So unselig schön - Inge Löhnig - E-Book
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Inge Löhnig

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Beschreibung

In einer leerstehenden Brauerei im Süden Münchens wird eine enthauptete Frauenleiche gefunden. Kommissar Dühnfort wird bald klar, dass er einen Serientäter jagt, der von Bildern besessen sein muss. Die junge Fotografin Vicki hingegen, die die Leiche gefunden hat, ermittelt auf eigene Faust. Sie kommt dem Mörder schließlich gefährlich nahe...

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Das Buch

Kommissar Dühnforts dritter Fall führt ihn in die Kunstszene. In einer leerstehenden Brauerei im Süden Münchens wird die Leiche einer Frau gefunden. Man hat sie ausbluten lassen und ihr den Kopf abgetrennt. Farbspuren am Torso legen nahe, dass der Täter malt.

Vicki Senger, die Frau, die die Tote entdeckt hat, ist eine 22-Jährige mit bewegter Biographie: Vater unbekannt, Mutter früh verstorben, im Heim aufgewachsen. Ihre erste Liebe kam bei einem Unfall ums Leben. Inzwischen hat Vicki ihr Leben im Griff und betreibt als Hobby »urban exploring«: Sie fotografiert in verlassenen Gebäuden und Industrieruinen.

Bei ihren Ermittlungen stoßen Dühnfort und sein Team auf einen ähnlichen Mord, der sechs Jahre zuvor in Düsseldorf verübt wurde. Damals verdächtigte man einen Studenten der Kunsthochschule, der heute als der Maler Carne sein Kindheitstrauma mit brutalen Schlachthausdarstellungen zu verarbeiten sucht. Zwei weitere Männer geraten ebenfalls ins Visier der Ermittler: René Fuhrmann, ein Schönheitschirurg, und Jobst Wernegg, der eine wohltätige Stiftung leitet. Sie sind befreundet und sammeln beide altmeisterliche Vanitasgemälde.

Auch Vicki geht die Tote nicht aus dem Kopf. Auf einem der Fotos, die sie in der Brauerei gemacht hat, entdeckt sie einen Hinweis, der mit dem Mord zu tun haben könnte. Ohne die Polizei einzuschalten, beginnt sie zu recherchieren …

Die Autorin

Inge Löhnig hat Graphik-Design studiert und sich nach einer Karriere als Art-Directorin in verschiedenen Werbeagenturen selbständig gemacht. Heute lebt sie als Graphik-Designerin und Autorin mit ihrer Familie bei München. So unselig schön ist der dritte Kriminalroman in der Serie mit Kommissar Dühnfort.

Die Website der Autorin: www.inge-loehnig.de

Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Kommissar-Dühnfort-Serie:Der Sünde SoldIn weißer StilleSo unselig schönSchuld währt ewigVerflucht seist duDeiner Seele GrabNun ruhet sanftSieh nichts BösesAußerdem:Gedenke meinMörderkind

Inge Löhnig

SO UNSELIG SCHÖN

Kriminalroman

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN978-3-8437-0066-5

Neuausgabe im List TaschenbuchList ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuni 2017© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Getty Images / Kollektion Moment Open / © Ray Wise (Landschaft)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wieetwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oderÜbertragung können zivil- oder strafrechtlichverfolgt werden

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Henrik.

Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen

Die Teufelsschar, die uns zerstören muss,

Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss,

Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.

PROLOG

Das Licht des Tages fiel durch das Atelierfenster auf eine Leinwand und beleuchtete, wie durch ein seidenes Tuch gefiltert, gleichmäßig und weich, eine zierliche, mit Erdbeeren gefüllte Porzellanschale, die am Rande des Bildes im Hintergrund verschwamm. Das Rot einiger Beeren schälte sich aus den umbrafarbenen Schatten, drängte sich ins Licht. Die Spitze eines Pinsels näherte sich und tupfte einen Hauch von Zinkweiß über mit Siena abgedunkelte Bereiche und verlieh so den Früchten Plastizität.

Der Maler trat einen Schritt zurück, kniff die Augen ein wenig zusammen und prüfte, ob die erwünschte Wirkung erzielt war, indem er sie mit der Vorlage auf der anderen Staffelei verglich.

Perfekt.

Seine Schultern waren nach zwei Stunden Arbeit verspannt, er legte Pinsel und Palette beiseite und reckte sich. Genug für heute. Sorgfältig säuberte er die Malutensilien, holte dann Glas und Flasche aus einem Schrank in der Ecke, schenkte sich einen Grappa ein, kehrte zur Staffelei zurück und betrachtete das noch unvollendete Gemälde.

Der Geruch des Getränks vermischte sich mit den Ausdünstungen von Ölfarbe und Malmittel. Mit einem Schluck leerte er das Glas, fühlte ein Brennen in Mund und Kehle und einen Augenblick später im Magen.

Die Schale voller Erdbeeren war ihm gut gelungen, und die Entscheidung, nur die Früchte zu zeigen und auf die Darstellung der Blüten zu verzichten, erwies sich als richtig. Schließlich schrieb Ovid in seinen Metamorphosen von den zwanglos gewachsenen Speisen, von denen die Menschen des Goldenen Zeitalters sich ernährt hatten, und nicht von den Vorstufen ihrer Entstehung, den Blüten, die außerdem für Reinheit standen. Und Reinheit war in diesem Gemälde so fehl am Platz wie eine Hure im Kloster.

Das Goldene Zeitalter. Der Garten Eden. Das Paradies. Die Erdbeeren waren ein Symbol dafür. Ein winziges Detail am Rande, ebenso wie die Tulpen, die sich gleichfalls im Bildhintergrund versteckten. Zeichen kostbarer Schönheit und Vergänglichkeit angesichts des Todes. Nichtigkeiten, nette Spielereien. Nur jene, die ihre Bedeutung kannten, wären in der Lage, in diesem Gemälde zu lesen, seine wahre Botschaft zu entschlüsseln. Aber niemand würde es je zu Gesicht bekommen.

Er schenkte sich einen weiteren Grappa ein, schaltete die Musikanlage an und setzte sich in den abgewetzten Ledersessel, der in einigem Abstand zur Staffelei stand.

Während er trank, einem Streichquartett von Henryk Górecki lauschte und das Licht allmählich silbrig wurde, sich die Dämmerung herabsenkte und sich das im Werden begriffene Bild in Schatten hüllte, bis nur noch der marmorweiße, noch nicht ausgearbeitete weibliche Torso im Zentrum der Leinwand im Zwielicht schimmerte, fragte er sich wieder einmal, warum er diese Bilder malte. Ihre ihm tiefen seelischen Frieden gebende Wirkung war ihm ein Rätsel. Und wie immer, wenn er versuchte die Ursache dafür zu ergründen, begann er zu frösteln, erschien es ihm, als irre er durch Nebel wie ein Kind, das sich verlaufen hatte.

Kälte breitete sich in ihm aus. Mit einem weiteren Schluck aus dem Glas vertrieb er sie, lehnte den Kopf in den Nacken.

Seit die Unruhe ihn erneut ergriffen und er vor einigen Wochen diese Vase gekauft hatte, diesen Sarg aus Kristall, wusste er, dass es wieder so weit war, worauf es hinauslaufen würde.

Er schloss die Augen, verfolgte, wie die Musik sekündlich an Tempo gewann, Fahrt aufnahm, wie sie von einem leisen, traurigen Celloton zu einem unheilschwangeren Brausen anschwoll, zu einem dem Abgrund entgegeneilendem Jagen wurde, über dem dennoch ab und an ein hoher, hoffnungsvoller Ton schwebte, sich zu behaupten versuchte, obwohl es keine Rettung gab.

MONTAG, 7. JUNI

Die Gummistiefel. Genau. Das war es. Vicki zog sie aus dem Regal, schlüpfte hinein und betrachtete ihr Spiegelbild. Gute Entscheidung. Die Stiefel eines englischen Herstellers, die sie vor zwei Wochen auf dem Flohmarkt gekauft hatte, reichten ihr bis über die Waden. Sie waren zwar von edler Herkunft, doch beinahe eine Antiquität und daher von undefinierbarer Farbe. Irgendwas zwischen Cheddar und Moorleiche. Vickis Blick wanderte die langen Beine entlang über die umgekrempelte Kante ihrer Khakishorts bis zum breiten Hüftgürtel, der dem weißen Herrenhemd Form gab. Es bauschte sich um ihren Körper, verbarg Taille und Oberweite. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu und bürstete die braunen Locken aus dem Gesicht.

Die Kirchturmuhr schlug acht. Mist. Schon so spät! Seit Vicki auf den Kauf der Monatsfahrkarte verzichtete und mit dem Rad zur Arbeit fuhr, hatten ihre Verspätungen wieder das Vorjahresniveau erreicht, und Clara Mohn, ihre Chefin, war zwar nett und leidensfähig, aber auch ihre Geduld war begrenzt und näherte sich langsam einem kritisch tiefen Pegelstand.

Mit der Linken griff Vicki nach dem MP3-Player und stopfte ihn in die Hosentasche, mit der Rechten legte sie sich das Kopfhörerkabel um den Hals und öffnete das Terrarium.

Epiktet schlief noch. Sie goss Wasser in die Schale, legte ein Stück Gurke auf den Futterplatz und pflückte ein Büschel vom Klee, den sie eigens in einem Blumenkasten für Adrians Schildkröte zog. Der Gedanke an Adrian ließ sie für einen Augenblick innehalten. Dann legte sie das Grünzeug ab, schloss die Abdeckung wieder, griff nach dem Rucksack und verließ ihre kleine Wohnung.

Es war warm, die Sonne stand an einem makellosen Himmel. Das Rad lehnte im Hof an der Hauswand. Vicki zog die Träger des Rucksacks über die Schultern, stöpselte die Ohren zu und schaltete Johnossi an.

Pünktlich um halb neun sollte sie an ihrem Ausbildungsplatz erscheinen. Eigentlich nicht machbar, dennoch war es einen Versuch wert. Sie schwang sich aufs Rad, fuhr verkehrt durch die Einbahnstraße und wechselte an der Brücke, die über den Hachinger Bach führte, auf die richtige Fahrspur. Während sie in die Pedale trat, nahm sie kaum die ehemaligen Bauernhäuser wahr, die inzwischen als Lager und Büros dienten oder Wirtshäuser und Restaurants beherbergten. Perlach war schon lange kein Bauerndorf mehr, es war in der Stadt München aufgegangen wie ein Eimer Wasser in einem See.

Ba ba ba bamm bamm, ba ba ba bamm bamm, grölte Johnossi und gab so den Takt für die Trittfrequenz vor. Am Pfanzeltplatz bog Vicki Richtung Neuperlach ab, durchquerte Hochhausschluchten, überfuhr eine rote Ampel, ein Autofahrer hupte. Sie radelte die Carl-Wery-Straße entlang, ließ Siemens links liegen. Die Kanten der Gummistiefel scheuerten an den Schienbeinen, ihr Atem flog. Am Bahnübergang war natürlich die Schranke geschlossen und klaute ihr wertvolle Minuten. Um zwanzig vor neun erreichte Vicki keuchend Claras Reisebüro im Münchener Vorort Ottobrunn.

Sie sperrte das Rad ab und betrat ihre Arbeitsstelle. Natürlich waren schon alle da. Clara saß im ärmellosen schwarzen Leinenkleid vor ihrem PC. Ihre blauen Augen leuchteten unter dem weißen Bubikopf hervor und mit einer Kette aus dicken Lapislazuliperlen um die Wette. Henriette, die gerade die Kaffeemaschine anwarf, trug roséfarbene Ballerinas, roséfarbene Caprihosen in geschätzter Größe achtunddreißig und damit geschätzte zwei Nummern zu klein und dazu eine wallende Blümchenbluse in zahlreichen Fliedertönen. Steffen, der Praktikant mit Akneproblem und Igelfrisur, wuchtete einen Karton mit Prospekten auf den Tisch.

»Wollt’ nur sagen, ich bin da!« Vicki machte auf dem Absatz kehrt.

»Eine Fata Morgana«, hörte sie Clara noch erwidern, bevor die Tür hinter ihr zuschlug.

Vicki zog Gummistiefel und Socken aus, klemmte sie unter den Arm und ging barfuß zur Apotheke auf der anderen Seite des Platzes. Es bimmelte, als sie eintrat. Hinter der Theke stand eine Frau, die den Eindruck erweckte, ebenso frisch gestärkt und gebügelt zu sein wie der weiße Kittel, den sie trug. Ihr Blick glitt an Vicki herab und blieb an den Schienbeinen hängen. Dort hatten die Kanten der Stiefel aufgescheuerte Streifen hinterlassen. »Das sieht ja schlimm aus.« Sie klang besorgt.

»Ist nicht so wild. Haben Sie Bepanthen?«

Die Apothekerin brachte eine Packung. »Macht vier fünfzig.«

Vicki schluckte. »Gibt’s vielleicht eine Tube für Singles?«

Aus einer Schublade holte die Frau eine angebrochene Tube Wundsalbe und zwei einzeln verpackte Streifen Hansaplast hervor. »Dort hinten können Sie sich setzen.« Sie zeigte auf einen Stuhl, der zwischen einem Verkaufsdisplay für Sonnencreme und einer Schütte mit Sonderangeboten stand, und drückte Vicki die Sachen in die Hand.

»Danke. Das ist echt nett von Ihnen.« Ein solcher Satz wäre ihr noch vor zwei Jahren nicht über die Lippen gekommen.

Vier fünfzig. Das waren ungefähr null Komma sieben Prozent ihres Monatsbudgets. Sie verarztete die Wunden, bedankte sich nochmals bei der Apothekerin und ging. Aber nicht gleich zurück ins Reisebüro, sondern erst in die Bäckerei nebenan, wo sie sich eine Breze fürs Frühstück kaufte. Fünfzig Cent. Sie kramte in den Tiefen ihres Rucksacks nach der Geldbörse und fand sie unter Adrians Kamera.

Als sie das Reisebüro wieder betrat, saßen alle an ihren Plätzen. Der erste Kunde war da und wurde von Clara bedient. Gut so. Konnte sie sich erst mal abregen. Henriette hing am Telefon und erklärte jemandem, dass die Kataloge für die Wintersaison erst Ende August kämen. Steffen machte Ablage. Depperlarbeit für Praktikanten.

Vicki stellte Stiefel und Rucksack unter ihren Schreibtisch und bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass ihr Deo versagt hatte. Barfuß ging sie nach hinten zur Personaltoilette. Auf dem Weg dorthin registrierte sie, wie Claras Blick an ihren nackten Füßen hängenblieb, wie der von Steffen ihre Waden bis zum Saum der Shorts hochwanderte und Henriette den pink geschminkten Mund verzog.

In Henriettes Kosmetikdepot fand Vicki zwischen Lippenstiften, Erfrischungstüchern, Parfumproben und diversen Handcremes einen Deostift. Sie schraubte ihn auf und roch daran. Ging so.

Einen Augenblick später war ihr Problem behoben. Aus der kleinen Küche hinter dem Verkaufsraum holte sie sich einen Becher Kaffee und kehrte an ihren Platz zurück.

Claras Kunde war im Begriff, den Laden mit einem Stapel Prospekten unterm Arm zu verlassen, entdeckte dabei die Spendenbüchse und las den Aufkleber, den Vicki selbst gestaltet hatte. Seine Stirn runzelte sich. »Therapeutisches Reiten«, murmelte er. »So ein Schmarrn.« Kopfschüttelnd ging er zur Tür.

Vicki griff sich die Dose und eilte ihm nach. »Das ist kein Schmarrn. Es hilft den Kindern, Sicherheit und Vertrauen zu gewinnen.«

Der Mann blieb stehen und musterte sie. Mit seinen über die Halbglatze gequälten grauen Strähnen erinnerte er sie an ihren Geschichtslehrer, den hatte sie echt nicht ausstehen können. »Wenn es so sinnvoll ist, weshalb müssen Sie dann dafür sammeln? Weshalb wird das nicht vom Träger des Kinderheims oder von der Krankenkasse finanziert?« Seine buschigen Brauen stiegen in die Höhe.

»Weil kein Schwein …« Okay, dachte Vicki im selben Moment beschämt, so geht es nicht. »Die Mittel sind knapp, und im laufenden Haushalt des St.-Michael-Hauses war nichts mehr übrig fürs Reiten«, korrigierte sie sich. Das klang doch schon besser. Sie reckte die Schultern.

Der Mann runzelte die Stirn. »Und was haben Sie damit zu tun?« Sein Blick wanderte von der Büchse zu Clara Mohn, die von ihrem Schreibtisch aus das Gespräch verfolgte, und wieder zurück zu Vicki.

»Ich arbeite ehrenamtlich für das Kinderheim. In meiner Freizeit betreue ich eine Gruppe von Kindern im Alter von vier bis acht Jahren, die traumatische Erlebnisse zu verarbeiten haben. Eine Reittherapie würde ihnen helfen, die besser zu bewältigen.« Vicki war stolz auf sich. Das war druckreif gewesen.

»Ehrenamtlich. In Ihrer Freizeit. Respekt.« Der Mann zog seine Geldbörse aus der Hosentasche, entnahm ihr einen Fünfeuroschein, faltete ihn zusammen und stopfte ihn durch den Schlitz der Sammelbüchse.

Fünf Minuten reiten, dachte Vicki. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. »Danke.« Sie schenkte ihm ihr strahlendes Schnorrerlächeln, das sie sich aus ihrer Zeit auf der Straße bewahrt hatte, und hielt ihm die Tür auf.

Der Flohmarkt, den sie gemeinsam mit dem Pfarrgemeinderat zugunsten des St.-Michael-Hauses plante, würde hoffentlich mehr bringen. Aber das eigentliche Ziel war in utopischer Ferne. Wie sollte sie jemals die fünfeinhalbtausend Euro zusammenkriegen, die nötig waren, um für vier Kinder ein Jahr lang Reittherapie bezahlen zu können?

Clara räusperte sich.

Vicki drehte sich um. Es war Zeit für das Donnerwetter.

»Sorry, tut mir wirklich leid. Ich hab ja versucht pünktlich zu sein.«

»So geht das nicht, Vicki. Pünktlichkeit ist eine Form von Höflichkeit …«

»Mit dem Rad brauche ich einfach …«

»Dann musst du dir angewöhnen, früher aufzustehen. Und andere ausreden zu lassen gehört ebenfalls zum guten Benimm.«

Ach nee, dachte Vicki und fing Steffens kumpelhaftes Grinsen auf. Der sollte sich da mal raushalten. Das ging ihn gar nichts an. Clara war schon okay. Vicki schnitt Steffen eine Grimasse und ließ die Predigt über sich ergehen. Ihre Chefin war wirklich in Ordnung. Sie hatte ihr als Einzige eine Chance gegeben.

Ein Jahr war es nun her, seit Vicki begonnen hatte, ihr Leben umzukrempeln. Diesen Tag würde sie nie vergessen, besser gesagt jene Nacht. Eine laue Frühsommernacht im Juni.

Der Tag war gut gelaufen und die Stadt voll spendierfreudiger Touristen gewesen. Vom geschnorrten Geld hatte sie Hamburger und Dosenbier gekauft und sich abends im Park am Marienhof mit Paul und Adele getroffen. Bis Paul loszog, um noch irgendwas zu besorgen, und Adele zum Abendessen zu ihrer Oma ging.

Vicki blieb alleine zurück. Die Sterne standen am Himmel. Sie dachte an Adrian, an Paris, an die wenigen Wochen. Plötzlich klingelte ein Handy. Es lag unter der Bank. Vicki hob es auf und meldete sich. Irgend so ein Arsch war dran, der ihr erklärte, das sei sein Handy und ein superteures Teil und wenn sie es nicht augenblicklich zurückbringe, dann bekomme sie Stress mit der Polizei. Als hätte sie das Ding geklaut. Sie handelte einen Finderlohn aus und machte sich auf den Weg. Restaurant Dukatz in den Fünf Höfen. Nur ein paar Minuten zu Fuß. Als sie fast da war, bog ein Streifenwagen in die Theatinerstraße ein. Der Typ wollte sie linken! Augenblicklich wandte Vicki sich Richtung Rathaus. Am Fischbrunnen setzte sie sich auf die Stufen, wählte die Nummer der Telefonauskunft und fragte nach der Zeitansage in Tokio. Eine freundliche Frauenstimme nannte sie ihr und wollte anschließend wissen, ob sie gleich verbinden sollte.

»Das wäre sehr nett«, säuselte Vicki.

Es klingelte mehrmals, dann meldete sich eine Männerstimme. »Telefonseelsorge München. Wie kann ich helfen?«

Vielleicht waren drei Dosen Bier zu viel gewesen, vielleicht hatte sie diese Last aber auch schon zu lange mit sich herumgetragen, vielleicht waren auch die Sterne schuld, diese Wegweiser in die Unendlichkeit, und bis heute wusste Vicki nicht, ob die Frau von der Telefonauskunft sich verwählt oder einen Spaß mit ihr getrieben hatte. Jedenfalls hatte sie sich in dieser Nacht auf Kosten eines reichen Arschs alles von der Seele geredet, bis der Akku leer gewesen war und sie das superteure Teil im Fischbrunnen versenkt hatte. Die letzten Worte des Mannes, der ihr ewig zugehört hatte, waren zu ihrem Lebensmotto geworden: »Wer sein Leben ändern will, sucht Wege, und wer nicht, der sucht Gründe. Also, Pfadfinderin, mach dich auf die Suche!«

»Hörst du mir überhaupt zu?« Clara fixierte sie mit strengem Blick.

Vicki fuhr aus ihren Überlegungen hoch. »Doch. Ja. Es tut mir leid. Echt. Aber es war ja nur eine Viertelstunde.«

Auf Claras Gesicht erschien ein widerwilliges Lächeln. »Wenn man bedenkt, dass du anfangs gleich stundenweise zu spät gekommen bist … vielleicht schaffst du es bis zum Ende deines ersten Lehrjahres ja wenigstens ein Mal, um halb neun hier in Erscheinung zu treten. Und jetzt mach dich an die Arbeit. Es gibt Flüge und Hotels für Hofmann Logistics zu buchen. Der halbe Laden fliegt zu einem Kongress nach Boston. Ich habe dir die Daten hingelegt. Über dein Outfit reden wir heute Mittag.«

Uuups, dachte Vicki, zog eine Schnute, stellte die Sammelbüchse zurück an ihren Platz und startete den PC.

Bis zur Mittagspause hatte sie Flüge und Hotels für den Firmenkunden gebucht, außerdem ein älteres Ehepaar beraten, das eine Kreuzfahrt machen wollte, einem jungen Paar eine Pauschalreise nach Antalya verkauft und eine weitere Spende von drei Euro erhalten.

Um zwölf schloss Clara das Büro für eine Stunde. Sie wohnte in der Nähe und ging wie immer nach Hause, um Clyde, ihren Golden Retriever, Gassi zu führen.

»Dann bis später.« Die Türe schloss sich hinter Clara. Henriette war schon weg. Sie traf sich mit einer Freundin beim Griechen in der Nähe des Bahnhofs.

»Soll ich dir was vom Metzger mitbringen?« Steffen trat hinter sie und sah ihr über die Schulter.

Vicki blickte auf. »Gerne. Eine Leberkässemmel.« Die war billiger als die Schinkensemmel neulich. Ganz zu schweigen von dem Camembertbaguette, das sie sich vor einigen Tagen in einem Anfall von Luxus gegönnt hatte.

»Sonst nichts?«

»Dessert habe ich dabei.« Vicki deutete auf den Apfel, der neben der Tastatur lag, und holte dann das Geld für ihr Mittagessen aus dem Portemonnaie.

Als auch Steffen gegangen war, loggte sie sich auf der explore-muc-Website ein. Seit einigen Wochen war sie dort Mitglied. Anfangs hatte sie nur die Fotos angesehen, im Forum mitgelesen, sich dann aber getraut, ihre ersten eigenen Urban-Exploring-Bilder online zu stellen. Aufnahmen, die sie in einer verlassenen Schraubenfabrik im Münchner Norden gemacht hatte. Sie waren echt gut geworden. Hartes Licht und starke Kontraste, wie beim Foto der Fensterfront mit den zerbrochenen Scheiben. Es wurde durch die senkrechten Streben strukturiert und lebte durch ein Spiel von Schärfe und Unschärfe. Ihr Lieblingsbild war jedoch Die Kathedrale. So nannte sie eine Aufnahme der leeren Maschinenhalle. Vicki hatte dabei aus dem Schatten heraus in den durch die zerborstenen Oberlichter beleuchteten Saal fotografiert. Waagerechte und senkrechte Stahlträger. Weiches Licht. Einige Sonnenstrahlen, die sich in der staubigen Luft fingen. Eine Birke spross aus einer Ritze des längst im Wechselspiel von Hitze und Frost geborstenen Betonbodens, wie ein anbetungswürdiges Symbol für die Kraft der Natur.

Geiles Bild, hatte Kai es kommentiert. Kai war der Betreiber der Site und des Forums. Sie hatte ihn im April kennengelernt, als er ihr auf dem Flohmarkt eine Bratpfanne vor der Nase weggeschnappt hatte, indem er fünfzig Cent mehr geboten hatte. Krösus, hatte sie ihn beschimpft, obwohl er wirklich nicht wie der Sohn reicher Eltern aussah, eher wie ein armer Student, was er auch tatsächlich war. Das hatte sich bei einem Becher Kaffee herausgestellt, zu dem er sie eingeladen hatte, nachdem sie ihm auf der Heimfahrt in der U-Bahn erneut über den Weg gelaufen war. Kai studierte Informatik im vierten Semester; sein Hobby war das Fotografieren verlassener Industriebrachen. Er war ein Urban Explorer. Genau wie sie. Eigentlich gefiel Vicki die Bezeichnung Stadtromantiker besser, denn nichts anderes waren sie. Romantiker, die die Schönheit und Vergänglichkeit verlassener Fabriken, vom Abriss bedrohter Häuser, Hallen und Industriekomplexe dokumentierten und so in eine Zukunft retteten, in der sie nicht mehr existieren würden. Ganz legal war das nicht. Meistens begingen sie zumindest Hausfriedensbruch, um sich Zugang zu verschaffen, manchmal auch Sachbeschädigung. Aber sie klauten nichts, zerstörten nichts, sprühten keine Graffiti an die Wände und nahmen sogar ihren Müll wieder mit, egal wie viel davon schon herumlag.

Vicki klickte sich durch die Seiten, las im Forum von einer preiswerten Taschenlampe, die es bei einem Kaffeeröster gab, und sah sich Kais neue Bilder an. Er war tatsächlich in die Schwimmhalle eines seit Jahren verlassenen Hotels in der Nähe des Wörthsees eingestiegen. Ihr gefielen die Geometrie in seinen Bildern und das Spiel mit Licht und Schatten, das er perfekt beherrschte. Eine Aufnahme hatte er am Boden des Beckens stehend gemacht. Eine Senkrechte, wo Wand an Wand stieß. Ein dunkler Schatten im Fünfundvierziggradwinkel, aus dem sich die Fugen der Fliesen in die hellerleuchtete Fläche vorarbeiteten; darauf ein winziges Moospolster, das grün aus dieser monochromen Aufnahme herausleuchtete. Ein Bild wie aus der Zeit gefallen, dachte Vicki und schrieb diesen Satz als Kommentar darunter.

Dann kramte sie den USB-Stick aus dem Rucksack, stöpselte ihn an den Rechner und lud einige der Bilder hoch, die Adrian in der Kanalisation von Paris gemacht hatte. Lange war sie unsicher gewesen, ob ihm das gefallen würde. Letzte Nacht hatte sie jedoch alle Zweifel beiseitegeschoben. Die Bilder waren gut, und sie wollte Adrian damit ein kleines Denkmal setzen. Der Upload war dank der DSL-Leitung im Büro schneller beendet als von ihrem PC daheim, der noch mit ISDN im Netz unterwegs war. Vicki ordnete die Aufnahmen zu einer Galerie und schrieb einen knappen Text dazu. Gerade als sie damit fertig war, kehrte Steffen zurück und wenige Minuten später Clara.

Kauend ließ Vicki Claras Erklärungen über angemessenes Outfit am Arbeitsplatz über sich ergehen. Und wie immer endeten sie in Claras Frage, wie ein derart hübsches Mädchen es nur schaffte, sich derart unmöglich anzuziehen. »Gummistiefel zu Shorts. Wie bist du nur auf die Idee gekommen? Und jetzt läufst du hier barfuß durchs Büro. Was sollen die Kunden denken? Ich habe dir etwas mitgebracht.« Clara zog eine Schuhschachtel aus einer Tüte. »Klassicher Fehlkauf. Ich habe sie nur einmal getragen. Dir müssten sie passen.« Sie reichte Vicki die Schachtel.

Niemals würde sie Pumps anziehen. Nur über meine Leiche, dachte Vicki und musterte den Karton. Das auf der Stirnseite angebrachte Etikett zeigte allerdings Sneakers. In der Tat ein Fehlkauf für Clara. Die Größe stimmte, doch das Preisschild ließ Vicki zusammenzucken. Noch nie hatte sie so teure Schuhe in der Hand gehabt, geschweige denn an den Füßen.

»Ich schenk sie dir, wenn sie dir passen.« Clara hatte Vickis Blick bemerkt. »Zurückgeben kann ich sie nicht, und bevor sie bei mir im Schrank verstauben, sehe ich sie lieber an dir.«

Vicki öffnete den Karton und holte die Schuhe aus sandfarbenem Wildleder mit türkisfarbenem Futter hervor. Sie öffnete den Klettverschluss und schlüpfte hinein. Der Schuh schmiegte sich an ihren Fuß wie maßgeschneidert.

»Na. Das sieht doch gleich ganz anders aus«, meinte Clara, nachdem Vicki beide Schuhe angezogen hatte.

»Danke.« Vicki wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte.

Clara lächelte. »Das mit der Kleidung kriegen wir auch noch hin. Wir haben ja noch zwei Jahre.«

Henriette kam zurück. Die Mittagspause war vorüber, und alle machten sich wieder an die Arbeit. Während Vicki Flugverbindungen für eine alte Dame heraussuchte, die zu ihrer Tochter nach Vancouver reisen wollte, dachte sie über Claras Bemerkung nach. Okay, pünktlicher war sie schon geworden, und vor allem hatte sie es geschafft, das Unkraut aus ihrer Sprache zu jäten, wie Clara das nannte. Sie hatte sogar jede Menge Bücher gelesen, um ihren Wortschatz zu reanimieren, der damals nach dem Wechsel vom Gymnasium auf die Hauptschule verschüttet worden war, wie durch einen Erdrutsch. Ihr Outfit wollte sie jedoch nicht ändern. Sie wollte nicht schön sein, kein Klischee erfüllen. Sie wollte irritieren. Die Leute guckten zwar, ließen sie aber in Ruhe.

Um halb sechs war Vickis Arbeitstag beendet. Sie räumte ihren Schreibtisch auf, fuhr den Rechner runter und stellte den Kaffeebecher in die Spülmaschine. Dann verabschiedete sie sich von Clara, die wie meistens länger blieb. »Danke noch mal für die Schuhe. Ich geh dann.«

Clara blickte auf, nahm Vickis Berichtsheft, das sie am Wochenende durchgesehen hatte, von einem Stapel und reichte es ihr. »Du machst gute Fortschritte. Nicht nur in deiner Ausdrucksweise. Aber das Heft ist nicht ganz vollständig. Über die Einführung in unser neues Buchungssystem steht noch nichts drin. Kannst du das bis Freitag nachholen?«

Vicki nickte.

»Und lerne zu Hause. Die Zwischenprüfung ist kein Honigschlecken. Wenn du erst kurz vorher damit anfängst, wird das nichts.«

Wieder nickte Vicki. Clara hatte ja recht. Trotzdem, heute Abend würde sie weder lernen noch Berichte schreiben. Das Wetter war schön, das Licht gut, und damit war klar, dass sie zur alten Brauerei radeln und dort weiter fotografieren würde. Am Samstag hatte sie abgebrochen, nachdem der Himmel sich mit Wolken bezogen hatte und das schöne Streiflicht futsch gewesen war. »Dann bis morgen.« Sie griff sich ihren Rucksack und ging.

Zwanzig Minuten später näherte Vicki sich ihrem Ziel, dem Gelände einer seit ewigen Zeiten verlassenen Brauerei in Solalinden. Dieser kleine Ort lag zwischen Putzbrunn und Waldperlach, eingebettet zwischen Feldern und einem Waldgebiet, das sich wie ein Keil zwischen die Trabantenstadt Neuperlach und jene Ansammlung von etwa zwanzig Häusern schob.

Vickis Rad holperte über den schmalen Weg, der von Südwesten kommend durch den Wald führte, der Rucksack wippte auf ihrem Rücken, die Sohlen der Sneakers gaben ihren Füßen Halt auf den Pedalen. Die nackten Beine hatten einige Kratzer abgekriegt, als Vicki eine Kurve zu eng genommen hatte und dabei beinahe in den Brombeeren gelandet war. Natürlich hätte sie über die Straße fahren können. Aber es musste ja nicht sein, dass irgend so ein Wichtigtuer aus dem Kaff mitbekam, wie sie da unbefugt rumturnte, und sich dann berufen fühlte, einzuschreiten oder gar die Bullen zu holen.

Der Wald wurde lichter, ein hoher, mit Stacheldraht bekränzter Bretterzaun kam in Sicht und dahinter das teilweise eingestürzte Dach der Brauerei. Vicki stieg ab und schob das Rad entlang des Zauns weiter in den Wald hinein, bis sie den Weg nicht mehr sehen konnte. Dort lehnte sie es an einen Baum und kettete es sicherheitshalber an. Einbrechen musste sie nicht. Bei ihrem ersten Besuch am Samstag hatte sie zwei lose Latten im Zaun entdeckt. Die schob sie nun zur Seite, bugsierte den Rucksack hindurch und zwängte sich durch die Lücke. Vor ihr lag ein asphaltierter Hof, dessen welliger Belag voller Löcher und Risse war. Unkraut und Büsche sprossen daraus hervor. Dahinter befanden sich Sudhaus und Lager. Die Gebäude waren aus roten, unverputzten Ziegeln gemauert, die Fenster hoch, die Scheiben eingeschlagen. Am löchrigen, teilweise abgedeckten Dach hing die Dachpappe in Fetzen, darunter lugten marode Balken hervor.

Vicki schulterte ihren Rucksack und stieg die Treppe zur Rampe des Sudhauses hoch. Zutritt verboten! Vorsicht Einsturzgefahr!, warnten zwei Schilder, die jemand an die mit Brettern vernagelte Tür geschraubt hatte. Idiotisch, die Türen zu vernageln, wenn jeder durchs Fenster reinkonnte. Vicki kletterte durch dasselbe wie beim letzten Mal.

Das Licht ergoss sich in einem breiten Streifen durch die zerborstenen Scheiben in den hohen Raum, glitt an der Wand entlang, fiel über den mit Schutt übersäten Boden und überzog die alten Sudkessel mit einem stumpfen Glanz. Bereits bei ihrem ersten Besuch war Vicki aufgefallen, dass jemand mit einer Flex aus zwei der drei Kupferkessel große Stücke herausgeschnitten hatte. Vermutlich jemand, der Buntmetall klaute. Die Kessel wollte Vicki später fotografieren. Zuerst war die Lampe dran, bei der sie am Samstag abgebrochen hatte. Jetzt war das Licht dafür perfekt. Sie nahm die Kamera aus dem Rucksack, schaltete sie an und legte sich rücklings auf den Boden. Zweieinhalb Meter über ihr baumelte das verrostete und leere Gestell für drei Neonröhren an zwei schmalen Ketten. Vicki sah durch den Sucher und zentrierte die Lampe, bis sie als Waagrechte die Bildmitte durchschnitt. Der dunkle Firstbalken bildete eine Senkrechte, das einfallende Licht beleuchtete eine der Schrägen, die andere lag im Schatten. Eine total geile geometrische Komposition. Vicki betätigte den Auslöser mehrmals, stand auf und betrachtete das Ergebnis auf dem Display. Alleine wegen dieses Motivs hatte es sich bereits gelohnt, nochmals hierherzukommen. Sie wandte sich dem verrosteten Heizkörper zu, dessen Farbe abblätterte wie Haut nach einem Sonnenbrand. Den hatte sie schon am Samstag fotografiert, aber das Licht, das nun auf ihn fiel, warf interessante Schatten, ließ ihn wie ein urzeitliches Schuppentier erscheinen. Nach einigen Aufnahmen blinkte ein Symbol im Display. Die Speicherkarte war voll. Vicki wechselte sie gegen eine freie, legte die volle in die Schutzhülle und schob diese in die Hosentasche. Anschließend fotografierte sie die gekappten Kabel, die aus dem Sicherungskasten baumelten, klopfte sich den Staub von den Shorts und wandte ihre Aufmerksamkeit den Kesseln zu.

Etwas war anders als am Samstag, das hatte sie vorher schon wahrgenommen, aber nun sah sie, was es war. Irgendwelche Schweine hatten ihren Müll hier abgeladen. In der Mitte des aufgeschnittenen Sudkessels lagen ein schwarzer und ein blauer Müllsack. Wobei das Schwarze kein Sack war, eher eine Rolle aus Folie. Etwas lugte daraus hervor. Im ersten Moment begriff sie nicht, was sie da sah.

Es war eine Hand mit rosa lackierten Nägeln.

Verwundert bemerkte Vicki, dass sie weder das Bedürfnis hatte, schreiend davonzurennen, noch, den Inhalt ihres Magens auf den Boden zu würgen. Es war auch nicht Angst, die sie fühlte, sondern Kraftlosigkeit, die sich in den Beinen ausbreitete und sie zwang, sich auf den gemauerten Vorsprung in der Nähe des Kessels zu setzen. Vicki starrte auf die Hand mit ihren schmalen Fingern und registrierte die Stille zwischen den Mauern, das Zwitschern eines Vogels draußen im Wald, das Licht, das scheinbar kühler geworden war, und die Trauer, die in ihr aufstieg, wie in einem Gefäß, bis sie ganz damit angefüllt war und am liebsten diese Hand in ihre genommen hätte.

***

Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort räumte seinen Schreibtisch auf, schaltete den Computer aus und hoffte auf einen ruhigen Abend. Die vergangenen zehn Tage hatte er mit Gina und Alois durchgearbeitet, um einen Raubmord aufzuklären. Seit heute war der Fall abgeschlossen. Protokolle und Abschlussbericht waren geschrieben, und jetzt wollte er raus aus der Büroluft, an den Starnberger See, zur Sissi, seinem Boot, das er im letzten Herbst gekauft hatte und dem er seither einen anderen Namen geben wollte.

Es lag bei Schorschs Segelschule am Steg und hatte seit April wieder Wasser unter dem Kiel, doch bisher war Dühnfort erst an zwei Wochenenden zum Segeln gekommen. Beim ersten Mal hatte er wider Erwarten Angst überwinden müssen. Angst, die sich einstellte, als das Ufer hinter ihm lag, er die weite Wasserfläche vor sich sah und die Tiefe des Sees spürte. Diese Tiefe. Ein Anflug von Panik wollte ihn zur Umkehr zwingen, er gab ihm nicht nach. Es war sein Fehler gewesen, damals. Ein typischer Anfängerfehler, den er, als erfahrener Segler, nicht zu wiederholen gedachte. Er drängte die Erinnerung zurück, wollte sich nicht durch unsinnige Angst das Gefühl von Freiheit nehmen lassen, das er auf der Weite des Sees so intensiv empfand, die Vorstellung, dass noch etwas vor ihm lag.

Während er das Fenster schloss, warf er einen Blick auf die Zwillingstürme der Frauenkirche. Kurz vor halb sieben. In einer Stunde würde er auf seinem Boot sitzen, die neuen Festmacherleinen auf die richtige Länge spleißen, zu Abend essen, das Klimpern der Falle an den Alumasten hören, das Geschrei der Möwen und das leise Anschlagen des Wassers am Rumpf und vielleicht zusammen mit dem Schorsch ein Glas Merlot trinken, während die Sonne unterging und das Handy hoffentlich nicht klingelte.

Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es an der Tür klopfte und Gina eintrat.

»Falls du darüber nachgedacht haben solltest, heute einen lauschigen Abend am See zu verbringen: Vergiss es.« Sie schlüpfte in ihre Jeansjacke, verstaute das Handy in einer Tasche ihrer Cargohose und förderte beinahe gleichzeitig aus einer anderen eine Banane zu Tage. »Wir haben Kundschaft.«

Merde, fluchte Dühnfort lautlos, während er sein Sakko vom Haken an der Tür nahm. »Wo?«

»In Solalinden. In einer stillgelegten Brauerei. Die Kollegen von der Polizeiinspektion 28 haben das schon überprüft. In einem Sudkessel liegt eine Leiche.« Gina schälte die Banane und biss hinein.

»Ist Buchholz informiert?«

»Ist mit seinen Jungs und dem ganzen Equipment schon unterwegs«, sagte sie kauend.

Merde, dachte Dühnfort nochmals. Ihm war es lieber, wenn er ein paar Minuten Vorsprung hatte und sich einen ungestörten Eindruck verschaffen konnte. Auch wenn das nicht den Vorschriften entsprach und er sich daher seit Jahren einen stillen Kampf mit Frank Buchholz, dem Leiter der Spurensicherung, darum lieferte, wer als Erster am Tatort war. »Und Alois?«

»Geht gerade zu seinem Auto. Ich dachte, ich fahre mit dir.« Gina schob den Rest der Banane in den Mund und warf die Schale in den Papierkorb. »Das war dann wohl das Abendessen.«

Während sie die Stadt in östlicher Richtung durchquerten, telefonierte Gina mit ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie nicht zum Essen komme. Entspannt saß sie auf dem Beifahrersitz, blickte aus dem Fenster, während sie sprach, und schob gedankenverloren eine störrische Strähne ihrer dunklen Haare hinters Ohr.

Es war einer jener seltenen Tage, an denen ein schwacher Duft nach Äpfeln von ihr ausging. Dieser Geruch erinnerte Dühnfort an seine Kindheit, an seine Großeltern im Alten Land bei Hamburg, an heiße Sommer, in denen der Himmel blauer, die Wellen höher, der Sand feiner und Omas Kuchen der beste gewesen war. Erst als Gina mitten im Satz stockte und zu ihm hinübersah, merkte er, dass er geseufzt hatte. »Alles okay?«

»Natürlich.«

Zwanzig Minuten später erreichte Dühnfort die Abzweigung nach Oedenstockach. Eine schmale Straße führte durch den Ort Richtung Solalinden. Weizenfelder blühten, der Mais stand kniehoch, in den Wiesen wuchsen Klee und Hahnenfuß und an ihren Rändern Klatschmohn und Schafgarbe. Dühnfort überholte eine Gruppe Rennradfahrer, durchquerte ein Waldstück und erreichte eine Ansammlung von wenigen Häusern. Die Straße verzweigte sich. Links entdeckte er in etwa hundert Metern Entfernung ein Streifenfahrzeug, davor einen der Busse der Spurensicherung und Alois’ schwarzen Mini.

Dahinter stoppte Dühnfort und stieg aus. Auf der anderen Seite des Wegs befand sich eine zwei Meter hohe und etwa siebzig Meter lange Ziegelmauer, in deren Mitte ein zweiflügliges Tor aus verrostetem Eisen den Zugang zum Innenhof freigab. Dort parkten zwei weitere Busse der Spurensicherung. Dühnfort betrat, von Gina gefolgt, den Hof. Der Asphalt war voller Löcher und Risse. Unkraut wucherte daraus hervor. Linker Hand unterhielten sich zwei Streifenpolizisten auf der Rampe eines Gebäudes, dessen Fenster eingeschlagen waren. Das Dach war teilweise eingestürzt und derart marode, dass der nächste größere Sturm ihm den Rest geben würde. Rechter Hand befand sich ein Lattenzaun, hinter dem sich Wald erstreckte. Gegenüber begrenzte eine Mauer mit einem verrosteten Eisentor das Areal. Davor stand Alois und redete auf eine junge Frau ein, die auf einem Bretterstapel saß.

Auf der Rampe erschien Frank Buchholz, verhüllt wie eine Raupe im Kokon, zog den Mundschutz ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Als er Dühnfort entdeckte, kam er die Treppe herunter. Der weiße Overall spannte über dem Bauch, und Dühnfort ertappte sich bei dem Gedanken, dass dieser Hülle kein Schmetterling entschlüpfen würde, sondern ein in die Jahre gekommener Rocker, der weder von Lederkluft noch von seiner Harley lassen konnte. Sie trafen sich vor dem Bus. Buchholz schob die Tür auf und holte zwei Alukoffer hervor, die Video- und Fotoausrüstung enthielten. »Heute kommst du erst rein, wenn wir den Fundort dokumentiert haben.«

»Fundort? Nicht Tatort?«

Buchholz zuckte die Schultern. »Die Leiche ist in Teichfolie eingewickelt. Fünfzehn Minuten, dann kannst du dir das ansehen. Ist ein Rechtsmediziner auf dem Weg?«

»Die Weidenbach müsste demnächst vorfahren«, sagte Gina.

Dühnfort ging zu Alois, während sie die Rampe erklomm und sich zu den Kollegen der Schutzpolizei gesellte.

Alois Fünfanger trug trotz der Hitze Anzug, Hemd und Krawatte. Da Dühnfort sportliche Kleidung bevorzugte – heute trug er eine hellbeige Chino, ein dezent gestreiftes Hemd und ein dazu passendes Sakko –, kam es hin und wieder vor, dass man nicht ihn, sondern Alois für den Leiter der Ermittlungen hielt.

Alois begrüßte Dühnfort mit einem Kopfnicken. »Das ist Frau Senger, sie hat die Leiche gefunden.« Er wies auf die junge Frau, die auf dem Bretterstapel saß und nun aufstand. Sie war höchstens zweiundzwanzig, hübsch wie ein Model und ebenso groß wie Dühnfort. An den zerschrammten Beinen klebten auf gleicher Höhe zwei Pflaster. Etwas Trauriges und zugleich Trotziges lag in ihrem Gesicht. Sie umfasste ihre Ellenbogen mit den Händen, als wolle sie sich abriegeln, Distanz wahren. Gleichzeitig stellte sie sich schützend vor einen Rucksack, der auf dem Boden lag.

Er bot ihr die Hand. »Dühnfort. Ich werde die Ermittlungen in diesem Fall leiten.«

Sie ergriff die Hand nicht. »Sie sind also sein Chef.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf Alois.

Dühnfort bestätigte das.

»Dann erklären Sie ihm, dass er meine Kamera nicht kriegt. Ich habe die Frau schließlich nicht umgebracht. Nur gefunden.«

»Worum geht es?«, fragte er Alois.

»Frau Senger hat hier fotografiert. Vielleicht auch die Leiche …«

»Hab ich nicht.«

»Wir sollten verhindern, dass diese Bilder an die Medien gelangen.«

Etwas gefiel Dühnfort nicht. »Kann ich dich kurz alleine sprechen?« Er trat mit Alois zur Seite. »Was ist los? Weshalb glaubst du, sie würde die Bilder verkaufen?«

Alois senkte die Stimme. »Einer der Kollegen kennt sie«, er wies zur Rampe. »Viktoria Senger ist polizeibekannt. Kaufhausdiebstähle, Schlägereien, Pöbeleien, Sachbeschädigung. Ein ganz schönes Früchtchen. Er meint, sie habe auch eine Zeitlang auf der Straße gelebt. Sie wird die Kohle brauchen. Außerdem sollten wir checken, ob die Kamera geklaut ist. Das ist ein teures Stück. Zehn Megapixel, Spiegelreflex.«

Dühnfort warf einen verblüfften Blick auf die junge Frau. Sie hielt ihm trotzig stand. Ihre blauen Augen funkelten unter dunklen Locken hervor, gleichzeitig wirkte sie wie ein verlorengegangenes Kind. Alois’ Vorurteile gefielen Dühnfort nicht. Außerdem war Viktoria Senger eine Zeugin, mit der er es sich nicht gleich verderben wollte. »Ich denke, es ist ausreichend, wenn sie uns die Speicherkarte gibt. Kümmere du dich um die Absperrung und Kollegen, die das Areal und den Wald absuchen.«

»Wie du meinst.« Alois zuckte mit den Schultern und zog sein Handy aus der Halterung am Gürtel. Dühnfort kehrte zu Viktoria Senger zurück und setzte sich neben sie auf den Bretterstapel, während Alois sich Richtung Tor entfernte. »Ihre Kamera benötigen wir nicht. Aber wenn Sie so nett wären, mir den Speicherchip zu geben. Die Aufnahmen gehören nun mal zu den Beweismitteln.«

»Aber der Typ von der Spurensicherung fotografiert doch auch.«

»Frau Senger, bitte …«

Missmutig verzog sie den Mund, bückte sich, holte die Kamera aus dem Rucksack hervor und entnahm ihr die Karte, auf der die Aufnahmen gesichert waren. »Bitte schön! Sind eh nur zwei oder drei.«

»Danke schön«, erwiderte er mit einem Lächeln und steckte sie in die Sakkotasche. »Was kann man hier eigentlich fotografieren? Das sind ja keine gängigen Motive.« Dühnfort wies auf die einsturzgefährdeten Gebäude.

»Das ist Ansichtssache. Mir gefällt es.«

»Sind Sie deswegen hierhergekommen? Um die Faszination dieser maroden Welt festzuhalten, bevor sie ganz vergangen ist?«

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Sie sehen das also auch.«

»Ein ausgefallenes Hobby haben Sie sich da ausgesucht. Irgendwie traurig und romantisch zugleich«, sagte er.

»Heute eher traurig. Obwohl das Risiko, eine Leiche zu finden, für einen Urban Explorer ja höher ist als für Leute, die den ganzen Tag vor der Glotze hängen.«

»Was ist das, ein Urban Explorer?«

Sie erklärte ihm, was es mit diesem Hobby auf sich hatte, dass es einen Ehrenkodex gab und dass sie hier nicht eingebrochen war, sondern durch eine Lücke im Zaun und durch ein eingeschlagenes Fenster geklettert war. Das Einzige, was man ihr vorwerfen konnte, war Hausfriedensbruch, und das auch nur dann, wenn der Eigentümer Anzeige erstattete. Sie kannte sich aus. Die losen Bretter im Zaun ließ Dühnfort sich zeigen. »Waren Sie schon öfter hier?«

»Das erste Mal am Samstag. Da musste ich abbrechen. Das Licht wurde schlecht.«

»Da haben Sie im selben Gebäude fotografiert wie heute?«

Sie nickte. »Am Samstag lag sie aber noch nicht da.«

Buchholz erschien neben Gina auf der Rampe und gab Dühnfort ein Zeichen, dass er nun den Fundort betreten könne. Gleichzeitig kam Alois durch das Zugangstor und steckte sein Handy ein. Dühnfort bat Viktoria Senger zu warten, bis ein Kollege sie ins Präsidium bringen und ihre Aussage aufnehmen würde.

Dann stieg er, gefolgt von Alois, auf die Rampe.

»Ihr könnt hier durch«, sagte Buchholz. »Durch dieses Fenster wurde die Leiche nicht gebracht. Aber vorher …« Er reichte ihnen Schutzkleidung. Nachdem sie diese angezogen hatten, kletterten sie ins Innere.

Ein hoher Raum. Schutt auf dem Boden. Ein offener Sicherungskasten, aus dem gekappte Kabel ins Leere baumelten. Verrostete Lampengestelle hingen von der Decke. Zerbrochene Bierkästen, zusammengedrückte Getränkedosen, etliche Zigarettenkippen und mehrere Schnapsflaschen lagen zwischen Ziegelbrocken, Staub und Dreck. Vor diesen Dingen standen bereits Schildchen mit Spurennummern. Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung arbeiteten an einer offenen Tür auf der Südseite des Raums, die auf eine Außentreppe führte.

Weiter hinten befanden sich zwei mannshohe Sudkessel. An einem fehlten große Teile der Kupferverkleidung. Die Öffnung maß etwa ein Drittel des Umfangs und reichte von oben, wo sich der Kessel zu einem Rohr verjüngte, bis zum Boden. Dort lag ein dunkelblauer Müllsack und davor eine schwarze Rolle.

Dühnfort sah die Hand im Näherkommen. Sie lugte unter der unregelmäßig beschnittenen Kante der Folie hervor. Es war die Linke, sehr weiß, die Nägel rosa lackiert, ein schmaler Silberreif am Ringfinger. Er blieb stehen, ließ das Bild auf sich wirken, bemerkte, wie Gina und Alois sich neben ihn stellten. Es herrschte Stille. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Aus weiter Ferne dröhnte der Lärm eines Flugzeugs und etwas näher das Brummen eines Autos. Neben der eingewickelten Leiche lag ein Schmetterling. Dühnfort ging in die Hocke und betrachtete ihn. Er war von erhabener Schönheit. Die Flügel waren dunkelbraun mit einem Schimmer Bordeaux und gingen nach außen in einen schwarzen Streifen über, der wiederum mit fliederfarbenen Tupfern verziert war wie kostbarer Damast. Daran schloss sich ein vanillegelbes Band an, das bis in die gezackten Flügelränder zu einem zarten Weiß auslief. Der Körper hatte alle Spannung verloren und lag schlaff auf einem Ziegelbrocken, wie dekoriert.

Dühnfort erhob sich aus der Hocke und wandte sich an Buchholz. »Habt ihr den Schmetterling schon?«

»Du denkst, der hat was zu bedeuten?«

Dühnfort wusste es nicht. Im Moment sammelte er Eindrücke, und etwas an diesem Falter irritierte ihn.

Buchholz platzierte ein Schildchen neben dem zerbrochenen Ziegel, klebte einen Maßstreifen daran und fotografierte das tote Insekt, bevor er es vorsichtig mit einer Pinzette in ein Plastikschächtelchen schob. Dann deutete er auf die Leiche. »Sollen wir?«

Dühnfort wappnete sich und nickte. Buchholz stieg in den Kessel und schlug die Folie zurück. Der linke Arm wurde sichtbar und ein Stück der Schulter. Etwas stimmte nicht. Dühnfort erkannte es, noch bevor Buchholz den Körper weiter enthüllte, und atmete scharf aus. Der Anblick des kopflosen Leichnams traf ihn nicht restlos unvorbereitet. Dennoch wich er unwillkürlich zurück. Gina stöhnte, Alois entfuhr ein Keuchen. Einzig Buchholz zeigte keine Reaktion. Er starrte auf den Körper, richtete sich auf und suchte Dühnforts Blick. Beide dachten das Gleiche.

Buchholz beugte sich über den Müllbeutel, während Dühnfort den Leichnam betrachtete. Es war der beinahe nackte Körper einer jungen Frau. Sehr schlank, mit hervorstechenden Hüftknochen, die Haut seltsam hell, wie Marmor. Das einzige Kleidungsstück war ein zartrosa schimmernder Strumpf, der von einem spitzenverzierten Band am linken Bein gehalten wurde.

»Eine kopflose Braut.« Gina sprach leise und schüttelte den Kopf.

»Wie meinst du das?«

Ihr Rücken straffte sich, die Stimme wurde fest. »Das war mein erster Gedanke. Obwohl der Strumpf rosa ist. Wer zieht denn so was an? Bräute und Nutten vielleicht.«

»Und Frauen, die einem Mann gefallen wollen«, ergänzte Alois.

Gina entwischte ein halbherziges Grinsen. »Du musst es ja wissen.«

Mittlerweile hatte Buchholz den Müllbeutel geöffnet und davon verschiedene Aufnahmen gemacht. Nun bückte er sich zögernd, um den Inhalt hervorzuholen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und richtete sich wieder auf. »Ich komme mir vor wie ein Scharfrichter. Kann jemand anderes das machen? Wo bleibt denn die Weidenbach?«

Von der Rampe her drangen mit einem Mal laute Stimmen. Ein Mann mit einer Kamera auf der Schulter versuchte durch die Fensteröffnung zu klettern. Auf dem Basecap des Eindringlings prangte das Logo eines privaten Fernsehsenders. Sein konzentrierter Blick verriet, dass die Aufzeichnung lief. Krampfhaft bemühte er sich, die Kamera ruhig zu halten, da einer der Streifenpolizisten an seinem Arm zerrte, um ihn zurückzuhalten. Von draußen war die Stimme einer Frau zu vernehmen, die offenbar auf den anderen Kollegen der Polizeiinspektion 28 einredete.

Dühnfort eilte auf den Mann zu, die Arme ausgebreitet, als könnte er so die Tote vor diesem voyeuristischen Übergriff schützen. »Raus!«, brüllte er. »Stoppen Sie die Aufnahme! Sofort. Sonst lasse ich Sie wegen Behinderung einer polizeilichen Ermittlung festnehmen.«

»Hier wurde eine Leiche gefunden. Können Sie das bestätigen?« Ungerührt filmte der Mann weiter. Halb drinnen, halb draußen.

»Stoppen Sie die Aufnahme, dann bekommen Sie eine Antwort.« Das half. Der Eindringling ließ die Kamera sinken und sah Dühnfort erwartungsvoll an.

»Es wird eine Presseinformation geben. Abrufbar auf unserer Webseite, vielleicht auch eine Pressekonferenz. Dazu sind Sie herzlich eingeladen. Und jetzt verlassen Sie mit Geleitschutz das Gelände, oder ich mache Ernst.« Dühnfort wandte sich an Alois, der neben ihn getreten war. »Das ist dein Job.«

Offensichtlich wusste der Mann, wann er verloren hatte, denn er zog sich zurück. »Danke, ich finde alleine raus.«

»Das bezweifle ich.« Dühnfort gab Alois ein Zeichen.

»Wieso ich?«, fragte er leise. »Das können doch …«

»Weil du die Absperrung organisieren solltest«, erwiderte Dühnfort scharf, aber ebenso leise. »Ich erwarte, dass das umgehend geschieht, und dann fährst du mit Frau Senger ins Präsidium und nimmst ihre Aussage auf.«

Alois’ Kiefer mahlte. Er drehte sich abrupt um. »Kann denn nicht einer mal diese Scheißtür hier aufmachen?«, schimpfte er, bevor er durch das Fenster nach draußen stieg.

Dühnfort beobachtete, wie er das Team des Fernsehsenders vor das Tor begleitete. Im selben Moment fuhr ein silberner BMW auf den Hof. Die Rechtsmedizinerin Dr. Ursula Weidenbach war da.

Sie holte einen Alukoffer aus dem Wagen, entdeckte Dühnfort und nickte grüßend zu ihm hinüber. Sie war groß, schlank, ein sportlicher Typ. Ihr graues Haar war zu einer pflegeleichten Kurzhaarfrisur geschnitten. Eine silbergefasste Brille vergrößerte die Falten in den Augenwinkeln. Nachdem sie einen Overall angezogen hatte, betrat sie auf gleichem Weg den Fundort wie alle anderen vor ihr. Dühnfort half ihr mit dem Koffer und ging voran.

Gina hatte sich zu Buchholz auf die gemauerte Einfassung neben dem Sudkessel gesetzt und starrte auf die Mülltüte, während im hinteren Bereich des Raumes die Mitarbeiter der KTU weiter ihre Arbeit verrichteten.

Die Rechtsmedizinerin stellte den Koffer ab und betrachtete die Leiche, während sie sich Latexhandschuhe überstreifte. »Meine Güte. So etwas sieht man auch nicht alle Tage.« Dann ging sie in die Hocke, nahm die Tote in Augenschein und schaute sich suchend um, bis sie den Müllbeutel entdeckte. »Der Kopf ist da drinnen, wie ich vermute?«

Buchholz nickte.

Seufzend erhob sich Ursula Weidenbach, ließ die Schlösser des Koffers aufschnappen und holte ein Stück Folie hervor, das sie auf dem Boden ausbreitete. »Falls jemand frische Luft schnappen will, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt dafür.« Ohne sich zu vergewissern, ob einer der Anwesenden ihren Vorschlag beherzigte, griff sie in die Tüte, zog den Kopf hervor und legte ihn auf der vorbereiteten Fläche ab.

Eine Fülle dunkler Locken breitete sich aus. Das Haar war weder strähnig noch blutverklebt, was Dühnfort irritierte. Grünbraune Augen starrten aus einem marmorweißen Gesicht ins Leere, als erblickten sie etwas, das sonst niemand in diesem Raum sehen konnte. Die Brauen hoben sich wie mit Kohle gezeichnet von diesem Weiß ab, während die Lippen als fahles Graurosa mit ihm verschmolzen. Der Halsschnitt war präzise gesetzt, die Wundränder exakt. Scharfes Werkzeug. Skalpell, Schlachtermesser oder ein Profiküchenmesser, überlegte er. Dann wandte er sich ab und stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte.

Am Fenster stand Gina und versuchte erfolglos ihrem Gesicht diesen burschikosen Ausdruck abzuringen, der so typisch für sie war. »Manchmal frage ich mich, warum ich nicht Finanzbeamtin geworden bin. Trockene Zahlen, Aktenstaub, um vier den Griffel fallen lassen, und nachts kann man ruhig schlafen.«

»Du würdest sterben vor Langeweile.« Er strich ihr kurz über den Oberarm, nahm erneut den Geruch nach Äpfeln wahr und fühlte sich getröstet. »Geht es wieder?«

Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln. »Klar. Soll ich mich darum kümmern, dass die Jungs mit dem Zinksarg antraben? So wie ich die Weidenbach kenne, wird sie sich hier nicht mehr als sieben Worte entlocken lassen.«

»Tu das, und dann kannst du noch die Kollegen einweisen, die gleich kommen werden. Das Gelände und der angrenzende Wald müssen abgesucht und die Anwohner befragt werden.«

»Wird gemacht, Boss.« Gina zog das Handy aus einer Hosentasche und stieg durchs Fenster.

Dühnfort kehrte zu Ursula Weidenbach zurück. »Wie ist Ihr Eindruck?«

Sie nahm die Brille ab. »Fundort ist nicht Tatort. Aber da sind Sie sicher schon alleine draufgekommen. Zum Todeszeitpunkt gebe ich eine vage Schätzung ab. Achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden. Morgen habe ich das präziser. Todesursache scheint klar zu sein. Aber bevor ich sie nicht auf dem Tisch gehabt habe, lege ich mich nicht fest. Die Leichenflecke sind sehr blass. Das ist ungewöhnlich. Derjenige, der den Kopf abgetrennt hat, kennt sich aus. Metzger oder Chirurg? Das ist ein sauberer Schnitt, ohne ein Zögern, durchgezogen bis zu den Wirbelkörpern, und auch die sind fachmännisch durchtrennt. Dafür braucht man neben Fachkenntnis ein sehr scharfes Messer.«

»Das ist ja schon eine ganze Menge.«

Die Rechtsmedizinerin wandte sich wieder der Toten zu, Dühnfort ging zu Buchholz an die Hintertür und erhielt die Bestätigung seiner Vermutung. Der nur durch ein Vorhängeschloss gesicherte Zugang war aufgebrochen worden, ebenso das Eisentor auf der Westseite des Grundstücks. »Vermutlich mit einem Bolzenschneider«, meinte Buchholz. »Ein paar Fasern konnten wir sichern. Das ist alles. Hinter der Mauer führt ein Weg durch den Wald, der ist knochentrocken. Reifenspuren kannst du also vergessen. Er wird dort geparkt haben. An der Zarge des Tors haben wir ebenfalls einige Fasern gesichert.«

Dühnfort stieg die wenigen Stufen hinunter in den Hof bis zum Türchen in der Mauer und setzte sich auf den Bretterstapel. Wer immer die Leiche hier abgelegt hatte, kannte das Gelände. Warum hatte er sich die Mühe gemacht, sie so weit zu tragen, durch den Hof, die Treppe hinauf, durch den halben Brauraum bis zu den Kesseln?

Ein Zitronenfalter flatterte auf Dühnfort zu, landete kurz auf einem der Bretter und klappte die gelben Flügel auf und zu. Ein zartes Gelb, wie erstes Morgenlicht, als ob es in all diesem Elend doch Hoffnung gäbe.

***

Kurz vor Mitternacht stieg Dühnfort die Stufen zu seiner Wohnung in der dritten Etage eines alten Hauses in der Pestalozzistraße hinauf. Im Briefkasten war nur Reklame gewesen, die er nun auf die Ablage im Flur legte.

Für heute hatten sie getan, was sie tun konnten. Weder auf dem Gelände noch im Wald hatte man die Tatwaffe gefunden, geschweige denn Kleidung und Papiere des Opfers. Von den Anwohnern war niemandem etwas Außergewöhnliches aufgefallen. Die alte Brauerei war kein geheimer und vergessener Ort. In der Gegend kannte man sie, da sie an der Strecke zu einem Biergarten lag, der im Sommer Ausflugsziel für Radfahrer und Wanderer war.

Dühnfort hängte das Sakko auf und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte er Eier, Butter, ein Stück Gruyère und einen gut gekühlten Chardonnay. Er entkorkte die Flasche und schenkte sich ein Glas voll. Während er ein Käseomelett zubereitete, trank er das Glas leer und entspannte allmählich. Das Bild der kopflosen Leiche verblasste.

Als das Omelett fertig war, toastete er eine Scheibe Weißbrot, füllte das Glas erneut und trug sein Abendessen auf den kleinen Küchenbalkon.

Die Luft war lau und vom Frühsommerduft nach Blüten und Gräsern erfüllt. Drei Etagen unter ihm leuchteten einige ewige Lichter auf den Gräbern des Alten Südfriedhofs. In der Dunkelheit ahnte Dühnfort den Schattenriss des gesichtslos gewordenen Marmorengels, der dort Wacht am Grab eines im Jahr 1832 viel zu jung verstorbenen Musikers hielt.

Falls er vergangenen Oktober wirklich ertrunken wäre, wie würde wohl sein Grabstein aussehen?

Zügig leerte Dühnfort das Glas. Er wollte nicht daran denken, doch da waren sie wieder, diese Bilder. Seine Angst, seine Scham, bodenlos. Eilig stand er auf, ging in die Küche, schenkte sich nach und trank. Er sah wirbelnde Gischt, Blasen vor seinem Gesicht, spürte den Druck auf der Lunge, die Gier zu atmen, sah Ginas Schokoladenaugen, fühlte, wie ihn diese Kraft in die Tiefe zog, die Kälte, die sich in seine Glieder fraß, spürte den tobenden Schmerz im Arm. Und dennoch hatte er sich mit einer Kraft an Gina geklammert, die all sein Handeln auf einen Punkt fokussierte: Er wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht jetzt. Er hatte sich an sie gekrallt, nicht losgelassen und sie mit in die Tiefe gezogen, bis er das Bewusstsein verloren hatte, bis auch sie ertrunken wäre – wenn nicht der Schorsch zur Stelle gewesen wäre, den irgendein Gott, an den Dühnfort noch immer nicht glauben konnte, geschickt hatte.

Er lehnte sich an den Kühlschrank und schloss die Augen. Diese Scham brannte in ihm. Gina hatte ihr Leben riskiert, und er hatte nicht gewusst, wann er loslassen musste, er hätte sie umgebracht, um sich zu retten.

Mit dem Glas in der Hand kehrte er auf den Balkon zurück, in die Dunkelheit. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen, blickte in die klare Nacht, erkannte den Großen Wagen und Jupiter. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren. Genau wie er. Und je länger er damit wartete, umso unmöglicher wurde dieses Gespräch.

DIENSTAG, 8. JUNI

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte Dühnfort vom Zwitschern der Vögel, das aus den Bäumen des Friedhofs durchs offene Schlafzimmerfenster drang. Halb sechs. Sein Kopf fühlte sich wattig an, sein Mund trocken.

Da er ohnehin nicht mehr einschlafen würde, stand er auf, schaltete in der Küche die Espressomaschine an, holte die Packung mit Grapefruitsaft aus dem Kühlschrank und nahm ein Glas davon mit auf den Balkon.

Das Morgenlicht war noch fahl, versprach jedoch einen warmen und sonnigen Tag. Dühnfort trug nur Boxershorts und genoss die frische Kühle auf der Haut, die den letzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Während er auf efeuüberwucherte Gräber blickte, leerte er das Saftglas. Auf der Bank am Wegrand, neben dem Grab des Musikers, schlief, in einen Schlafsack gewickelt, ein Penner. Seine in Plastiktüten verstauten Habseligkeiten hatte er zwischen sich und die Banklehne geklemmt. Absturzbedroht lag er auf der Seite.

Irgendwo wartete jemand auf eine junge Frau, die nie wiederkommen würde. Irgendwann in den nächsten Stunden oder Tagen, wenn sie die Tote identifiziert hatten, musste er an einer Tür klingeln und eine Todesnachricht überbringen.

Ein Flugzeug kratzte einen weißen Streifen in den Himmel, irgendwo bellte ein Hund. Im Haus schlug eine Tür. Dühnfort ging in die Küche, machte sich einen doppelten Espresso, den er mit dunklem Zucker süßte und im Stehen trank, bevor er unter der Dusche verschwand.

Als er kurz nach acht den Besprechungsraum zum Morgenmeeting betrat, schien die Sonne bereits herein und durchflutete das Zimmer, als wollte sie ihm zustimmen in seinem Glauben an Gerechtigkeit. Doch, es lohnte sich, dafür zu kämpfen, dass die andere Waagschale sich füllte, dafür, dass ein Ausgleich in Form von Strafe und Sühne hergestellt wurde und den Opfern Gerechtigkeit widerfuhr.

Dühnfort setzte sich an den ovalen Tisch zu Alois, der in Unterlagen blätterte. Vor ihm stand die obligatorische Thermoskanne mit grünem Tee. Gina lehnte mit einem Becher Kaffee in der Hand gähnend am geöffneten Fenster. Sie schien kaum geschlafen zu haben. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. »Guten Morgen, Boss.«

Ich darf dieses Gespräch nicht länger hinauszögern, dachte er. Doch wann würde je der richtige Zeitpunkt kommen? Kaum merklich legte sie den Kopf schief, ihr Blick den seinen suchend. Diese Augen. Noir, wie schwarze Schokolade. Die Augenbrauen stiegen ein wenig in die Höhe, als wollte sie fragen, ob etwas sei. Als er darauf nicht reagierte, sanken ihre Schultern herab. »Die Weidenbach hat angerufen. Unsere Schöne ist für halb zwei zur Obduktion eingeplant.«

Dühnfort fragte nicht nach dem Grund für den späten Zeitpunkt. Er kannte die Antwort. Seit kleinere Institute geschlossen und mit denen in Erlangen und München zusammengelegt worden waren, gab es in Bayern nur noch diese beiden rechtsmedizinischen Institute. Zwei für über zwölf Millionen Einwohner. Sparen auf Kosten der Opfer, sparen auf Kosten der Gerechtigkeit. Die Toten hatten keine Lobby, und die Anzahl der unentdeckt gebliebenen Tötungsdelikte war seither mit Sicherheit gestiegen. Allerdings wollte Dühnfort sich darüber jetzt nicht ärgern. Verschwendete Energie.

Gina verließ den Platz am Fenster und setzte sich an den Tisch.

Als Letzter kam Buchholz. Ganz in Schwarz. Die ausgebeulte Lederhose wies an den Sitzfalten brüchige Stellen auf. Das verwaschene T-Shirt spannte über dem Bauch. Auf Buchholz’ Schädel sprossen graumelierte Stoppeln. Irgendwann in den letzten Wochen hatte er aufgehört, ihn glattzurasieren.

»Gut, fangen wir an.« Dühnfort fasste die Fakten zusammen und fragte dann Buchholz, der mit seinem Team bis weit nach Mitternacht auf dem Gelände der Brauerei gearbeitet hatte, ob sich an der Spurenlage im Laufe der Nacht etwas geändert habe.

Der fuhr sich mit der Hand übers Haupt. »Da war ein sorgfältiger Mensch am Werk. Bis auf ein paar Fasern haben wir herzlich wenig. Weiß, Baumwolle. Können von einem T-Shirt stammen oder von einem Hemd. Interessant ist ein Fleck gelber Ölfarbe am Handgelenk der Toten.« Buchholz griff nach der Thermoskanne mit Kaffee, die auf dem Tisch stand.

»Ölfarbe. Meinst du Lack oder Künstlerölfarbe?«, fragte Dühnfort.

»Ist noch nicht klar. Wir arbeiten daran.«

»Die Kleidung …«

Buchholz schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Kleidung, keine Papiere, kein Tatwerkzeug, kein Blut. Die Bauerei ist definitiv nur Ablageplatz.« Schwungvoll füllte er einen Becher.

»Was ist mit der Folie?«

»Teichfolie. Kannst du in jedem Baumarkt von der Rolle kaufen. Desgleichen die Müllbeutel, die gibt es in jedem Supermarkt.«

»Hab ich’s doch geahnt«, sagte Dühnfort. »Was ist mit dem Strumpf und dem Strumpfband?«

»Die Etiketten sind herausgeschnitten. Es gibt allerdings eine Auffälligkeit, aber das muss ich erst noch prüfen. Die Farbe, dieses helle Rosa, ist nicht gleichmäßig, sieht irgendwie selbstgefärbt aus.«

»Aha.« Gina schien überrascht. »Dann war der Strumpf ursprünglich weiß?«

»Gut möglich.«

»Also doch eine Braut?« Gina zog die Unterlippe unter die Schneidezähne.

»Wer macht den Abgleich mit der Vermisstendatei?«

Alois blickte auf. »Ich habe sie schon durchforstet. Keine der Vermisstenmeldungen passt auf unsere Tote. Sobald ich aus der Rechtsmedizin mehr Infos habe, suche ich weiter.«

»Dieser rosa Strumpf …«, Gina stützte das Kinn auf eine Hand, »das ist schon irgendwie schräg. Wer färbt denn Strümpfe? Und noch dazu rosa? Damit sieht man aus wie Miss Piggy.«

Alois ließ den Kugelschreiberknopf einrasten. »Rosa Strümpfe habe ich auch noch nie gesehen. Wahrscheinlich kann man die gar nicht kaufen. Sie müssen eine besondere Bedeutung für den Täter haben.«

»Schräg«, überlegte Dühnfort, »ich weiß nicht … Dieser Mord ist skurril, abartig. Das ist keine Tat im Affekt oder ein Mord aus Eifersucht, ziemlich sicher auch nicht aus Habgier. Diesen Täter treibt etwas anderes an. Eine Perversion oder eine Obsession. Aber ohne die Identität des Opfers zu kennen, werden wir uns ihm nur schwer nähern können. Das hat also erste Priorität. Ob wir das Team der OFA hinzuziehen, werde ich nach dem Termin in der Rechtsmedizin entscheiden.«

Überrascht blickte Gina auf. »Du denkst, das war erst der Anfang?«

Er wusste es nicht, er hoffte es nicht. Dennoch befürchtete er, die Tote aus der Brauerei könnte nicht das erste Opfer dieses Täters sein. »Die Tatausführung, die Fundsituation. Das sieht sehr routiniert aus. Und dann der Ablageort. Weshalb hat er die Leiche nicht im Wald versteckt oder vergraben? Weshalb macht er sich die Mühe, zwei Türschlösser zu knacken, den Leichnam über den Hof und eine Treppe hinaufzutragen und dann noch durch den halben Raum, um ihn in diesem Sudkessel …«, Dühnfort suchte nach dem passenden Wort, »zu präsentieren?«