordentlich Zoff zwischen den beiden gegeben haben.«

Der Verdacht, den Dühnfort hegte, seit er hier angekommen war, verstärkte sich. Ein Mann, der zu Gewalttätigkeiten neigte, ein Streit, der eskalierte. Manchmal brauchte es nicht mehr, um Leben auszulöschen. »Der Junge ist also im Schrank.« Ein vermeintlicher Schutzraum, der zur Falle geworden war. »Kann ich …«

»In einer halben Stunde können Sie rein. Aber nur in meiner Begleitung. Ich bringe Sie zu ihm.«

Buchholz war mit seinen Leuten hinten im Garten beschäftigt. Kirsten befragte die Nachbarn. Alois koordinierte die Suche im Wäldchen, und Lautenschläger wartete darauf, dass sie und ihr Team hineinkonnten, und die Menge hinter der Absperrung wurde von Minute zu Minute größer. Eine Frau legte einen Blumenstrauß vor dem Zaun ab, eine andere entzündete ewige Lichter. Die Leichen von Nina und Sophie Sassen wurden abgeholt.

Es war kurz nach acht, als Geiß wieder erschien. »Ziehen Sie das an.« Er reichte Dühnfort Schutzjacke und Helm. »Sie bleiben hinter mir, und wenn ich raus sage, dann gehen wir raus. Sofort. Ohne Diskussion. Ohne Nachfrage. Ich denke, die Decke hält. Aber ich bin mir nicht zu hundert Prozent sicher, und der Statiker wird erst gegen Mittag hier sein. Alles klar?«

Dühnfort nickte, setzte den Helm auf, zog die Jacke an und folgte Geiß über den Terrassenzugang ins Haus.

Auf dem Parkett stand das Löschwasser, es tropfte von der Decke und aus den Möbeln. Eine verkohlte Regalwand, die Pressspanplatte qualmte noch. Von Ruß geschwärzte Wände. Dazwischen helle Stellen, an denen der Putz von der Wand gefallen war. Neben der Tür zum Flur entdeckte Dühnfort einen formlosen verkohlten Klumpen. Ein Rest von braunem Fell. »Ist das der Hund?«

Geiß nickte. »Der Lucky. Er war total gutmütig und verspielt.«

Dühnfort zog Latexhandschuhe über, tastete das ab, was einmal der Kopf gewesen sein musste, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er sah zu Geiß auf. »Wissen Sie, ob Sassen eine Waffe besitzt?«

»Keine Ahnung. Er hat mal damit angegeben, dass er bei der Bundeswehr eine Scharfschützenausbildung gemacht hat.«

»Was? Das sagen Sie erst jetzt?« Dühnfort rief die Einsatzzentrale an. »KHK Dühnfort. Es betrifft die Fahndung nach Thomas Sassen. Er ist Scharfschütze. Wenn ihr ihn findet, bleibt unsichtbar und zieht für die Festnahme ein SEK hinzu.«

Weiter ging es durch den Flur. Wasser tropfte aus der Deckenverkleidung. Das ganze Haus stank nach Qualm. Vor der Treppe bemerkte Dühnfort den hellen Fleck auf dem verrußten Fliesenboden, halb in einer ölig schimmernden Pfütze. Die Stelle, an der Geiß Nina Sassens Leiche gefunden hatte. Spuren von Schuhsohlen zeichneten sich darin ab. Dühnfort hörte Buchholz schon fluchen.

Geiß umrundete diesen Bereich und stieg die Treppe nach oben. Stahlwangen, die Stufen aus hellem Stein. Die Luftströmung im Treppenhaus hatte wie ein Kamin gewirkt und das Feuer nach oben gezogen, erklärte Geiß. In der ersten Etage hatte es hauptsächlich den vorderen Bereich des Flurs erfasst, eine weitere Ausbreitung hatten Geiß und seine Leute verhindert.

»Hier hat die Sophie gelegen.« Geiß deutete auf eine Stelle unmittelbar vor der Treppe. »Und hier ist das Zimmer des Jungen.« Er wies auf eine offene Tür. »Ich bleibe draußen. Das muss ich mir nicht noch einmal geben.«

Dühnfort trat ein. Obwohl das Fenster offen stand, lag der Gestank nach Verbranntem in der Luft und daneben etwas anderes, ein schwacher Hauch von Blut und Urin. Dühnfort sah sich um. Ein liebevoll eingerichtetes Zimmer. Ein Etagenbett befand sich rechter Hand. Es hatte einen Turm, der Dühnfort an eine Burg erinnerte. Ein roter Baldachin mit Fahne und Zinnen krönte ihn. Die Schlafebene befand sich oben. Das Bettzeug war zerwühlt. Der Junge hatte also schon geschlafen. Auf der unteren Ebene lag eine Matratze zum Toben, und davor hing ein Vorhang mit der Applikation eines Burgfensters. Überall im Zimmer war Spielzeug verstreut. Legosteine, Plüschtiere, ein Fußball, Knieschoner und Ritterhelm und ein Schwert aus Plastik.

Der Kleiderschrank stand an der gegenüberliegenden Wand. Er war im selben Hellgrau lackiert wie das Etagenbett und trug ebenfalls einen Zinnenkranz als Abschluss. Beide Türen waren geschlossen. Geiß hatte den Anblick wohl nicht ertragen.

Ein erschossener Achtjähriger. Dühnfort hatte schon viel gesehen, dergleichen noch nicht. Er wollte auch nicht. Doch danach fragte niemand. Er sammelte sich und öffnete beide Türen gleichzeitig. Der Geruch von Urin und Blut schlug ihm entgegen. In der linken Hälfte Fachböden voller Kleidungsstücke. In der rechten oben eine Kleiderstange. Unter den Bügeln mit Shirts und Hosen kauerte der Junge mit angezogenen Knien zwischen Mittel- und Seitenwand. Die nackten Füße in einer Lache von geronnenem Blut, das auch die Schlafanzughose tränkte. Die linke Hand ruhte darin. Die rechte lag in der Mulde zwischen Knie und Rumpf. Der Oberkörper war in die hintere rechte Ecke gekippt. Die Einschusslücke befand sich knapp über dem linken Ohr. Das Projektil musste die Schrankrückwand durchschlagen haben und in der Wand stecken geblieben sein.

Mit der Hand des Jungen stimmte etwas nicht. Dühnfort hob sie an. Eine Wunde klaffte darin. Etwas hatte sie durchschlagen. Das Projektil.

Seine Beine gaben einfach unter ihm nach. Er sank auf die Knie und würgte den Kaffee wieder hinunter, der die Speiseröhre hinaufschwappte. Obwohl er es nicht wollte, sah er plötzlich den Jungen vor sich, wie er zitternd vor Angst im Schrank kauerte. Hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen. Spürte die Panik, mit der er versuchte, seinen Atem zu kontrollieren, doch das Keuchen ließ sich nicht abstellen.

Es würde ihn verraten. Mama! Sophie! Leon biss die Zähne aufeinander, hörte, wie die Zimmertür geöffnet wurde. Hörte die Schritte, die sich näherten, hörte, wie die Tür aufgerissen wurde. Hörte das Schlagen seiner Zähne, spürte, wie sich warme Feuchtigkeit zwischen seinen Beinen ausbreitete. Leon kniff die Augen zusammen, verschloss sie vor dem Bösen. Was man nicht sah, existierte nicht. Doch das Böse war da. Es stand vor ihm. Instinktiv riss er die Hände hoch, legte sie schützend um den Kopf, duckte sich.

Merde! Mist! Verdammt! Dühnfort rappelte sich auf, zwinkerte die aufsteigenden Tränen weg. Scheiße! Das war ihm noch nie passiert. Heulend am Tatort! Er wusste nur eines: Er würde ihn kriegen, den, der das getan hatte. Er würde dafür sorgen, dass er seine Strafe erhielt. Und gnade ihm Gott, wenn er es selbst erledigt hatte!

Die Welle von Wut und Trauer, die ihn überrollt hatte, verebbte. Das Gefühl von Ohnmacht, das ihn bei dem Gedanken überfallen hatte, Sassens Leiche demnächst in der Rechtsmedizin zu sehen, schob er beiseite. Er war nicht ohnmächtig. Ein gut funktionierender Ermittlungsapparat und ein erfahrenes Team standen ihm zur Verfügung. Sie würden ihn kriegen, und im Moment hatte er nur einen Wunsch: dass Sassen lebte!

6

Geiß wartete im Flur. »Wie kann man nur so etwas tun? Es waren doch Kinder.«

»Ein narzisstisches Arschloch muss man sein. Das reicht.« Dühnfort zog das Handy hervor und rief Berentz von der Einsatzabteilung an, während er Geiß nach unten folgte. »Gibt es Neuigkeiten bei der Fahndung nach Sassen?«

»Bisher nicht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Weitet die Suche auf Hotels aus. Irgendwo muss er doch sein.« Er legte auf und wählte zum dritten Mal an diesem Morgen die Handynummer von Thomas Sassen. Wieder sprang die Mailbox nach dem ersten Klingeln an. »Das ist die Mailbox von Tom Sassen. Wenn es wichtig ist, einfach eine Nachricht hinterlassen. Ich melde mich.«

»Hallo, Herr Sassen. Dühnfort. Kripo München. Wenn Sie diese Nachricht abhören, rufen Sie mich bitte umgehend zurück.«

Dühnfort wählte erneut, um Ursula Weidenbach anzufordern, die zuständige Rechtsmedizinerin. Er wollte, dass sie sich die Leiche des Jungen vor Ort ansah.

Geiß musste zu seinen Leuten. Sie trennten sich vorm Haus. Dühnfort legte Helm und Jacke ab. Es war noch nicht mal halb neun und schon fünfundzwanzig Grad warm. Der Himmel strahlte in einem verlogenen Postkartenblau. Als ob nichts wäre.

Stoppt jede Uhr, lasst ab vom Telefon, verscheucht den Hund, der bellend Knochen frisst, die roh’n. Lasst schweigen die Pianos und die Trommeln schlagt. Bringt heraus den Sarg, ihr Klager klagt!

Selten hatte er den Wunsch verspürt, die Zeit möge für einen Moment stillstehen. Dafür war er nun umso mächtiger. Wenn sie nur für eine Sekunde innehalten würde. Eine Sekunde. Ein Zeichen für die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens!

Zu dem beachtlichen Fuhrpark vor dem Grundstück waren weitere Fahrzeuge gekommen. Unter anderem der Übertragungswagen eines Fernsehsenders, die Geier umkreisten die Beute. Dühnfort bemerkte den alten moosgrünen Range Rover, der Christoph Leyenfels gehörte, und sah sich nach dem Staatsanwalt um. Dessen beinahe zwei Meter große Gestalt entdeckte er am Rand der Terrasse. Er befand sich im Gespräch mit Bettina Lautenschläger und kam auf Dühnfort zu, als er ihn bemerkte.

Wie viele große Menschen hatte Leyenfels sich eine leicht gebeugte Haltung angewöhnt, die den Eindruck erweckte, er befände sich stets in Eile. »Guten Morgen, Tino. Wie ist deine Einschätzung? Ist das eine Familientragödie, wie bereits gemunkelt wird?«

»Es ist zu früh, um sich festzulegen. Die Fahndung nach Sassen läuft. Warten wir ab, bis wir ihn haben. Hoffentlich lebend.«

»Du denkst also auch, dass er das war.«

»Der Mann gilt als aggressiv. Gestern Abend gab es zwischen ihm und seiner Frau lautstarken Streit. Außerdem soll er bei der Bundeswehr Scharfschütze gewesen sein. Müssen wir noch überprüfen. Eine Waffe ist allerdings nicht auf ihn registriert.«

»Die Presse macht schon Druck. Bis heute Mittag sollten wir etwas haben.«

»Wir tun, was wir können. Es wird aber noch dauern, bis die Brandfahnder ins Haus dürfen.«

Die Medien waren Leyenfels’ Achillesferse. Stets war er darauf bedacht, sich in der Öffentlichkeit als kompetent, erfahren und unnachgiebig zu präsentieren. Ein Mann, mit dem man rechnen musste.

Kirsten kam den Weg entlang. Als sie Leyenfels entdeckte, zögerte sie einen Moment. Die Gesichtszüge des Staatsanwalts verhärteten sich. Ihren befangenen Gruß erwiderte er knapp, während ihr Blick seinem auswich. Das sah nun nicht nach einer einvernehmlichen Trennung aus. Hoffentlich hatte das keine Folgen für die Ermittlungen.

»Habt ihr Leon gefunden?«, fragte Kirsten.

»Er ist im Haus.«

»Wurde er auch …«

»Erschossen? Ja.«

Kirsten presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Beinahe im selben Moment ging ein Ruck durch sie. Auf dem Absatz fuhr sie herum. »Guck mal, wer da kommt!«

Die Menge der Schaulustigen war weiter angewachsen. Reporter standen an der Absperrung, fotografierten und sprachen mit Anwohnern. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders stoppte auf der Wiese. Ihm folgte ein silbergrauer BMW X5, der am Gehwegrand ausrollte. Ein Mann stieg aus. Mitte vierzig, etwa eins fünfundachtzig, dunkelbraune Haare, athletische Figur. Thomas Sassen. Irritiert sah er sich um, öffnete die Heckklappe und holte einen Strauß roter Rosen aus dem Wagen.

Die Verschlüsse der Kameras begannen in einem rasenden Stakkato zu klacken. Fragen der Reporter prasselten auf Sassen ein. Dühnfort bahnte sich einen Weg durch die Menge.

7

Sie trafen vorm Haus aufeinander. »Herr Sassen?«

Der Mann trug ein weißes Hemd, eine zerknautschte Jeans und war unrasiert, das Haar zerzaust. In seinem Blick lag etwas Gehetztes. Dühnfort registrierte eine Patek Philippe am Handgelenk, den Ehering am rechten Ringfinger und den Rosenstrauß. Unauffällig gab er Alois ein Zeichen. Er sollte sich den Wagen ansehen.

»Was ist denn hier los? Wo sind meine Frau und die Kinder?«

»Das wollte ich Sie fragen. Dühnfort. Kripo München. Wir müssen reden.«

Taxierend musterte Leyenfels den Mann und stellte sich ebenfalls vor. Sassens Blick wich aus und glitt suchend über die Menge. »Wieso denn Polizei und Staatsanwalt? Was ist denn passiert?«

»Lassen Sie uns in den Garten gehen.«

Zögernd folgte Sassen ihnen samt Rosenstrauß hinter das Haus. Im Pavillon waren sie vor den Blicken der Schaulustigen geschützt. Dühnfort wies auf einen der Stühle, die rund um den Tisch standen. Sassen wollte sich nicht setzen.

»Ich will wissen, wo meine Familie ist. Sie sind doch … Es ist ihnen doch nichts … Ich kann sie nirgendwo sehen. Wieso ist denn das Haus abgebrannt?« Ratlos schaute er sich um.

Dühnfort fing Kirstens Blick auf. Sie schien das ähnlich zu sehen wie er, denn sie verdrehte kaum merklich die Augen. Was für ein Theater!

»Herr Sassen. Es tut mir leid. Aber Ihre Frau und Sophie und Leon … Sie sind nicht mehr am Leben.«

Die Rosen fielen zu Boden. Ein übertrieben großer Strauß. Sicher dreißig Stück.

»Was? Was sagen Sie da? Das stimmt doch nicht. Warum behaupten Sie das!« Sassens Hände schnellten vor, krallten sich in Dühnforts Schultern und schüttelten ihn. »Es macht Ihnen wohl Freude, mich so zu erschrecken. Aber das ist kein Spaß. Sie sadistisches Arschloch, Sie!«

»Das reicht!« Dühnfort löste den Griff und schob Sassen von sich. »Setzen Sie sich und hören Sie mir zu!« Kirsten hob abwehrend die Hand. Lass dich nicht hinreißen! Doch Dühnfort konnte sich nicht bremsen. Der Junge im Schrank … Dieses Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. »Ihre Kinder sind tot. Ihre Frau ist tot. Das ist die Wahrheit, und ich will wissen, wo Sie jetzt herkommen. Wo waren Sie in der vergangenen Nacht?«

Sassen starrte ihn an. Eine Sekunde verging, eine weitere folgte. »Tot, sagen Sie?« Etwas tat sich in diesen dunklen Augen. Wie ein Vorhang, der zugezogen wurde. Mit beiden Händen fuhr der Mann sich durchs Haar und presste sie schließlich gegen den Schädel, als wollte er ihn zerquetschen. Leyenfels beobachtete dieses Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Völlig unerwartet bückte Sassen sich und begann, die Rosen aufzuklauben.

»Die Blumen müssen ins Wasser. Nina liebt Rosen. Es wird ihr nicht gefallen, wenn ich sie so schändlich behandle. Sehen Sie sich das an, diesen Garten. Alles ihr Werk. Über dreihundert verschiedene Pflanzen. Da steckt ein Vermögen drin. Ich muss eine Vase besorgen.« Sassen wollte ins Haus. Kirsten stoppte ihn.

»Geben Sie mir die Blumen. Ich kümmere mich darum. Setzen Sie sich doch solange. Ich bin gleich zurück.«

»Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Sagen Sie Nina doch Bescheid. Sie soll zu uns herauskommen. Und sie soll die Kinder mitbringen.« Sassen nahm tatsächlich Platz und schlug die Beine übereinander, als würden sie hier gleich alle gemeinsam gemütlich Kaffee trinken.

Unwillkürlich ballte Dühnfort die Fäuste. Wenn Sassen glaubte, er käme mit diesem Theater durch, irrte er sich. Nicht mit ihm. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Einmal war einmal zu viel.

Es war zwölf Jahre her. Der Fall Maike und Tobias Maas war sein zweiter Fall bei der Mordkommission Hamburg gewesen. Ein Rosenkrieg nach zehnjähriger Ehe, gefolgt von Scheidung und Sorgerechtsstreitigkeiten, bis Maike Maas behauptete, dass Jürgen Maas nicht der Vater des gemeinsamen Kindes Tobias sei. Ein Vaterschaftstest bestätigte das. Das Sorgerecht wurde der Mutter zugesprochen. Der Mann, der zehn Jahre lang geglaubt hatte, Vater zu sein, drehte durch.

Es war ebenfalls ein Sonntag gewesen, gegen Abend, als Dühnfort in einen Hamburger Vorort gerufen wurde. Eine Freundin der Familie hatte die Tragödie entdeckt. Maike Maas lag in der Küche. Erdrosselt. Tobias in seinem Zimmer auf dem Bett. Erstickt. Jürgen Maas stöberten sie schließlich in einem Krankenhaus auf. Um halb sieben Uhr morgens hatte er den Notarzt gerufen. Versehentliche Einnahme einer Überdosis seiner Herztabletten. Das sagte er. Halbherziger Suizidversuch nach dem vorausgegangenen Doppelmord. Das war Dühnforts Meinung. Doch es war ihnen nicht gelungen, Maas die Tat nachzuweisen. Die Spurenlage gab nichts her. Ein Alibi hatte er allerdings nicht. Doch das alleine war nicht ausreichend. Die Morde waren nachts zwischen eins und drei geschehen. Maas gab an, geschlafen zu haben. Der Mann bestritt die Tat und schwieg. Er spielte den trauernden Hinterbliebenen und gab sogar ein Fernsehinterview, in dessen Verlauf er der Polizei einseitige Ermittlungen vorwarf. Zu einer Anklage war es nie gekommen. Sie hatten einfach nichts gegen ihn in der Hand. Es war beinahe zwölf Jahre her und Jürgen Maas noch immer auf freiem Fuß.

Dühnfort massierte mit einer Hand seine verspannte Schulter. Noch einmal würde ihm das nicht passieren. Sassen, dieser miese Schauspieler, würde kein zweiter Maas werden.

»Ihre Frau wird nicht in den Garten kommen. Sie wird die Kinder nicht mitbringen. Sie sind tot. Alle drei. Auch der Hund und das Pony. Wo waren Sie in der vergangenen Nacht?«

Wieder starrte Sassen ihn an, als ob Dühnfort in einer Sprache mit ihm redete, die er nicht verstand. Dann begann er, den Kopf hin und her zu drehen. Es war kein Schütteln, sondern sollte wohl ein Nichtwahrhabenwollen darstellen.

Dühnfort knirschte mit den Zähnen. »Würden Sie mir Ihr Handy geben?«

Für einen Moment hielt Sassen in seiner Darbietung inne, griff in die Hosentasche, stutzte und zog die leere Hand hervor. »Ich habe es vergessen. Es liegt im Haus.«

»Besitzen Sie eine Waffe?«

»Was?«

»Ob Sie eine Waffe besitzen.«

»Eine Waffe?« Von einer Sekunde auf die andere brach Sassen der Schweiß aus allen Poren. Perlend trat er auf die Stirn und sammelte sich in den Brauen. Unter den Achseln und auf der Brust färbte sich das Poloshirt rasend schnell dunkel. Der Mann schwitzte wie ein Schwein, und Dühnfort wusste, dass er es getan hatte. Er war es. Er hatte seine Familie ausgelöscht. Hatte seinem vor Angst wimmernden Sohn eine Kugel durch den Kopf gejagt! Das Bild der durchschossenen Hand ging Dühnfort nicht aus dem Schädel. Woher kam diese Wut? Er musste ruhig bleiben, er durfte das nicht so nah an sich heranlassen. Er atmete durch und setzte sich zu Sassen an den Tisch. Leyenfels, der diesem Versuch eines Gesprächs bisher gefolgt war, ohne sich einzumischen, tat es ihm gleich.

»Gestern Abend hatten Sie Streit mit Ihrer Frau. Worum ging es dabei?«, fragte Dühnfort.

Unvermittelt sprang Sassen auf, der Stuhl krachte hinter ihm zu Boden. Mit ausholenden Schritten rannte er in den Garten. Bis Dühnfort auf den Beinen war, hatte er einen Vorsprung von einigen Metern, blieb vor der Buche mit dem Baumhaus stehen, umfasste den Stamm mit beiden Armen und donnerte seinen Kopf dagegen. Einmal und noch einmal und noch einmal.

Dühnfort packte ihn an den Schultern und riss ihn zurück. »Jetzt ist es aber gut. Es reicht! Hören Sie auf mit dieser Scheiße!«

Sassen wirbelte herum. Blut lief ihm übers Gesicht. Seine Faust traf Dühnfort in den Magen, trieb jedes Quäntchen Luft aus seiner Lunge.

Leyenfels ging dazwischen. »Schluss jetzt!«

Sassen holte zum nächsten Schlag aus, während Dühnfort noch keuchend nach Luft rang, hielt dann ebenso unerwartet inne, wie er zugeschlagen hatte, und brach schließlich weinend zusammen. Schluchzend kniete er im Gras, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, verschmierte Tränen und Blut. Ein Spuckefaden löste sich aus dem Mundwinkel. Aus der Nase lief der Rotz, während er wimmerte: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

»Was?«, schrie Dühnfort. »Was tut Ihnen leid? Dass Sie Ihre Frau erschossen haben und Ihre Kinder?«

»Der Streit. Dass unsere letzten Worte unversöhnlich waren. Das ist nun ihre letzte Erinnerung an mich.« Würgend erbrach er sich ins Gras, direkt vor Dühnforts Füße, als Kirsten dazukam, die Rosen in einer Gießkanne, und Leyenfels einschritt.

»So geht das nicht, Tino«, sagte er halblaut, während Sassen weiter Galle ins Gras kotzte. »Du beschuldigst ihn und hast ihn nicht über seine Rechte belehrt. Ich rufe jetzt einen Notarzt. Wenn er es war, kriegen wir ihn. Aber nicht, wenn uns sein Anwalt einen Strick daraus dreht, dass wir seinem Mandanten, der offensichtlich unter Schock stand, die ärztliche Behandlung vorenthielten und ihn stattdessen vernommen haben.«

8

Karsten Prittwitz beobachtete, wie seine Frau Irene den Reißverschluss des Leinenkleids an der Seite schloss und in die Sandaletten schlüpfte.

Sie war anmutig und schön. Ihre rotblonden Locken, die helle Haut mit den Sommersprossen, ihre schlanke Figur, die weich geschwungene Linie ihrer Nase und das spitze Kinn, das ihr trotz ihrer zweiundvierzig Jahre etwas jugendlich Keckes verlieh. Er liebte sie noch immer wie am ersten Tag. Na ja, beinahe wie am ersten Tag. Nach acht Jahren Ehe war selbstverständlich die flatternde Nervosität der ersten Verliebtheit längst verflogen. An ihre Stelle war die tiefe Gewissheit getreten, dass sie die Frau war, mit der er sein Leben teilen wollte. Tisch und Bett. Die guten wie die schlechten Tage. Ab und zu eine Flasche Champagner, ein paar Sorgen und hoffentlich viele Freuden. Bis sie vielleicht eines Tages ihre Brillen im Tiefkühlfach fanden und die Namen von Verwandten und Freunden vergaßen. Was hoffentlich nie der Fall sein würde. Karsten klopfte leise dreimal auf Holz und knotete die Krawatte, während Oskar sich vom Teppichboden erhob, gähnend streckte und mit dem Schwanz zu wedeln begann. Erwartungsvoll sah er zu Karsten hoch. Als ob er sich vergewissern wollte, dass man ihn nicht allein zu Hause lassen würde.

»Keine Sorge, alter Junge. Du darfst mit.«

Oskar nahm es mit einem Wuff zur Kenntnis und lief sicherheitshalber schon mal die Treppe hinunter.

Irene trat hinter ihn und hauchte ihm einen Kuss in den Nacken. »Hast du an die Blumen für Mama gedacht?«

»Aber sicher. Obwohl nicht sie Geburtstag hat.«

»Du weißt doch, wie sie ist.«

Er half ihr mit dem Verschluss der Kette. »Ich bin gespannt, was dein Vater zu den Theaterkarten sagen wird. Vermutlich: Zu modern.«

Irene lachte. »Hör mal. Sie sind für den Faust.«

»Aber in einer sehr modernen Inszenierung, und Bibiana Beglau spielt den Mephisto. Eine Frau. Ob ihm das gefallen wird?«

»Papa ist aufgeschlossener, als du manchmal glaubst. Warten wir einfach ab.« Irene sah auf die Uhr. »Gleich zehn. Wir sollten los.«

Sein Schwiegervater hatte anlässlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags die zahlreichen Verwandten und Freunde zu Sektempfang und Essen in ein Restaurant am Starnberger See eingeladen. Anschließende Schiffsrundfahrt eingeschlossen. »Damit niemand flüchten kann«, hatte Karsten scherzhaft gesagt. Obwohl er Irenes Eltern mochte, fand er sie anstrengend.

Das Handy, das auf der Kommode neben den Manschettenknöpfen lag, begann einen sirrenden Tanz. Im Display erschien eine unbekannte Nummer. Einen Moment zögerte Karsten, bevor er das Gespräch annahm. »Ja? Prittwitz.«

Ein verzweifeltes Schluchzen klang an sein Ohr. Es riss ihn aus der eben noch heiteren Stimmung und bescherte ihm ein Frösteln.

»Hallo? Wer ist denn da?«

»Sie sind tot!«

Das Frösteln verstärkte sich. Etwa ein Lausbubenstreich? Doch die Stimme kannte er. »Tom? Bist du das?« Karsten fing Irenes Blick auf. Was ist denn los? »Tom?«

»Du musst mich hier rausholen.«

»Wer ist tot, um Himmels willen? Was ist passiert?« Er sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel. Nicht Nina, nicht die Kinder. Lieber Gott, nicht die Kinder.

»Lucky auch und Caramia. Sie haben mich in die Klinik an der Meichelbeckstraße gebracht, in die Klapse. Ich will …« Plötzlich brach das Gespräch ab.

»Tom?« Er war weg. »Tom?«

Aus Irenes Gesicht war alle Farbe gewichen. »Es ist doch hoffentlich nichts mit Nina und Leon und Sophie.«

Eine dumpfe Angst vibrierte in Karstens Brust. »Ich weiß nicht. Tom … Er stand völlig neben sich. Lucky ist wohl tot und auch das Pony. Man hat ihn in die Psychiatrie gebracht.«

»Wegen eines toten Hundes?«

»Er möchte, dass ich komme.«

Die eben noch sorgenvollen Falten an Irenes Stirn glätteten sich schlagartig. »Jetzt sofort? Und du fährst natürlich.«