Unbarmherzig - Inge Löhnig - E-Book
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Unbarmherzig E-Book

Inge Löhnig

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Beschreibung

Gina Angelucci, die Spezialistin für ungeklärte Mordfälle, klärt auf, was seit dem 2. Weltkrieg im Verborgenen lag Gina Angelucci, Spezialistin für Cold Cases bei der Münchner Kripo, ist aus der Elternzeit in den Dienst zurückgekehrt. Ihr Ehemann und Kollege Tino Dühnfort betreut die kleine Tochter. Als in dem idyllischen Dorf Altbruck zwei Leichen gefunden werden, die mehrere Jahrzehnte verscharrt gewesen waren, übernimmt Gina die Ermittlungen. Die Identität der Toten nach so langer Zeit zu klären, erscheint zunächst als unlösbare Aufgabe. Dann wird klar, dass das weibliche Opfer aus dem Baltikum stammt. War sie eine Zwangsarbeiterin? Während Gina einen Mörder sucht, der vielleicht selbst nicht mehr am Leben ist, bemerken sie und Tino nicht, dass ihnen jemand ihr privates Glück missgönnt und es zerstören will. Spannung auf höchstem Niveau: abgründig, scharfsinnig, düster

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Seitenzahl: 447

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Unbarmherzig

Die Autorin

Schon als Kind verfügte Inge Löhnig über so viel Fantasie, dass ihre Geschichten noch heute in der Familie legendär sind. Neben dem Beruf als Grafik-Designerin war Schreiben lange ein Hobby. Erst mit dem Erscheinen der Reihe um den Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort wurde daraus die neue Profession. Die Kriminalromane von Inge Löhnig sind ebenso regelmäßig auf der Bestsellerliste zu finden wie die spannenden Familienromane, die sie unter dem Pseudonym Ellen Sandberg veröffentlicht. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Das Buch

Auf einem Kiesablageplatz nördlich von München werden die sterblichen Überreste von zwei Menschen gefunden. Gina Angelucci übernimmt gegen den Widerstand des Oberstaatsanwalts den Fall.Die erste Spur führt in das neu ausgewiesene Gewerbegebiet der Gemeinde. Dort befand sich während des Nationalsozialismus eine Munitionsfabrik. Als die Analyse ergibt, dass das weibliche Opfer aus dem Baltikum stammt, scheinen sich die Zusammenhänge zu klären.Eine Zwangsarbeiterin wurde ermordet und mit ihr ein Mann, der aus der Gegend stammt. Nicht alle im Dorf Altbruck sind an einer Lösung des Falls interessiert. Mit ihren Ermittlungen reißt Gina alte Wunden auf.

Inge Löhnig

Unbarmherzig

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019© Inge Löhnig, www.inge-loehnig.deUmschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Gettyimages / Westend61Autorenfoto: © Frank Bauer / www.frankbauer.comE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2085-4

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1

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Spätsommer 1944 Heeresmunitionsanstalt Altbruck

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Spätsommer 1944 Heeresmunitionsanstalt Altbruck

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Herbst 1944 Heeresmunitionsanstalt Altbruck

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Herbst 1944 Heeresmunitionsanstalt Altbruck

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Herbst 1944 Heeresmunitionsanstalt Altbruck

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Anmerkung der Autorin

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Ein Geräusch drang in ihr Bewusstsein und ließ sie aus dem Halbschlaf hochschrecken, in den sie geglitten war. Abrupt setzte sie sich auf, ihr Herz raste. War da jemand?

Durch die Ritzen zwischen den Brettern sickerte das Dämmerlicht des Nachmittags. Der Wind rüttelte an Dach und Balken, brachte sie zum Ächzen und Stöhnen, als wären sie lebendige Wesen. Nun begann es auch wieder zu regnen. Schwere Tropfen prasselten hernieder. Im Schutz des Stadels konnte ihnen das Wetter nichts anhaben. Hier drinnen war es trocken und warm.

Sie wollten die Dunkelheit abwarten, bevor sie sich zu Fuß auf den Weg machten. Bis dahin sollte sie ausruhen, hatte er gesagt. Kräfte sammeln, nach all der Aufregung. Wie gerne wäre sie wieder eingeschlummert, denn seit Monaten hatte sie nicht mehr richtig geschlafen. Als sie an den Grund dafür dachte, hätte sie beinahe geweint.

Nun regte sich auch ihr Liebster auf der Decke, die er auf den Stapeln von Kartoffelsäcken ausgebreitet hatte, und ihr Herz wurde weit, als sie ihn betrachtete. Er war das Glück in ihrem Unglück. Er war der Lichtblick in der Katastrophe. Obwohl sein Plan nicht aufgegangen war. Er hatte einfach einen neuen ersonnen.

Er richtete sich ebenfalls auf, lauschte. »Es ist nichts«, sagte sie, »nur der Wind und der Regen«, und es kam ihr in den Sinn, was ihre Großmutter sagen würde. Die Wilde Jagd wäre unterwegs. Die Vorboten für Kriege und Katastrophen, für Krankheit und Tod. Ein kühler Schauer erfasste sie bei diesem Gedanken. Doch es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Nicht wegen des Wetters jedenfalls.

Zärtlich strich er ihr eine Strähne aus der Stirn, zog sie an sich, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und wiederholte, dass alles gut werden und er sein Versprechen halten würde. Unter seinen Händen wurde ihr Körper nachgiebig und weich. Sie vergaßen das Klopfen und Prasseln des Regens, das Heulen und Jammern des Sturms, sie gaben sich ganz ihren Gefühlen hin, bis ein leises Knacken die Unwettermusik störte. Schlagartig wurde ihr kalt. Jedes Härchen an ihren Armen richtete sich auf, und ihre Sinne schärften sich. Plötzlich war sie hellwach.

Überrascht sah er auf. Erstmals bemerkte sie die braunen Sprenkel in seiner Iris – wie seltsam, dass sie ihr bisher nicht aufgefallen waren – und gleichzeitig hinter ihm eine Bewegung. Wie eine Springflut riss die Angst sie mit sich, als sie erkannte, wer da stand, und sie begriff, was gleich geschehen würde. Der aufsteigende Schrei verkeilte sich in ihrer Kehle. Der Knall zerriss die Luft, dröhnte in ihren Ohren. Es roch nach Schmauch und süßem Blut. Ihr Liebster sackte zusammen, kam schwer auf ihr zum Liegen. Sein Blut sickerte warm in den Stoff ihres Kleides, und ein Grauen erfasste sie, wie sie es noch nie gefühlt hatte.

Nun löste sich der Schrei. Er brach aus ihrem Innersten hervor wie eine Urgewalt. Sie schrie wie noch nie in ihrem Leben. Jenseits von Sinn und Verstand. Ihr Fluchtinstinkt erwachte und der Wille zu überleben. Sie schob den Körper von sich, ließ sich auf den Boden fallen, rappelte sich auf und rannte.

Sie kam nur einige Schritte weit. Es war nicht die Wilde Jagd, es war der Tod, der hinter ihr her war, und er kannte kein Erbarmen. Ein zweiter Schuss zerfetzte die Stille. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie. Taumelnd griff sie in die Luft, suchte Halt und brach zusammen. Mit dem Kopf schlug sie auf dem Boden auf, und das Letzte, was sie sah, waren Staub und Schmutz.

Heilige Maria, Mutter Gottes. Bitte für mich! Jetzt! Im Moment meines Todes. Diese stumme Fürbitte war ihr letzter Gedanke.

1

Obwohl Ella Loibl noch immer zornig auf ihren Mann Frank war, und doch auch voller Sehnsucht nach ihm, tat sie endlich, was sie seit Langem tun wollte. Sie musste das selbst erledigen. Das war sie ihm und ihrer Liebe schuldig.

Schlag um Schlag, Hieb für Hieb meißelte sie seinen Namen in den Stein. Metall schlug klirrend gegen Metall. Splitter spritzten gegen die Schutzbrille. Feiner Marmorstaub stieg in die Luft. Zentimeter für Zentimeter rückte sie das Spitzeisen weiter. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, sammelte sich in den Brauen, lief in einem feinen Rinnsal zwischen den Schulterblättern hinab. Es war Schwerstarbeit, und sie dachte an die Geburten ihrer Kinder. Doch nicht neues Leben war entstanden, sondern eines erloschen. Seines. Vor acht Monaten hatte der Tod zugeschlagen und ihr den Mann genommen, mit dem sie dreiundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war.

Buchstabe für Buchstabe arbeitete sie sich voran. Bis sein Name dort stand, in einer zeitlosen Groteskschrift, die ihm gefallen hätte. Nach acht Monaten Trauer, Wut und Fassungslosigkeit hatte sie endlich den Grabstein für ihn entworfen und seinen Namen hineingeschlagen. Nun war Frank wirklich tot. Gelebt hatte er neunundvierzig Jahre. Im Angesicht der Unendlichkeit seines Nichtseins war das ein Wimpernschlag, eine Lappalie, und Ella hätte alles dafür gegeben, seine Stimme noch einmal zu hören, noch einmal mit ihm zu lachen und zu reden, ihn zu küssen. Und ihn zur Rede zu stellen, warum er Sepps Rat gefolgt war. Wobei sie das noch am ehesten verstand. Dass er ihr von der Misere, in der sein Tonstudio steckte, kein Wort gesagt hatte, das nahm sie ihm allerdings übel.

Ella warf Meißel und Hammer auf die Werkbank, setzte Brille und Mundschutz ab und klopfte sich den Staub von der Arbeitshose. Es war, wie es war. Mit den finanziellen Folgen seines Unternehmertums musste sie nun leben. Ebenso wie mit seinem Tod. Auch wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder würde sie alles verlieren oder doch noch irgendwo Geld auftreiben, um seine Schulden zu begleichen.

Ella sah sich in ihrer Werkstatt um, die ihr von Kindesbeinen an vertraut war. An einer Wand hingen die Stemm- und Spitzeisen, die Sägen und Meißel. Davor standen Stapler und Winde. Unter dem Fenster befand sich ihr Arbeitstisch und daneben das Regal mit Farben, Pinseln, Stiften und Blöcken mit Blattgold. Sie durfte den Steinmetzbetrieb nicht verlieren, den ihr Vater aufgebaut hatte. Er würde sich im Grab umdrehen, wenn sie in Konkurs ging, und Mama würde es das Herz brechen.

Wovon sollte sie dann leben? Sollte sie sich etwa an die Kasse des Supermarkts setzen? Sie musste einen Weg finden, den Betrieb zu halten, wobei es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder schenkte sie ihrer Mutter reinen Wein ein. Was eine Tirade gegen Frank zur Folge haben würde. »Ich habe dir ja immer gesagt, dass er ein Luftikus ist, ein Windei, kein Mann, den man heiratet. Er hat sich ins gemachte Nest gesetzt und auf deine Kosten gelebt. Ausgenommen hat er dich.« Ella wusste, dass sie das nicht ertragen würde. Sie ließ sich auf den von Steinstaub überzogenen Bürostuhl sinken. Blieb also nur die zweite Möglichkeit. Sie musste Sepp und Franzi um Geld bitten, und das erschien ihr ebenso unmöglich.

Ein erfolgreicher Unternehmer zu sein, das hatte Frank vorgeschwebt, seit Sepp erklärt hatte, er habe das Zeug dazu. Beim Maibaumaufstellen vor zwei Jahren war das gewesen. Unversehens hatten sie sich mit Sepp und seiner Frau Franzi am selben Tisch befunden. Nach zwei Bier hatte ihr Mann angefangen, von seinem Tonstudio zu schwadronieren, wie er das gelegentlich tat. Ein Jugendtraum. Sein Wolkenkuckucksheim, denn Frank war Musiker und kein Geschäftsmann. Sepp war darauf eingegangen. Sein eigner Herr zu sein, das wäre das Beste. Jeder könne ein Unternehmen aufbauen. Man brauche nur den Willen dazu, ein fundiertes Konzept und Durchhaltevermögen. Und Kapital, hatte Ella angemerkt. Worauf Sepp erwidert hatte, dass es dafür Banken gebe, als wüsste sie das nicht. Was Frank für einen Kredit benötige, seien ein Businessplan und ein wenig Eigenkapital, sagte Sepp.

Beim dritten oder vierten Bier waren die beiden sich dann einig gewesen. Sepp würde Frank bei der Erstellung des Businessplans helfen und ihm eine Anschubfinanzierung geben. Und so war es auch gekommen. Trotz Ellas Bedenken, dass Frank weder über eine kaufmännische Ausbildung noch über Erfahrung als Geschäftsmann verfügte. Drei Monate später hatte er das Soul & Sound Tonstudio gegründet, ein schickes Loft im Münchner Norden gemietet und sich eine Homepage entwerfen lassen. Dass er auch ihr Erspartes in sein Unternehmen gesteckt hatte, als es bergab gegangen war, war die große Überraschung nach seinem Tod gewesen. Weshalb hatte er nichts gesagt? Gemeinsam hätten sie eine Lösung finden können und das Desaster abwenden, das er ihr hinterlassen hatte.

Und nun saß sie also ohne Frank da und ohne Ersparnisse, dafür aber mit Schulden, die sie Monat für Monat abstotterte, denn so schlau war Frank dann nicht gewesen, eine GmbH zu gründen. Dazu hätte Sepp ihm raten sollen! Dann wäre Franks Firma jetzt einfach pleite, und sie hätte nichts damit zu tun. Wütend trat Ella gegen den Granitsockel einer Blumenschale, die sie für Sepps neuen Baumarkt draußen im Gewerbegebiet anfertigte. Sie sollte den Platz vor dem Eingang schmücken und war tatsächlich der erste Auftrag, den die Steinmetzfamilie Loibl je von einem aus dem Schattenhofer-Clan erhalten hatte, obwohl sie verwandt waren. Vermutlich wollte Sepp so sein schlechtes Gewissen beruhigen, doch das würde nicht reichen.

Die Kirchturmuhr schlug sechs. Zeit, Feierabend zu machen. Ella fegte die Werkstatt. Der Marmorlieferant drängte auf Begleichung der letzten beiden Rechnungen. Wenn sie ihn bezahlte, fehlte ihr das Geld für die Bankrate am Monatsanfang. Ihre Kinder konnte sie nicht um Hilfe bitten. Vinzenz machte seinen Meister als Steinmetz bei einem Kollegen in Würzburg. Miete und Lebenshaltungskosten verschlangen das schmale Gehalt. Und Sandra studierte in Berlin, und das Geld, das sie mit diversen Jobs nebenbei verdiente, reichte gerade so.

Ella schloss die Werkstatt und wollte nach ihrer Mutter sehen, die im Hinterhaus wohnte. Sie war siebenundachtzig, kam aber noch sehr gut allein zurecht. Durchs offene Fenster war der Fernseher zu hören. Mama sah ihre Lieblingsserie. Dabei störte man sie besser nicht. Ella trollte sich gleich wieder und betrat das Haus, das so schrecklich leer war, seit die Kinder nicht mehr hier wohnten und vor allem seit Franks Tod.

Die Stille legte sich wie Blei auf ihre Schultern, und gleichzeitig saß eine quecksilbrige Unruhe in ihr. Was sie jetzt brauchte, war entweder ein Glas Wein oder Bewegung.

Es war ein schöner Sommerabend. Sie entschloss sich, eine Runde zu radeln. Zu viel Wein in den letzten Wochen. Sie ging ins Schlafzimmer, zog die Sportsachen an, klemmte die Wasserflasche in die Halterung am Rad und schob einen Energieriegel in die Rückentasche des Shirts. Dann schwang sie sich aufs Mountainbike und fuhr los Richtung Sellbacher Holz. Von dort konnte sie über Oberschleißheim zurück nach Altbruck radeln. Bis zur Tagesschau würde sie wieder daheim sein. Es sei denn, sie gönnte sich im Schleißheimer Schlossbiergarten eine Brotzeit, wie Frank und sie es oft getan hatten. Er fehlte ihr so sehr.

Ein Klumpen setzte sich in ihren Hals. Sie blinzelte die Tränen weg und durchquerte das Dorf. Der Biergarten beim Lindenwirt war voll und der Straßenrand zugeparkt. Hauptsächlich Münchner. Am Kriegerdenkmal goss der Gemeindearbeiter die Eisbegonien. Das neue Feuerwehrhaus sah auch nach zehn Jahren noch so aus, als wäre ein Ufo mitten in Altbruck gelandet. Agnes schloss den Dorfladen, und Ella winkte ihr im Vorbeifahren zu. Alles war wie immer und wirkte wie Balsam auf ihrer wunden Seele.

Am Spielplatz und neben der Bushaltestelle hingen die ersten Veranstaltungsplakate. Im Oktober war Landtagswahl in Bayern, und auch in Ellas geliebtem Altbruck fanden die neuen Rechten Anhänger. Ihre Gedanken kehrten zum Schuldenberg zurück, während sie das Dorf hinter sich ließ und auf einen Feldweg Richtung Forst einbog.

Was konnte sie tun, um das Desaster abzuwenden? Es fiel ihr nichts ein. Sie wollte weder mit ihrer Mutter da­rüber sprechen noch Sepp um ein Darlehen bitten. Der reiche Schattenhofer-Clan sah seit jeher auf die armen Verwandten herab, und sie gönnte Sepp die Genugtuung nicht, dass eine von ihnen ihn um Geld bat. Wobei Frank damit ja keine Probleme gehabt hatte. Zehntausend Euro Anschubdarlehen hatte Sepp ihm gegeben.

Auf den Feldern standen Weizen und Gerste hoch. Die Luft war warm und roch nach Sommer. Über alldem wölbte sich der Abendhimmel in einem klaren Blau. Anderthalb Kilometer entfernt ragten aus dem neuen Gewerbegebiet Kräne in den Himmel, doch der Baulärm war verstummt, und eine friedliche Stille lag über der Landschaft. Ella reduzierte das Tempo, ihr Ärger verrauchte, die Sorgen verblassten. Sie begann ihren Ausflug zu genießen und ließ den Blick schweifen. Am Waldrand standen zwei Rehe. Über ihr kreiste ein Raubvogel. Vielleicht einer der Falken, die sich im Kirchturm eingenistet hatten. Klatschmohn und Kornblumen am Wegesrand. Eine Idylle, wäre da nicht der Kiesablageplatz vom Dengler. Direkt am Waldrand hatte der Bauunternehmer ein Areal gepachtet. Haushohe Kieshaufen reihten sich aneinander. Als Ella sich näherte, stob eine Krähe mit lautem Krächzen von einem der Hügel auf und setzte eine kleine Lawine in Gang. Kies rutschte hinab, bis an den Rand des Wegs. Ella wich aus und war schon fast daran vorbei, als sie etwas sah, das unmöglich dort sein konnte. Verwundert stoppte sie und stieg vom Rad.

Ihr Verstand weigerte sich zunächst, das Bild, das auf ihre Netzhaut projiziert wurde, als wahr zu akzeptieren. Und doch war er da. Zwar zu Scherben zerborsten, trotzdem ein menschlicher Schädel.

Einen Moment hoffte sie noch, dass das Bild vor ihren Augen verschwimmen und ihr am Ende nichts als Kies zeigen würde. Doch dort lag unverkennbar ein Oberkiefer mit Zähnen, der Unterkiefer daneben. Knochenfragmente rundherum. Der Anblick war nicht eklig oder schaurig, er machte Ella nur unendlich traurig.

Wer war das? Warum lag er hier und nicht auf dem Friedhof?

2

Als Gina am Morgen in die Küche kam, saß ihre Tochter Chiara gewaschen, gewickelt und hübsch angezogen in ihrem Hochstuhl am Frühstückstisch und hielt stolz ein Stück Breze hoch. »Ara tauft.«

»Oh, ihr wart ja schon beim Bäcker.« Sie drückte der Kleinen einen Kuss auf die dunklen Locken, sog den Duft ihrer Haut ein, und eine Welle von Liebe, Glück und Dankbarkeit überrollte sie. Dass Chiara lebte und es ihr so gut ging, grenzte an ein Wunder.

»Guten Morgen, Liebes!« Tino stand vor seiner neuen Espressomaschine, einem chromblitzenden Vollautomaten, der jeder Espressobar zur Ehre gereichen würde. »Cappuccino oder Latte macchiato?« Abwägend hob er Tasse und Glas hoch.

»Cappuccino.« Gina gab auch ihm ein Bussi und bemerkte den Korb mit frischen Croissants und Semmeln. »Wow! Gibt’s diesen Service jetzt jeden Tag?«

»Mal sehen, wie lange ich durchhalte.« Tino zwinkerte ihr zu. »Meine Ambitionen, den perfekten Hausmann zu spielen, sind begrenzt.«

»Gut so. Dann bleiben wir auf Augenhöhe.« Ginas hausfraulicher Ehrgeiz war noch nie sehr ausgeprägt gewesen, und nach zwei Jahren Elternzeit gab sie unumwunden zu, froh zu sein, wieder arbeiten zu können. Sosehr sie ihre Tochter auch liebte, das ausschließliche Mutter- und Hausfrausein war nicht ihr Ding. Ihr fehlte der Ausgleich. Eine Herausforderung, die nicht allein darin bestand, ein Kind großzuziehen und sich auf dem Spielplatz den verschämten Fragen der anderen Mütter zu stellen, ob mit ihrer Tochter denn alles in Ordnung sei.

Wie abgemacht, hatte sie mit ihrem Mann endlich die Rollen getauscht. Seit gestern ermittelte sie wieder bei der Münchner Mordkommission in der Abteilung für ungeklärte Altfälle, während er seinen Platz im Kommissariat 11, »Vorsätzliche Tötungen«, vorübergehend geräumt hatte und daheim bei Chiara blieb, die mit dem Downsyndrom und einem Herzfehler geboren und bei der zwingend notwendigen OP beinahe gestorben war.

Gina unterdrückte die aufsteigenden Erinnerungen an die fürchterlichste Nacht ihres Lebens. Zuerst Notkaiserschnitt, denn Chiaras Herztöne hatten sich dramatisch verschlechtert. Dann Tino, der weiß wie die Wand vor ihr stand, als sie aus der Narkose aufwachte, und ihr nicht sagen wollte, was geschehen war, sodass sie schon dachte, ihr Kind wäre gestorben.

Dieses wunderbare, besondere Kind, das jetzt lachend im Hochstuhl saß, an einem Stück Breze lutschte und auf die Tasse mit Cappuccino wies, die Tino vor Gina abstellte. »Ara haben will.«

»Damit warten wir noch ein paar Jahre.« Gina fuhr ihr durch die Locken. »Das ist nichts für kleine Lausemädels.«

Sofort versuchte Chiara das neue Wort zu wiederholen. In ihrer sprachlichen Entwicklung war sie genauso weit wie gleichaltrige Nichtbehinderte, wenn nicht sogar weiter. Doch motorisch hinkte sie gewaltig hinterher und war bisher über das Stadium Krabbeln und Hochziehen nicht hinausgekommen, trotz regelmäßiger Ergotherapie. »Sausedel«, krähte sie vergnügt.

»Lau-se-mä-del.«

»Sämedel. Ara Sämedel.« Kichernd hob ihre Tochter die Breze an den Mund. »Ara haben will!«

»Kein Kaffee für Lausemädels«, wiederholte Gina und ahnte, dass gleich das Geschrei losgehen würde. Prompt verzog die Kleine das Gesicht, warf die Breze auf den Boden und begann zu weinen. »Haben will! Ara haben will!«

»Kein Kaffee für die Prinzessin. Da hat Mama schon recht. Aber wie wäre es damit?« Tino gab etwas von der schaumigen warmen Milch in eine Espressotasse und stellte sie vor Chiara ab. Das Geschrei verebbte sofort, und die Sonne ging in Chiaras Gesicht auf. Sie griff nach der Tasse, verschüttete aber einen Teil schon beim Hochheben und einen weiteren beim Trinken. Dennoch strahlte sie.

»Jetzt musst du sie umziehen.«

»Das mache ich nach dem Frühstück«, sagte Tino.

Gina nahm sich ein Croissant. Der Cappuccino war gut und genau richtig, um in Betriebsmodus zu kommen.

Aus dem Küchenfenster blickte sie direkt auf den Alten Südfriedhof, den ehemaligen Pestfriedhof im Herzen Münchens. In der Ulme unweit des Fensters saß eine Elster, und unten auf den gekiesten Wegen waren bereits Besucher und Jogger unterwegs.

Auf dem Frühstückstisch lag der Münchner Blick, wie Gina überrascht feststellte. »Seit wann kaufst du denn den Blick?«

»Seit dem Knochenfund in Altbruck. Ich habe gestern mal gegoogelt, wie die Medien darauf reagieren, dass die Staatsanwaltschaft kein Ermittlungsverfahren einleitet.«

»Und?«, fragte Gina. »Offenbar machen sie deswegen keine große Welle.«

»Nur Melissa Wittock beißt sich an dem Thema fest.«

Die Journalistin vom Münchner Blick – einer Zeitung, die Tino gerne als Drecksblatt bezeichnete – war eigentlich seine liebste Pressefeindin. Einige Jahre zuvor hatte sie aus Tino den Prügelbullen gemacht. Ohne sich zu informieren, was tatsächlich geschehen war, war sie auf die Aussage des angeblichen Opfers hereingefallen.

Gina überflog den Artikel. Vor einigen Tagen hatte eine Radfahrerin bei Altbruck einen menschlichen Schädel auf einem Kiesablageplatz entdeckt und die Polizei gerufen. Bei der anschließenden Suche mit Leichenspürhunden waren Skelettteile von zwei Personen gefunden worden, die sieben bis acht Jahrzehnte in der Erde gelegen haben mussten. Die Todesursachen waren auf die Schnelle nicht feststellbar und der zuständige Staatsanwalt Christoph Leyenfels bekannt dafür, dass er sich ungern unnötige Arbeit machte. Nach so langer Zeit sei ein Gewaltverbrechen nicht mehr nachweisbar. Melissa Wittock ereiferte sich nun in ihrem Artikel, wie unmenschlich es sei, weder die Identität der Toten zu klären noch die Umstände ihres Todes.

Ein unbestimmter Ärger stieg in Gina auf, eine Erinnerung arbeitete sich an die Oberfläche. Dann bis morgen, Gina! Hermines letzte Worte, bevor sie sich am Stachus getrennt hatten. Doch ein Morgen hatte es für ihre Schulfreundin vermutlich nicht gegeben.

Gina ließ die Zeitung sinken. »Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich mit der Wittock mal einer Meinung sein werde. Aber sie hat recht. So geht das nicht. Irgendwo wartet vielleicht jemand noch immer darauf, etwas über das Schicksal eines Angehörigen zu erfahren.«

»Nach siebzig Jahren?«

»Warum nicht? Vermisste hinterlassen Löcher in ihren Familien, weiße Flecken. Leerstellen. Sie fehlen.« Gina merkte selbst, wie aufgebracht sie war. Es lag an Hermine.

Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie sich damals nach der Party nicht am Stachus getrennt und sie Hermine noch bis zur S-Bahn begleitet hätte? Vielleicht wäre sie jetzt auch verheiratet. Doch sie hatten sich getrennt. Seither fehlte von Hermine jede Spur. Sie war einfach verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Noch heute hielt Gina losen Kontakt zu ihren Eltern und wusste daher, wie sehr das ungeklärte Schicksal ihrer Tochter sie belastete. Es machte sie fertig. Sie konnten nicht damit abschließen, und Gina pflichtete der Wittock bei: Es war unmenschlich.

»Leyenfels wählt wieder einmal den Weg des geringsten Widerstands.« Sie legte die Zeitung beiseite. »Die Toten haben einen Anspruch darauf, dass wir uns ihrer annehmen. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Wer sagt denn, dass es kein Mord war und der Täter nicht doch noch lebt?«

»Tät, tät«, wiederholte Ara vergnügt.

»Täter«, korrigierte Gina ihre Tochter und wandte sich an Tino. »Wir müssen langsam aufpassen, worüber wir in ihrer Gegenwart reden.« Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es Zeit war aufzubrechen.

Als sie sich von Tino und Chiara verabschiedete, arbeiteten für einen Moment zwiespältige Gefühle in ihr. Die plötzliche Angst, zu wenig von Chiaras Entwicklung mitzubekommen, wenn sie wieder arbeiten ging. Wie gerne würde sie jetzt bei ihr bleiben, mit ihr spielen, hinunter zur Isar gehen. Sie könnten Eichhörnchen und Vögel beobachten und Kiesel ins Wasser werfen. Sie konnte Chiaras Wortfindungsversuchen folgen und sie betrachten, wenn sie erschöpft im Buggy einschlief, mit roten Bäckchen und die Kuscheldecke an sich gepresst. Den Duft ihrer Haut riechen und sich über das Wunder freuen, dass es Chiara gab.

Andererseits war da aber auch die Freude auf ihre Arbeit. Auf ihre Kollegen Thomas und Holger, die gemeinsam mit ihr das Kommissariat »Ungeklärte Altfälle« bildeten. Gestern war sie von den beiden mit Blumen und Kuchen empfangen worden, und sie hatte Holger angesehen, wie er über ihren erhöhten Körperfettanteil nachdachte, aber nichts sagte. Denn das war die Vereinbarung, die sie für eine gute Zusammenarbeit getroffen hatten. Er, der Fitnessfreak, der nicht versuchte, sie zu mehr Sport zu bekehren, und sie, die Kollegin mit ein paar Speckröllchen, die sich nicht weiter über seine Gadgets lustig machte, mit denen er seine körperlichen Aktivitäten kontrollierte. Jedem das Seine. Gina freute sich aufs Stöbern in alten Akten und auf den elektrisierenden Moment, wenn sie einen neuen Ansatzpunkt für eine Ermittlung fanden.

Für einen Augenblick zerriss es sie beinahe, und sie atmete durch. Heute Abend würde sie ihr geliebtes Kind ja wiedersehen. Außerdem war jetzt Tino mit Elternzeit an der Reihe, und er war ein wunderbarer Vater. Also nahm sie sich zusammen, hob Chiara auf den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange und Tino einen auf den Mund. Sie war eine glückliche Frau. Sie hatte alles erreicht, was sie sich je erträumt hatte.

Bis auf den kleinen Splitter, der sich heute Morgen wieder bemerkbar gemacht hatte. Ihre vermisste Freundin Hermine. Vermutlich war sie tot, und ihre Knochen verrotteten irgendwo, bis jemand sie vielleicht irgendwann zufällig fand. So wie die Radlerin die Toten von Altbruck.

3

Gina lief die Treppe hinunter und trat vors Haus. Jenseits der Straße rauschte der Westermühlbach seinem unterirdischen Bett entgegen. Davor befand sich ein Geländer aus Holz, und daran lehnte eine überschlanke, vielleicht magersüchtige Frau. Das halblange blonde Haar war stumpf, der Teint fahl. Eine überdimensionale Sonnenbrille verbarg einen großen Teil des Gesichts und verlieh ihr etwas Insektenhaftes. Als sie Ginas Blick bemerkte, wandte sie sich ab und ging in Richtung Sendlinger Tor davon. Seltsam, dachte Gina und scannte kurz ihr Personengedächtnis. Doch sie konnte sich nicht erinnern, ihr schon einmal begegnet zu sein.

Seit sich das K 1 mit seinen Kommissionen nicht mehr in der Fußgängerzone in der Nähe von Frauenkirche und Altem Peter befand, sondern im Stadtteil Sendling mit Blick auf Wertstoffhof und Kleingartenanlage, musste Gina das Auto nehmen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Das stand in einer Tiefgarage jenseits des Alten Südfriedhofs, und sie genoss den kurzen Spaziergang vorbei an alten Gräbern und Marmorengeln zu ihrem Wagen.

Als sie kurz darauf in die Kapuzinerstraße einbog, staute sich bereits der Verkehr. An den Litfaßsäulen hingen die ersten Plakate für Wahlveranstaltungen. Die CSU zückte wieder einmal die Law-and-Order-Karte, um die absolute Mehrheit nicht zu verlieren. Doch die Chancen standen nicht gut. Ein Ruck rechts der CSU ging durchs Land.

Zehn Minuten vor Dienstbeginn kam Gina in der Hansastraße an und fuhr von der Tiefgarage mit dem Lift in den vierten Stock, wo sich die Büros des K 11 und K 12 befanden. »Vorsätzliche Tötungsdelikte« und »Todeser­mittlungen«. Ihr Drei-Mann-Team für Cold Cases war dem K 12 zugeordnet und verfügte über zwei Räume. Den einen teilte Gina sich mit Holger Morell, der andere war das Reich ihres Vorgesetzten Thomas Wilzoch.

Die Lifttüren öffneten sich. Vor Gina erstreckte sich der Vorplatz mit Imbiss-Ecke und Kopierer. Röchelnd lief der erste Kaffee des Tages durch. Anke Frieß, die Hauptsachbearbeiterin und Chefin der »Mädels«, wie sie ihre Truppe nannte, obwohl auch zwei Männer dazugehörten, hatte die Maschine bereits angestellt und wünschte einen guten Morgen. »Na, schon wieder eingelebt?«

»Noch nicht so ganz.«

»Plörre ist gleich fertig.«

Dieser Begriff stammte von Tino und war das Synonym für Automatenkaffee, der seinen Ansprüchen natürlich nicht genügte, weshalb er sich schon vor vielen Jahren eine Espressomaschine ins Büro gestellt hatte. Derzeit befand sie sich bei Moritz Russo, der Tinos Elternzeitvertretung übernommen hatte.

Gina legte ihre Umhängetasche auf den Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch und warf dabei einen Blick aus dem Fenster. Der Anblick der Schrebergärten war gewöhnungsbedürftig. Dafür war das neue Gebäude kein alter, zugiger Kasten, wie das Präsidium in der Ettstraße, sondern hell und freundlich und mit neuen Möbeln ausgestattet. Man konnte nicht alles haben. Aus der Umhängetasche nahm sie den Bilderrahmen mit dem Foto von Tino und Chiara und stellte es neben den Monitor. Danach schnappte sie sich ihren CSI: Miami-Becher, der sie seit Jahren durch ihr Leben als Kriminalhauptkommissarin begleitete, und holte sich die erste Ration Plörre des Tages. So gerüstet, machte sie sich an die Arbeit. Zwei Aktenstapel lagen vor ihr. Ein ungeklärter Mord von 1992 an einer Obdachlosen und der grauenvolle Tod eines Grundschullehrers aus dem Jahr 2007. Das waren die Fälle, die sie mit Holger auf der Suche nach einem neuen Ermittlungsansatz durchgehen sollte, wenn es nach ihrem Vorgesetzten Thomas Wilzoch ging. Der Knochenfund von Altbruck interessierte sie jedoch weitaus mehr. Sie startete den Browser und suchte nach Informationen.

In den Online-Medien wurde kaum darüber berichtet. Nur Melissa Wittock arbeitete sich an diesem Thema ab und hatte bereits mehrere Artikel veröffentlicht. Einen über den Fund, einen über die Nichteröffnung eines Ermittlungsverfahrens und den aktuellsten vor einer Stunde. Anhand der unbekannten Toten beschäftigte sich die Journalistin des Münchner Blicks mit der Frage, welche Folgen es für Familien und Angehörige hatte, wenn ein Mensch spurlos verschwand und nie geklärt werden konnte, was ihm widerfahren war.

»Guten Morgen!« Holger riss Gina aus ihrer Lektüre. Er trug papageienbunte Radklamotten, einen aerodynamischen Helm und am Handgelenk eine Pulsuhr. Auf der Stirn perlte Schweiß, und das hautenge Funktionsshirt war an Brust und Rücken durchnässt. Eine süßliche Wolke zog durch den Raum.

»Willst du beim Iron Man auf Hawaii mitmachen?«

»So verrückt bin ich nicht. Kommt vielleicht noch«, fügte er hinzu. »Ich trainiere nur für eine Alpenüberquerung und spring rasch unter die Dusche, dann bin ich einsatzbereit.«

»Alles klar.«

Während er Richtung Umkleideräume verschwand, sah Thomas herein. Er feierte heute sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum und trug zur Feier des Tages Anzug und Krawatte. Das grau melierte Haar war kurz geschnitten, die Geheimratsecken hatten sich während Ginas Elternzeit weiter vorgearbeitet. Seine scharfen Gesichtszüge ließen ihn streng wirken, doch Thomas war ein gelassener Mensch.

Als Ende der Neunzigerjahre die DNA-Analyse eingeführt worden war, hatte er sich immer häufiger den ungeklärten Altfällen zugewandt, bis er schließlich bei den Kollegen und Vorgesetzten als Spezialist für Cold Cases galt. So hatte er im Lauf der Zeit seine eigene Abteilung aufgebaut, die es offiziell nicht gab. Thomas leitete eine Kommission wie jede andere, und gelegentlich unterstützten sie die Kollegen bei aktuellen Fällen.

»Wieder eingelebt?«, fragte er.

»Geht so. Kulinarisch und einkaufstechnisch sind wir hier ja in der Diaspora gelandet.« Früher hatte sie während der Mittagspause in der Fußgängerzone Besorgungen erledigt, mit Tino einen Espresso bei Marcello getrunken und häufig auf dem Viktualienmarkt zu Mittag gegessen. All das fiel hier flach.

»Ja, in der Ettstraße war es schöner«, pflichtete Thomas ihr bei. »Was soll’s? Ich fliege jetzt erst mal für vier Wochen mit meiner Holden nach Thailand.«

»Gleich für vier Wochen? Nicht schlecht.«

»Nach fünfundzwanzig Dienstjahren haben wir uns das verdient.« Thomas bemerkte den Artikel auf dem Monitor. »Die Wittock wieder. Das ist aber kein Fall für die Kripo.«

»Wieso nicht?«

»Weil am Ende nichts dabei herauskommen kann. Was haben wir denn schon? Nur eine Handvoll Knochen und etliche Jahrzehnte, die ins Land gegangen sind.«

»Man sollte wenigstens die Identität der Toten ermitteln.«

Thomas breitete die Arme aus. »Vermutlich sind es Soldaten. Möglicherweise kurz vor Kriegsende desertiert und von Feldjägern standrechtlich erschossen.«

»Das ist schon eine gewagte Hypothese«, konterte Gina.

Ein Schulterzucken war die Antwort. »Siebzig bis achtzig Jahre Liegezeit, sagt die Weidenbach. Also sind sie während des Kriegs oder bei Kriegsende ums Leben gekommen.«

»Oder kurz danach.«

»Bayern war jedenfalls weitab jeder Front«, fuhr Thomas unbeirrt fort. »Gefallene sind es also nicht. Vielleicht sollte man den Suchdienst des DRK einschalten. Ich werde Poschmann darauf ansprechen.« Thomas wies auf die beiden Aktenstapel. »Wir sollten uns an den Lehrermord halten, der an der Obdachlosen ist zu lange her.«

4

Bis zu Thomas’ Feier vertiefte Gina sich mit Holger in die Akten. Die erste Phase bestand immer aus Lesen. Sie studierten den Tatortbefundbericht, die Zeugenaussagen. Den Obduktionsbericht. Die Spuren, denen die Kollegen nachgegangen waren, und auch die, die nicht weiterverfolgt worden waren.

»Vielleicht gelingt es euch ja, jetzt Licht ins Dunkel zu bringen.« Das hatte Thomas noch gesagt, bevor er das Büro verlassen hatte. Ins Blutrot, dachte Gina nun. Das wäre treffender. Das Blut des Grundschullehrers war überall im Wohnmobil gewesen. Bis hinauf zur Decke war es gespritzt. Die Tatwaffe, vermutlich ein Dolch, war nie gefunden worden. In einem wahren Blutrausch hatte der Täter zugestochen. Dreiundzwanzigmal. Eine Tat im Affekt oder unter Drogeneinfluss? Das Ergebnis einer Psychose?

Gina blätterte durch die DNA-Analysen, die vor sechs Jahren gemacht worden waren, als Thomas den Fall schon einmal aus dem Archiv geholt hatte. Siebenundvierzig verschiedene genetische Spuren hatten die Spurensicherer im Wohnmobil gefunden, und keine konnte einer Person aus dem Umfeld des Opfers zugeordnet werden. Was glaubte Thomas denn, wie dieser Fall noch zu klären war?

Um kurz nach drei steckte Anke den Kopf zur Tür he­rein. »Heigl ist da. Es geht los.«

Dankbar für die Unterbrechung, gesellte Gina sich mit Holger an einen der Stehtische im Foyer und schnappte sich ein Glas Prosecco. Zu ihnen stellten sich Kirsten Tessmann und Alois Fünfanger mit Moritz Russo. Dann noch Nicolas Stahl und Anke Frieß. Alle erkundigten sich nach Chiara und wie Tino mit der neuen Rolle als Hausmann zurechtkam. Frank Buchholz von der Spurensicherung stützte seinen massigen Körper auf die Kaffeetheke. Meo Klein, der IT-Experte, lehnte an der Wand und tippte auf seinem Smartphone herum. Wie immer trug er ein T-Shirt mit Spruch. Heute zur Abwechslung mal keinen, der sich auf IT bezog, sondern in tiefstem Bayerisch: Bis oana woant.

Jemand schlug mit einer Gabel ans Glas. Es wurde still. Ihr Chef Leonhard Heigl setzte zu seiner Rede an. Gina hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie nippte an ihrem Prosecco, und ihre Gedanken schweiften ab zum Knochenfund von Altbruck. Wie kam Thomas ausgerechnet auf Deserteure? Wenn er schon an die Kriegszeit dachte, wieso nicht an verfolgte Juden oder Regimegegner, an Widerstandskämpfer, Kommunisten, Sozialdemokraten. An all die Verfolgten. Wie weit war Dachau von Altbruck entfernt? Höchstens zehn Kilometer. Die Todesmärsche der letzten Kriegswochen kamen Gina in den Sinn, als man die KZ-Insassen durchs Land getrieben hatte. Und in der Nachkriegszeit hatten erst einmal Chaos und Anarchie geherrscht. Auch in München und im Umland hatte es gedauert, bis die Amerikaner eine funktionierende Polizei aufgebaut hatten. Bis dahin hatte das Recht des Stärkeren gegolten. Schwarzmarktgeschäfte, untergetauchte Naziverbrecher, Denunzianten, große und kleine Schieber, die üblichen Kriminellen. Und obendrein hatte es eine Serie von Frauenmorden gegeben, die jahrelang nicht aufgeklärt werden konnte. Während ihrer Ausbildung hatte Gina eine Facharbeit darüber geschrieben.

Wer waren die Toten von Altbruck? Wie waren sie gestorben? Hoffte noch heute jemand auf Nachricht? Das altbekannte Kribbeln stieg in ihr auf. Sie wollte diesen Fall. Sie wollte Antworten finden.

Heigl beendete seine Rede. Alle klatschten und hoben die Gläser auf Thomas, während der Lift oben ankam. Die Türen öffneten sich. Dr. Ursula Weidenbach stieg zusammen mit dem Oberstaatsanwalt Jochen Poschmann aus. Er war einen Kopf kleiner als sie und ließ ihr, ganz Gentleman, den Vortritt. Gina beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, und schnappte sich ein zweites Glas Prosecco. Damit steuerte sie Ursula Weidenbach an. Bis sie und Poschmann mit Gratulieren und dem Small Talk fertig waren, hielt Gina sich ein wenig abseits. Erst dann trat sie auf die Rechtsmedizinerin zu. »Auch ein Glas?«

»Aber gerne.«

Dr. Ursula Weidenbach gehörte zum Urgestein des Instituts für Rechtsmedizin und würde eine Lücke hinterlassen, wenn sie in einigen Jahren in Pension ging. Auch sie fragte nach Chiara und wie Tino sich in seiner Hausmannrolle zurechtfand. Ein Mann in Elternzeit sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dachte Gina. Doch offenbar war das nicht der Fall. Sie wechselte das Thema und kam auf den Knochenfund von Altbruck zu sprechen. »Sie haben ja die Obduktion durchgeführt.«

Ursula Weidenbach lachte trocken. »Obduktion ist gut. Was soll man an einem Puzzle aus zwei unvollständigen Skeletten obduzieren? Noch dazu ohne ein Budget.«

»Konnten Sie denn Geschlecht und Alter ermitteln und vielleicht eine Todesursache?«

»Dazu gab es von der Staatsanwaltschaft keinen Auftrag. Man hat uns die Knochen auf den Tisch gekippt und wollte wissen, ob das ein historischer Fund ist und, falls nicht, ob ein Tötungsdelikt vorliegt. Historisch ist er im anthropologischen Sinn nicht. Kein Ötzi in Altbruck. Und was da vor Jahrzehnten passiert ist …« Ursula Weidenbach zuckte mit den Schultern. »Das wissen die Götter. Der Mann starb möglicherweise durch einen Sturz, oder jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen, vielleicht war es auch ein Kopfschuss. Os frontale und Os parietale sind derart zertrümmert, dass ich das erst sagen könnte, wenn ich den Schädel zusammengepuzzelt und mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln untersucht habe.«

»Ein Kopfschuss?«, fragte Gina überrascht. »Und Leyenfels leitet kein Ermittlungsverfahren ein?«

»Das ist nur eine Vermutung. An einem der Bruchstücke befindet sich ein Defekt, der zu einer Einschusslücke passen könnte.«

»Und die Frau? Das zweite Skelett ist doch das einer Frau, oder?«

»Ich nehme es an. Sicher sagen kann ich es nicht. Wir haben nur den Schädel und ein paar Knochen aus dem Schultergürtel. Wenn uns das Becken zur Verfügung stünde …« Weidenbach zog wieder die Schultern hoch. »Ich würde mich ja gerne eingehend mit den beiden beschäftigen, aber ohne Ermittlungsverfahren bin ich nicht befugt.« Sie warf einen verärgerten Blick in Poschmanns Richtung.

»Wie sicher sind Sie bei der Liegezeit?«

»Ich hatte mal einen ähnlich alten Fall, der allerdings zeitlich hervorragend einzuordnen war. Damals war kein Fettwachs mehr in den Markhöhlen der Röhrenknochen. Das ist auch bei den Knochen von Altbruck so. Daher vermute ich, dass sie etwa siebzig bis achtzig Jahre dort gelegen haben. Sie interessieren sich ja sehr dafür.«

»Man sollte die beiden identifizieren und die Angehörigen ausfindig machen. Das ist meine Meinung.«

»Da schließe ich mich sofort an.« Weidenbach trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Wenn Sie mich nicht verraten … Ich habe unseren Reptilienfonds angezapft und lasse derzeit eine DNA- und eine Isotopenanalyse durchführen. Außerdem versucht sich ein Kollege daran, das Alter zu bestimmen. Er ist forensischer Osteologe und mir noch einen Gefallen schuldig. Vielleicht wissen wir bald, wie alt sie waren, als sie starben, und woher sie stammen.«

»Was ist ein Reptilienfonds?«

»Mein geheimer Topf, aus dem ich nicht genehmigte Untersuchungen bezahlen kann. Das bleibt aber unter uns.«

»Natürlich. Wann werden Sie die Ergebnisse haben?«

»Morgen oder übermorgen.« Mit einem Seufzer sah Weidenbach zu Poschmann und erklärte, dass sie seit Tagen versuche, ihn zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu bewegen. Doch er schloss sich der Argumentation von Leyenfels an. Selbst wenn eine aufwendige und kostenintensive rechtsmedizinische Untersuchung am Ende ein Tötungsdelikt nahelegte oder bewies, war die Tat bei Totschlag längst verjährt, und selbst wenn es ein Doppelmord gewesen sein sollte, wäre der Täter bereits verstorben, und gegen Tote wurde nicht ermittelt. Viel Aufwand für nichts, und das in Zeiten gekürzter Budgets.

Als hätte der Oberstaatsanwalt gespürt, dass sie über ihn sprachen, beendete er die Unterhaltung mit Thomas und gesellte sich zu ihnen. Poschmann war ein kleiner Mann um die fünfzig, der Ähnlichkeit mit Gregor Gysi hatte, was man ihm allerdings nicht sagen durfte, denn er war ein Schwarzer durch und durch. Mitglied der CSU und im selben Ortsverband aktiv wie einst der Innenminister. »Frau Angelucci, wieder im Dienst? Wie schön, Sie hier zu sehen.«

»Sagen Sie nur, Sie haben mich vermisst.«

»Vor allem Ihre unkonventionellen Alleingänge. Ohne Sie war es beinahe langweilig.«

»Tja, das wird sich gleich ändern. Ich habe nämlich einen Vorschlag …«

»Lassen Sie mich raten.« Poschmanns Blick pendelte zwischen Gina und Ursula Weidenbach. »Sie beide stecken hier schon eine ganze Weile die Köpfe zusammen. Addiert man dazu noch Ihre allseits bekannte Leidenschaft für unlösbare Fälle und Dr. Weidenbachs Hartnäckigkeit in Sachen Knochenfund, schließe ich daraus: Sie haben sich verbündet, um mich zu überzeugen.«

»Das gibt hundert Punkte für Sie«, sagte Gina.

»Leider.« Er breitete theatralisch die Hände aus. »Ich muss Sie enttäuschen. Meine Entscheidung steht.«

»Gilt denn der Grundsatz nicht mehr, dass jeder Verstorbene identifiziert werden muss?«

»Nicht um jeden Preis. Diese Geschichte liegt acht Jahrzehnte zurück, vielleicht auch länger, und wir haben nichts, auf das sich eine Ermittlung stützen könnte, außer ein paar Knochen, die auch hundert Jahre alt sein können.«

»Von hundert war nie die Rede«, sagte Weidenbach.

»Und die sind ganz sicher nicht vom Himmel auf diesen Kiesablageplatz gefallen«, konterte Gina. »Wo ist der Rest? Ich hätte da schon eine Vermutung. Den finden wir auf einer Baustelle in der Umgebung. Jemand ist bei Aushubarbeiten darauf gestoßen und hat sie wegschaffen lassen, damit der Bau nicht eingestellt wird. Da gehe ich jede Wette ein.«

»Wir zocken aber nicht mit Steuergeldern.«

Langsam, aber sicher stieg in Gina Ärger auf. »Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Toten zu identifizieren und herauszufinden, was geschehen ist. Es wird ja einen Grund haben, weshalb sie nicht auf dem Friedhof lagen, sondern auf einem Kieshaufen.«

»Nach so langer Zeit lässt sich das nicht mehr klären. Ebenso wenig, wie der Nachweis einer Straftat zu erbringen sein wird.«

»Woher wollen Sie das wissen? Ohne Ermittlungen!«

»Frau Angelucci hat recht«, sprang Ursula Weidenbach ihr bei. »Wenn wir den ursprünglichen Ablageplatz untersuchen können, werden wir dort mit etwas Glück mehr als nur die fehlenden Knochen entdecken. Etwas, das Rückschlüsse auf die Identität, die Todesumstände und den Todeszeitpunkt zulässt. Bekleidungsreste, Schuhe, Dokumente, vielleicht Schmuck.«

Genervt wandte Poschmann sich ab. »Das bringt doch alles nichts.« Er ließ sie und die Weidenbach einfach stehen. Es war nicht zu fassen!

In Gina staute sich der Zorn. Was sie jetzt brauchte, war eine Idee. Während die Weidenbach Richtung Buffet entschwand, gesellte Holger sich zu Gina. »Habe ich das richtig verstanden? Du willst den Knochenfund bearbeiten?«

»Wir wollen das.« Gina ließ ihre Hand zwischen ihm und sich pendeln.

»Ach? Echt jetzt?« Überrascht sah er sie an und zuckte dann mit den Schultern. »Die Chancen sind ähnlich schlecht wie beim Mord im Wohnmobil. Soll mir recht sein. Aber wie willst du Poschmann überzeugen?«

»Man müsste den Druck erhöhen. Wenn außer der Wittock noch andere Journalisten das Thema aufgreifen, könnte das klappen. Es ist Wahlkampf, und ich frage mich, wie gut es wohl bei den Wählern ankommt, wenn eine Partei, die sich Recht und Ordnung aufs Wappenschild gemalt hat, schweigend zusieht, wie zwei ungeklärte Todesfälle von einem unwilligen Oberstaatsanwalt nicht beachtet werden.«

»Du willst die Wittock einspannen? Ich dachte, ihr könnt euch nicht ausstehen.«

»Manchmal muss man Opfer bringen. Ich kann ja dich vorschicken.«

Holger winkte ab. Das müsse nicht unbedingt sein. Währenddessen gesellte sich Ursula Weidenbach mit vollem Teller wieder zu Poschmann. Sein Smartphone klingelte im selben Moment und er flüchtete mit den Worten, der Pressesprecher des Innenministers wäre dran, den könne er nicht warten lassen. Mit dem Handy am Ohr stellte er sich an ein Fenster. Gina schnappte ein paar Fetzen des Gesprächs auf, darunter »Altbruck« und »Drecksjournalisten«.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Wenn sie das richtig interpretierte, konnte sie sich den Anruf bei Melissa Wittock sparen. Die Medien waren endlich auf das Thema angesprungen und nervten die Presseabteilung des Innenministers. Gina trat ein paar Schritte näher he­ran und spitzte die Ohren. »Nein … da ist nichts dran … Natürlich … Selbstverständlich … Wenn das plötzlich erwünscht ist … Zuerst hat es geheißen … Ja, wegen des Gewerbegebiets! … Der Minister soll sich abregen. Ich wollte den Fall ohnehin heute an unsere Spezialisten für Cold Cases geben!«

Poschmann wandte sich abrupt um und beendete das Gespräch. Sein Blick traf Ginas, und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Gute Entscheidung.«

»Da haben Sie jetzt aber Glück gehabt.«

»Sie aber auch. Am Ende werden nämlich Sie die Lorbeeren ernten.« So war das immer, das Fußvolk leistete die Arbeit, und die Vorgesetzten legten sich den Lorbeerkranz aufs Haupt.

»Nur wenn Sie diesen aussichtslosen Fall klären. Aber das werden Sie nicht.«

»Ach, das wissen Sie jetzt schon? Da kennen Sie mich aber schlecht. Ich kann nämlich …«

»Stur sein wie ein Maulesel.«

»Beharrlich, wollte ich eigentlich sagen.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie werden diesen Fall nicht lösen.« Verärgert steckte Poschmann das Handy ein und ließ sie stehen.

Wir werden ja sehen, dachte Gina.

5

Gina wollte den Toten ihre Namen zurückgeben und ihren Familien Gewissheit verschaffen. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, fühlte sie sich nicht mehr zerrissen wie am Morgen, als sie gegangen war, sondern entschlossen.

Tino empfing sie mit Chiara auf dem Arm. »Puh! Unsere Prinzessin hält einen ganz schön auf Trab. Ich bin fix und fertig.«

Gina grinste. »Ach ja? Kinder erziehen ist doch keine Arbeit.« Dieser Spruch stammte von ihrer Schwiegermutter, die ihre Söhne allerdings kaum selbst betreut hatte. Kindermädchen, Kindergarten, und als sie dann in der Schule waren, hatte Rita ihre Familie verlassen. »Gewöhn dir an, mit Chiara Mittagsschlaf zu machen. So habe ich das jedenfalls gehandhabt.«

»Gute Idee. Aber guck mal, was unsere Prinzessin seit heute kann.« Voller Stolz setzte er sie ab, hielt sie aber an beiden Händen. »Na, willst du der Mama mal zeigen, wie toll du laufen kannst?«

Tastend setzte ihre Tochter erst den linken Fuß vor und dann den rechten und dann wieder den linken. Gina trieb es Tränen in die Augen. Endlich lernte ihre Tochter laufen. Sie ging vor ihr in die Hocke und sah ihr bewundernd zu. »Wow, Schatz! Das machst du so großartig.«

»Tosatig. Ara tosatig. Ara Arm.« Hilfe suchend sah sie zu Tino hoch. Die Ergotherapie machte sich endlich bezahlt. Ein Stein fiel Gina vom Herzen.

Nach einem Tag im Büro lechzte Gina nach frischer Luft und schlug vor, in den Biergarten am Flaucher zu gehen. Sie schob den Buggy, und Tino erzählte, dass sie am Nachmittag mit Martina, Paul und Therese im Zoo gewesen waren.

Martina und ihr Mann Oliver waren die Eltern von Paul, einem Jungen mit Downsyndrom. Als Gina und Tino die Familie vor zwei Jahren kennengelernt hatten, erwarteten sie ihr zweites Kind. Therese war gesund zur Welt gekommen und so alt wie Chiara. Tino erzählte nun, wie gut sich die Kleine entwickelte. »Sie ist motorisch unheimlich geschickt. Du hättest sie mal am Klettergerüst sehen sollen. Auch sprachlich ist sie weit.«

Es gab Gina einen Stich, wie er das sagte. »Hab ich da grad eine Spur von Neid gehört?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Es klang so.«

»Ich habe nur festgestellt, dass Therese klettert und sprachlich weiter ist als Chiara.«

»Genau. Du vergleichst. Allerdings Äpfel mit Birnen. Das ist nicht fair. Außerdem entwickeln sich auch gesunde Kinder in diesem Alter sehr unterschiedlich.«

»Das weiß ich doch. Und wenn du mir jetzt unterstellen willst, dass ich Chiara nicht so liebe, wie sie ist, dann bist du diejenige, die unfair ist.«

Tino fühlte sich angegriffen, und das Gespräch drohte sich zu einem Streit auszuwachsen. »Es tut mir leid. So habe ich es nicht gemeint.«

»Ara Affe sehn!«, schallte es aus dem Buggy, und Gina musste lachen.

»Siehst du. Chiara bildet schon Dreiwortsätze.«

»Ja, sie ist ein patentes Mädel«, sagte Tino. »Und wie war dein Tag?«

»Wir haben uns den Fall Altbruck geholt.«

Sie erzählte ihm, wie es dazu gekommen war, und er wünschte ihr Erfolg und die Portion Glück, die sie brauchen würde. Vermutlich brauchte sie weniger Glück als die Hartnäckigkeit, für die sie bekannt war.

Am nächsten Morgen stieg Gina vor dem Institut für Rechtsmedizin aus ihrem alten Golf und bemerkte Holger, der sein Mountainbike ankettete. Weder tropfte ihm der Schweiß von der Stirn noch aus dem Shirt. »Na, lässt du es heute ruhig angehen?«

»Ich mache Grundlagentraining.«

»Aha. Da strengt man sich nicht an?«

»Man trainiert in einem niedrigen Pulsbereich, dafür aber lange. Ich war heute schon zwei Stunden unterwegs. So baut man Körperfett ab und Kondition auf.« Sie sah, wie er sich den Zusatz verkniff, dass diese Art Training für sie genau richtig wäre. Er hatte ja recht. Wie gerne würde sie ihr Vorschwangerschaftsgewicht wieder erreichen. Fünf Kilo sollten runter.

An der Pforte erhielten sie die Auskunft, Dr. Ursula Weidenbach würde sie im Sektionssaal erwarten. Gina ging vor, während Holger mit seinem Rucksack in einem der Waschräume verschwand, um die Sportklamotten gegen ein vorzeigbares Outfit zu tauschen.

Der Sektionssaal war heruntergekühlt und hell erleuchtet. Es roch nach Verwesung und Desinfektionsmittel. Unwillkürlich zog Gina die Fleecejacke enger um sich, die sie eigens für diesen Besuch mitgenommen hatte.

Auf dem Steinboden hallten ihre Schritte nach. Drei Stahltische befanden sich im Zentrum des Raums. Auf einem lag die Leiche eines alten Mannes, ausgezehrt und eingefallen. Hämatome an Handgelenken und Fußknöcheln deuteten auf Fixierungen hin. Vermutlich ein Opfer des Pflegenotstands. Für jeden Scheiß war Geld da! Für Flüsterasphalt auf Autobahnen, für Milliardengräber namens Flughafen und Stuttgart 21, für Prestigeprojekte in Sachen Kultur, doch nicht für eine ordentliche Bezahlung von Pflegekräften, die hinten und vorne fehlten. Wer wollte schon einen Job machen, der psychisch und physisch belastend war, obendrein mies bezahlt, der Nacht- und Wochenendarbeit mit sich brachte und als Sahnehäubchen obendrauf kaum soziale Anerkennung erfuhr? Die Pfleger seien ja selbst schuld, wenn sie diesen Beruf wählten, meinten viele. »Augen auf bei der Berufswahl.« Das hatte tatsächlich ein DAX-Vorstand einer Pflegerin ins Gesicht gesagt, die während einer Talkshow auf den Missstand hingewiesen hatte. Augen auf bei der Berufswahl! Als ob eine Gesellschaft nur DAX-Vorstände bräuchte und niemanden, der die Straßenbahn fuhr, den Müll wegräumte, der Haare schnitt, unsere Einkäufe an der Supermarktkasse über den Scanner zog und die Alten und Kranken pflegte. Gina wandte ihren Blick ab. Etwas lief falsch in dieser Gesellschaft.

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