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Zwei Tote Jugendliche. Eine Mauer des Schweigens. Ein brisanter Fall für Kommissar Dühnfort
Hochsommer in München. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Kommissar Dühnfort wird zu einem Tatort gerufen: Auf einer Baustelle in einem Vorort wurde die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Daniel Ohlsberg wurde in der Nacht durch einen Kopfschuss ermordet. Ein missglückter Drogendeal? Eine Tat im Affekt? Oder von langer Hand geplant? Und wie passt der Selbstmord einer jungen Frau aus Daniels Freundeskreis ins Bild? Unter Hochdruck beginnt Dühnfort mit seinem Team zu ermitteln – und je mehr Lügen sie entlarven, desto sicherer ist er, dass sie einem eiskalten Mörder auf den Fersen sind …
Lesen Sie auch Kommissar Dühnforts neusten Fall: »Der Spieler«.
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Seitenzahl: 474
Inge Löhnigs Krimireihe um Kommissar Dühnfort begeistert seit Jahren viele Leser*innen und erklimmt stets die Bestsellerlisten. Nach mehrjähriger Pause, in denen die Autorin unter dem Pseudonym Ellen Sandberg diverse SPIEGEL-Bestseller wie zuletzt »Keine Reue« und »Das Unrecht« veröffentlicht hat, meldet sich Kommissar Dühnfort nun zurück. Inge Löhnig schreibt seit vielen Jahren erfolgreich Romane und wurde 2022 mit dem Bayerischen Verfassungsorden ausgezeichnet. Sie lebt im Münchner Umland.
Zwei Tote Jugendliche. Eine Mauer des Schweigens. Ein brisanter Fall für Kommissar Dühnfort
Hochsommer in München. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Kommissar Dühnfort wird zu einem Tatort gerufen: Auf einer Baustelle in einem Vorort wurde die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Daniel Ohlsberg wurde in der Nacht durch einen Kopfschuss ermordet. Ein missglückter Drogendeal? Eine Tat im Affekt? Oder von langer Hand geplant? Und wie passt der Selbstmord einer jungen Frau aus Daniels Freundeskreis ins Bild? Unter Hochdruck beginnt Dühnfort mit seinem Team zu ermitteln – und je mehr Lügen sie entlarven, desto sicherer ist er, dass sie einem eiskalten Mörder auf den Fersen sind …
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Außerdem von Inge Löhnig lieferbar:
Der Spieler
www.penguin-verlag.de
Inge Löhnig
Ein Fall für Kommissar Dühnfort
Kriminalroman
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Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverbildung: Getty Images (Taken by Ben!), www.buerosued.de
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32479-7V001
www.penguin-verlag.de
Prüfend hielt Ricarda die Flasche gegen das Licht. Beinahe leer. Ein letzter Schluck floss ins Glas, bevor der Bocksbeutel kopfüber im Kühler landete. Ein leises Klirren. Sie fischte den Rest eines Eiswürfels aus dem Wasser, ließ ihn über Wange und Stirn gleiten, spürte kalte Nässe an ihrer Haut und fächelte sich mit der freien Hand Luft zu. Es war viel zu warm. Und sie war betrunken. Na und? Interessierte keinen.
Die Spaghettiträger des Tops rutschten über die Schultern und gewährten tiefen Einblick. Kritisch zog sie den Stoff von sich und musterte, was von ihrem Busen sichtbar war. Im warmen Schein des Windlichtes sah er ziemlich akzeptabel aus. Harald war allerdings anderer Meinung.
Eine wegwerfende Handbewegung, mit der sie um Haaresbreite das Glas vom Tisch fegte. Er war ein Spinner. Seinetwegen würde sie ihre Brüste nicht machen lassen. Über diese Entscheidung erfreut, schob sie die Träger zurecht. Bis Harald von seiner Geschäftsreise aus Madrid zurückkam, war das Thema vertagt.
Mit einem Zug leerte sie das Glas. Schon kurz nach elf. Den ganzen Abend hatte sie auf dem Balkon zwischen Kübelpflanzen, Teakholzmöbeln und orientalisch anmutendem Firlefanz verbracht und auf ein wenig Abkühlung gehofft. Doch zwischen den Häusern staute sich die Hitze des Tages. Kein Hauch rührte sich. Eine geschlossene Wolkendecke hing am Himmel wie eine Bleiplatte. Feiner Schweiß bedeckte ihre Haut. Sie vermisste den Geruch nach Sommer, nach Getreide und Heu, den der Wind an manchen Tagen von den Feldern und Wiesen herübertrug, die sich zwischen Unterhaching und der Stadtgrenze von München noch behaupteten.
Sie stand auf und lehnte sich ans Geländer. Ein Auto kam die Straße entlang, bog hundert Meter weiter links in den Kreisverkehr und verschwand in der Ausfahrt Richtung München. Eine Weile blickte sie den Lichtern nach, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der gegenüberliegenden Häuserzeile zu. Vier waagerechte Fensterreihen, teilweise von den Kronen der Kastanien verdeckt. In den Wohnungen dahinter war es inzwischen dunkel geworden. Was wohl genau in diesem Moment jenseits der Mauern geschah? Wilder Sex? Streit? Ein schnarchender Mann, eine schlaflose Frau, quengelnde Kinder? Ein einsamer Kerl, der sich einen runterholte? Ihr Blick wanderte weiter und blieb am Rohbau des Wohn- und Geschäftshauses hängen, das zwischen zwei Wohnblocks errichtet wurde. Dort glimmte im ersten Stock ein roter Punkt auf. Jemand stand da und rauchte. Wer wohl? Um diese Zeit. Und warum? Doch zum Denken war es zu schwül. Konnte ihr auch egal sein. Außerdem musste sie mal pullern. Schwankend ging sie hinein. Drei Zimmer. Maisonette. Dummerweise war das Bad oben. Sie schaffte es, ohne zu stolpern ihr Ziel zu erreichen, und erleichterte sich. Wein zu Wasser. Kichernd griff sie nach dem Toilettenpapier. Eine Weile blieb sie noch sitzen, zog den Slip hoch und den Rock herunter, starrte auf das Glasregal über Haralds Waschtisch und hoffte plötzlich inständig, er möge nie aus Madrid zurückkehren. Konnte sein Flugzeug nicht abstürzen?
Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. Nein! Das war ungerecht. Das hatte er nicht verdient. Er war nur ein Blender und Angeber. Wie so viele. Darauf stand nicht die Todesstrafe. Vielleicht suchte er sich ja eine Jüngere, mit den richtigen Brüsten. Dann würde sich das Problem von alleine lösen.
Meine Güte, was dachte sie nur? Sicher lag es an der drückenden Schwüle und natürlich am Wein. Ihr Mund war trocken, die Zunge fühlte sich wattig an, ihre Kehle wie ausgedörrt. Vorsichtig ging sie die Treppe hinunter, hielt sich am Geländer fest und nahm, als sie heil die Küche erreichte, eine Flasche Volvic aus dem Kühlschrank. Mit dem Wasser kehrte sie auf den Balkon zurück. An Schlaf war bei diesem Wetter einfach nicht zu denken.
Im Rohbau gegenüber war es ruhig, das Glimmen der Zigarette erloschen. Der Raucher war gegangen. Sie trank Wasser und hing ihren Gedanken nach. Irgendwann schlug eine Kirchturmuhr Mitternacht. Noch immer kein Windhauch, kein Luftzug, als ob die Nacht den Atem anhielt.
Das Quietschen einer einfahrenden S-Bahn drang leise vom Bahnhof herüber. Aus der Wohnung nebenan hörte sie den Fernseher und von unten sicher gesetzte Schritte. Ricarda sah über die Brüstung. Ein junger Mann mit lockigen Haaren ging den Bürgersteig entlang, die Hände in den Taschen der Bermudashorts vergraben. Er trug Turnschuhe und kickte einen Stein weg. Vor dem Rohbau stutzte er und blieb stehen, drehte den Kopf, als ob er lauschte, und tauchte dann zögernd in den Schatten einer Betonmauer. Weg war er, wie verschluckt. Was machten die Leute nachts auf Baustellen?
Ricarda gähnte. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Sie schob den Stuhl zurück und stand auf.
Etwas knallte. Ein Schuss!
Erschrocken fuhr sie herum und beugte sich über die Brüstung. Ihr Herz klopfte wie rasend. Doch augenblicklich war es wieder still. Kein Schrei. Keine sich hastig entfernenden Schritte. Keine Bewegung. Unsicher stolperte Ricarda in die Wohnung. Ihre Hand bebte, als sie nach dem Telefon griff. Die Notrufnummer wollte ihr nicht einfallen. Einser und Nullen. Doch wie viele und in welcher Reihenfolge? Sie starrte auf das Mobilteil in ihrer Hand. Was sollte sie sagen? Da schießt jemand.
War das wirklich ein Schuss gewesen? Schließlich hatte sie nie einen gehört. Außer in Filmen natürlich. Zögernd legte sie das Telefon zurück in die Ladeschale und ging wieder hinaus. Irgendwo schlug eine Autotür. Ein Motor wurde gestartet. Aus der Straße, die hinter dem Rohbau vorbeiführte, bog ein Lieferwagen in den Kreisverkehr. Ziemlich schnell. Er nahm die Kurve zu eng. Scheppernd touchierte er das Vorfahrtsschild und fuhr weiter. Es blieb weiterhin ruhig. Niemand rief nach der Polizei. Keine heulenden Sirenen, keine zuckenden Blaulichter. Es war nichts passiert.
Kurz nach eins ging sie endlich zu Bett. Aber sie konnte nicht schlafen, wälzte sich unruhig hin und her. Das war doch ein Schuss gewesen. Der Junge war nicht wieder herausgekommen. Ich sollte endlich die Polizei rufen, dachte Ricarda Nowotny. Beim Aufstehen wurde ihr schwindlig. Haltsuchend tastete sie sich an der Wand entlang zum Telefon.
Kurz nach vier gab es einen Platzregen, der die Party an der Isar schlagartig beendete. Mika flüchtete mit Lukas unter die Reichenbachbrücke, während die anderen zur Trambahnhaltestelle in der Eduard-Schmid-Straße liefen. Die Isar rauschte. Der Regen prasselte. Das Licht der Laternen erhellte die Finsternis unter der Brücke nur dürftig. Im Augenwinkel bemerkte Mika eine Bewegung und fuhr herum. Ein Penner saß von Tüten und Bündeln umgeben auf einem Schlafsack. Struppige Haare wie ein Wolf. »Schleichts euch. Des is mei Platz.« Schnaufend stand er auf. Schützend stellte Lukas sich vor Mika und zog eine Flasche Tegernseer aus der Tasche seines bodenlangen schwarzen Mantels. »Ist ja gut. Fünf Minuten. Bis der Regen vorbei ist. In Ordnung?«
Abwägendes Kopfgewackel. »Guad. Des is a G’schäft.« Die Augen des Mannes bekamen einen gierigen Glanz, als er sich die Flasche schnappte. Der Kerl war ihr unheimlich, und er stank wie nie gewaschen. Mika atmete flach. Sie wollte hier weg. Egal, ob sie in ihrer dünnen Bluse und den sünd-teuren Peter-Jensen-Shorts nass bis auf die Haut wurde. Der Penner verzog sich auf seinen Platz.
»Komm, lass uns gehen.«
»In ein paar Minuten ist das Schlimmste vorbei. Besser, wir warten solange.« Lukas senkte den Kopf. Sie mochte seine hellen Augen, seine einfühlsame Art. Nur seinen Kleidungsstil fand sie ziemlich daneben. Gab es Gothic-Emos? Wenn ja, dann traf diese Bezeichnung bei ihm wortwörtlich ins Schwarze. »Der lässt uns in Ruhe. Jedenfalls solang er mit dem Bier beschäftigt ist.«
»Das kann ja nicht lange dauern.«
Nach einigen Minuten ebbte die Sintflut tatsächlich ab, wurde zu einem Vorhang feiner Regenfäden. Mika griff nach Lukas’ Hand. »Zeit, zu verschwinden.«
Sie liefen die Böschung hoch, über den Weg bis zur Trambahnhaltestelle und stellten sich atemlos unter. Die anderen waren schon weg. Vermutlich hatten sie ein Taxi angehalten; um diese Zeit fuhren weder Tram noch S-Bahn.
Mikas Monatsbudget war verbraucht. Eine Taxifahrt also nicht drin. Einen Moment überlegte sie, ihre Mam anzurufen, damit die sie hier abholte. Für Saskia wäre das kein Problem. In ihren Augen war Mika noch immer das kleine Mädchen, das man behüten und beschützen musste, und nicht die Tochter, die gerade Abi gemacht hatte und im Mai volljährig geworden war. Doch seit einigen Monaten setzte Mika ihrer Mutter Grenzen. Und die wollte sie jetzt nicht aus Bequemlichkeit aufgeben. Um Viertel nach fünf fuhr die erste S-Bahn. Bis dahin mussten sie die Zeit irgendwie rumkriegen.
Lukas unterbrach ihre Gedanken. »Wir könnten zu Fuß heimgehen.« Die schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten eines der dunkel umrandeten Augen. »Erstes Vogelgezwitscher am Ostfriedhof. Sonnenaufgang am Giesinger Bahnhof. Frühstück bei mir?«
»Bei diesem Regen?«
»Der hört bald auf.«
Lukas behielt recht. Nach zehn Minuten war der Regenguss vorbei. Im Licht der Morgendämmerung schimmerte der nasse Asphalt. Ein paar Frühaufsteher waren schon unterwegs. Eine alte Frau trug Zeitungen aus. Ein Jogger bog Richtung Isar ein. Am Nockherberg kam ihnen ein Radler in hohem Tempo entgegen. Sie hinauf, er hinunter. Die Tore des Ostfriedhofs waren noch geschlossen. Das Zwitschern der erwachenden Vögel drang über die Mauern. Irgendwo klingelte ein Wecker. Kurz bevor sie den Giesinger Bahnhof erreichten, ging die Sonne auf. Ein milchigroter Ball. Der Morgen umfing sie wie ein warmes, dampfendes Tuch. Schon beinahe fünf. Bald fuhr die erste S-Bahn. Sie beschlossen, auf sie zu warten. Schweigend setzten sie sich auf eine Bank am Bahnsteig und beobachteten, wie die Sonne langsam höher stieg. Irgendwann sagte Lukas, er habe den Song für Isa fertig. Er würde ihn gerne aufnehmen, mit Mika als Sängerin, ob sie Lust habe.
Natürlich. Ein Lied für Isabelle. Ihre beste Freundin. Bald waren es schon fünf Monate.
Die S-Bahn war pünktlich. Drei Stationen bis Unterhaching. Mika fielen beinahe die Augen zu. Sie beschloss, nach Hause zu gehen. Erst schlafen. Dann frühstücken. Da auch Lukas eine Mütze Schlaf brauchen konnte, trennten sie sich vor dem Bahnhof. »Dann bis später.« Er stapfte davon. Eine hagere schwarze Gestalt mit hängenden Schultern. Einen Augenblick sah Mika ihm nach und bog in ihr Viertel ein, das wieder einmal unentschlossen auf sie wirkte. Einfamilienhäuser. Doppelhaushälften. Reihenhausketten. Dazwischen ab und zu ein mehrgeschossiger Wohnblock und kleine Gewerbebauten. Gartenzwerge und Pools. Doppelgaragen und Schrebergartenhütten. Satellitenschüsseln und Alarmanlagen. Gähnend blinzelte sie in die aufsteigende Sonne. Etwas war anders. Was? Es dauerte einen Moment, bis ihr auffiel, dass es in Unterhaching nicht geregnet hatte.
Weiter vorne, bei der Baustelle, standen Polizeifahrzeuge. Was da wohl los war? Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. In der Kaffeerösterei arbeiteten sie also schon. Ein paar Minuten später kam die mediterrane Traumvilla in Sicht, der Stolz ihrer Eltern. Früher hatte sie das Haus auch toll gefunden. Ihr Zimmer mit eigenem Bad und begehbarem Kleiderschrank. Den Pool. Die Marmorbäder mit angeschlossenem Wellnessbereich. Die Designerküche mit amerikanischem Kühlschrank und allem möglichen Schnickschnack. Doch seit Isas Tod erschien ihr all dieser Luxus völlig übertrieben, eitel und unwichtig.
Auf dem Platz vor der Doppelgarage parkte neben Phillips schwarzem Cabrio der Range Rover ihrer Mutter. War sie wieder mal zu faul gewesen, ihn in die Garage zu stellen. Zu Papas Cayenne. Obwohl, der befand sich zurzeit am Flughafen im Parkhaus. Ihr Vater war für zehn Tage in China. Neuerdings interessierten sich die Chinesen für die Photovoltaikanlagen, die er herstellte.
Vier Personen. Drei Fahrzeuge. Das war doch krank. Ihren Eltern war die Kinnlade runtergeklappt, als Mika verkündet hatte, zum Abi kein Auto zu wollen, sondern eine Jahresnetzkarte für die Bahn. Paps hatte geschmunzelt und etwas von verspäteter Pubertät gemurmelt.
Mika tippte den Zugangscode in das Tastaturfeld der Türöffneranlage und betrat das Grundstück. Dieselbe Prozedur an der Haustür. In der Küche nahm sie eine Flasche Bionade aus dem Kühlschrank und ging nach oben. Die Schlafzimmertür ihrer Eltern öffnete sich. Ihre Mutter trat in den Flur. »Bist du endlich da. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Völlig unnötig. Wie du siehst, wurde ich weder von einem Besoffenen überfahren noch von einem Perversen angegriffen. Alles ist gut. Du kannst ruhig weiterschlafen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Mika in ihr Zimmer und warf Schuhe und Tasche auf den Boden. Ein Berg Klamotten lag auf dem Bett. Sie schleppte ihn ins Ankleidezimmer auf den Hocker und blieb vor dem Spiegel stehen.
Sie war schön. Schon immer gewesen. Auch jetzt, nach der durchgemachten Nacht. Seidiges Haar. Gleichmäßiger Teint, gute Figur, lange Beine, gebräunte Haut. Doch es war ihr egal. Vor ein paar hundert Jahren hätte man sie vielleicht als hässlich verspottet. Schönheit, was war das? Wer bestimmte das? Schönheit war ein Richterspruch, ein Urteil, der alle abwertete, die nicht über dieses unverdiente Privileg verfügten. Isa zum Beispiel. Was an ihr schön gewesen war, hatte sie selbst nicht wahrhaben wollen. Ihre Wahnsinns-Porzellanhaut, die großen blauen Augen. Denn sie war dick gewesen. Nicht mollig oder pummelig, sondern dick. Und das allein schien für sie zu zählen. Eine Million Minuspunkte. Und doch war sie die netteste und lustigste Person gewesen, die Mika kannte. Ihre beste Freundin. Und nun war sie schon seit fünf Monaten tot, verrottete ihr Körper in diesem Sarg tief in der Erde, fraßen Würmer sich an all dem satt, was Isa zu viel gewesen war.
Mika schauderte. Fröstelnd zog sie die Arme um die Schultern und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab.
Die Jalousien ließ sie nur zur Hälfte herunter. Dunkelheit machte ihr Angst. Sie nahm das Handy aus der Handtasche, um es auszuschalten, und entdeckte eine SMS. Von ihrer Mutter. Natürlich. Es ist schon nach zwei. Soll ich dich irgendwo abholen? Mika verzog das Gesicht.
Keine weitere Nachricht. Keine SMS von Daniel. Endlich gab er auf. Endlich hatte er verstanden, dass es vorbei war.
Dühnfort ging als Erster ins Bad. Frisch geduscht trat er kurz vor sechs auf den kleinen Küchenbalkon. Die Luft war nach dem Regenguss in der Nacht satt von Feuchtigkeit, der Himmel jedoch wieder von so verheißungsvollem Blau wie beinahe an jedem Tag in den letzten sechs Wochen dieses Jahrhundertsommers. Das Thermometer stand bereits bei zweiundzwanzig Grad. Aus den Lichtinseln, die sich zwischen den Schatten der Bäume auf dem Alten Südfriedhof mit der aufsteigenden Sonne stetig Platz eroberten, stieg die Nässe als feiner Dunst. Die mit Gräsern und Farnen bedeckten Flächen rund um die Gräber dampften. Tropfen funkelten darin, ebenso wie im Efeu, der die verwitterten Grabsteine überwucherte.
Unter Dühnforts Balkon stand seit über hundert Jahren ein Marmorengel am Grab eines Musikers und belächelte gleichmütig die Endlichkeit allen Seins. Daneben, in der Ulme, raschelte es. Eine Krähe landete auf einem Ast, legte den Kopf schief und beäugte Dühnfort. In Nächten wie diesen wird zu viel gefeiert, getrunken und gestritten. In solchen Nächten fallen die Hemmungen, brodeln das Blut und die Gewalt. Und du musst die Scherben wegräumen. Was wird dich heute erwarten?, schien der Vogel ihn zu fragen.
Schritte erklangen. Gina schaltete die Espressomaschine an und kam auf den Balkon. Ihre dunklen Haare waren verstrubbelt, ihr Gesicht verknautscht, die Augen noch klein. »Morgen, Tino.« Erst reckte sie sich, dann ließ sie sich gegen ihn fallen. Er legte seine Arme um sie. Ihr Körper war vom Schlaf noch ganz warm.
»Wir sollten einen Ventilator kaufen. Vorausgesetzt, es gibt irgendwo noch einen.«
»So schlimm?« Aus ihrer Halsbeuge stieg der Duft nach Schlaf, durchtränkt mit Müdigkeit.
»Ich fühle mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Was nicht stimmen kann, denn ich bin ja ständig aufgewacht.«
»Du hast geschlafen. Dafür gibt es einen Zeugen.«
Sie beugte den Kopf zurück. »Du beobachtest mich beim Schlafen?«
»Ich meinte, einen Ohrenzeugen.« Das aufsteigende Schmunzeln unterdrückte er.
Überrascht stiegen ihre Brauen in die Höhe. Ihre Schokoladenaugen wirkten plötzlich wach. »Ich schnarche? Das glaube ich ja nicht.«
»Ziemlich leise. Es war eher ein Pühen.«
»Ein Pühen?«
»Beim Ausatmen spitzt du die Lippen und machst dabei püh.«
Zwei Sommersprossen verschwanden in der Falte an der Nasenwurzel. Das schelmische Grinsen, das er so liebte, erschien auf ihrem Gesicht. »Püh! Äh ... puh! Tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«
»Ich war ohnehin wach. Bei dieser Hitze kann ich nicht schlafen. Wir sollten vielleicht einen Ventilator kaufen?«
»Gute Idee. Warum bin ich nicht längst darauf gekommen?« Sie gab ihm einen Kuss. »Ich gehe jetzt duschen. Eiskalt. Sonst werde ich heute nicht mehr munter.«
Während sie im Bad war, bereitete Dühnfort das Frühstück. Milchkaffee für Gina, Cappuccino für sich.
Ab morgen würde sich die Frage, wer als Erster ins Bad ging, nicht mehr stellen. Ab morgen hatten sie zwei Bäder, zwei Küchen, zwei Wohnungen. Die Nachbarwohnung war frei geworden. Genauso geschnitten wie seine, nur spiegelverkehrt. Gina hatte sie gemietet und der Hausverwalterin die Genehmigung für einen Umbau abgerungen. In einer halben Stunde kamen zwei Polen, die den Durchbruch im Flur machen und die Tür einbauen sollten. Und damit war das Problem des Zusammenziehens endlich gelöst.
Das Frühstück war gerade fertig, als Gina sich zu ihm setzte. Er fragte, ob er morgen nicht doch freinehmen und ihr beim Umzug helfen sollte. Doch sie wiegelte ab. Da sie nur ein Zimmer in ihrer WG bewohnte, gab es nicht viel zu transportieren. Ihre Mutter war arbeitslos. Ferdinand hatte Urlaub. Beide wollten ihr helfen. »Das erledigen wir mit einer Fuhre. Außerdem wirst du eh keinen freien Tag bekommen, jetzt, wo die halbe Mordkommission in Urlaub ist.«
Seit sie offiziell ein Paar waren, arbeiteten sie nicht mehr zusammen, denn Dühnfort war Ginas Chef gewesen. Inzwischen widmete sie sich in der Abteilung von Thomas Wilzoch den ungeklärten Altfällen. Während des Frühstücks erzählte sie ihm von ihrer aktuellen Aufgabe, einem über zwanzig Jahre alten Tankstellenmord, den sie seit gestern wieder aufrollten.
Damals war Alicia Ehlers, Verkäuferin in einer Tankstelle in Milbertshofen, spätabends überfallen, ausgeraubt und bestialisch getötet worden. Der Täter hatte sie gefesselt, ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, diese mit Klebeband verschlossen und die Frau hilflos liegen lassen. Bis heute war ihr Mörder nicht gefasst.
»Sie hatte keine Chance. Der nächste Kunde kam erst dreiundzwanzig Minuten später. Da war sie schon jämmerlich erstickt.«
»Es gibt also ein Überwachungsvideo?«
»Hm.« Gina nickte kauend. »Schwarzweißes Gekrissel. Der Täter war maskiert. Man sieht, wie er sie mit der Waffe bedroht. Sie sagt etwas, das ihn aus dem Konzept zu bringen scheint, denn er tritt einen Schritt zurück, zögert und lässt sogar die Waffe sinken. Doch dann rastet er aus, reißt eine Rolle Klebeband vom Verkaufsständer für Autobastelkram, schnappt sich die Plastiktüte, in der er die Waffe mitgebracht hat, und stürzt sich auf die Frau. Mehr sieht man leider nicht, denn der Rest hat auf dem Boden hinter der Verkaufstheke stattgefunden. Über drei Minuten bleibt er verschwunden. Erst dann taucht er auf, leert die Kasse und geht seelenruhig hinaus.«
»Das ist eine ungewöhnliche Tötungsart. Seid ihr sicher, dass es ein Raubüberfall war, der sich anders entwickelte als geplant? Mich erinnert das Vorgehen an Atemkontrolle und BDSM-Praktiken. War die Kleidung derangiert? Gab es ein Luftloch in der Tüte?«
»Nee, nichts dergleichen. Da ging es nicht ums Ausleben perverser Phantasien. Der Überfall ist aus dem Ruder gelaufen. Alicia muss den Täter erkannt haben.«
»Er war bewaffnet. Weshalb hat er nicht auf sie geschossen?«
»Vermutlich hätte das zu viel Krach gemacht. Die Videothek nebenan hatte noch geöffnet. Ich werde heute die Asservate raussuchen und in die KTU bringen und versuchen, die Zeugen von damals aufzutreiben. Und was steht bei dir an?«
»Papierkram. Der Abschlussbericht im Fall Eigner muss geschrieben werden.« Plötzlich fühlte er sich unwohl. Er saß hier beim Frühstück und unterhielt sich über den qualvollen Tod einer jungen Frau, als wäre er das Selbstverständlichste auf der Welt. Das Klingeln an der Wohnungstür holte ihn aus diesen Gedanken.
»Hoffentlich die Handwerker. Wäre schön, wenn die Tür bis heute Abend drin ist.« Gina ging in den Flur. Dühnfort folgte ihr. Bereits gestern hatten sie Teppich, Kommode und den Garderobenschrank ins Wohnzimmer geräumt. Die Wand war frei und mit einer Markierung versehen, wo der Durchbruch zu Ginas Wohnung gemacht werden sollte.
Der Hausmeister stand auf dem Vorplatz, Seite an Seite mit einem rotgesichtigen Mann mit Halbglatze. Blaue Latzhose, Goldkette mit Kreuz an nackter Brust, die Muskeln eines Bodybuilders und in einer Hand einen 15-Kilo-Vorschlaghammer. »Bin ich Stanislaw. Schickt mir Frau Stock von Hausverwaltung. Komme ich machen Loch in Wand.«
»Und wo ist die Tür?« Gina spähte ins Treppenhaus.
Das Gesicht des Hausmeisters war vom Rauchen gegerbt. Er zog ein Päckchen Gauloises Blondes aus der Tasche seines grauen Arbeitskittels und fingerte nach einer Zigarette. »Die bringt sein Kollege gleich rauf. Die Jungs sind in Ordnung. Keine Sorge.«
Gina schien nicht ganz überzeugt. »Und wo wollen sie den Schutt hintun? In die Hosentasche stecken?«
»Kollege bringt Wanne, Sturz, Mörtel. Alles. Machen wir Ordnung. Nix Sorge. Du beide Polizei. Will nix Ärger mit Polizei. Ist sich alles picobello heute Abend.«
Hoffentlich, dachte Dühnfort. Hinter ihm erklang die Melodie seines Handys, das gleichzeitig einen sirrenden Tanz auf der Ablage aufzuführen begann. Er erwischte es gerade noch, bevor es auf den Boden fallen konnte.
Pia Cypris, Hauptkommissarin beim Kriminaldauerdienst, meldete sich. »Guten Morgen, Tino. Auch wenn das echt kein guter Morgen ist.« Ein abgrundtiefer Seufzer klang durchs Telefon. »Du bist hoffentlich schon auf. Oder habe ich dich aus dem Bett gescheucht?«
»Ich wollte mich grad auf den Weg ins Präsidium machen.«
»Brauchst du nicht. Heute Nacht gab es einen Toten in Unterhaching. Heigl meint, du könntest das mit deinen Leuten übernehmen.«
»Kein Problem. Ist die KTU schon vor Ort?«
»Buchholz hat es sich nicht nehmen lassen, gleich selbst zu kommen.«
»Gut.« Buchholz übersah nichts.
»Na ja. Richtig optimal läuft das im Moment nicht. Gleich wirst du fluchen, so wie ich geflucht habe. Der Tote ist uns abhandengekommen. Er ist bereits auf dem Weg in ein Kühlfach der Rechtsmedizin.«
Erlaubte Pia sich einen Scherz? »Das glaube ich jetzt nicht.«
»Ist aber so. Der Notarzt war schneller als ich. Als ich ankam, war er mit dem Toten schon weg.«
»Bitte? Das musst du mir erklären.«
»Die Kollegen der Schutzpolizei, die als Erste vor Ort waren, haben dem Notarzt geholfen, den Jungen zu drehen, und dabei hat er geseufzt. Auf der Baustelle war es noch dunkel. Im Licht der Handlampen kannst du Wiederbelebungsmaßnahmen vergessen, deshalb haben sie ihn in den Rettungswagen gebracht. Der Notarzt beginnt mit der Reanimation, und ab geht es mit Blaulicht in Richtung Klinik. Unterwegs wurde dann der Exitus festgestellt, und nun bringen sie die Leiche in die Rechtsmedizin. Aber ich schwöre dir, da lag ein Toter und kein Verletzter. Dem hat man den Schädel weggeblasen, laut Aussage der Kollegen fehlt der halbe Hinterkopf. Wieso der noch geseufzt haben soll ... Frag mich was Einfacheres.«
Dühnfort hatte eine Vermutung. »Wenn die Leiche bewegt wurde, kann Luft aus dem Magen entwichen sein. Das hört sich dann tatsächlich wie ein Seufzer an.« Er hatte das selbst einmal erlebt und sich beinahe zu Tode erschrocken. »Ich mache mich sofort auf den Weg. Wohin müssen wir?«
»Anemonenweg, Unterhaching. Bei der Baustelle.«
Er rief erst Alois an, dann Kirsten, die vor vier Wochen Ginas Stelle übernommen hatte. Da sie kein Fahrzeug aus dem Fuhrpark zur Verfügung hatte, bot er an, sie abzuholen. Ihre Wohnung lag ohnehin auf dem Weg.
Mittlerweile hatte Gina Stanislaw gezeigt, was zu tun war. Dühnfort griff nach Sakko und Autoschlüssel. »Ich muss los.« Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss. »Hab einen schönen Tag, ja?«
Als er durchs Treppenhaus ging, trug er ihren Apfelduft noch mit sich, als er vors Haus trat, verflüchtigte er sich bereits, und während der Fahrt verschwand er ganz.
Kirsten wartete am Mangfallplatz vor dem Haus auf ihn. Wenn die Redewendung von der kühlen Blonden je auf eine Frau zugetroffen hatte, dann auf sie. Er wurde mit ihr einfach nicht warm.
Heute trug sie einen schmalen Rock, ein weißes Top und einen leichten Blazer und hätte problemlos als Bankkauffrau durchgehen können. Rein äußerlich passte sie bestens zu Alois. Doch auch er kam mit ihr nicht klar. Die Chemie stimmte nicht. Früher oder später würde es zwischen den beiden richtig krachen. Dühnfort stoppte am Gehweg. Kirsten stieg ein, wünschte ihm einen guten Morgen und fragte, was anstand.
Er erklärte es ihr, während er den Blinker setzte und in den Verkehr einfädelte.
Was er an ihr schätzte, war die Art, wie sie ihren Job erledigte. Strukturiert, zuverlässig, genau mit der Sorgfalt, die er von seinen Mitarbeitern erwartete. Doch ihre abweisende Art ärgerte ihn gelegentlich, vor allem aber verunsicherte sie ihn. Was er über sie wusste, wusste er nicht von ihr, sondern aus den Personalunterlagen. Neununddreißig, Mutter einer Tochter, verwitwet. Bis Mai hatte sie beim Polizeipräsidium Unterfranken in Würzburg Dienst getan und das sehr gut, denn ihre Beurteilungen waren erstklassig. Er nahm an, dass der Tod ihres Mannes Anlass für das Versetzungsersuchen gewesen war. Alles hinter sich zu lassen, was an einen geliebten Menschen erinnert, und neu zu beginnen, war keine ungewöhnliche Reaktion auf einen derartigen Schicksalsschlag. Doch das war nur eine Annahme.
Schweigend sah sie aus dem Fenster. Lediglich die Mitteilung, dass die Leiche nicht mehr am Tatort war, entlockte ihr ein ungläubiges Kopfschütteln. »Das ist ja eine kuriose Geschichte. Vor allem aber erschwert es unsere Arbeit.«
Sie erreichten Unterhaching, einen typischen Münchener Vorort. Wohnblocks, Ein- und Mehrfamilienhäuser und die charakteristischen Reihenhausketten der Achtziger prägten das Ortsbild. Sie erreichten die Ortsmitte mit zahlreichen Geschäften, Volkshochschule und Kulturzentrum, passierten den S-Bahnhof und bogen in ein Wohnviertel ein. Häuserblocks. Kleine Gewerbebetriebe. Dazwischen Doppelhaushälften und Einfamilienhäuser. Der intensive Duft nach frischem Kaffee stieg Dühnfort ebenso plötzlich in die Nase, wie er wieder verschwand. Im Anemonenweg angekommen, entdeckte er weiter hinten in der Straße die Absperrung.
Rotweiße Bänder hingen schlaff im Morgenlicht. Pia hatte den Tatort weiträumig absperren lassen. Einige Mitarbeiter der Kriminaltechnik suchten Gehwege und Gebüsche ab und nahmen in der Einfahrt des Nachbarhauses einen Müllcontainer in Augenschein. Sie waren offenbar auf der Suche nach der Tatwaffe. Wieder einmal erinnerten sie ihn in ihren Einwegoveralls an emsige weiße Käfer. Dühnfort stoppte hinter zwei Einsatzfahrzeugen und den Bussen der Spurensicherung.
Einen Augenblick später fuhr ein schwarzer Mini vor und hielt auf der anderen Straßenseite. Alois war da. Wie immer wirkte er, als hätte er sich soeben in einer eleganten Herrenboutique neu eingekleidet. Heute trug er einen lichtgrauen Sommeranzug mit weißem Hemd, dessen oberster Knopf geöffnet war. Das einzige Zugeständnis an die Hitze. »Guten Morgen, Tino. Hallo, Kirsten. Was steht an?«
Dühnfort erklärte es ihm. Auch die Tatsache, dass sie es mit einem Tatort ohne Leiche zu tun hatten, und woran das lag.
»Ein seufzender Toter? Wenn ich jemals ein Buch über meine Arbeit schreiben sollte, dann wird das der Titel.« Kopfschüttelnd wandte Alois sich der Baustelle zu.
Dühnfort schlüpfte unter der Absperrung hindurch und hielt sie für Kirsten hoch. Dabei betrachtete er das Gebäude. Ein Rohbau für ein Wohn- und Geschäftshaus mit vier Etagen. Noch herrschte hier Ruhe. Und würde auch weiter herrschen. Denn gearbeitet wurde hier heute ganz sicher nicht. Jedenfalls nicht von den Mitarbeitern des Bauunternehmens.
Er sah sich nach Pia Cypris um, einer drahtigen Frau von Anfang fünfzig, und entdeckte sie auf der betonierten Zufahrtsrampe zur Tiefgarage. Sie befand sich im Gespräch mit zwei Männern, denen sie offenbar genau das klarzumachen versuchte. »Vor allem ist das ein Tatort, und der ist gesperrt, beschlagnahmt, nennen Sie es, wie Sie wollen, und Sie können gern Ihren Anwalt bemühen. Er wird Ihnen nichts anderes sagen als ich.« Pia verschränkte die Arme vor der Brust. Zu diesem Thema war aus ihrer Sicht alles gesagt. Das sollte der Mann, der Bauarbeiterhelm zum Anzug trug, langsam mal akzeptieren.
Bauherr oder Architekt?, fragte Dühnfort sich. Der andere, ein stämmiger Kerl mit Bierbauch und muskulösen Waden, steckte in kurzen Twillhosen, Arbeitsschuhen und T-Shirt. Unterm Arm klemmte der Helm. »Was machen wir jetzt, Herr Senftleben? Soll ich die Männer etwa heimschicken?«
»Es sieht nicht so aus, als hätten wir die Wahl. Die Leute bekommen einen Tag frei. Das geht vom Urlaub ab. Damit das klar ist, Herr Schaller.« Senftleben zog sein BlackBerry aus der Sakkotasche und bekam den verärgerten Blick nicht mit, den ihm sein Vorarbeiter zuwarf. Schaller verließ den abgesperrten Bereich und ging zu einem VW-Bus, der jenseits der Absperrung parkte. Hinter den Scheiben erkannte Dühnfort ein halbes Dutzend Köpfe.
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Senftleben Pia.
Ein Schulterzucken war ihre Antwort.
»Haben Sie eine Ahnung, was mich das kostet?«
Bauherr also. Dühnfort begrüßte Pia. Sie sah übernächtigt aus und stellte ihn vor. »Wenden Sie sich an den zuständigen Ermittler. Kriminalhauptkommissar Dühnfort.«
Er nickte Senftleben zu. »Geben Sie mir Ihre Karte. Ich rufe Sie an, sobald wir hier fertig sind. Das kann allerdings zwei Tage dauern.«
»Zwei Tage?« Senftleben zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihm. Er war nicht Bauherr, sondern Bauleiter. »Wer bezahlt den Schaden? Papa Staat etwa?«
»Haben Sie keine Versicherung dafür?«, fragte Alois, der hinzugetreten war.
Der Bauleiter warf ihm einen verärgerten Blick zu.
Dühnfort steckte die Karte ein. »Wir werden nicht unnötig Zeit verlieren. Aber wir machen unsere Arbeit gründlich. Und die hat jetzt Vorrang.«
Resigniert nahm Senftleben das zur Kenntnis und verabschiedete sich. Pia reckte sich. Man sah ihr die Nachtschicht an. Die Fältchen um Augen und Mund wirkten tiefer. Mit einer Hand fuhr sie sich durchs Haar und gähnte. »Schön, euch zu sehen. Machen wir die Übergabe, und dann tue ich es meinen Leuten gleich und fahr heim. Hier ist unser Trampelpfad.« Sie wies auf einen Seiteneingang, den Buchholz mit einem orangefarbenen Band markiert hatte. Diesem folgten sie bis zu einem Vorplatz im Gebäude, an dem die Markierung endete. »Besser, wir bleiben hier stehen, sonst flippt Buchholz aus. Seine Laune ist eh unter dem Gefrierpunkt.« Sie zuckte die Achseln. »Dann wollen wir mal: Kurz nach vier ging der Notruf von Ricarda Nowotny bei uns ein. Sie wohnt im Haus gegenüber und dachte, sie hätte einen Schuss gehört. Die Kollegen von der Streife haben das nicht so ganz ernst genommen und wohl nicht damit gerechnet, eine Leiche zu finden, denn sie sind überall rumgelatscht und haben jede Menge Schuhabdrücke hinterlassen und tatrelevante Spuren vernichtet. Buchholz ist echt sauer.«
Alois schnaubte. »Unbestritten: die Nacht der Profis.«
»Weshalb haben sie das nicht ernst genommen?«, fragte Kirsten.
»Lag wohl an einem Kommentar aus der Notrufzentrale, dass die Anruferin nicht ganz nüchtern klang oder vielleicht einfach nur schlecht geträumt hat. Denn den Schuss will sie bereits Stunden zuvor gehört haben. Das war wohl alles etwas wirr.«
Dühnfort schüttelte den Kopf. »Stunden zuvor? Weshalb hat sie uns nicht sofort gerufen?«
»Sie war unsicher, ob das wirklich ein Schuss war. Und sie hatte guten Grund, ihrer Wahrnehmung nicht so ganz zu trauen. Jedenfalls hatte sie noch eine ordentliche Fahne, als ich vorhin mit ihr gesprochen habe.«
Alois zog sein Notizbuch hervor und notierte Name und Adresse der Zeugin, während Dühnfort sich umsah. In der Ostseite der Fassade befanden sich große Öffnungen. Vermutlich für Schaufenster. Dahinter verlief eine Parallelstraße zum Anemonenweg. Hier einzusteigen und wieder abzuhauen war kein großes Problem. Fluchtmöglichkeiten nach zwei Seiten. Man musste nur die Absperrgitter beiseiteschieben, mit denen die Baustelle nachts vor Diebstahl geschützt wurde. Vor Dühnfort lag blanker Betonboden, stellenweise bedeckt von einer Schicht aus Zementstaub, Sand und Sägemehl. Rechts eine Treppe aus roh betonierten Stufen. Linker Hand ragten Sanitäranschlüsse aus der Wand. Es roch nach Mörtel und Dichtmasse. Gipskartonplatten waren vor einer Wand gestapelt. Im großen Raum mit den Fensteröffnungen arbeitete Frank Buchholz mit einem seiner Kollegen. Er kniete auf dem Boden und beleuchtete mit dem Polilight eine Ansammlung von Zementstaub. Als habe er Dühnforts Blick gespürt, sah er hoch.
Dühnfort hob die Hand. »Guten Morgen, Frank.«
»Hier kommt keiner von euch rein, bevor ich fertig bin. Und dann auch nur in Schutzanzügen und in meiner Begleitung. Wollte ich nur gesagt haben. Nicht, dass es da Missverständnisse gibt.« Grummelnd wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Die Markierung für die Position der Leiche entdeckte Dühnfort gleich hinter der Treppe. Sie war mit der Spurennummer i gekennzeichnet. Pia hielt sich gähnend die Hand vor den Mund. »Also, der Reihe nach: Frau Nowotny saß den ganzen Abend auf dem Balkon. Gegen elf Uhr hat sie bemerkt, dass jemand in der Baustelle an einem Fenster im ersten Stock stand und rauchte. Kurz vor halb eins betrat dann ein junger Mann den Rohbau. Wenig später gab es ein lautes Geräusch, von dem Frau Nowotny dachte, es sei ein Schuss. Doch alles blieb still. Niemand rief nach der Polizei. Frau Nowotny ging schließlich ins Bett, in dem sie sich schlaflos wälzte, bis sie sich dann doch sicher war, einen Schuss gehört zu haben, und endlich den Notruf wählte. Die Kollegen von der PI 28 haben dann den Toten gefunden. Daniel Ohlsberg, zweiundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in der Geranienstraße, fünfhundert Meter von hier. Kopfschuss, sagen die Kollegen. Bei den schlechten Lichtverhältnissen, die nachts hier herrschen, war das kein Zufallstreffer. Ich nehme an, der Schütze kann mit einer Waffe umgehen. Ohlsberg hat die Baustelle am Eingang Anemonenweg betreten, der Täter kam aus der Parallelstraße, dem Petunienweg. Es gibt verwischte Schuhspuren, die darauf hindeuten. Vermutlich hat der Täter hier gewartet.« Pia wies in den Raum, in dem Buchholz arbeitete.
»Was wollte Ohlsberg nachts um halb eins auf dieser Baustelle?«, fragte Dühnfort.
»Anscheinend war er verabredet. Die Kollegen haben nach seinen Papieren gesehen und in der Hosentasche dabei drei Tütchen mit Ecstasy gefunden. Außerdem zweihundert Euro Bargeld. Seine Daten habe ich schon durch den Computer sausen lassen. Der Junge hat vor drei Jahren eine Jugendstrafe kassiert, weil er mit Ecstasy erwischt wurde. Sieht ganz nach einem Mord im Drogenmilieu aus.«
Kirsten, die sich bisher aufmerksam umgesehen hatte, wandte sich an Pia. »Das ist nicht logisch. Wenn es um Drogen und Geld ging, hätte der Täter beides mitgenommen.«
Pia zog die Schultern hoch. »Weiß man doch, wie die im Drogenrausch drauf sind. Ziemlich verquer. Jedenfalls nicht logisch denkend.«
Dühnfort stand neben seinem Wagen und betrachtete den Inhalt von Daniel Ohlsbergs Hosentaschen, den die Kollegen Pia übergeben hatten. Handy, Schlüsselbund und Autoschlüssel. Die Geldbörse enthielt Führerschein, Ausweis, EC-Karte und die Mitarbeiterkarte eines VW-Autohauses in Unterhaching. Drei Euro Kleingeld befanden sich im dafür vorgesehenen Fach. Keine Scheine, nur ein Kassenbon von Aldi. Vier zerknüllte Fünfziger hatte Ohlsberg lose in der Tasche bei sich getragen, sowie drei kleine durchsichtige Plastiktüten mit Druckverschluss, darin je vier weiße Tabletten mit einem eingeprägten Logo, das Dühnfort kannte, im Moment aber nicht zuordnen konnte.
Kirsten trat neben ihn. »Weiße Mitsubishi. Dürften so um die fünfzehn Euro kosten. Das Stück. Je nachdem, wie viel MDA drin ist. Die Menge sieht nicht unbedingt nach Eigenbedarf aus.«
»Scheint so.« Mitsubishi. Genau. Das Logo des Autoherstellers zierte die Tabletten. Manchmal waren es Drachen oder Sterne, Schmetterlinge, Vögel, Herzen oder das Peace-Zeichen. Nun eben das Mitsubishi-Logo. Von null auf hundert in zehn Sekunden.
Alois kam aus dem Rohbau und klopfte sich Zementstaub von der Hose. »Warum hat Daniel sich nachts um halb eins ausgerechnet in dieser Baustelle für einen Deal verabredet? Das hätte er einfacher haben können. Um diese Zeit ist niemand unterwegs.«
Kirsten musterte das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Es war heiß, da schlafen die Leute bei offenen Fenstern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass außer Frau Nowotny niemand etwas gehört hat.«
Die Einschätzung, weitere Zeugen zu finden, teilte Dühnfort. »Übernimmst du die Nachbarschaftsbefragung? Und rede mit der Zeugin, vielleicht fällt ihr ja noch etwas ein.«
Alois, der inzwischen den Inhalt des Spurenbeutels eingehend betrachtet hatte, legte ihn zurück auf die Motorhaube. »Sind die Angehörigen schon informiert?«
Dühnfort verneinte. Alois erklärte sich bereit, das zu übernehmen.
»Wo war Daniel gestern Abend? Welche Kontakte hat er in die Drogenszene? Von wo bezog er das Zeug? All das sollten wir schnell klären.« Dühnfort teilte sein Team ein. Alois würde Daniels Arbeitsplatz aufsuchen, nachdem er die Angehörigen informiert hatte, und mit Chef und Kollegen reden. Kirsten sollte weitere Zeugen finden, und er selbst würde sich in Daniels Wohnung umsehen.
Dühnfort schaute Kirsten und Alois nach. Noch hatte er kein Gefühl für den Tatort und keine Vorstellung von der Tat. Kurzentschlossen verschob er den Besuch in Daniels Wohnung, schlüpfte in einen weißen Einwegoverall, zog Überschuhe an und kehrte entlang des markierten Pfads durch den Seiteneingang zurück an den Tatort.
Buchholz arbeitete noch immer in dem großen Raum, der sich zur Parallelstraße öffnete. Gebeugt stand er vor einer Säule, an der ein Schildchen mit der Spurennummer 15 haftete. Einer seiner Mitarbeiter fotografierte dort. Buchholz griff zur Pinzette, entfernte das Objekt seines Interesses und schob es in eine kleine Plastikschachtel. Dabei entdeckte er Dühnfort, der am Ende der Markierung stehen geblieben war. »Hast du ein paar Minuten für mich?«
»Gleich.« Trotz seiner Körperfülle folgte Buchholz erstaunlich flink einem für Dühnfort nicht sichtbaren Pfad zu einer Alubox, verstaute dort den Beutel und kam dann zum Vorplatz. »So, jetzt kannst du rein. Achte auf die markierten Wege. Dort darfst du rumlatschen. Daneben nicht. Hier gibt es jede Menge Schuhspuren, die noch nicht alle erfasst sind. Und etliche, die wir nicht dokumentieren können, weil die Kollegen und der Notarzt zum Haupteingang rein sind und sich erst einmal gründlich umgesehen haben. Das sollte man denen langsam mal einbläuen, wie man sich an einem Tatort verhält.«
Dühnfort folgte ihm zwischen blauen Kreidestrichen zur Positionsmarkierung der Leiche. »Freihand nach den Angaben der Kollegen gemacht«, meinte Buchholz. »Schaffen die einfach den Toten weg. Ich habe ja schon viel erlebt, aber das noch nicht.«
Ein getrockneter tellergroßer Blutfleck befand sich auf dem Boden vor der Säule, Blut und Hirnmasse waren trichterförmig ausgetreten und hatten sich auf Wand und Boden verteilt. »Bauch- oder Rückenlage?«
»Rückenlage.« Mit der Hand fuhr Buchholz sich über den graumelierten, stoppeligen Schädel. »Der Junge hat die Baustelle am Eingang Anemonenweg betreten. Dort habe ich einen Abdruck von Turnschuhen entdeckt, die sich auch hier finden.« Er deutete auf die Lageposition. »Ich gehe davon aus, dass es die des Opfers sind. Sobald ich die Schuhe habe, wissen wir das sicher. Auf dem Vorplatz hat der Junge gezögert und ist dann weiter. Der Schuss hat ihn von vorne getroffen. Eintritt über dem rechten Auge. Derjenige, der auf ihn gewartet hat, hat das zunächst oben im ersten Stock getan. Dort lagen zwei frische Kippen im Flur, kurz hinter der Treppe, direkt am Fenster, genau wie es die Zeugin gesagt hat.«
»Als Daniel hier ankam, war der Täter also bereits unten und wartete?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat der Junge auf dem Vorplatz gezögert, weil der andere von oben kam. Vielleicht war der aber auch schon hier und lehnte dort an der Säule.« Buchholz wies auf den Pfeiler, an dem er gerade noch gearbeitet hatte. »Ein paar graue Fasern sind dort hängengeblieben.«
Dühnfort sah sich um, zog eine gedachte Linie von der Säule zur Lage der Leiche und verlängerte sie. Weiter hinten standen ein Dutzend Rollen Isoliermaterial. An einer haftete eine Spurennummer. Buchholz folgte Dühnforts Blick. »Das Projektil steckt noch drin. Das holen wir später raus. Eines nach dem anderen.«
»Eine Patronenhülse ...«
»Bis jetzt haben wir keine gefunden. Entweder hat der Täter sie mitgenommen, oder die Tatwaffe ist ein Revolver. Ich nehme an, dass der Täter an der Säule stand, als er den Jungen erschossen hat. Entfernung keine drei Meter.«
»Kann ich rauf?«
»Kein Problem. Oben sind wir fertig.«
»Die Kippen ... Was für eine Marke?«
»Marlboro. DNA bekommst du schnellstmöglich.«
»Danke.«
Dühnfort folgte den Kreidelinien bis zur Treppe und ging nach oben. Ein breiter Flur. Linker Hand eine noch unverputzte Ziegelmauer, davor eine Wand aus Dämmstoffrollen. Rechts Fensteröffnungen zum Anemonenweg. Hier hatte der Täter gestanden. Dühnfort beugte sich vor und konnte die Straße etwa hundertfünfzig Meter in beide Richtungen einsehen. Rechter Hand mündete sie in einen Kreisverkehr. Er versuchte, sich vorzustellen, was geschehen war.
Es ist dunkel, nur die Straßenlaternen spenden trübes Licht. Schon nach Mitternacht, der Anemonenweg liegt ruhig dort unten. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Hier oben steht jemand und wartet. Als er Schritte hört, beugt er sich vor, sieht hinaus. Daniel kommt. Hastig tritt er die Kippe aus, geht nach unten. Und dann? Gab es Streit um Weiße Mitsubishi? Ein Wortgefecht? Eine Rangelei? Der Täter greift zur Waffe und schießt. Oder war es ganz anders?
Dühnfort trat zum Treppenabsatz und rief zu Buchholz hinunter: »Sag mal, Frank, weißt du, ob der Junge bewaffnet war?«
»Nee. War er nicht.«
»Danke.« Dühnfort kehrte ans Fenster zurück. Der Täter geht hinunter, nachdem er Daniel entdeckt hat. Sind die beiden wirklich verabredet? Oder lockt er ihn in die Falle? Daniel betritt die Baustelle, zögert vor dem Treppenaufgang. Warum? Dann nimmt er den anderen wahr, geht auf ihn zu. Der zieht die Waffe und schießt. Ohne Vorankündigung. Ist es so abgelaufen?
Stefan schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich beginne jetzt mit dem Aushub.«
Sie nickte. In den letzten Monaten war er alt geworden. Graue Strähnen zogen sich durchs dunkle Haar, das noch immer dicht und lockig war, so wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Zweiundzwanzig Jahre war das her, und sie liebte ihn noch immer. Vielleicht mehr als je zuvor. Doch sie wusste nicht, was in ihm vorging. Was er dachte, was er fühlte. Er hatte sich hinter Mauern zurückgezogen. Dicken, kalten, abweisenden Wehrbauten. Wie konnte das sein?
Die Tür schloss sich hinter ihm. Marlis Schäfer begann den Frühstückstisch abzuräumen. Zwei Gedecke. Es sah so falsch aus.
Wie jedes Mal, wenn sie an Isabelle dachte, legte sich ein dumpfer Schmerz in ihre Brust. Würde sich das denn nie ändern? Doch eigentlich wollte sie das nicht. Sie wollte den Verlust spüren, sich nie daran gewöhnen, dass Isabelle tot war. Sie wollte daran denken, dass sie jetzt in Südfrankreich sein sollten, alle drei. Der Urlaub war lange geplant gewesen, das Haus gemietet. Ein letzter Urlaub zu dritt, bevor Isabelle für ein Jahr als Au-pair in die USA ging. Ein Haus direkt am Meer. Lavendel und Hortensien. Brandung, Gischt, Sonnenschein, der Duft von Salz, das Geschrei der Möwen. Das pure Leben.
Der kalte Tod.
Ihre Hand zitterte. Die Tassen klapperten, als Marlis sie aufs Tablett stellte. Das Schälchen aus hauchdünnem Glas, in das sie die Kirschmarmelade gefüllt hatte, glitt ihr aus der Hand, knallte auf die Kante der Tischplatte und zerbrach. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken und beobachtete, wie die klebrige, mit Scherben durchsetzte Masse langsam auf den Teppich tropfte. Dreitausend Euro. Ein Ziegler Farahan. Aus dem Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Handgeknüpft von Nomaden. Sie sah Kamele vor sich. Bunte Zelte. Wüste. Sand. Flirrendes Licht. Licht, in dem sich alles auflöste.
Als der letzte Tropfen zäh von der Tischkante lief und auf dem Flor auf seinesgleichen traf, stand sie endlich auf und holte warmes Wasser, ein Tuch und einen Löffel aus der Küche. Nachdem sie das Gemisch aus Scherben und Konfitüre weggekratzt hatte, tränkte sie den Fleck mit warmem Wasser und rieb ihn sorgfältig aus. Keine Seife. Das war wichtig. Seife löste die schützende Lanolinschicht der Wolle. Das hatte der Verkäufer gesagt.
Ein Blütenmuster. Knospen. Blätter. Sie starrte darauf. Ranken mäanderten ins Ungewisse. Sie betupfte die Stelle erneut, rieb den Fleck ganz aus. Gründlich. Sorgfältig. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Wenn sie das tat, würde alles zerstört werden. Der Rest ihres Lebens. Ihre Ehe mit Stefan, die alles war, was sie noch hatte. Ihre Liebe zu ihm hatte sie bisher jeden Morgen davor bewahrt, sich vor die einfahrende S-Bahn zu werfen.
Mit einem Ruck stand sie auf. Schon beinahe neun. Die Sonne stieg höher. Es war Zeit zu funktionieren, zu tun, was getan werden musste.
Sie trug das Tablett in die Küche, schaltete den Geschirrspüler ein, putzte die Arbeitsfläche, polierte die Glastüren von Mikrowelle und Backofen. Dann machte sie die Betten, lüftete, füllte eine Maschine mit Wäsche und leerte den Trockner.
Südfrankreich.
Natürlich waren sie nicht gefahren.
Stefan nutzte den Urlaub, um den Badeteich anzulegen, den Isa sich gewünscht hatte. Vielleicht war das gut so. Er hatte etwas zu tun. Er sprach nicht über Isas Tod. Kein Wort. Nur stumme Vorwürfe. Bis auf ein Mal. Da war er laut geworden. In jener schrecklichen Nacht: Du bist schuld! Du mit deinem verdammten Ehrgeiz!
Doch sie war nicht schuld. Und das wusste er. Sie musste Geduld haben, bis sie ihm das verständlich machen konnte. Sie musste warten, bis er bereit war, zuzuhören und endlich zu reden.
Als es nichts mehr zu tun gab, ging sie in den Wintergarten. Lamellen verschatteten die Glasflächen. Der Ventilator surrte. Hier war es angenehm kühl. Plötzlich fiel ihr das Geräusch auf. Sie hatte es schon seit einiger Zeit gehört, aber nicht bewusst wahrgenommen. Kurz nachdem Stefan vom Frühstück aufgestanden war und gesagt hatte, dass er nun mit dem Aushub beginnen würde, hatte es angefangen. Als ob jemand etwas hackte.
Marlis zog eine Jalousie hoch und blickte in den Garten. Vor ein paar Tagen hatte Stefan vier Pflöcke in den Rasen gerammt, Schnüre gespannt und so Lage und Form des Badeteichs festgelegt. Seit gestern waren die Grassoden abgetragen und entsorgt. Ein leerer Container war für den Aushub bereit. Stefan stand in Shorts und Arbeitsschuhen in der Mitte des Schnurgerüsts, sein kräftiger Oberkörper war nackt. Breitbeinig schwang er eine Spitzhacke und löste mit heftigen Schlägen die harte Erde, griff nach der Schaufel, die am Schubkarren lehnte, und füllte ihn mit Aushub. Muskeln und Sehnen am Rücken traten hervor, als er die Fuhre anhob und damit aus Marlis’ Blickfeld verschwand.
Sie ging in den Flur und öffnete die Haustür. Auf dem Stellplatz stand der Container. Stefan hatte Schalbretter als Rampe angelegt. Darüber balancierte er nun und schüttete die Erde hinunter. Es rumpelte. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Mit dem Handrücken wischte er ihn weg.
»Du wolltest dir doch einen Minibagger leihen.« Schweigen. Ein schmales Lächeln. »Das geht auch so.« Acht mal fünf Meter. Zwei Meter tief. Achtzig Kubikmeter. Sie ging hinein, starrte im Garderobenschrank ihr Spiegelbild an und lehnte den Kopf gegen das kühle Glas.
Das geht auch so.
Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Dabei verlor sie ihn doch schon. Jeden Tag ein klein wenig mehr.
Die kurze Strecke zu Daniels Wohnung im Geranienweg ging er zu Fuß. Ein vierstöckiger Wohnblock aus den achtziger Jahren. Die Rauputzfassade war frisch gestrichen, der Rasen vorm Haus gemäht. An den Balkonen hingen Blumenkästen. Daniels Name stand auf einem Klingelschild der zweiten Etage. Dühnfort zog den Schlüsselbund des Jungen hervor und betrat das Haus. Über die Treppe stieg er nach oben. Die Tür war nicht abgesperrt, nur ins Schloss gezogen. Das war schon ein wenig leichtsinnig.
Die Wohnung lag im Halbdunkel. Dühnfort zog Latexhandschuhe über, schaltete das Licht ein und wartete einen Moment, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten. Ein kleines Appartement lag vor ihm. Flur, Bad, ein Zimmer mit Kochnische. Die Einrichtung war schlicht und stammte bestimmt aus einem Möbelmarkt. Einziger Luxus war ein großer Flachbildfernseher, der an der Wand hing, darunter ein Sideboard mit DVD-Player und Tuner und davor ein modernes Sofa aus Kunstleder. Die herrschende Unordnung erreichte lediglich einen unteren Wert auf der Chaos-Skala. Dühnfort hatte weiß Gott schon Schlimmeres gesehen.
Kleidungsstücke, DVDs, CDs und Computerspiele lagen herum. Das war es dann schon. Keine gammelnden Essensreste, keine stinkenden Abfälle.
PC und Spielkonsole standen auf dem Schreibtisch. Es roch ein wenig nach schmutziger Wäsche und schweißigen Socken. Die Jalousie war halb heruntergelassen. Dühnfort zog sie hoch und blickte sich weiter um.
Hinter einem Paravent mit einem Aufdruck der New Yorker Skyline verbarg sich das Bett. Kissen und Decke steckten in FC-Bayern-Bettwäsche. Auf dem Boden stand eine halbleere Flasche Cola light, und daneben lag ein silberner Bilderrahmen mit der Bildseite nach unten auf dem Teppichboden. Dühnfort nahm ihn hoch. Das Foto eines Pärchens steckte darin. Ein junger Mann mit braunen Locken und einem markanten, eckigen Gesicht. Er lachte in die Kamera. Doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, den Dühnfort schon oft gesehen hatte. Unsicherheit. Das Mädchen, das er im Arm hielt, war von seltener Schönheit. Ein ebenmäßiger Teint, ovale Kopfform mit einem spitzen Kinn, hohen Wangenknochen und schrägstehenden Augen, lange, blond gefärbte Haare, volle Lippen. Ein gewinnendes Lächeln.
Das war also Daniel mit seiner Freundin. Ein auf den ersten Blick sympathischer Junge. Daniel, der nun in einem Kühlfach im Institut für Rechtsmedizin lag, weil ihm jemand eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.
Dieser Silberrahmen. Er passte nicht zu ihm und das Mädchen irgendwie auch nicht. Nur ein Gefühl. Dühnfort stellte das Bild zurück und begann die Wohnung zu durchsuchen.
Die Kontoauszüge wiesen auf den ersten Blick keine Unregelmäßigkeiten auf. Monatlicher Gehaltseingang aus dem Autohaus, in dem er arbeitete. Kein üppiger Verdienst, aber ausreichend. Regelmäßige Abbuchungen von Miete, Nebenkosten, Handyflatrate, Versicherungen und so weiter. Auch die Bargeldabhebungen am Automaten entsprachen dem, was ein junger Mann so brauchte. Ein auf den ersten Blick geordnetes Leben. Weshalb hatte der Junge gedealt? Möglicherweise um den Eigenbedarf zu finanzieren.
Systematisch arbeitete Dühnfort sich durch die Schubladen des Schreibtischs, durch das Chaos im Küchenschrank, durch das Regal im fensterlosen Bad und wurde dabei langsam, aber stetig ungeduldiger. Er sah in Gläser und Flaschen, in Schachteln und Dosen und zwischen Unterhosen und Socken nach. Schließlich hinter der Abdeckung des Spülkastens, im Tiefkühlfach und sogar im Rauchmelder. Keine Spur von Ecstasy. Kein Krümel. Keine dieser Plastiktüten mit Druckverschluss, kein Bargeld. Daniel war offenbar nicht leichtsinnig gewesen. Er musste ein besseres Depot haben. Das zu finden war nur eine Frage der Zeit. Ebenso die Lieferanten und die Kunden. Wenn Daniel ein Adressbuch besessen hatte, war es verschwunden. In der Wohnung entdeckte er keines, und beim Opfer war es nicht sichergestellt worden. Doch wer unter fünfzig besaß heute noch ein Adressbuch? Vermutlich waren die Daten auf dem PC und im Handy gespeichert. Der Rechner war ausgeschaltet. Dühnfort rief Meo an, ihren IT-Spezialisten, und bat ihn, den Computer sicherzustellen und sich auch Daniels Handy vorzunehmen. In Mails und SMS würden sich die gesuchten Informationen finden.
Bevor Meo kam, um die Sachen abzuholen, klickte er sich durch die Kontaktliste in Daniels Handy. Allzu viele waren es nicht, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig, und das irritierte ihn. Er fand keine Nummer der Eltern, nur eine der Oma. Manchen waren Bilder zugeordnet, und dabei entdeckte er das Mädchen von der gerahmten Fotografie. Mika Eckel.
Sie fühlte sich zerschlagen, total müde und gleichzeitig völlig überdreht. Ihr Kopf summte. Bilder und Gesprächsfetzen der vergangenen Nacht blitzten auf wie von Stroboskoplichtern beleuchtet und verschwanden sofort wieder in der Dunkelheit. Es gelang Mika einfach nicht, einzuschlafen.
Unten in der Küche rumorte jemand. Sicher Mam. Vielleicht auch Phillip. Obwohl? Phil eher nicht. Der schlief bestimmt noch. Ihr Bruder hatte den aktiven Teil seines Lebens während der Semesterferien in die Nacht verlagert. Erst wenn Paps aus China zurückkam, musste er wieder spuren. Ab zum Praktikum ins Unternehmen. Schließlich sollte er nach erfolgreichem Physikstudium irgendwann mal die Entwicklungsabteilung leiten, denn früher oder später wollten ihre Eltern die Firma ihren Kindern übergeben. Mika wälzte sich auf die Seite. Einerseits war es ja prima, sich keine Sorgen um die berufliche Zukunft machen zu müssen. Doch die Vorstellung, ihr Leben sei bereits verplant, nahm ihr die Luft zum Atmen.
Stöhnend setzte sie sich auf. Ihr fehlte jede Leidenschaft für BWL. Doch ihre Eltern erwarteten, dass sie genau das studierte. Ganz brave Tochter, hatte sie die Bewerbungsfristen eingehalten und ihre Unterlagen an diversen Unis eingereicht. Beinahe täglich rechnete sie mit einem Bescheid, und da sie ziemlich gute Noten hatte, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie abgelehnt wurde, eher gering. Sie wollte nicht. Nicht BWL. Kunst oder Architektur. Das würde sie reizen. Doch gegen Mam und Paps kam sie einfach nicht an.
Vielleicht hätte sie doch mit zu Lukas gehen sollen. Auf ein Frühstück mit ihrer Mam oder Phil hatte sie absolut keine Lust. Er war einfach nur ein aalglatter Schleimer, der stets sein Fähnchen nach dem Wind hängte. Hauptsache, er erlangte dadurch einen Vorteil. So war er schon immer gewesen, und das würde sich vermutlich nie ändern. Und Mam würde über ihre Arbeit in der Firma reden oder über Klamotten, Kosmetik, Restaurants und in welches Wellnesshotel sie im Herbst fahren sollten. Bei der Vorstellung eines Gesprächs über Belanglosigkeiten hätte Mika am liebsten geschrien.
Seit Isas Tod kam es ihr vor, als ob der Boden wankte, auf dem sie stand. Sie suchte krampfhaft Halt und fand ihn nicht. Etwas verschob und veränderte sich, und das machte ihr Angst. Als ob sie langsam und unaufhaltsam auf einen Abgrund zuschlidderte, unfähig anzuhalten oder auch nur die Richtung zu ändern.
Sie stützte den Kopf in die Hände. Was dachte sie denn da? Lauter trübe Gedanken. Isa würde jetzt sagen: Kopf hoch. Ist alles nicht wirklich schlimm, und irgendwie regelt sich das meiste von selbst. Let’s have fun.
Bei dem Gedanken an Isa zog sich alles in Mika zusammen. Sie fehlte ihr so! Nie wieder freche Sprüche. Nie wieder Isarfeste mit Isa, nie wieder Couchpotato-Abende, nie wieder verstohlene Twilight-Kinobesuche. Sie hatten sich echt unter die schluchzenden Teenies gemischt und mitgeheult, als Bella und Edward endlich Hochzeit feierten.
Warum hast du nicht angerufen, Isa, an jenem Abend? Ich hätte dir zugehört und deine Tränen getrocknet, ich wäre mit dir wütend gewesen auf Sascha, dieses Arschloch, und dann hätten wir gemeinsam über ihn gelästert, bis wir über ihn gelacht und es ihm mit gleicher Münze vergolten hätten. Ich hätte dir das ausgeredet, Isa. Warum hast du nicht angerufen?
Das Summen in ihrem Kopf nahm zu. Die ewig selben Gedanken kreisten darin. Wieder und wieder. Sie stand auf und schlüpfte in Jeans und T-Shirt, steckte Handy und Geldbörse ein. Da kann man nichts machen. Shit happens. Let’s have fun, Mika.
Sie würde jetzt Croissants besorgen und zu Lukas gehen. Barfuß schlich sie die Treppe hinunter. Mam unterhielt sich in der Küche mit der Zugehfrau. Ihre Stimmen drangen gedämpft ins Treppenhaus. Der Marmor fühlte sich kühl an. Mit einem Korb voller Wäsche kam Rosa aus der Küche. Mika legte den Zeigefinger auf die Lippen. Die Zugehfrau verstand, schloss den Mund wieder, den sie bereits zum Gruß geöffnet hatte, und verschwand Richtung Keller. Keine Lust auf Mam. Nicht am frühen Morgen.
Mika erreichte die unterste Stufe, als die Klingel an der Gegensprechanlage erklang und auf dem Monitor, der sich einschaltete, das Gesicht eines Mannes auftauchte. Mist. Noch bevor sie die Eingangshalle durchquert und die Tür erreicht hatte, erschien ihre Mam auf der Bildfläche.
Niemand hätte geglaubt, dass sie schon fünfzig war. Sie sah aus wie die jüngere Schwester von Christine Neubauer. Nur dass ihre Mutter kein Vollweib war, eher ein Magerweib, so superschlank, wie sie war. Size zero kurz vor der Menopause, dachte Mika gehässig.
»Mika?« Sorgenvolle Falten erschienen auf Saskias Stirn. »Du bist so blass. Geht es dir nicht gut?« Ihre Mam war gestylt, als müsste sie in fünf Minuten die Reporter einer Frauenzeitschrift für eine Homestory empfangen. Perfekt geschminkt, manikürt, pedikürt, epiliert und gebräunt. Luftiges Chiffonkleid, Riemchensandalen mit hohem Absatz, dezenter Schmuck. Das braune Haar fiel in weichen Locken über die Schultern und umspielte das faltenfreie Dekolletee. Nur das übliche unverbindliche Lächeln fehlte.
»Ich habe schlecht geschlafen. Das ist alles. Du musst dir nicht ständig Sorgen um mich machen, sonst hilft irgendwann nur noch Botox.«
Die Klingel ertönte erneut. Saskia ging mit einem unwilligen Kopfschütteln über die Provokation hinweg und wandte sich der Gegensprechanlage zu, ließ Mika dabei aber nicht aus den Augen. »Du kannst dich ja nach dem Frühstück wieder hinlegen.« Gleichzeitig drückte sie den Knopf der Anlage. »Ja, bitte?«
»Dühnfort. Kripo München. Ich würde gerne Mika Eckel sprechen.«
Ihre Mam fuhr zusammen, als habe ein elektrischer Schlag sie getroffen. »Kripo? Wieso denn?« Die Stimme bekam einen metallischen Unterton. Das Summen in Mikas Kopf verwandelte sich in ein sphärisches Rauschen. Kann ich Mika sprechen? Isa ist tot. Sie hat sich umgebracht.
»Das würde ich ihr gerne selbst sagen. Kann ich reinkommen?«
»Ja, natürlich.«
Mika wusste es plötzlich: Jemand war gestorben. Ihre Beine fühlten sich schlagartig an wie mit Sand gefüllt. Die Knie gaben nach. Ehe sie es sich versah, saß sie auf der untersten Treppenstufe.
Das leise Summen des Türöffners erklang. »Bist du in Schwierigkeiten?« Mams Röntgenblick heftete sich an sie, versuchte tief in ihr Innerstes vorzudringen. »Hat Daniel dich in irgendwas hineingezogen?«
»Wieso hackst du noch immer auf ihm rum? Ich hab mit ihm Schluss gemacht. Und du hast das sicher mit Champagner gefeiert. Also lass es endlich gut sein.«
Durch die Glasscheibe der Haustür sah sie den Mann näher kommen. Anfang vierzig, dunkle Haare. Chino, Poloshirt. Er sah nicht aus wie ein Kriminalbeamter. Aus der Hosentasche zog er seine Marke und hielt sie hoch, während Saskia bereits die Tür öffnete.
Bitte nicht Paps!, schoss es ihr durch den Kopf. Doch dann wurde ihr klar, dass der Mann in diesem Fall nach Saskia gefragt hätte.
»Dühnfort.« Er reichte Mam die Hand. »Es tut mir leid, so früh zu stören.« Sein Blick wanderte durch die Halle, traf auf Mikas. »Sind Sie Mika?«
Ein mühsames Nicken gelang ihr. »Eigentlich Monika.« Weshalb hatte sie das jetzt gesagt? Sie rappelte sich auf. Mama schaltete sofort auf Gastgeberin um, bat den Mann ins Wohnzimmer, fragte, ob sie ihm etwas anbieten könnte. Kaffee, Tee, Saft? Benommen folgte Mika den beiden, sie fühlte sich wie unter Wasser.
»Bei Kaffee sage ich niemals nein.« Dühnfort hatte ein freundliches Lächeln, das aber sofort wieder verschwand. Mam bot Platz an und ging in Richtung Küche, dabei warf sie Mika einen Blick zu, der zwischen Ratlosigkeit und Panik pendelte. Sie hatte echt Schiss, Daniel habe irgendwas angestellt und sie sei darin verwickelt.
Mika ließ sich auf eine Ecke der Sitzlandschaft fallen. Hinter den Panoramascheiben lag der Garten. Die Wasserfläche des Pools war glatt wie ein Spiegel. Ihr Blick verfing sich in der Eibenhecke und kehrte zu dem Polizisten zurück. Abwartend saß er auf dem Polsterhocker und beobachtete sie.
Die Frage purzelte einfach so aus ihr heraus. »Wer?«
Er verstand sofort. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Es fiel ihm nicht leicht. »Daniel. Daniel Ohlsberg. Es tut mir leid.«
»Daniel?« Nicht Daniel!
Ein glühender Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus, wie ein alles versengendes Feuer. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie kannte ihn ihr Leben lang. Er hatte immer dazugehört. Mal mehr, mal weniger. Aber dazu. Seit sie denken konnte. Und jetzt sollte er tot sein? Das musste ein Irrtum sein. Dühnfort reichte ihr ein Tempo. »Sie sind seine Freundin?«
»Ja ... Nein. Nicht so, wie Sie denken. Wir sind Freunde und waren auch mal ein Paar. Seit einigen Wochen aber nicht mehr. Was ist denn passiert?« Dumme Frage, dachte sie. Zu schnell gefahren, Kontrolle verloren, gegen einen Baum geknallt. Daniel und sein aufgemotzter Golf. Er konnte nicht tot sein.
»Daniel ... Er wurde heute Nacht ... Es ist ganz hier in der Nähe passiert. Vorne in der Baustelle im Anemonenweg. Jemand hat auf ihn geschossen.«
»Geschossen?« Sie klang wie sein Echo. »Wer denn? Warum?« Das konnte doch nicht sein.
»Das wissen wir noch nicht.«
Sie wollte sich das nicht vorstellen. Ein letzter Blick, ein letzter Gedanke, eine erstaunte Frage und alles war vorbei. Von einem Augenblick zum nächsten. Patsch. Aus.