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Eine einzige Sekunde hat Susannes Leben für immer verändert. Ein Kind ist tot. Für die junge Frau ein Alptraum, der nie endet, eine Suche nach Sühne, die vergebens ist. Dann sterben zwei Menschen. Sie wurden ermordet. Auch in ihrer Vergangenheit gibt es ein düsteres Geheimnis, eine Schuld, die für immer bleibt. Kommissar Dühnfort verfolgt einen Täter, der auf grausame Weise für seine Vorstellung von Gerechtigkeit sorgt. Ein Rächer, der Gleiches mit Gleichem vergilt und keine Gnade kennt.
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Das Buch
Eine einzige Sekunde hat Susannes Leben für immer verändert. Ein Kind ist tot. Für die junge Frau ein Alptraum, der nie endet, eine Suche nach Sühne, die vergebens ist. Dann werden zwei Menschen ermordet. Auch in ihrer Vergangenheit gibt es ein dunkles Geheimnis, eine Schuld, die für immer bleibt.
Kommissar Dühnfort und sein Team jagen einen Täter, der auf grausame Weise für seine Vorstellung von Gerechtigkeit sorgt.
Die Autorin
Inge Löhnig studierte an der renommierten Münchner Akademie U5 Graphik-Design. Nach einer Karriere als Art-Directorin in verschiedenen Werbeagenturen machte sie sich mit einem Designstudio selbständig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie und einem betagten Kater in der Nähe von München.
Dies ist der vierte Kriminalroman in der Serie mit Kommissar Konstantin Dühnfort.
Umfassende Informationen finden Sie auf der Homepage der Autorin: www.inge-loehnig.de
Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Kommissar-Dühnfort-Serie:Der Sünde SoldIn weißer StilleSo unselig schönSchuld währt ewigVerflucht seist duDeiner Seele GrabNun ruhet sanftSieh nichts BösesAußerdem:Gedenke meinMörderkind
Inge Löhnig
SCHULD WÄHRT EWIG
Kriminalroman
List Taschenbuch
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Neuausgabe im List TaschenbuchList ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuni 2017© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Getty Images / Kollektion Corbis / Arctic Images (Landschaft)E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN 978-3-8437-0102-0
1
Über Nacht war der Frost gekommen. Die Ackerfurchen trugen Ränder wie Salzkrusten. Der Staketenzaun vor Susannes Haus glitzerte in der Morgensonne. Haarfeine Frostnadeln überzogen den verwilderten Garten. Der erste Raureif des Jahres.
Die vertrockneten Stauden, die kahlen Äste des Flieders, die verwitterte Bank unter der Kastanie, die Chrysanthemen, die in einem täglich dunkler werdenden Rot in ihrem Topf neben dem Wassertrog verblühten – alles war weiß bestäubt. Eine verzauberte Welt, die für einen Augenblick die Illusion erweckte, frei von Schmerz und Leid zu sein.
Auf dem umgepflügten Feld jenseits des Zauns nahm Susanne eine Bewegung wahr. Es war der graue Kater, der sie gelegentlich besuchte. Da er weder ein Halsband trug noch eine Tätowierung im Ohr hatte, vermutete sie, dass er ganz auf sich gestellt war.
Seit er sie ab und zu auf ihren Morgenspaziergängen begleitete, nannte sie ihn Herr Kater. Er hatte etwas an sich, das auf Sanne würdevoll und stolz wirkte und einen niedlichen Namen verbot.
Vor einigen Tagen war er das erste Mal mit ins Haus gekommen. Interessiert hatte er verfolgt, wie sie Frühstück machte und Tee kochte. Sicher war er hungrig. Katzenfutter gab es in ihrem Haushalt nicht. Also stellte sie ihm ein Schälchen Wasser mit einem Schuss Milch hin. Er würdigte es eines kurzen Blickes und wandte sich ab. Seine ganze Haltung drückte Missbilligung aus. Was, keine Maus im Haus?
Sanne musste lachen. Ob tatsächlich keine Maus in diesem über hundert Jahre alten Gebäude lebte, wusste sie nicht. Beim nächsten Einkauf würde sie jedenfalls Katzenfutter besorgen.
Während sie ein Marmeladenbrot aß, schlief Herr Kater zusammengerollt auf einem Stuhl. Erst als sie den Deckel von einem Becher Bulgara-Joghurt zog, kam wieder Bewegung in ihn. Er stellte die Ohren auf und sprang auf den Tisch.
»Willst du etwa Joghurt?«
Ein dunkles Maunzen war die Antwort.
»Wirklich?«
Wieder ein Maunzen. Knapp, wie ein Befehl.
Sanne stand auf und füllte etwas vom Joghurt in das Schälchen. Mit einem Satz sprang der Kater vom Tisch und schleckte es im Handumdrehen leer. Erwartungsvoll blickte er zu ihr auf. Für den Anfang war das nicht schlecht. Ich bin allerdings ein ausgewachsener Kater und kein Kätzchen. Also bitte keine Kinderportionen, schien er damit zu sagen.
Sanne lachte. »Okay. Wenn du meinst. Aber ein wenig extravagant ist das schon. Oder?«
Herr Kater hatte an jenem Morgen tatsächlich einen ganzen Becher Joghurt gefressen. Seither hatte Sanne immer einen Vorrat für ihn daheim.
Zielstrebig eilte er nun auf das ehemalige Waschhaus des Gutshofs zu, in dem sie wohnte und ihre Werkstatt hatte. Seit das Novemberwetter täglich grauer und kälter wurde, zog er es vor, seine Vormittage hier zu verbringen. Meist kam er, wenn sie mit ihrer Arbeit begann. So wie heute.
Mit einem eleganten Sprung setzte er über den Zaun und blieb für einen Augenblick unter der Kastanie stehen, in der zwei aufgeplusterte Amseln saßen. Begehrlich sah er nach oben. Doch diese süßen Trauben hingen zu hoch. Als Sanne die Hintertür öffnete, kam mit dem Kater ein Schwall prickelnd kalter Luft herein und ließ sie erschauern. Rasch schloss sie die Tür.
»Lausig kalt, gell?«
Wie zur Antwort drückte er sich gegen ihre Beine und stupste mit dem Kopf gegen ihre Wade. Sanne setzte sich. Herr Kater sprang auf ihren Schoß und ließ sich das Fell kraulen, bis er genug hatte und mit einem Satz auf den Schemel neben dem Kaminofen umzog.
Das Feuer war über Nacht bis auf einen Rest Glut heruntergebrannt. Sanne öffnete die Ofentür und warf zwei Briketts hinein. Nicht nur die Werkstatt, sondern auch Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad wurden mit Öfen beheizt. Sie wohnte eben im ehemaligen Waschhaus des Guts Paschkofen und nicht in einer komfortablen Wohnung in München-Neuhausen. Und das war gut so. Luxus und Komfort war für andere bestimmt. Nicht für sie.
Schon kurz nach neun. Sie rieb die kalten Hände aneinander. Eines der Briketts fing bereits Feuer. Bald würde es warm werden. Wie jeden Morgen zündete sie als Erstes den Spiritusbrenner an, der auf der Werkbank stand, und drehte die Flamme kleiner. Dabei warf sie einen Blick aus dem Fenster. Langsam stieg die Sonne höher. Das fahle Gelb wurde kräftiger, wärmer. Innerhalb der nächsten Stunde würde der Raureif verschwunden sein.
Alles war vergänglich.
Mit diesem Gedanken legte sich wieder das Gefühl nahenden Unheils als diffuse Angst in ihren Magen.
Wie jedes Jahr um diese Zeit.
Sanne schloss die Augen. Der Geruch ihrer Werkstatt nach Fernambuk- und Brasilholz, nach Kolophonium und Leim, gemischt mit einem flüchtigen Hauch asiatischer Steppe, ließ sie heute nicht entspannen und vertrieb diese undefinierbare Angst nicht. Mit jeder Faser ihres Körpers ahnte Sanne Bedrohung, wie ein Tier, das instinktiv Gefahr wittert.
Ludwigs Todestag nahte. Der sechste schon.
Vom Haken an der Tür nahm sie die Schürze und band sie um. Sie liebte ihre Arbeit, die Ruhe in ihrer Werkstatt, den Blick aus dem großen Fenster über Wiesen und Felder, die Schrunden im Holz der Werkbank, den Geruch der verschiedenen Materialien, das Knistern des Feuers im Ofen.
Eigentlich ging es ihr doch gut.
Zwei Geigen-, ein Cello- und zwei Schülerbögen waren bis Mittag zu behaaren. Die alten Bezüge hatte sie schon gestern entfernt. Nun wirkten die Bögen seltsam nackt, wie sie so auf der Werkbank nebeneinanderlagen, ordentlich ausgerichtet, neben jedem ein Auftragszettel ihres ehemaligen Meisters und Lehrherren Frederick Lüchow, sowie Frosch, Beinchen und Ring.
Die gewaschenen und vorsortierten Haare hingen zu Bündeln gefasst am Regal neben der Tür. Mongolisches, chinesisches und kanadisches Pferdehaar. Vom mongolischen nahm sie für die Schülerbögen mit der Fühlleere die passende Anzahl ab und setzte sich an die Werkbank. Mit kritischem Blick zog sie einige Haare aus dem Bund, die zu dick oder geknickt waren, und legte sie beiseite. Dann griff sie zum Abbindegarn und machte einen festen Knoten um ein Ende des Bündels, das sie anschließend mit Garn umwickelte, bis kein Haar herausrutschen konnte. Über der Spiritusflamme brannte sie die Haarenden ab und griff nach dem Stück Kolophonium.
Es rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
Sie sah es fallen und erstarrte. Es fiel wie in Zeitlupe. Dieses Bild wurde von anderen überlagert. Sie rissen Sanne aus Zeit und Raum und katapultierten sie in die Vergangenheit. Wieder einmal.
Plötzlich stand sie im Kinderzimmer. Die Abenddämmerung kroch zum Fenster herein. Das Deckenlicht warf einen hellen Kreis auf Duplo-Legosteine, die auf dem Boden verstreut waren. Das Bilderbuch vom Maulwurf Grabowski lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Ludwig sprang auf seinem Hochbett wie auf einem Trampolin. Mit hochrotem Kopf schrie er: »Ich will nicht schlafen! Ich will nicht schlafen! Ich will nicht schlafen!« Das Bett wackelte. Der Lattenrost ächzte. Schweißperlen standen auf Ludwigs kleiner Stirn. Seine blonden Locken flogen. Der Pirat auf seinem Schlafanzugshirt grinste. Sanne war fix und fertig und ebenso am Ende ihrer Kräfte angelangt wie am Ende ihrer Geduld. Seit über einer Stunde ging das so.
Sie bat ihn, sich endlich hinzulegen. Doch er sprang weiter, wie ein Schachtelteufelchen. Und genau so kam er ihr in diesem Augenblick vor. Wie ein kleiner Teufel.
»Du bist keine Befehlerin. Du bist keine Befehlerin! Du bist keine Befehlerin!«, rief er im Takt seiner Sprünge.
Eine Mischung aus Erschöpfung und Ärger ließ sie nach Ludwigs Fußknöchel greifen. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste in die Kissen.
»Noch mal!« Begeistert wollte er aufstehen.
»Morgen. Versprochen. Morgen toben wir. Jetzt musst du schlafen.« Mit einem Ruck zog sie die Decke über ihn. Und dann … flimmerndes Rauschen … Leere … Sekunden verschwanden in einem schwarzen Loch … Plötzlich ein dumpfer Schlag, ein Ächzen und gleichzeitig ein leises Knirschen. Sie fuhr herum. Ihr Verstand weigerte sich sekundenlang, zu akzeptieren, was sie sah.
Ludwig lag auf dem bunten Flickenteppich. Sein Körper verdreht. Aus einer Wunde im Nacken sickerte ein fadendünnes Rinnsal Blut. Etwas Helles stand daraus hervor. Ein Wirbel. Sannes Beine gaben nach. Plötzlich saß sie auf dem Teppich. Totenstille. Dann ein Wimmern. Mit einem Satz sprang sie auf, beugte sich über das Kind.
Die Wangen waren noch gerötet, das Haar schweißverklebt. Vor Sekunden noch hatte Ludwig gelebt. Doch nun war aus seinen Augen das Leben gewichen.
Das Wimmern schwoll an, wurde lauter und lauter, bis ein Schrei emporstieg, sich löste wie glühendes Gestein aus den Tiefen und alles unter sich begrub.
Herr Kater sprang fauchend vom Schemel, rannte zur Tür und holte Sanne so in die Realität zurück. Der Nachhall ihres Schreis hing noch im Raum. Sie ging zur Tür, schob mit zitternden Fingern den Riegel zurück und ließ den verstörten Kater hinaus.
Frostkalte Luft strömte in die Werkstatt. Sie sank auf den Schemel und dachte minutenlang nichts. Gar nichts, bis das Mantra der ewig selben Fragen in ihr aufstieg. Was war geschehen? Was, um Gottes willen, war nur geschehen, in diesen Sekunden, die ihr fehlten?
2
Es war kurz nach fünf und bereits dämmrig. Eugen Voigt sah aus dem Fenster. Er mochte weder Herbst noch Winter. Zu kalt, zu matschig. Selbst frisch gefallenem Schnee konnte er nichts abgewinnen. Rasend schnell wurde er zu einer dreckig-grauen Pampe, die niemand wegräumte und Gehwege in tödliche Fallen verwandelte. Im Winter vor zwei Jahren war er schlimm gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. Seither litt er unter Schmerzen. Egal ob er saß, stand, ging oder lag, seine Knochen quälten ihn in jeder Lebenslage, vor allem bei nasskaltem Wetter. Er mochte die kalte Jahreszeit nicht. Genau genommen mochte er auch den Frühling nicht. Zu unbeständig. Und der Sommer … Na ja, in Griechenland oder Spanien könnte man ihn sicher gut ertragen. Wärme würde den Schmerz vertreiben. Da war sich Eugen Voigt sicher. Doch für eine derartige Reise fehlte ihm das Geld. Als Folge des Sturzes war er seit einigen Wochen Frührentner und konnte derartige Träume vergessen. Er war verurteilt zum Urlaub in München bis ans Ende seiner Tage. Und wem hatte er das zu verdanken? Jemandem, der seiner Räumpflicht nicht nachgekommen war. Der Prozess mit der Versicherung lief und lief und würde wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag währen. Der Anwalt hatte wenig Hoffnung, ein ordentliches Schmerzensgeld herauszuschlagen. Die Schuldfrage war noch immer ungeklärt.
Wenn wenigstens Margot noch bei ihm wäre. Doch sie hatte ihn verlassen. Schon vor vier Jahren, nach über zwanzig Jahren wilder Ehe. Warum? Das hatte er bis heute nicht verstanden.
Was blieb ihm also noch vom Leben?
Seine Schefflera, ein bis an die Decke reichender Ficus Benjamini, eine üppige Dieffenbachia und sein ganzer Stolz, ein mannshoher Kaffeestrauch. Diese Pflanzen umsorgte und pflegte er wie Kinder. Kinder, die ihm nie widersprachen und ihn für seine Fürsorge belohnten, indem sie gut gediehen. Der Mensch brauchte eben eine Aufgabe. Oder zwei. Mit Wässern, Düngen, Beschneiden und Umtopfen war Eugen nicht ausgelastet.
Ächzend verlagerte er das Gewicht aufs andere Bein und stützte sich dabei mit den Armen auf dem Fensterbrett ab. Ein Kissen sorgte dort für ein wenig Komfort.
Seit er Frührentner war, hatte er mehr Zeit für ein Hobby, mit dem er schon vor Margots Auszug begonnen hatte. Block, Stift und die Kamera lagen bereit. Zwölf Megapixel, Spiegelreflex mit einem Teleobjektiv von 300 mm Brennweite. Das hatte er schon vor Jahren gekauft. In den guten Zeiten. Heute, mit seiner gekürzten Rente, wäre ein solcher Luxus nicht drin.
Eugen blickte aus dem Schlafzimmerfenster seiner Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines Nachkriegsbaus befand, auf die Straße.
Einer noch, und er hatte die Tausend voll. Zur Feier des Tages hatte er bereits eine Flasche Wein aus dem Supermarkt kalt gestellt. Dazu gab es Kassler und Sauerkraut.
Zehn Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde würde es noch hell genug sein, um eine gute Aufnahme zu machen. Irgendein Depp würde sich doch heute noch finden, der glaubte, dass Regeln nur für andere galten. So wie Nummer 999, ein dunkelblauer SUV, der schon seit fünfzehn Minuten in der Feuerwehranfahrtszone ein Stück weiter unten in der Straße parkte. Mit dem Teleobjektiv hatte Eugen ihn erwischt. Kennzeichen, Datum und Uhrzeit waren in den dafür vorgesehenen Spalten auf dem Block notiert.
Im Haus gegenüber brannten bereits seit einer Stunde alle Lichter in den Erdgeschossräumen. Was für eine Energieverschwendung. Dieser Architekt, der dort sein Büro hatte, schien keine Geldsorgen zu haben. Schicke Anzüge, tolle Frau, dickes Auto. 22-mal hatte Eugen ihn schon angezeigt. Parken auf dem Gehweg, im absoluten Halteverbot, in der Feuerwehranfahrtszone und natürlich wegen Fahrens durch eine Einbahnstraße in verkehrter Richtung. Diese Abkürzung nahmen viele. Fünfzig Meter durch eine einspurige Gasse, die ein Stück weiter oben abzweigte, und man ersparte sich einen Umweg von mehreren hundert Metern. Seit Eugen aufpasste, trauten sich die Anwohner allerdings nur noch selten, diesen Weg zu nutzen. Nummer 1000 würde der Architekt Jens Flade daher vermutlich nicht werden.
Langsam wurde Eugen ungeduldig. Er hatte sich darauf eingestellt, heute zu feiern, und wollte es nicht auf morgen verschieben. Sicherheitshalber drehte er mit der ISO-Einstellung die Lichtempfindlichkeit der Kamera höher. So konnte er auch bei wenig Licht gute Aufnahmen machen.
Kaum war er damit fertig, rührte sich im Haus gegenüber etwas. Die Lichter im Architekturbüro verlöschten. Einen Augenblick später wurde weiter unten in der Straße der SUV gestartet. Wenn er Glück hatte, würde der Fahrer die Abkürzung nehmen. Wer rücksichtslos parkte, fuhr auch so.
Eugen öffnete das Fenster, griff nach der Kamera und machte sich bereit. Kälte drang ins Zimmer. Die Tür im Haus gegenüber wurde geöffnet. Flade trat heraus. Er hielt sein Handy ans Ohr gepresst und blieb einen Moment telefonierend auf dem Gehweg stehen.
Der SUV blinkte und parkte aus. Eugen konzentrierte sich auf das Fahrzeug, fokussierte es im Sucher und folgte ihm. Im Gegensatz zu Flade war der Halter ein Energiesparer. Die Scheinwerfer blieben aus. Dunkel war es ja noch nicht. Bei Zwielicht war Beleuchtung nicht zwingend vorgeschrieben.
Der Wagen fuhr am Fenster vorbei. Inzwischen überquerte Flade die Straße. Mit der einen Hand noch immer das Handy am Ohr, mit der anderen zog er die Wagenschlüssel aus der Manteltasche. Das Auto fuhr auf den Mann zu. So langsam sollte der mal vom Gas gehen, dachte Eugen. Instinktiv drückte er den Auslöser, da hörte er schon den dumpfen Aufprall. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Der Zeigefinger blieb auf dem kleinen Knopf. In rascher Folge klickte es. Flade wurde auf die Straße geschleudert und Sekundenbruchteile später überrollt. Bremslichter leuchteten auf. Der SUV hielt an. Niemand stieg aus. Eugen fotografierte noch immer. Das Fahrzeug fuhr an, als sei nichts geschehen, und verschwand durch die Einbahnstraße. Stimmen wurden laut. Aus der Bäckerei kam eine Frau gelaufen. Ein Radfahrer stoppte. Jemand schrie, man solle einen Notarzt rufen. Eugen schloss das Fenster und zog die Gardinen vor. Nummer 1000 hatte er im Kasten. Seine Hände zitterten.
Aus dem Kühlschrank holte er die Flasche Wein und schob das Kassler in die Mikrowelle.
Was genau war eigentlich passiert?
Während sein Essen aufgewärmt wurde, trank Eugen auf den Schreck einen Obstbrand und sah sich dann auf dem Display die Aufnahmen an.
Der Wagen war nicht schnell gefahren. Seiner Schätzung nach etwa vierzig, vielleicht etwas mehr. So brachte man niemanden absichtlich um. Da gab man richtig Gas, wollte sicher sein, dass es auch klappte, und vor allem verschwand man schnellstens und machte am besten vorher die Nummernschilder unkenntlich.
Flade hatte telefoniert, war also abgelenkt gewesen, und außerdem hatte er dunkle Kleidung getragen. Vermutlich hatte der Fahrer des SUV ihn in der Dämmerung übersehen und Flade hatte das Fahrzeug nicht bemerkt.
Tragisch. Schrecklich. Ein furchtbares Unglück. Eugen trank noch einen Obstler.
3
Gemeinsam mit Gina verließ Dühnfort das Polizeipräsidium. »Sollen wir erst zu Marcello gehen, oder willst du dich gleich ins Gewühl stürzen?«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Gina schmunzelte. »Ein Espresso ist doch ein gutes Ziel beim Marathon durch die Möbelhäuser.«
»Ich dachte eher an Doping vor dem Start.«
Gina erklärte sich kurzentschlossen zur Anti-Doping-Beauftragten, versprach aber, bei akuten Entzugserscheinungen seinerseits Milde walten zu lassen. »Neuerdings gibt es ja an jeder Straßenecke drei Coffeeshops.«
Als sie die Fußgängerzone erreichten und aus dem Blickfeld ihres Arbeitsplatzes verschwanden, glitt seine Hand für einen Moment in ihre.
Gina, die eigentlich Regina hieß, wie sie ihm neulich nach Abnehmen eines Schweigegelöbnisses anvertraut hatte, war nicht nur seine Kollegin, gute Freundin und vor allem seine Lebensretterin, die ihn aus dem eiskalten Starnberger See gezogen hatte. Seit beinahe vier Monaten waren sie auch ein Paar. Ein heimliches, dessen Beziehung außerdem keinen leichten Start gehabt hatte.
Während einer Ermittlung im Sommer hatte Dühnfort bemerkt, dass er sich nach mehr sehnte als nur Ginas Freundschaft. Doch er hatte seinen Gefühlen nicht getraut und sich zurückgezogen, obwohl er wusste, was sie für ihn empfand. Ich wäre lieber mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. So, nun weißt du das! Zornig hatte sie ihm diese Worte an den Kopf geworfen. Bei dieser Erinnerung musste er lächeln. Sicher die ungewöhnlichste Liebeserklärung, die er je erhalten hatte. Nun ja, viele waren es ohnehin nicht gewesen. Und das war gut so. Er war keiner, der Kerben in seine Bettpfosten schnitzte, wie Gina das mal in Bezug auf ihren Kollegen Alois Fünfanger genannt hatte.
Obwohl er seinen Gefühlen nicht traute, waren Gina und er dennoch eines Nachts im Bett gelandet. Danach hatte sie so getan, als wäre nichts gewesen. Selbstschutz, wie er vermutete. Denn sie glaubte, dass er sich noch immer zu Agnes hingezogen fühlte, zu der Frau, die sich ein Jahr zuvor von ihm getrennt hatte. Kurz und gut: Es war kompliziert gewesen. Bei einer Flasche Merlot mit seinem Freund Schorsch war ihm jedoch klar geworden, dass eigentlich alles ganz einfach war. Er hatte sich in Gina verliebt.
»Wo ist das Problem, Tino?«, hatte der Schorsch gesagt. »Lad sie ein. Koch was Leckeres, und der Rest ergibt sich von ganz allein.«
Gina hakte sich bei ihm ein. »Wollen wir mit dem Möbelladen im Tal anfangen?«
»Warum nicht? Er liegt am nächsten.«
Sie hatten sich den Nachmittag freigenommen und bauten so einige ihrer unzähligen Überstunden ab, um endlich ein neues Bett für ihn zu kaufen. Denn seines war mit einem Meter zwanzig auf Dauer zu schmal für zwei. Einer lag meist absturzbedroht an der Kante, und das war nicht nur unbequem, sondern sorgte mittelfristig für ein Schlafdefizit, das in seinem Alter zu Gereiztheit führte. Es war also höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern.
Die Suche entwickelte sich allerdings schwieriger als gedacht. Es gab kaum Betten, die ihm gefielen. Und die, die ihm zusagten, passten entweder nicht zu seiner Schlafzimmereinrichtung oder waren zu teure Designerstücke. Nach über drei Stunden hatten sie alle Möbelgeschäfte der Innenstadt durch und landeten, einem Tipp von Ginas Mutter folgend, nun bei Radspieler.
Als der Verkäufer sie durch die Ausstellungsräume führte, sah Dühnfort es sofort. Das Bett, nachdem er unbewusst gesucht hatte. Eines von Lloyd Loom aus einem Geflecht, das wie Rattan aussah, aber aus gedrehten Papierketten bestand, die einen Metalldraht als Kern enthielten. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte man Salons und Decks von Ozeandampfern mit Stühlen und Sesseln aus diesem Material ausgestattet. Hohe Qualität und zeitloses Design, das zu seinen Möbeln passte. »Warum sind wir nicht gleich hierhergegangen?«
Gina hob die Hände. »Wir könnten schon längst bei einem Cappuccino sitzen.« Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wandte sie sich an den Verkäufer. »Wir nehmen es. Packen Sie es ein.«
»Unsere Tüten sind leider nicht passend für dieses Format«, entgegnete der Mann. »Wir könnten es liefern.«
Dühnfort liebte Gina, und in diesem Augenblick spürte er es intensiver als je zuvor. Sie machte sein Leben leichter, fröhlicher, unbeschwerter, und vor allem hatte sie die Einsamkeit daraus vertrieben. Fasziniert folgte er dem Dialog, der noch ein Weilchen auf demselben Niveau weiterging, bis der Kauf abgeschlossen und ein Liefertermin vereinbart war.
Als sie auf die Straße traten, nahm er sie in den Arm, küsste sie und dachte nicht daran, dass man sie dabei beobachten und sie auffliegen könnten.
»He, hallo!« Ein wenig atemlos löste Gina sich von ihm. »Das Bett wird erst in ein paar Tagen geliefert, und irgendwie sind wir hier so öffentlich.« Rasch zog sie ihn in einen Hauseingang und erwiderte seinen Kuss.
Dühnfort fühlte sich, als wäre er siebzehn und müsste sich beim Knutschen vor seinem Vater verstecken. Aber es war nicht der Vater, sondern die Kollegen und Vorgesetzen, die nicht wissen durften, dass Gina und er ein Paar waren. Jedenfalls, wenn es nach ihr ging. Er hätte es gerne offiziell gemacht. Doch das würde eine Entscheidung nach sich ziehen, die Gina noch hinauszögern wollte. Es ging allerdings schon zu lange gut. Irgendwann würde jemand eine der vertraulichen Gesten bemerken, die zwischen ihnen so selbstverständlich geworden waren, dass sie immer häufiger vergaßen, auf das Umfeld zu achten. Über kurz oder lang würden sie sich beruflich trennen müssen, denn er war ihr Chef.
Als seine Partnerin hatte sie ein Aussageverweigerungsrecht, falls es wegen eines Einsatzes zu Ermittlungen gegen ihn kommen sollte, und umgekehrt. Außerdem musste Dühnfort als Vorgesetzter nicht nur Beurteilungen über seine Mitarbeiter schreiben, sondern auch über Urlaubsanträge entscheiden, ebenso über Einsätze und Weiterbildungskurse, und dabei konnte er seine Partnerin bevorzugen. Auch wenn er das nicht tat und objektiv blieb, konnte der Eindruck von Parteilichkeit entstehen und Unruhe ins Team tragen. Also musste einer von ihnen in eine andere Kommission oder Abteilung wechseln. Und wer das war, sah der Dienstherr ebenfalls vor. Nicht der Vorgesetzte.
Gina war mit Leib und Seele Mordermittlerin und seit Jahren unersetzliche Kollegin in Dühnforts Team. Sie grub sich regelrecht in die Fälle ein und zog regelmäßig mit erstaunlicher Hartnäckigkeit neue Fakten ans Tageslicht. Sie war einfach gut. Eigentlich wollte er sie in seinem Team nicht missen. Und sie wollte nicht gehen. Doch es ließ sich nicht verhindern, und deshalb drängte Dühnfort in letzter Zeit darauf, das Versteckspiel zu beenden.
»Du grübelst wieder.« Gina strich über eine Falte an seiner Nasenwurzel. »Helmbichler? Oder lässt dich das kalt?«
Dühnfort schob das eine Problem beiseite und besann sich auf das andere. »Nein. Das nicht. Aber man sollte es auch nicht überbewerten. Es ist beinahe sieben Jahre her, dass er Rache geschworen hat, und in der letzten Zeit hat er es nicht wiederholt.«
»Vielleicht Taktik. Jetzt ist er raus. Jetzt hat er die Möglichkeit. Vorher, den Umständen entsprechend, nicht.« Ein halbherziges Lächeln erschien auf Ginas Gesicht.
Dühnfort nahm die Warnung nicht auf die leichte Schulter, die sein Chef, Kriminaloberrat Leonhard Heigl, ihm vor einigen Tagen hatte zukommen lassen, aber er sah auch keinen Grund, in Panik oder übertriebene Vorsicht zu verfallen. Helmbichler war letzte Woche entlassen worden und in Passau bei Verwandten untergekommen.
»Komm, lass uns zu Marcello gehen.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, in der Erwartung, dass sie ihn gleich wieder abschütteln würde. Er liebte Gina und wollte das auch zeigen. Andererseits … Er verstand sie ja. Also ließ er den Arm wieder sinken. Schweigend gingen sie die Hackenstraße entlang. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt und ließ die kahlen Bäume, flanierenden Menschen und dichtstehenden Häuser lange Schatten werfen. Marcellos kleine Espressobar am Rindermarkt war überfüllt. Sie schlenderten weiter über den Viktualienmarkt zum Stadtcafé.
»Passau ist nicht aus der Welt. Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.« Gina schob die Hände fröstelnd in die Manteltaschen. »Ich habe mich mal umgehört. Helmbichlers Frau hat sich scheiden lassen, während er saß. Das Geschäft ist in Konkurs gegangen, und das Haus wurde versteigert. Er hat alles verloren. Und er fühlt sich von dir geleimt. Er wird dir die Schuld an seinem Untergang geben.«
Eine Messerstecherei vor sieben Jahren war Dühnforts erster Fall in München gewesen. Es gab Zeugen und es gab Sachbeweise. Unauffindbar blieb allerdings die Tatwaffe, laut Aussagen ein Butterflymesser. Helmbichler rückte schnell in den Fokus der Ermittlungen, die Beweislage war erdrückend. Was fehlte, um den Fall rundum abzuschließen, waren die Waffe und ein Geständnis. Und das hatte Dühnfort ihm in einer langen Nacht ebenso entlockt wie den Hinweis, wo das Messer zu finden war. Am nächsten Tag hatte Helmbichler das Geständnis widerrufen. Trotzdem wurde er aufgrund einer lückenlosen Indizienkette wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt und hatte damals geschworen, an Dühnfort Rache zu nehmen, dem Mistkerl, der ihn gelinkt hatte.
»Schuld hat alleine er.« Ein Stein lag auf dem Pflaster. Dühnfort kickte ihn beiseite. »Die Verantwortung für sein Handeln trägt jeder selbst. Helmbichler hat seine Strafe verbüßt und kann neu beginnen. Diese Chance sollte er nutzen.« So weit die Theorie, fügte er in Gedanken hinzu. Einfacher war es natürlich, die Schuld von sich zu weisen und anderen unterzujubeln. So wurde man zum bemitleidenswerten Opfer. »Mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf mich auf.« Er strich ihr eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
»Jedenfalls solltest du deine Dienstwaffe in nächster Zeit immer bei dir tragen. Versprich mir das, ja?« In ihren dunklen Augen lag Sorge, die von einem Lächeln vertrieben wurde. »Auch wenn du im Ernstfall vermutlich danebenschießt. Es würde mich trotzdem beruhigen.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. Beim letzten Schießtraining hatte er keinen guten Tag gehabt. Ganz im Gegensatz zu Alois. Der hatte wieder einmal die volle Punktzahl abgeräumt, was Gina zu der Vermutung veranlasst hatte, er verwende ferngesteuerte Projektile.
Sie erreichten das Stadtcafé. Gina rieb sich die Hände. »Saukalt heute. Jetzt freue ich mich richtig auf einen heißen Cappuccino mit ganz viel Milchschaum.«
Das Handy in Dühnforts Manteltasche begann zu vibrieren. Er zog es hervor, während er Gina die Tür aufhielt. Staatsanwalt Christoph Leyenfels meldete sich. »Hallo, Tino, tut mir leid, dich zu stören. Wir haben hier einen etwas seltsamen Verkehrsunfall mit einem Toten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ihr das übernehmt.«
4
Gina stoppte den Wagen an der Polizeiabsperrung. »Sind wir jetzt Leyenfels’ Wellnessteam, oder was? Er würde sich wohler fühlen …« Sie verdrehte die Augen.
Inzwischen war es dunkel geworden. Rotierende Blaulichter und die Scheinwerfer der Einsatzfahrzeuge erhellten den gesperrten Straßenabschnitt. Ein Notarztwagen verließ den Unfallort. Gina wies sich aus. Die Kollegen winkten sie durch. Nach fünfzig Metern stoppte sie neben dem Bus des Unfallkommandos. Weiter vorne leuchtete eine Abdeckplane hell in die Dunkelheit. Darunter lag der Tote. Hinter der Absperrung hatten sich Schaulustige versammelt. Immer wieder flammten Blitzlichter auf. Was machten die Leute nur mit diesen Bildern?
»Wir schauen uns das jetzt an und dann sehen wir weiter, Frau Kollegin.« Dühnfort zwinkerte Gina zu und stieg aus.
»Aber sicher doch, Boss.« Mit einem leisen Plong ließ sie die Tür zufallen.
Die Luft war beißend kalt. Stimmengewirr drang von der Absperrung herüber. Etliche Fenster der angrenzenden Häuser waren trotz der Kälte geöffnet. Neugierige blickten auf die Straße. Heute blieben die Flachbildschirme dunkel. Heute gab es die Show live vor der Haustür. Dühnfort schlug den Kragen hoch, steckte die Hände in die Manteltaschen und sah sich nach dem Staatsanwalt um.
Ein Leichenwagen des städtischen Bestattungsinstituts fuhr vor. Leyenfels hatte die Obduktion also schon angeordnet. Dühnfort entdeckte ihn auf der anderen Straßenseite in einer Bäckerei. Er stand an einem Stehtisch und besprach sich mit dem Leiter des Unfallkommandos.
»Ich höre mich mal ein bisschen um.« Gina wandte sich ab und stapfte auf den Bus zu, in dem ein Zeuge seine Aussage zu Protokoll gab.
Dühnfort sah ihr einen Moment nach, bevor er die Bäckerei betrat. Wärme umfing ihn. Der würzige Duft nach Bauernbrot stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Hinter dem Tresen stand eine Verkäuferin und polierte die Ablagefläche.
Der Staatsanwalt war ein Mann mit über eins neunzig Körpergröße, dem ein leicht gebückter Gang zu eigen war. Schlürfend beugte er sich über eine Tasse Kaffee, die er abstellte, als er Dühnfort entdeckte. »Hallo, Tino. Lausiges Wetter heute.«
Dühnfort begrüßte Leyenfels und dann den Leiter des Unfallkommandos. Volker Schellenberg, ein drahtiger Mittfünfziger mit Bürstenhaarschnitt, reichte Dühnfort die Hand. »Schön, dass Sie da sind. Ich denke, der Fall gehört der Kripo.«
Das beteiligte Unfallfahrzeug hatte Dühnfort nicht entdeckt. Sachbeweise, die Schellenbergs Einschätzung stützten, gab es also nicht. Wenn er statt Unfallflucht einen Mordanschlag vermutete, konnte das nur einen Grund haben.
»Ich hoffe, es gibt mehr als einen Zeugen.« In der Bäckerei war es warm. Dühnfort knöpfte den Mantel auf.
»Zwei. Sie haben das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtet, und ihre Aussagen decken sich.« Der Stehtisch wackelte, als Schellenberg sich aufstützte.
Zeugenaussagen waren eine Sache für sich. Das Gedächtnis war nur allzu gern bereit, fehlende Kausalzusammenhänge selbst herzustellen und dann für bare Münze zu nehmen. Dühnfort war skeptisch. »Aufzeichnungen einer Überwachungskamera wären mir ehrlich gesagt lieber.«
»Gibt es leider nicht. Ich schätze die Zeugen als zuverlässig ein. Sie sind keine sehbehinderten und Hörgeräte tragenden Rentner.« Ein verärgertes Lächeln erschien für einen Augenblick auf Schellenbergs Gesicht. »Jens Flade, so heißt der Tote, wurde ohne zu zögern überfahren und der beteiligte Wagen erst fünfundzwanzig Meter hinter der Unfallstelle abgebremst, als der Fahrer kurz hielt. Selbst wenn der Fahrer Flade in der Dämmerung nicht gesehen haben sollte, ist der Tritt auf die Bremse bei einem Unfall ein Reflex. Es sei denn, man hat nicht vor, auf die Bremse zu treten.«
Das zu späte Aufleuchten von Bremslichtern war also alles, was für ein Tötungsdelikt sprach. Dühnfort war von seiner Zuständigkeit nicht überzeugt. »Ich würde gerne mit den Zeugen reden. Sind sie noch hier?«
»Ihr übernehmt das also.« Leyenfels legte zwei Münzen auf den Tisch und zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke zu. »Und halt mich auf dem Laufenden.« Er nickte Dühnfort zu, dann Schellenberg, und verließ die Bäckerei.
»Sie warten in unserem Bus«, beantwortete Schellenberg die noch offene Frage.
Na prima, dachte Dühnfort. Sicher unterhalten sie sich seit einer halben Stunde über nichts anderes als den Unfall. Da gleichen sich die Aussagen ganz von selbst an.
Doch diese Vermutung musste er revidieren. Die Zeugen waren getrennt untergebracht. Oberstleutnant Phillip Büttner saß auf dem Beifahrersitz und las in einem Buch. Die Studentin Marie Sittler wartete im hinteren Teil des Busses, der mit Tisch, Bank und Laptop für die Befragung von Zeugen ausgestattet war. Die junge Frau starrte in die Dunkelheit. Handy und MP3-Player lagen vor ihr auf dem Tisch.
Schellenberg stellte sie einander vor. Dühnfort setzte sich. Er sah Marie Sittler den Schrecken an. Ihr Teint war fahl, die Haltung verspannt. »Wie geht es Ihnen? Kann ich ein paar Fragen stellen?«
Sie nickte. »Geht schon.«
»Prima. Können Sie mir möglichst genau schildern, was Sie beobachtet haben?«
»Ja. Klar. Also, ich bin von der Bushaltestelle gekommen. Dahinten.« Sie deutete in die Dunkelheit. »Als ich kurz vor der Bäckerei war, habe ich den Mann gesehen. Er ging vom Gehweg auf die Straße und telefonierte. Gleichzeitig hat mich ein Auto überholt, ein dunkler Geländewagen. Er war erst langsam, hat dann aber beschleunigt. Ich habe mir noch gedacht, dass der jetzt doch bremsen muss, da hat es schon gekracht … Obwohl, gekracht ist falsch. Das war ein dumpfes Geräusch, eher leise … Was mit dem Mann genau geschehen ist … ob er auf die Motorhaube geschleudert wurde … oder so … Also, das habe ich nicht gesehen … Es war ja ein Geländewagen, ziemlich hoch. Der fuhr einfach weiter … und dann ruckelte der so komisch … als ob er über eine Bodenschwelle fährt … aber da war ja keine Schwelle.« Die Augen der jungen Frau bekamen einen feuchten Schimmer. »Dann habe ich den Mann wieder gesehen. Er lag auf der Straße. Also, der Wagen hat nicht gebremst. Der hat ihn einfach überrollt und ist weitergefahren, als ob nichts passiert wäre. Erst ein ganzes Stück weiter hinten hat er kurz gehalten. Dort, bei dem gelben Briefkasten.« Wieder wies sie hinaus in die Dunkelheit. »Da habe ich die Bremslichter gesehen, und in dem Moment ist mir klargeworden, dass der Kerl vorher überhaupt nicht gebremst hat. Ich meine, das tut man doch ganz automatisch. Zack, auf die Bremse, ohne nachzudenken. Ich habe aber nur einmal Bremslichter aufleuchten sehen. Ganz sicher.«
Dühnfort, der bisher seine Zweifel gehabt hatte, ob es sich nicht doch um einen Unfall mit Fahrerflucht handelte, beschlich ein ungutes Gefühl. Diese Zeugenaussage war sehr präzise. Fehlende Informationen schien Marie Sittler nicht durch Phantasie ergänzt zu haben. Die meisten Zeugen hätten ausgesagt, dass sie gesehen hatten, wie der Mann überfahren wurde. Marie Sittler nicht.
»Haben Sie die Farbe des Fahrzeugs erkennen können oder das Modell?«
»Das Modell? Nein. Mit Autos kenne ich mich nicht aus. Und die Farbe war einfach dunkel. Es war ja schon dämmrig. Vielleicht Dunkelblau oder Anthrazit. Könnte auch Schwarz gewesen sein.«
»Sie haben von einem Kerl gesprochen. Haben Sie den Fahrer gesehen?«
Die Studentin hatte ihn nicht gesehen und entschuldigte sich, dass sie Kerl gesagt hatte. Natürlich könnte auch eine Frau am Steuer gesessen sein. Der Wagen war nicht gerast, sondern ganz normal gefahren, vielleicht fünfzig, nachdem er beschleunigt hatte. Es hatten keine Reifen gequalmt oder gequietscht, wie in einem Actionfilm. »Es war so … wie soll ich sagen? Es war ganz unspektakulär. Und nun ist der Mann tot.«
Auf das Kennzeichen hatte sie nicht geachtet. Erst als der Fahrer nicht ausstieg und einfach weiterfuhr, hatte sie aufs Nummernschild geblickt. Doch das Auto war zu weit entfernt gewesen. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es ein Münchner Kennzeichen gewesen war.
Anschließend befragte Dühnfort den Oberstleutnant Phillip Büttner. Er war auf der anderen Seite der Straße gegangen, ein Stück vor Marie Sittler. Er war also näher am Unfallort gewesen. Mit anderen Worten erzählte er präzise und militärisch knapp dasselbe wie die Studentin. Ihm war allerdings aufgefallen, dass das Fahrzeug unbeleuchtet fuhr. Das wurde von einer weiteren Zeugin bestätigt, die das Geschehen aus der anderen Richtung und mit deutlich größerer Entfernung beobachtet hatte, erklärte Schellenberg. Büttner hatte den Fahrer nicht gesehen und auch das Kennzeichen nicht erkannt. Beim Fahrzeugtyp war er sich nicht sicher. Nissan, Toyota, Honda? Vermutlich etwas Asiatisches. Es war alles sehr schnell gegangen, und die hereinbrechende Dunkelheit hatte Beobachtungen nicht erleichtert.
Dühnfort bedankte sich und verließ den Bus. Inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Gina kam auf ihn zu. »Eine Frau aus dem Haus gegenüber hat beobachtet, dass der Unfallwagen zehn bis fünfzehn Minuten lang ein Stück weiter unten in der Straße parkte und genau in dem Moment losfuhr, als Flade das Haus verließ. Sieht so aus, als würden wir nicht grundlos auf unseren freien Abend verzichten.«
5
Seit Herr Kater sie gelegentlich auf ihrem Morgenspaziergang begleitete, fühlte Sanne sich paradoxerweise allein. Denn durch seine Anwesenheit betonte er die Einsamkeit, in die sie in den letzten Jahren langsam geschliddert war. Ganz unbeabsichtigt. Es war einfach geschehen.
Zuerst hatte sie das Studium abgebrochen. Im sechsten Semester Kunstgeschichte. Es erschien ihr sinnlos, und sie konnte sich auch nicht mehr konzentrieren. Dann hatte sie Manuel vertrieben. Drei Jahre waren sie zusammen gewesen. Doch nach Ludwigs Tod war sie zu einer Frau geworden, in der Manuel seine Sanne nicht mehr erkannte. Die Sanne, die lieber Party machte, als für Klausuren zu lernen, die spontan zu einem Wochenendtrip irgendwohin aufbrach und immer dort sein wollte, wo etwas los war, aus Angst, etwas zu versäumen. Immer mittendrin, immer Halligalli. Und nun?
Menschenansammlungen wurden ihr zuwider, und schließlich bekam sie in einer überfüllten U-Bahn ihre erste Panikattacke und dachte, sie müsste sterben. Kino, Theater, Konzerte begann sie ebenso zu meiden wie volle Läden am Wochenende und S- und U-Bahnen zur Rushhour. Manuel wollte seine alte Sanne wiederhaben. Es ging nicht.
Ludwigs Tod veränderte alles.
Der Einzige, der das verstand, war Thorsten. Der Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams, der sich an jenem schrecklichen Abend um sie gekümmert hatte, während seine Kollegen Ludwigs Eltern, Evelyn und Nils, beistanden.
Neun Monate nach dem schrecklichen Unfall hatte Manuel sich von ihr getrennt.
Das war lange her. Sanne schritt aus. Steine knirschten unter den Sohlen der Stiefel. Das Geräusch durchbrach die Stille, die über Feldern und Wiesen lag. Mit jedem Schritt wurde der beginnende Tag heller, verstärkte sich das fahlgelbe Band am Horizont. Aus der eben noch dunklen Silhouette des Dorfs, die vor ihr im Morgendunst lag, schälten sich allmählich Dächer und Gebäude, Bäume und Mauern. Herr Kater verließ den Weg und schnürte in die Wiese.
Nach der Trennung von Manuel war sie erst einmal bei ihren Eltern untergekrochen. Ihr Vater betrieb einen Handel mit Edelhölzern, die für die Innenausstattungen von Yachten ebenso Verwendung fanden wie für die von Fahrzeugen und Luxusboutiquen, und gelegentlich auch von Instrumentenbauern gekauft wurden. Daher kannte er Frederick Lüchow, einen Geigenbauer, der seine Werkstatt in Haidhausen betrieb.
Eines Tages schnappte Sanne ein Gespräch zwischen den beiden auf. Frederick suchte einen Lehrling für Bogenbau, doch es war schwierig, diese Lehrstelle zu besetzen. Was er über die Ausbildung erzählte, klang verlockend. Eine ruhige Werkstatt. Ein weiterer Rückzugsort und vor allem die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen. Sie war dreiundzwanzig. Es war höchste Zeit.
Eine Woche schnupperte sie bei Frederick in den Beruf hinein und spürte, dass er zu ihr passte. Keine Hektik, kein Stress. Mit ihren Händen zu arbeiten, aus unterschiedlichen Materialien und in verschiedenen Techniken einen Bogen zu erschaffen, bereitete ihr Freude und gab ihr das Gefühl, etwas zu erreichen.
Vor zwei Jahren hatte sie ihre Lehre beendet und sich selbständig gemacht. München war ihr zu laut geworden, zu lärmend, zu schrill, zu hektisch. Deshalb war sie in den Landkreis umgezogen, nach Paschkofen.
Beim Umzug hatte Thorsten ihr geholfen. Natürlich. Inzwischen war er zu einem guten Freund geworden. Eigentlich zu ihrem einzigen. Obwohl er den Umzug nicht guthieß, hatte er Kisten und Möbel geschleppt. Warum ziehst du dich derart aus dem Leben zurück? Ich verstehe es einfach nicht. Bestrafst du dich etwa selbst? Mir kommt es jedenfalls so vor. Als ob du dir nicht erlaubst, glücklich zu sein. Das ist doch unsinnig. Du musst Ludwigs Tod nicht sühnen. Magst du nicht doch endlich eine Therapie machen?
Sich selbst zu bestrafen, für Ludwigs Tod zu sühnen. Sie hatte Thorstens Überlegungen brüsk von sich gewiesen. Doch wenn sie ehrlich zu sich war, dann steckte ein Funken Wahrheit darin. Vielleicht sogar mehr als nur ein Funken.
Die Umrisse eines Joggers tauchten aus dem Dunst auf. Sanne gähnte. Die Müdigkeit saß ihr in den Knochen. Wieder hatte sie schlecht geschlafen. Es lag am Jahrestag. Wenn er vorüber war, würde es besser werden. Wie jedes Jahr. Alpträume und Erinnerungen würden für einige Zeit verschwinden. Diese Erinnerungen. Sie waren so erschreckend lebendig. Flashbacks. So nannte Thorsten sie. Ganz normal. Jedenfalls bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Doch sie hatte keine psychische Störung. Sie führte das Leben, das ihr guttat. Es war doch ganz normal, dass man eine derartige Katastrophe nicht vergaß, nicht einfach wegsteckte und weiterlebte, als sei nichts geschehen.
Ihr Atem stieg in weißen Wölkchen in den heller werdenden Morgen. Der Jogger kam näher. Es war der Buchhändler. Im Vorüberlaufen grüßte er und war vorbei, ehe sie antworten konnte.
Zwei Jahre lebte sie schon in Paschkofen und fühlte sich hier wohl. Auch wenn sie sich am Dorfleben nicht beteiligte, man kannte und grüßte sie. Irgendwie gehörte sie dazu. Genau wie die anderen Künstler und Handwerker, die im umgebauten Haupthaus und den zahlreichen Nebengebäuden des ehemaligen Guts lebten und ihre Werkstätten hatten. Bis auf den ehemaligen Schweinestall waren alle belegt.
Laura, die mit ihrem Mann Kachelöfen entwarf und fertigte, hatte Sanne vor ein paar Tagen erzählt, dass nun auch dieses letzte Häuschen vermietet war. Wer dort allerdings einzog, hatte der Dorffunk ihr noch nicht zugetragen. Die Gerüchte schwankten zwischen Schreiner, Bildhauer und Restaurator.
Die Kirchturmuhr schlug acht, als sie auf den Kiesweg einbog, der zu ihrem Haus führte. Herr Kater tauchte plötzlich neben ihr auf. Er sah zufrieden und satt aus. Sannes Magen knurrte. Zeit fürs Frühstück.
»Hattest du schon eine Maus, oder magst du einen Joghurt?«
Herr Kater verstand dieses Wort. Sie hatte es getestet. Auch wenn sie es beiläufig erwähnte, spitzte er die Ohren, so wie jetzt. Er blieb stehen und sah erwartungsvoll zu ihr hoch. Sie lachte. »Nicht hier, sondern daheim.«
Auch das verstand er, denn er lief schnurstracks aufs Haus zu. Doch plötzlich blieb er stehen und machte einen Buckel. Das Fell sträubte sich entlang der Wirbelsäule zu einem Kamm. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Was war los? Suchend sah sie sich um und entdeckte vor dem ehemaligen Schweinestall einen Umzugswagen und davor einen Hund. Ein großes und zotteliges Vieh, das wie eine Mischung aus Bobtail und Golden Retriever aussah und nun seinerseits Herrn Kater bemerkte. Bellend rannte er los. Der Kater floh mit einem Satz über den Zaun. Der Hund sprang hinterher, jagte durch das Dickicht abgestorbener Stängel des Staudenbeets, sprang über den Wassertrog, warf den Topf mit den erfrorenen Chrysanthemen um und blieb kläffend unter der Kastanie stehen, in deren kahle Äste sich Herr Kater geflüchtet hatte. Triumphierend blickte er herunter.
»Hamlet! Bei Fuß!«
Sanne fuhr herum. Vor ihr stand ein Mann vom Typ Highlander. Lange braune Locken, riesengroß und breitschultrig. Allerdings trug der Recke weder Kilt noch Fellumhang, sondern schmuddlige Jeans und ein versifftes Holzfällerhemd. Seine Augen sprühten vor Zorn. »Bei Fuß!« Mit der Hand schlug er gegen seinen Oberschenkel. Hamlet kehrte mit einem Satz über den Zaun zurück. Immerhin folgte das Vieh seinem Herrn.
Alles, was Sanne an einem Mann verabscheute, vereinigte sich in ihm. Fehlte nur das Breitschwert, um sein überbordendes Selbstbewusstsein und seinen Machtanspruch zu unterstreichen. Ihr Herz raste vor Angst und Wut. »Können Sie Ihren Köter nicht an die Leine nehmen!«
Einen Augenblick starrte er sie an. Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. »Ebenfalls auf gute Nachbarschaft.«
Was? Er war das, der den Schweinestall gemietet hatte? Dieser Highlander? Sie wollte ihn nicht als Nachbarn, und schon gar nicht seinen Hund! Sie hatte Angst vor Hunden. Und sie hatte Grund dazu. Als Kind war sie von einem in den Arm gebissen worden. Die Narben sah man heute noch.
»Niklas Domegall.« Er bot ihr die Hand.
Sie ergriff sie nicht. »Susanne Möbus«, erwiderte sie widerwillig. »Hamlet scheint ja der passende Name zu sein. Völlig wahnsinnig.«
Er ließ die Hand sinken. »Er folgt seinen Instinkten. Das ist ganz normal.« Domegall kraulte den Hund am Hals. »Und er folgt mir. Stimmt’s, Hamlet?«
Ein Macho. Ein echter Macho. Und ausgerechnet der wurde ihr neuer Nachbar. Es war nicht zu fassen. Wortlos ließ sie Domegall stehen. Herr Kater saß noch in der Kastanie.
6
Dühnfort trat aus dem Haus in der Pestalozzistraße, in dem er wohnte, und vermisste Gina an seiner Seite. Sie hatte die Nacht in ihrer WG verbracht.
Kurz nach sieben. Es war noch dämmrig. Nebel hing zwischen den Häusern. Einen Augenblick überlegte er, dann entschied er sich, den Weg zum Präsidium mit einem kleinen Umweg zu beginnen. Wie so häufig. Durch den nur wenige Schritte entfernten Eingang betrat er den Alten Südfriedhof. Das Tor aus Schmiedeeisen quietschte. Den Klang seiner Schritte dämpfte ein Teppich aus nassem, welkem Laub. Er genoss die Ruhe zwischen den efeuumrankten Grabsteinen, atmete feuchte Kühle ein und wurde dabei wach und klar im Kopf.
Die Ermittlungen waren gestern Nacht mit der üblichen Routine aufgenommen worden. Beim Morgenmeeting in einer Stunde, wenn die Fakten auf dem Tisch lagen, würde es sich zeigen, ob der Fall wirklich einer für die Mordkommission war. Noch hatte Dühnfort Zweifel.
Eine Krähe flog über den Weg und landete auf einem verwitterten Grabstein. Von irgendwoher drangen das Quietschen einer Straßenbahn und gedämpfter Verkehrslärm. Am Stephansplatz verließ Dühnfort den Friedhof und erreichte eine Viertelstunde später sein Büro.
Mit einer Hand schaltete er die Espressomaschine an, mit der anderen schloss er die Bürotür hinter sich. Den Mantel hängte er auf den Bügel und öffnete dann das Fenster, um die stickige Luft zu vertreiben.
Unter ihm lag der Frauenplatz. Die Bäume, die im Sommer so üppig Laub getragen hatten, reckten ihre kahlen Äste ins Grau. Der linke der Zwillingstürme der Frauenkirche verbarg seine schlanke Form hinter weißen Planen. Das Gerüst reichte bis zur Patina tragenden Haube. Auf der Baustelle rechter Hand dröhnten bereits die Maschinen. Münchens Innenstadt wird attraktiver. Das stand auf dem Bauschild für die neue Geschäftsstelle einer Bank. Eine Aussage, über die sich durchaus streiten ließ. Doch die Krönung des Ganzen war ein haushohes Werbeplakat, das die Baustelle verhüllte. Seit Wochen sah Dühnfort darauf. Ein Kerl vom Typ Latinlover im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte beugte sich über eine dunkelhaarige Schönheit im pinken Abendkleid, die ihren Arm lasziv um seinen Nacken gelegt hatte. Keine Werbung für Trauerkleidung, sondern für Kapselespresso. Und das war nichts anderes als eine etwas bessere Plörre, als sie der Kaffeeautomat im Flur vor Dühnforts Büro ausspuckte. Fünf Gramm Kaffee enthielten diese Dinger. Wie sollte man damit einen ordentlichen Espresso hinbekommen? Was auf diesem Plakat betrauert und zu Grabe getragen wurde, war die traditionelle Espressokultur.
Ohne ihn. Dühnfort schloss das Fenster. Die Maschine in seinem Büro war inzwischen aufgeheizt. Er schaltete das Mahlwerk ein und braute sich einen ordentlichen Espresso aus neun Gramm Pulver. So, wie sich das gehörte. Die Crema war perfekt. Braun und dicht. Ein Löffel Dark Muscovado Sugar hineingerührt, und Dühnfort war fit für den Tag.
Bis zum Morgenmeeting erledigte er Schreibkram. Darunter auch die Anträge von Gina und Alois. Beide wollten an einem Seminar der Gruppe F, Führung und Einsatz, im September teilnehmen. Doch seiner Kommission war nur ein Platz zugeteilt worden. Dühnfort versuchte die Entscheidung objektiv zu treffen. Gina war länger im Team und leistete die bessere Arbeit. Eigentlich war es keine Frage, wer an der Weiterbildung teilnehmen sollte. Dennoch fühlte er sich unwohl mit diesem Entschluss, als er sich um acht auf den Weg zum Morgenmeeting machte.
Vor dem Besprechungsraum traf er mit Schellenberg zusammen, der Uniform trug und unter dem Arm eine Mappe. »Wir sind so weit durch. Die Akte gehört euch.«
»Gut. Dann sehen wir uns das mal an.«
Am ovalen Konferenztisch hatten sich bereits Gina, Alois und Frank Buchholz von der KTU versammelt. Alois schenkte sich eine Tasse grünen Tee ein. Er war jünger als Dühnfort, wesentlich besser in Form, und seine Art, sich zu kleiden, führte hin und wieder zu dem Missverständnis, er sei der Leiter der Ermittlungen. Heute trug er einen Anzug mit Weste, dazu ein weißes Hemd und Krawatte.
Dühnfort warf Gina einen Blick zu und fing ihren auf. Ein Lächeln, das er erwiderte. Guten Morgen, Liebling. Der grob gestrickte Pullover aus zweierlei Brauntönen stand ihr gut. Vor allem im Zusammenspiel mit ihren Schokoladenaugen, dem dunklen Haar und der hellen Haut, die ihn gelegentlich an Milchschaum mit einer Prise Zimt denken ließ.
Stühle wurden gerückt. Alle setzten sich. Dühnfort gab das Wort gleich an Schellenberg, der aus seinen Unterlagen großformatige Fotos holte, die er an der Magnetwand befestigte. Sie zeigten den Unfallort, auf dem die Unfallspuren mit Linien und Symbolen gekennzeichnet waren. Normalerweise waren derartige Aufnahmen übersät mit Markierungen und Spurennummern. Doch bei diesen Bildern waren sie äußerst spärlich.
»Markieren, vermessen, skizzieren, fotografieren und dann daraus Schlüsse ziehen. Das ist unsere Arbeit.« Mit diesen Worten begann Schellenberg seine Analyse. »Hier war nicht viel zu tun. Wie man sieht, gibt es an diesem Unfallort weder Fahr- noch Bremsspuren, auch keine Kratz- oder Schlagspuren auf der Fahrbahn. Die einzigen Spuren auf dem Asphalt stammen vom Opfer. Radierspuren der Schuhsohlen.« Schellenberg wies auf eine Aufnahme, die dunklen Abrieb auf grauem Asphalt zeigte. »Bei den Situationsspuren haben wir nur die Endlage des Opfers. Das Unfallfahrzeug fehlt uns bekanntlich. Für die biologischen Spuren am Opfer und die Verletzungen ist die Rechtsmedizin zuständig. Ich tippe auf inneres Verbluten. Der Mann wurde von einem tonnenschweren Fahrzeug überrollt.«
Frank Buchholz fuhr sich mit der Linken über die Glatze, als wollte er sie polieren. Unterhalb des Doppelkinns lag der Rollkragen in Falten und ließ den Leiter der Kriminaltechnik halslos wirken. »Glasscherben wird es doch geben. Blinker? Scheinwerfer? Was ist mit Lackpartikeln?«
Schellenberg entnahm seinen Unterlagen einen Spurenbeutel und übergab ihn Buchholz. »Ein paar Scherben vom Scheinwerfer. Das ist alles. Lackpartikel haben wir am Unfallort keine sichern können. Vielleicht findet die Rechtsmedizin an der Kleidung des Opfers etwas. Das halte ich allerdings nicht für wahrscheinlich. Zwei Zeugen haben angegeben, dass der SUV mit einem verchromten Bullenfänger aufgemotzt war.«
Buchholz drehte das Tütchen zwischen den Fingern. »Gefühlt gibt es 48 000 verschiedene Scheinwerfergläser. Ob die paar Krümel ausreichen, um ein Modell zu identifizieren?« Er zog die Schultern hoch. »Glaube ich nicht.«
Alois wandte sich an Schellenberg. »Dass es keine Bremsspuren gibt, bedeutet aber nicht automatisch einen Tötungsvorsatz. Beinahe jedes Fahrzeug hat doch heute ABS.«
»Bei Unfällen mit ABS fehlen die Blockierspuren. Bremsspuren gibt es schon. Allerdings machen sie uns das Leben schwer, was die Berechnung von Geschwindigkeit, Geschwindigkeitsabbau und Fahrtrichtung angeht. Hier in diesem Fall haben wir aber nichts. Außerdem haben Zeugen gesehen, dass der Wagen erst fünfundzwanzig Meter hinter der Kollisionsstelle gebremst hat. Diese Aussagen und die Spurenlage ergänzen sich und sind für mich eindeutig. Der Unfall wurde absichtlich herbeigeführt.«
Doch das schien Alois nicht zu überzeugen. Er hakte nach. »Der Fahrer hat ausgeparkt und den Wagen ganz normal beschleunigt. So tötet man doch niemanden absichtlich. Wenn man das vorhat, dann gibt man richtig Gas. Ich tippe darauf, dass der Lenker unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand und gar nicht gepeilt hat, was passierte. Deshalb gibt es keine Bremsspuren. Ich denke, es handelt sich um Unfallflucht und wir sind nicht zuständig.«
Dühnfort war anderer Ansicht. »Es gibt einige Auffälligkeiten, die für ein Tötungsdelikt sprechen. Am offensichtlichsten ist das Fehlen jeglicher Bremsspuren. Außerdem parkte der Wagen etwa fünfzehn Minuten in der Nähe der Unfallstelle. In dem Moment, als Flade sein Büro verlässt, wird er gestartet und die Scheinwerfer bleiben aus. Das sind keine Zufälle. Jemand hat auf den Mann gewartet.«
»Zeugenaussagen. Du weißt doch, was die wert sind«, konterte Alois.
Mit einer Hand massierte Dühnfort die verspannte Nackenmuskulatur. Wieder einmal wollte Alois es sich leichtmachen. Er hatte einfach nicht den richtigen Biss. Seit anderthalb Jahren gehörte er zum Team, und noch immer hatte er sich nicht die Arbeitsweise angewöhnt, die Dühnfort von seinen Mitarbeitern erwartete. Einmal etwas zu übersehen und so einen Mörder ungeschoren davonkommen zu lassen, war seine größte Sorge. Sie war die Kraft, die ihn antrieb, sich für Gerechtigkeit, Strafe und Sühne einzusetzen. Es ging um Schicksale, um Menschen, und nicht um Fälle, die man abhakte.
Gina blätterte in ihrem Block. »Wer weiß. Vielleicht lässt sich das ganz einfach klären. Mit etwas Glück gibt es Fotos vom Unfall.«
»Fotos?« Alois gab seine angespannte Haltung auf und lehnte sich im Stuhl zurück.
»Wer hat sie gemacht?« Auch Dühnfort war überrascht.
»Einer der Anwohner hat ein Hobby. Nicht umsonst nennen ihn seine Nachbarn Knöllchen-Eugen. Eugen Voigt, 59, Verwaltungsangestellter im Frühruhestand, wohnt in einer Erdgeschosswohnung direkt an der Unfallstelle. Er verfügt über eine Profi-Fotoausrüstung und viel Zeit. Und die nutzt er, um Sheriff zu spielen. Er fotografiert die Anwohner beim Falschparken und zeigt sie an. Leider war er gestern Abend nicht da, als die Kollegen die Nachbarschaftsbefragung durchgeführt haben. Ich habe aber die Hoffnung, dass das zum Zeitpunkt des Unfalls nicht so war. Wenn wir Glück haben, hat er ihn fotografiert.«
7
Erst mittags ließ Herr Kater sich wieder blicken und begehrte Einlass. Sanne ging mit ihm in die Küche. Für ihn gab es verdünnten Joghurt und für sich schob sie den Rest Lasagne von gestern in die Mikrowelle. Dabei sah sie aus dem Fenster. Der Möbelwagen stand noch vor dem Nachbarhaus und wurde von zwei Männern entladen. Von Hamlet war weit und breit nichts zu sehen, ebenso von Domegall. Ein merkwürdiger Mann. Irgendwie unheimlich. Und ausgerechnet er war nun ihr neuer Nachbar. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich nicht wohl.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Domegall war doch da. Er stand vor ihrem Haus und betrachtete den Porsche eingehend von allen Seiten. Wie kam er dazu! Sie wollte, dass er ging. Doch sie traute sich nicht, das Fenster zu öffnen und ihm zuzurufen, er solle verschwinden.
Der Porsche. Ihre Rennsemmel, ihr Adrenalinkick. Er war das Einzige, das von ihrem alten Leben und von der alten Sanne geblieben war.
Im Sommer ihrer Geburt, vor 28 Jahren, hatte ihr Vater den Wagen gekauft, und 19 Jahre später, zum bestandenen Abi, hatte er ihn ihr geschenkt. Allerdings war er noch immer auf seine Firma zugelassen. Und das hatte zur Folge, dass die Knöllchen bei ihm landeten, wenn sie wieder einmal geblitzt worden war. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das aktuelle bei ihm aufschlug. Vor drei Wochen war sie in eine Radarfalle gerast. So richtig gerast. Das würde teuer werden.
Manchmal brauchte sie das eben. Wenn sie nicht schlafen konnte, wenn sie nicht denken wollte. Dann stieg sie in den Porsche, gab Gas, jagte über die Autobahn, bis Adrenalin jede Zelle ihres Körpers flutete und alle Gedanken an Ludwig vertrieb.
Ihr Mittagessen war warm. Sie setzte sich an den wackligen Tisch, den sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Vielleicht sollte sie sich doch mal richtige Möbel zulegen. Geld hatte sie genug. Sie gab ja so gut wie nichts von dem aus, was sie verdiente. Miete, Strom, Wasser, Briketts für die Öfen, ein paar Lebensmittel und ab und zu eine Tankfüllung.
Schöne Klamotten, neue Möbel, Reisen, Kino, Theater, all das reizte sie nicht. Vielleicht hatte Thorsten ja recht und sie erlaubte sich nichts davon. Sein Vorwurf, sie würde sich nicht gestatten, glücklich zu sein, war nicht so ganz von der Hand zu weisen. Wobei neue Möbel und schöne Kleidung nichts mit Glücklichsein zu tun hatten. Eher mit Zufriedenheit. Doch wie konnte sie es sich behaglich und schön machen, während Ludwig … Es klang so albern, wenn sie das in Worte zu fassen versuchte. Doch dieses Gefühl ging tiefer als Worte. Viel tiefer. Schuld und Reue. Scham und Demut. Ein brennendes Gefühl von Versagen brannte seit Jahren in ihrem Innersten. Hätte sie doch nur besser aufgepasst. Wenn sie noch eine Geschichte vorgelesen hätte, oder …
Das Klingeln des Telefons riss Sanne aus ihren Gedanken. Sie war dankbar dafür. Die Lasagne war kalt geworden. Sie schob den Teller weg und ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand.
Ihr Vater meldete sich. »Diesmal hast du es aber übertrieben, Sanne.«
Sie ahnte, was er meinte. Der Bußgeldbescheid war gekommen. »So schlimm?«
»Beinahe zweihundert, in einem Abschnitt, in dem man hundertdreißig fahren darf. Sechshundert Euro Strafe, vier Punkte und drei Monate Führerscheinentzug. Ist dir das klar?« Seine Stimme klang verärgert. Doch sie hörte einen Unterton heraus. Sorge.
»Aber nur, wenn man den Fahrer identifizieren kann. Ich habe sicherheitshalber ein Basecap aufgesetzt …«
»Sicherheitshalber?«
»Du kannst doch sagen, dass jeder deiner Mitarbeiter den Wagen nehmen kann und du nicht weißt, wer ihn an diesem Tag gefahren hat. Oder?«
»Es war Nacht, Sanne. Nachts um drei. Was machst du um diese Zeit auf der Nürnberger Autobahn?«
»Heimfahren. Irgendjemand aus der Firma könnte doch den Wagen genommen haben. Theoretisch.« Wie sollte sie drei Monate ohne Auto auskommen?
»Ach, Sanne. Einmal kann ich das versuchen. Vielleicht komme ich damit durch. Allerdings werde ich dann ein Fahrtenbuch für den Wagen führen müssen. Noch mal geht das also nicht. Warum machst du das? Warum rast du so? Willst du dich umbringen?«
»Mensch, Paps. Das ist ein Porsche Carrera, den kann man gar nicht langsam fahren. Und die sechshundert Euro bezahle ich natürlich.«
»Na, das möchte ich auch hoffen. Aber darum geht es nicht. Pass auf dich auf, ja? Übertreibe es nicht. Ich mache mir Sorgen, und deine Mutter übrigens auch. Wie geht es dir sonst? Hast du genügend Aufträge?«
Sie beruhigte ihn auch in diesem Punkt und lenkte das Gespräch langsam weniger heiklen Themen zu.
Als sie sich schon verabschiedet hatten, stellte er noch eine Frage. »Sanne, Mädchen. Bist du eigentlich glücklich?«
»Natürlich. Auf meine Weise eben. Grüß Mama.« Sie legte auf und sah aus dem Fenster in den Garten.
Ob sie glücklich war? Was war denn das für eine Frage? Natürlich war sie das. Glück musste ja nichts Lautes, Buntes, Lärmendes sein. Kein dickes Bankkonto, kein Haus, kein Auto, kein Pferd.
Kein Vorzeigemann, keine wohlgeratene Kinderschar. Auch wenn sich bei diesem Gedanken etwas in ihr zusammenzog und einen dumpfen Schmerz hinterließ.
Du willst einfach nicht glücklich sein.
Das hatte Thorsten am letzten Sonntagmorgen gesagt, als sie neben ihm aufgewacht war und in total verliebte Augen geblickt hatte. Diese Nacht war ein Fehler gewesen. Ein ganz dummer Fehler.
Sie kehrte in die Küche zurück, stellte die Lasagne in den Kühlschrank und bemerkte bei einem Blick aus dem Fenster Hamlet, der den Weg entlanglief und zwei Enten aufscheuchte.
Was war schon Glück?
Es konnte ein grauer Kater sein, der hin und wieder zu Besuch kam, ein weit reichender Blick über Wiesen und Felder, und ein Duft nach Holz und Harz, vermischt mit einem Anflug mongolischer Steppe.
8
Dühnfort parkte vor einem Neubau mit hohen Glasfronten, der eine Baulücke im Stadtteil Schwabing schloss. Moderne meets Jugendstil. Der Kontrast gefiel ihm. Den Namen Flade fand er am Klingelbord der fünften Etage. Wieder einmal überlegte er, mehr für seine Fitness zu tun und die Treppe zu nehmen. Dennoch stieg er in den Lift. Bequemlichkeit, aber auch die unangenehme Vorstellung, atemlos und verschwitzt vor Flades Witwe zu treten, waren ausschlaggebend für diese Entscheidung.
Die Frau, die ihm öffnete, trug einen grauen Hosenanzug mit weißer Bluse und einer schmalen Silberkette. Sie war deutlich jenseits der sechzig und stellte sich als Gabriele Traut vor. »Ich bin Jens’ Schwiegermutter.« Ihre Augen waren gerötet. In der Hand hielt sie ein zerknülltes Papiertaschentuch. Sie führte ihn durch einen hellen Flur ins Wohnzimmer. »Bettina, der Mann von der Polizei ist da. Ich habe Kaffee vorbereitet. Oder mögen Sie lieber Tee?« Diese Frage galt ihm.
»Eine Tasse Kaffee wäre wunderbar.«
Gabriele Traut verschwand Richtung Küche. Dühnfort durchquerte den Raum. Die Südwand bestand aus einer einzigen Glasfront, die das Zimmer an diesem diesigen Tag in weiches Licht hüllte. Moderne Möbel in Weiß und Grau, heller Parkettboden, exklusive Musikanlage, Flachbildfernseher. Arm war Flade nicht gewesen.
Bettina Flade erhob sich von der Ledercouch. Sie war eine kleine Frau mit lebhaften Augen und einer blonden Kurzhaarfrisur. Vom Weinen hatte sie rote Flecken im Gesicht. Und sie war schwanger. Kugelrund wölbte sich der Bauch unter einem schwarzen Rippenstrickpulli. Siebter oder achter Monat. Er musste behutsam vorgehen.
»Dühnfort.« Er reichte ihr die Hand. »Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich einem Gespräch gewachsen?«
»Wie es mir geht?« Sie starrte ihn an. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Als ob eine unsichtbare Kraft an ihr zog, sank sie zurück aufs Sofa. Mit einem Taschentuch fuhr sie sich über die Augen. »Haben Sie den Kerl gefunden? Diese feige Sau, die einfach abgehauen ist.« Sie sah hoch. »Entschuldigung. Normalerweise drücke ich mich nicht so aus … Es ist so unfair. So schrecklich unfair.«
Natürlich ging sie von einem Unfall aus. Das machte es für ihn nicht leichter. »Wir arbeiten daran, und wir werden ihn finden. Ganz sicher.«