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Der packende neue Krimi der Bestsellerautorin:
Münchens beliebter Kommissar Dühnfort ermittelt wieder!
Seine Spiele enden tödlich ...
Es sind herausfordernde Zeiten für Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort. Nach der Kündigung der geliebten Münchner Mietwohnung hängt der Haussegen schief. Zudem bittet ihn eine norwegische Kollegin um dringende Hilfe: Ein deutsches Rentnerpaar ist vor seinem Ferienhaus im Fjord ertrunken, doch der Unfall wirkt inszeniert. Dühnfort ist alarmiert, als er kurz darauf auf einen ähnlichen Todesfall stößt. An beiden Tatorten wurde ein Spielstein eines Gesellschaftsspiels hinterlassen. Auf den ersten Blick enden hier die Gemeinsamkeiten – doch Dühnforts Intuition sagt ihm, dass er einer Serie von Verbrechen auf der Spur ist ... Und dass das Spiel des Täters noch lange nicht zu Ende ist.
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Seitenzahl: 519
Inge Löhnigs Krimireihe um Kommissar Dühnfort begeistert seit Jahren viele Leser*innen und erklimmt stets die Bestsellerlisten. Nach mehrjähriger Pause, in denen die Autorin unter dem Pseudonym Ellen Sandberg diverse SPIEGEL-Bestseller wie zuletzt Das Unrecht und Keine Reue veröffentlicht hat, meldet sich Kommissar Dühnfort nun zurück. Inge Löhnig schreibt seit vielen Jahren erfolgreich Romane und wurde 2022 mit dem Bayerischen Verfassungsorden ausgezeichnet. Sie lebt im Münchner Umland.
»Meisterhafte Erzählkunst verbindet sich bei dieser Autorin mit psychologischer Spannung.« Süddeutsche Zeitung
www.penguin-verlag.de
Inge Löhnig
Ein Fall für Kommissar Dühnfort
Kriminalroman
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ISBN 978-3-641-30661-8V001
ISBN 978-3-641-30661-8V001
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Dunkelheit senkte sich über Binz auf Rügen. Sie hüllte Häuser, Straßen und Bäume ein, den Strand, das Meer, alles verschwand darin, wurde umarmt, war geborgen. War sicher im Kokon der Nacht.
Was für ein verrückter Gedanke, dachte Emilia und warf ihrem Spiegelbild in der Scheibe einen tadelnden Blick zu, der zweifelnd erwidert wurde. Es lag an den asymmetrischen Augenbrauen, die ihr einen ewig skeptischen Ausdruck verliehen. Denn die linke war gerade, während die rechte Braue sich schwungvoll bog. Ein ernster Zug um ihre Mundwinkel unterstrich diesen Anschein von Vorsicht zusätzlich. Doch ihr Blick war warm und sie eine ausgeglichene Frau von Ende vierzig.
Emi wandte sich vom Fenster ihres Yogastudios ab und setzte sich an den Schreibtisch, um die Kurspläne für das erste Quartal des neuen Jahres auszuarbeiten. Es war nicht zu früh dafür. In zehn Tagen war schon Weihnachten.
Ihr graute vor den Festtagen, während Mark sich auf die Familienzeit freute. Zeit für uns, pflegte er zu sagen. Zeit für die Kinder, denen er jeden Wunsch von den Augen ablas, die er verwöhnte, aber auch ermutigte und die ihn deshalb bedingungslos liebten. Während er aus ihr im Laufe der letzten zwei oder drei Jahre ein unfähiges Wesen gemacht hatte. Wann das genau begonnen hatte, konnte sie nicht sagen. Es war ein schleichender Prozess gewesen. In seinen Augen war sie unfähig, einen Haushalt so zu führen, wie er es erwartete. Unfähig als Ehefrau, die man vorzeigen konnte. Unfähig als Geliebte, denn manche seiner Wünsche im Bett waren ihr zuwider. Unfähig, Auto zu fahren. Das sowieso, seit sie einen kleinen Auffahrunfall verursacht hatte. Unfähig, ihre beiden Kinder zu erziehen, denn sie war zu streng. Sie war unfähig, überhaupt irgendetwas richtig zu machen. Ständig kritisierte und korrigierte er sie auf freundliche und herablassende Art. Immer mit einem Lächeln im Gesicht. Alles wusste er besser, alles konnte er besser. Widersprach sie ihm oder machte sie ihn auf seine unterschwellige Aggressivität ihr gegenüber aufmerksam, stritt er alles ab, und manchmal gab es am Ende eines solchen Disputs das, was Mark einen freundschaftlichen Knuff nannte. Wenn ihm die Argumente ausgingen und er seinen unterdrückten Zorn auf sie nicht länger unter Kontrolle hatte, schlug er sie mit der Faust auf die Arme, den Brustkorb oder in den Bauch. Die blauen Flecken verbarg sie beim Yogaunterricht unter langärmligen Tops. Gott sei Dank geschah das nicht häufig, und niemand wusste davon. Außer Karin, ihrer besten Freundin, die das für sich behielt, weil Emi sich dafür schämte. Ihr war bewusst, wie dumm das war. Es lag nicht an ihr, sondern an ihm. Er müsste sich schämen. Doch sie tat es. Weil sie seine Gewalt zuließ. Weil etwas an ihr war, das ihn dazu brachte. Weil sie ein Opfer häuslicher Gewalt war. Psychischer wie physischer. Weil all das ihre Schuld war, wie er ihr ständig suggerierte. Einmal hatte sie eine Paartherapie vorgeschlagen, und er hatte das rundheraus abgelehnt. Er habe keine Probleme und brauche daher keine Therapie.
Es war Karin, die ihr riet, Mark zu verlassen, bevor er ihr auch noch den letzten Funken Selbstbewusstsein austrieb. Bevor er sie so weit brachte, das Yogastudio aufzugeben. Das war seit der Geburt der Kinder sein Wunsch und zurzeit wieder das Thema, auf dem er ständig herumritt. Er machte sich über die Teilnehmer lustig, die Geld fürs Atmen ausgaben. Er amüsierte sich über Emis Unfähigkeit, maximalen Profit aus dem Studio zu schlagen, denn seiner Meinung nach war mehr Gewinn drin. Er bezweifelte ihre Qualifikation als Yogalehrerin, denn sie hätte ja nun wirklich nicht mehr die Figur dafür. Und so weiter und so fort.
Emi starrte auf die Excel-Tabelle, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Gestern hatte sie während eines Telefonats mit Karin den Entschluss gefasst, sich von Mark zu trennen. Aber erst im neuen Jahr. Nach den Feiertagen. Der Kinder wegen. Über zwei Stunden hatten Karin und sie geredet und Pläne geschmiedet, bis sie von Mark unterbrochen wurden, der ins Schlafzimmer kam, wo sie telefonierte. Sie schreckte regelrecht auf, als er plötzlich vor ihr stand. »Liebling, was machst du denn so lange? Willst du nicht langsam das Abendessen vorbereiten?«
»Soll er das doch machen«, sagte Karin am anderen Ende der Leitung.
Natürlich hatte Emi sofort das Gespräch beendet. Seither fragte sie sich, ob Mark etwas von ihren Trennungsabsichten mitbekommen hatte. Sie glaubte es nicht, denn er hätte er sonst angesprochen und ihr erklärt, dass sie gar nicht in der Lage wäre, auf eigenen Beinen zu stehen. Und falls sie es doch versuchen sollte, würden die Kinder natürlich bei ihm bleiben. Doch er hatte sich wie immer verhalten. Am Abend hatte er seine Mutter in Hamburg angerufen, die sich ein neues Bücherregal gekauft hatte, und ihr seine Hilfe beim Aufbau angeboten. Heute Morgen war er losgefahren und würde erst am Sonntagnachmittag zurück sein. Sechsunddreißig Stunden ohne ihn fühlten sich für Emi wie ein Geschenk an.
Ihre Tochter Laura war heute mit Freunden unterwegs. Sie trafen sich zum Eislaufen und wollten danach ins Kino und anschließend zur Pyjamaparty bei Meike. Laura würde erst Sonntagmittag zu Hause auftauchen. Paul, der Ältere, war über das Wochenende mit seinem Verein beim Eishockeyturnier in Kiel und kam am Sonntagabend zurück. Es lagen wunderbare Stunden vor ihr, in denen niemand an ihr herumnörgeln konnte.
Emi vertiefte sich in die Kursplanung, während es draußen dunkel wurde. Im Yogastudio war es ruhig. Sie arbeitete konzentriert und war nach anderthalb Stunden fertig. Zufrieden schrieb sie Karin eine WhatsApp und verabredete sich mit ihr für acht Uhr beim Italiener. Noch anderthalb Stunden. Ausreichend Zeit, um nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.
Sie fuhr den Rechner herunter und absolvierte eine Runde durch ihr Studio. Der Yogaraum strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus. Der helle Holzboden und die indirekte Beleuchtung ließen ihn heimelig erscheinen, warm und freundlich. In den Regalen lagen die Matten, Kissen, Bolster und Yogablöcke. Nebenan befand sich der Umkleideraum, den Emi mit Bänken und Spinden aus Pinienholz hatte ausstatten lassen. Im anschließenden Bereich waren die Duschen untergebracht und dahinter Sauna, Tauchbecken, ein Jacuzzi und Liegen zum Ausruhen. Das alles war nicht nur ihr Werk, auf das sie stolz war. Es war auch ihr Eigentum. Das Studio lief auf ihren Namen. Mark würde nichts davon bekommen. Das Studio würde ihr helfen, sich von ihm zu lösen. Auch wenn er versuchen würde, das zu verhindern. Mit allen Mitteln. Er würde sie nicht gehen lassen. Diese Erkenntnis griff sich langsam Raum. Sie begann zu frösteln und schlang die Arme um sich. Unsinn, rief sie sich zur Ordnung. Du reagierst über. Er kann dich nicht zwingen zu bleiben. Doch eine undefinierbare Angst erfasste sie. Sie dachte an den Artikel, den sie erst vor Kurzem gelesen hatte. Jeden dritten Tag wurde in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet, weil er die Trennung nicht akzeptierte. Der gefährlichste Ort für eine Frau war nicht die einsame nächtliche Straße oder die Tiefgarage, sondern die eigene Wohnung. Emi schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es aber gut«, sagte sie halblaut zu sich selbst. »Genieß den Abend mit Karin und einem Glas Wein.« Sie kehrte in ihr Büro zurück, griff nach Jacke und Tasche, als sie einen kühlen Hauch hinter sich spürte und dann das leise Klacken hörte, mit dem die Tür ins Schloss fiel. War der Luftzug die Ursache dafür? Während ihres Rundgangs war ihr kein offenes Fenster aufgefallen. Sie schnellte in der Erwartung herum, allein im Raum zu sein. Doch das war sie nicht.
Der Anruf kam kurz vor Ende des Interviews, das Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort an diesem Tag Mitte September 2023 der Journalistin einer Münchner Boulevardzeitung gab. Für das Gespräch hatte er sich mit ihr in die Kantine des Kriminalfachdezernats 1 in der Münchner Hansastraße zurückgezogen. Ein Ort, den er selten aufsuchte. Denn das Leben war zu kurz, um schlecht zu essen. Aus dem gleichen Grund stand auch nur ein Glas Mineralwasser vor ihm, während sich die Journalistin Corinna May aus dem Automaten einen Becher Cappuccino geholt hatte, der Dühnforts Meinung nach diese Bezeichnung nicht verdiente.
Es war halb fünf nachmittags und die Kantine leer. Sie waren ungestört und unterhielten sich bereits seit einer halben Stunde über die Arbeit der sogenannten Profiler. Diesen plakativen Begriff benutzten die Medien gerne, um Dühnforts Arbeit zu beschreiben, obwohl er irreführend war. Denn das Erstellen eines Täterprofils war nur ein Teil seiner wesentlich umfangreicheren Arbeit als Fallanalytiker.
Er hatte Corinna May erklärt, dass die Abteilung Operative Fallanalyse, kurz OFA genannt, selbst keine Ermittlungen führte, sondern Sonderkommissionen unterstützte, die sich mit der Klärung von Tötungsdelikten, Vergewaltigungen, Serienbrandstiftungen und Terroranschlägen befassten. Bei ihrer Arbeit folgten sie weder Intuition noch Bauchgefühlen, wie manche glaubten. Sie arbeiteten ausschließlich mit Fakten und versuchten, einen Tathergang minutiös so zu rekonstruieren und zu analysieren, dass jede einzelne Entscheidung des Täters sichtbar wurde, und das waren bei einem Tötungsdelikt nicht wenige. Sie ließen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und damit eine Verhaltensbewertung des Täters zu. Das war ein Teil der OFA-Arbeit. Ein anderer bestand darin, Empfehlungen auszuarbeiten, wo und wie man den Täter suchen sollte. Kurz und gut: Sie waren Berater, nicht Ermittler.
»Und worin besteht nun der Benefit für eine Sonderkommission, wenn sie die OFA bei einem Fall hinzuzieht?« Die Journalistin schob sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. »Das habe ich noch nicht ganz verstanden. Worin sind Sie besser?«
»Diesen Begriff würde ich nicht verwenden. Es ist eine andere Aufgabenstellung.«
»Sie arbeiten den Sokos also zu?«
In Dühnforts Magengrube legte sich ein dumpfes Unbehagen. »Das könnte man so sagen.«
»Sie waren früher selbst Leiter einer Mordkommission. Vermissen Sie es nicht, die Fäden in der Hand zu halten?«
»Wieso sollte ich? Die Operative Fallanalyse ist eine interessante und spannende Aufgabe.«
»Aber am Ende präsentieren nicht Sie den Täter, sondern die Lorbeeren gehen an andere.« Fragend sah die junge Frau ihn an und schob wieder die lästige Strähne hinter das Ohr, die ihr ständig ins Gesicht fiel.
Eine leichte Gereiztheit stieg in Dühnfort auf. Was für eine oberflächliche Frage. Hoffentlich waren sie bald fertig. »Es geht bei unserer Arbeit nicht um Lorbeeren, sondern darum, einen Täter zu überführen und vor Gericht zu bringen. Dazu tragen wir bei.«
Corinna May nickte. »Ich verstehe. Ich kann mir vorstellen, dass die Soko-Leiter nicht immer den Hypothesen und Empfehlungen der OFA folgen. Kommt das vor?«
»Gelegentlich passiert das.«
»Ist das nicht unbefriedigend? Ich meine, Sie haben eine Vorstellung, auf welchem Weg ein Mordfall zu klären wäre, und der zuständige Soko-Leiter ignoriert das. Wie gehen Sie damit um?«
»Ich versuche, gelassen zu bleiben«, sagte Dühnfort, obwohl ihm das zugegebenermaßen nicht immer gelang.
»Sie sind seit Kurzem stellvertretender Leiter der Abteilung Operative Fallanalyse. Fühlen Sie sich dort am richtigen Platz?«
Langsam reichte es ihm mit ihren provokanten Fragen. Was bezweckte sie damit? Wollte sie ihn in ihrem Artikel als Fehlbesetzung darstellen? Als einen Mann, der einen folgerichtigen Karriereschritt bereute und sich nach der Kärrnerarbeit eines Soko-Leiters zurücksehnte?
»Ja. Natürlich.« Er klang kurz angebunden und verärgert, das erkannte auch die Journalistin. Erstaunt sah sie ihn an. Gleich würde sie weiterbohren. In diesem Moment klingelte sein Handy, das vor ihm auf dem Tisch lag. Der Name Ingrid Johannsen erschien im Display. Er nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch zu beenden. »Entschuldigen Sie, das ist wichtig. Wir sind ja ohnehin fertig. Falls noch Fragen auftauchen, können Sie mir die gerne mailen.« Er stand auf, reichte der überraschten Journalistin die Hand zum Abschied und nahm das Gespräch an, das er nicht als wichtig, sondern als privat einstufte.
***
»Hallo Ingrid. Gib mir einen Moment, um einen ungestörten Platz zu finden.«
Dühnfort verließ die Kantine und stieg in den Lift nach oben. Die Türen schlossen sich hinter ihm. »So, da bin ich wieder. Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir und der Familie?«
»Hallo Tino. Bei mir läuft alles gut. Privat jedenfalls. Beruflich grad nicht so.« Sie sprach sehr gut Deutsch mit norwegischem Akzent, denn ihre Mutter stammte aus dem Allgäu und ihr Vater aus Oslo. Ingrid arbeitete dort bei der Kriminalpolizei »Kripos« als Hauptkommissarin. Vor zwei Jahren hatten sie sich kennengelernt, als im Münchner Botanischen Garten eine norwegische Touristin tot aufgefunden wurde und sie die Osloer Kollegen in die Ermittlungen einbezogen.
»Ich brauche deine Hilfe in einem Fall.«
»Meine?« Dühnfort war überrascht. »Oder die unserer Abteilung?«
»Euer Team an Bord zu haben, wäre natürlich großartig. Ich erklär dir, worum es geht.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Wir hatten hier vor drei Wochen einen seltsamen Unfall. Ein deutsches Rentnerpaar ist dabei ums Leben gekommen. Wolfram und Mathilde Springer aus Würzburg. Die beiden besitzen ein Ferienhaus in Fagerstrand. Das ist ein kleines Dorf auf einer Halbinsel im Oslofjord. Sie verbringen dort seit Jahren den Sommer.«
Der Lift kam oben an. Dühnfort stieg aus, steuerte das K 16 an und dort die Kaffee-Ecke, die seine Kollegen in Café Tino umbenannt hatten. Was er jetzt brauchte, war ein Espresso doppio mit reichlich Dark Muscovado Sugar und ein Riegel schwarze Schokolade. Noir mit achtzig Prozent Kakaoanteil. Nervennahrung. So ganz verstand er nicht, weshalb Corinna Mays Fragen ihn ärgerten.
»Bist du noch dran?«, fragte Ingrid.
»Ja, klar. Entschuldige, ich mache mir nur schnell einen Espresso. Was war das für ein Unfall?«
»So wie es aussieht, sind beide ertrunken. Springer kam mit dem Boot von einem Angelausflug im Fjord zurück und ist beim Anlegen über Bord gegangen. Könnte ein Kreislaufproblem gewesen sein. Springers Frau Mathilde beobachtet das, eilt zu Hilfe und ertrinkt bei dem Versuch, ihren Mann zu retten.«
»Aber du glaubst nicht, dass es so abgelaufen ist.«
»Und dafür habe ich Gründe. Mein Chef liebt allerdings die Unfallthese, und deine Kollegen aus Würzburg, die wir mit einbezogen haben, sind derselben Meinung. Von denen ist keine Hilfe zu erwarten.«
Dühnfort füllte den Siebträger der Gaggia, der Nachfolgerin seiner alten Pavoni, die nicht mehr zu reparieren gewesen war und seither – weil er sich nicht von ihr trennen konnte – als chromblitzende Dekoration daheim im Küchenregal stand. »Was spricht für ein Gewaltverbrechen?«
»Die Auffindesituation. Springer hing kopfüber im Wasser, den linken Fuß in der Heckleiter seines Boots verhakt. Sah irgendwie seltsam aus. Und bei ihr gibt es Hämatome, die meiner Meinung nach nicht zu einem Unfall passen. Außerdem ist das Wasser am Steg nur etwas mehr als einen Meter tief. Sie waren beide gute Schwimmer. Und last but not least habe ich im Haus ein Schatzplättchen aus dem Brettspiel Tikal gefunden. Die Springers besaßen das Spiel aber nicht.«
Die Maschine war aufgeheizt. Dühnfort setzte den Siebträger ein und drückte den Startknopf. »Nachbarn oder Freunde könnten es zu einem Spieleabend mitgebracht haben.«
»Die beiden hatten mit Gesellschaftsspielen nichts am Hut. Sie lasen viel. Keiner ihrer Nachbarn oder Freunde hat sie jemals spielen sehen. Das bestätigt auch der Sohn. Der Täter muss das Schatzplättchen verloren haben. Oder er hat es absichtlich hingelegt.«
Dühnfort fand das nicht überzeugend. »Vielleicht gibt es eine andere Erklärung dafür, wie es ins Haus gekommen ist.«
»Möglich. Die Hämatome und der Fuß in der Heckleiter lassen mir keine Ruhe. Doch ich komme nicht weiter. Keine Feinde in Sicht. Kein Streit in der Familie. Im Haus fehlt nichts. Ich finde kein Motiv, und ich finde keine weiteren Indizien oder Beweise, die meine Theorie untermauern. Aksel gibt mir noch bis Freitag Zeit. Wenn ich bis dahin nichts habe, muss ich die Akte als Unfall schließen. Und da kommst du jetzt ins Spiel. Ich brauche einen neuen Blick auf den Fall. Ich brauche dich.«
»Was ist mit deinen Kollegen von der Kriminalanalyse?«
»Das ist ein kleines Team und derzeit überlastet. Die suchen nach einem Serienvergewaltiger in Oslo und nach einem Brandstifter oben in Nordnorwegen, der Ferienhäuser in abfackelt. Ole hat gleich abgewinkt, als ich ihm den Fall geschildert habe. Kann ich mit dir rechnen?«
»Du meinst inoffiziell. Unter Freunden?«
Die Idee, in diesem Fall auf eigene Faust aktiv zu werden, gefiel ihm nicht. Außerdem sollte er idealerweise den Tatort sehen, um ein umfassendes Bild zu erhalten. Er müsste nach Oslo fliegen.
»Das behagt dir nicht?«
»Besser wäre es, wenn wir das offiziell hinbekommen. Ich rede mit Armin und melde mich.«
Dühnfort trank seinen Doppio und sah sich dabei um. Sein Blick glitt über den großen Raum, dessen beherrschendes Element der ovale Besprechungstisch vor einer Wand aus Whiteboards war. Weiter hinten, bei den Fenstern mit Ausblick auf den Wertstoffhof, befanden sich Dühnforts Schreibtisch und die seiner Kollegen.
Das Team der OFA bestand derzeit aus sieben Mitarbeitern. Armin Boos, ihr Chef, der einen Teil seiner Ausbildung in den USA absolviert hatte. Beatrice Mevél, eine Psychologin und gebürtige Französin, die vor vielen Jahren der Liebe wegen nach München gekommen war und ein bairisch eingefärbtes Deutsch mit französischem Akzent sprach. Manfred Trebing, ein erfahrener Mordermittler, der gehofft hatte, Leiter der OFA zu werden, wenn Armin in den Ruhestand ging, und nun sauer war, weil Dühnfort Armins Stellvertreter und somit potenzieller Nachfolger geworden war. Dennoch verband Dühnfort und Manfred eine Art Vertrauen, seit Manfred ihm vom Unfalltod seines Sohnes erzählt hatte und wie seine Frau damit umging, dass ihre Ehe daran zu scheitern drohte. Neben Manfred saß Anja Bartholomei, die vom Rauschgiftdezernat zu ihnen gekommen war und sich bedeckt hielt, was ihr Privatleben betraf. Sie war ziemlich tough und Meisterin im Taekwondo. Der Tisch gegenüber gehörte Ben Pfister, der gern den Macho raushängen ließ, seit ihn seine Frau verlassen hatte, und Kleinkriege darum führte, wann er seinen Sohn sehen durfte. Die Siebte im Team war Kim Eck, eine erfahrene Kriminaltechnikerin und stille, zurückhaltende Frau mit vietnamesischen Wurzeln, großer Erfahrung und einem profunden Wissen. Es war kurz vor fünf, und nur Ben und Anja saßen noch an ihren Plätzen.
Die Tür zu Armins Büro stand offen, er saß an seinem PC und sah auf, als Dühnfort eintrat.
»Hast du ein paar Minuten für mich?«
»Sicher. Was gibt’s?« Armin lehnte sich im Stuhl zurück. Er hatte die Operative Fallanalyse Bayern mit aufgebaut und sich die Grundlagen dafür vor mehr als zwanzig Jahren beim FBI in Langley angeeignet. Er war ein kräftiger, durchtrainierter Mann mit einem Faible für alles Amerikanische. Außer Donald Trump, wie er gerne betonte. Die Ärmel des weißen Hemds waren aufgekrempelt und lenkten den Blick auf eine Pilotenuhr aus den Siebzigerjahren. Ein Geschenk der amerikanischen Kollegen.
»Ingrid Johannsen braucht unsere Unterstützung.« Dühnfort setzte sich und erklärte Armin die Situation.
»Hm. Ich weiß nicht.« Mit einer Hand fuhr Armin sich übers grau melierte Haar. »Sowohl ihr Chef als auch die Kollegen aus Würzburg und ihre eigenen Fallanalytiker sind der Ansicht, dass das ein Unfall war.«
»Die Fallanalytiker haben sich nicht damit beschäftigt. Es scheint Ungereimtheiten zu geben. Seltsam finde ich die Sache mit dem Spielplättchen. Falls das ein Doppelmord war und falls der Täter es hinterlassen hat, stellt sich die Frage, warum. Nachdem er sich zuvor Mühe gegeben hat, ein Unfallgeschehen zu inszenieren. Das ist schon bizarr.«
»Falls ist das entscheidende Wort«, sagte Armin. »Trotzdem spannende Frage. Okay. Momentan ertrinken wir nicht in Arbeit. Und das Budget für internationale Zusammenarbeit ist noch nicht ausgeschöpft. Sieh dir das an und grüß Ingrid von mir.«
***
Jeden Abend dasselbe Ärgernis. Dühnfort fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz schon zum zweiten Mal durch die Pestalozzistraße. Das Glockenbachviertel war angesagt. Überall schicke Läden, Cafés und Restaurants. Bei Bodos Bistro war kein Platz mehr unter der Markise frei. Beim Café an der Ecke ebenso wenig, dort saßen die Leute sogar auf den Betonpollern, die die Zufahrt begrenzten. Überall lehnten Räder an Hauswänden, Bäumen oder Geländern. E-Bikes und Lastenräder, Gravel Bikes, Rennräder und Hollandräder. Teure Leichtgewichte aus Carbon waren mit Schlössern an Laternenpfähle gekettet, daneben alte rostige Vehikel, um deren Verlust sich niemand zu sorgen schien. Der Radboom war eine Folge der Pandemie. Auch Gina und er hatten sich im Sommer vor drei Jahren Räder zugelegt.
Ein Königreich für einen Parkplatz. Er kurvte weiter durch die Straßen und vergeudete seine Zeit. Es wäre das Beste, ein Auto abzuschaffen und auf die Öffentlichen umzusteigen. Sie könnten Ginas Skoda behalten. Dagegen sprach, dass die schnellste MVV-Verbindung nicht wirklich schnell war und er zwei Mal umsteigen musste, wenn er von seinem Arbeitsplatz zu Chiaras Kindergarten fuhr.
In der Stadt Rad zu fahren war lebensgefährlich. Für viele Radfahrer schien die Straßenverkehrsordnung ein unbekanntes Regelwerk zu sein oder eines, das man eher als Empfehlung auslegen konnte denn als verbindliche Vorgabe. Und dann noch der Autoverkehr, dem er ohne Knautschzone ausgeliefert war. Seit ihn ein abbiegender Lieferwagen nur knapp verfehlt hatte – und das mit Chiara im Kindersitz –, benutzte Dühnfort das Rad nicht mehr in der Stadt.
Die andere Möglichkeit wäre, München zu verlassen. Raus ins Umland. Er hielt das für die beste Lösung, doch davon wollte Gina nichts hören, obwohl sie sich mit dem Thema Umzug befassen mussten.
Dühnfort fuhr die Holzstraße entlang, als Rücklichter in einer Parkbucht aufleuchteten, sie wurde frei. Er setzte den Blinker und wartete, bis er seinen betagten Volvo einparken konnte. Der Wagen war so alt wie seine Pavoni. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, sich von ihm zu trennen. Für einen Moment flackerte das Bild einer Doppelhaushälfte mit Garage in seiner Vorstellung auf. Von einem Garten mit Rosenbüschen und Fliederhecke. Von einer Terrasse mit Sonnenschirm, unter dem er mit Gina beim sonntäglichen Frühstück saß, während Chiara auf dem Trampolin sprang.
Mit dem Parkplatz hatte er Glück gehabt. Keine drei Minuten Fußweg bis nach Hause. Er durchquerte die Grünanlage, erreichte den Steg über den Westermühlbach und ging darüber, obwohl er ihn lange gemieden hatte. Eine schreckliche Erinnerung war damit verbunden.
Chiara war noch ein Baby gewesen, als eine Frau, die sich an ihm rächen wollte, ihm das Kind vor der Haustür entrissen und hier vom Steg in den Bach geworfen hatte. Wie immer, wenn er darüberging, stiegen Erinnerungsfetzen auf. Wie Gina Chiara vor ihm erreichte. Wie sie mit der Kleinen auf dem Arm am ganzen Leib zitternd im Wasser saß. Wie sie beruhigend auf ihre Tochter einredete. Wie sie ihn erst gar nicht wahrnahm und dann wegstieß. Denn es war seine Schuld. Er hatte eine Sekunde nicht aufgepasst, obwohl sie die Bedrohung durch Steinhoffs Schwester erkannt hatten. Sie wollte den Tod ihres Bruders rächen, der sich durch Selbstmord seiner Festnahme entzogen hatte.
Einen Moment blieb Dühnfort stehen und starrte ins Wasser. Algenbüschel wiegten sich in der Strömung. Die Kiesel im Bachbett schimmerten hell. Es war ja gut gegangen.
Er erreichte die Pestalozzistraße, warf einen Blick auf das schwarze Eisentor und die hohe rote Ziegelmauer, die den Alten Südfriedhof umgab, und steuerte das Haus daneben an, in dem er seit vielen Jahren lebte. Zuerst allein, dann mit Gina und seit Chiaras Geburt mit seiner kleinen Familie. Ihm ging es gut. Er war ein glücklicher Mann. Obwohl sie umziehen mussten und er an der Wohnung ebenso hing wie an seinem alten Volvo und der Pavoni. Der Hauseigentümer war verstorben. Seine Nichten hatten sich über das Erbe zerstritten und schließlich das Mehrparteienhaus in Eigentumswohnungen umgewandelt, die sie einzeln verscherbelten.
Ein junges Paar hatte ihre gekauft und angekündigt, Eigenbedarf geltend zu machen. Demnächst würde die Kündigung eintrudeln.
***
Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, drangen Stimmen aus der Küche zu ihm. »Papi ist da«, rief Chiara, und dann kam sie auch schon in den Flur geflitzt und warf sich in seine Arme. »Hallo Papiii, Mondgesicht!«
»Selber Mondgesicht!«
»Ich bin ein Brillenpinguin!«
Er setzte Chiara ab, um die Jacke auszuziehen. »Stimmt. Ganz vergessen.« Im Sommer hatte Chiara eine neue Brille bekommen. Sie war kurzsichtig. Ursache war das Downsyndrom, an dem sie litt. Wobei »litt« die falsche Bezeichnung war. Chiara litt nicht, sie war ein fröhliches und ausgelassenes Kind. Sie entwickelte sich allerdings langsamer als Kinder ohne Handicap. Die Optikerin hatte sie als Brillenschlange bezeichnet, das aber nett gemeint. Wieder daheim, wollte Chiara wissen, ob es Brillenschlangen wirklich gab. Bei ihrer Suche waren sie auf allerlei Tiere gestoßen, die »Brille« im Namen führten. Der Brillenkauz, der Brillenbär und der Brillenpinguin, den Chiara sofort ins Herz schloss.
»Liest du Jim Topf vor?«
»Jim Knopf. Mit Ka.«
»Mit Kacka-Kaa. Kacka-Kaa.« Lachend wirbelte Chiara durch den Flur. Die Logopädiestunden zahlten sich aus. Seine Tochter sprach deutlicher und lernte das K. Es ging voran. In kleinen Schritten zwar und langsamer als bei neurotypischen Kindern, aber sie machte Fortschritte. Dühnfort war stolz auf sie. Vor allem auf ihre Gabe, mit ihrer unverblümten und fröhlichen Art jedem ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sie war ein Sonnenschein. Und er ein Mondgesicht. Schmunzelnd ging er zu Gina in die Küche. Sie räumte gerade die Einkäufe auf. »Grüß dich, Schatz. Wie war dein Tag?« Er gab ihr einen Kuss, sog den vertrauten Duft ihrer Haut nach Apfel ein, registrierte die Fältchen, die sich um ihre dunklen Schokoladenaugen im Lauf der letzten Jahre gebildet hatten, ebenso die ersten grauen Haare, die sich wie Silberfäden durch ihre brünetten Locken zogen. Eine Wolle, in der er gerne seine Finger vergrub, und wieder einmal dachte er, wie sehr er sie liebte und immer lieben würde, auch wenn sie mal alt und tattrig waren. Worauf sie so langsam zusteuerten. Er jedenfalls. Sein fünfzigster Geburtstag nahte, und er lag ihm ein wenig quer im Magen.
»Frag besser nicht«, sagte Gina. »Ziemlich frustrierend.«
»Warte. Ich helfe dir.«
Chiara kam angerannt. »Ich auch!«
Während sie gemeinsam die Einkäufe verstauten, erzählte Gina, dass sie mit dem Cold Case Marlin Eickhoff, den sie derzeit bearbeite, in eine Sackgasse geraten war. Es ließ sich kein neuer Ermittlungsansatz finden. Die Frau wurde seit achtzehn Jahren vermisst und war mutmaßlich das Opfer eines Verbrechens. »Ich komme einfach nicht weiter«, sagte Gina. »Und bei dir? Wie war das Interview?«
»Ähnlich enttäuschend. Die Journalistin hat nicht verstanden, wie wir arbeiten. Am Ende wurde sie dann auch noch persönlich. Sie hat mich allen Ernstes gefragt, ob ich nicht lieber selbst die Ermittlung leiten und am Ende die Lorbeeren einheimsen würde.«
»Als ginge es darum.« Gina schüttelte den Kopf und fügte lächelnd hinzu: »Aber manchmal stößt es dir schon sauer auf, wenn man euren Empfehlungen nicht folgt.«
»Das ist menschlich.«
Chiara setzte sich an den Küchentisch, um ein Bild zu malen, während er mit Gina das Abendessen vorbereitete. Ein Risotto mit Hokkaidokürbis und Salat. Dabei erzählte er von Ingrids Anruf und dass er morgen in aller Herrgottsfrühe nach Oslo fliegen würde.
Gina erinnerte ihn an das Seminar, zu dem sie am kommenden Montag nach Hamburg musste. Ein Austausch unter Kollegen aller Bundesländer zum Thema Cold Cases. »Notfalls muss ich Chiara zu meinen Eltern bringen.«
»Ich bleibe nur eine Nacht. Übermorgen bin ich zurück.« Er ging hinaus auf den Küchenbalkon, um ein paar Blätter Salbei zu pflücken. Wie meistens lehnte er sich kurz ans Geländer und genoss den Ausblick auf den Alten Südfriedhof, den ehemaligen Pestfriedhof Münchens, mit seinen uralten Gräbern, mit den bröselnden Marmorengeln und dem überall rankenden Efeu. Ein Ort der Ruhe inmitten der hektischen Stadt. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr ihn der Trubel und Lärm belasteten. Das war schon vor der Pandemie so gewesen, doch Corona hatte es verstärkt. Die Monate im Lockdown, die sie hauptsächlich in ihrer Wohnung mit dem kleinen Balkon verbracht hatten, waren hart gewesen. Zurückgeworfen auf sich selbst, mit Kontakten nur per Zoom und FaceTime. In den Phasen, in denen der Kindergarten geschlossen war, hatten sie abwechselnd Überstunden und Urlaubstage abgebaut, um Chiara daheim betreuen zu können. Auch für die Kleine war das eine schwierige Zeit gewesen. Sie vermisste ihre Kindergartenfreunde und Oma und Opa, auch die Therapiestunden fehlten ihr. Alles ging langsamer voran, wurde zäh und die Welt eng. Als es endlich vorüber war, hatte Dühnfort festgestellt, dass er anfing, Menschenmengen zu meiden, und dass er froh war, wenn er nach einem Stadtbummel mit seinen beiden Mädels in die Wohnung zurückkehren konnte. Und die würden sie nun verlieren. Sie mussten umziehen, und er wollte raus aus München. Am liebsten ganz aufs Land oder wenigstens in den Speckgürtel der Stadt. In ein Dorf ziehen, wo der Lärm von Kirchenglocken, Kühen und Traktoren herrührte. Wo das Leben einen Takt langsamer vonstattenging, wo man Rad fahren konnte, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Wo man frische Luft atmete und nicht Abgasschwaden.
Er hörte die Balkontür. Gina gesellte sich zu ihm. Sie wollte weder in einen Vorort noch aufs Land. Es gab keine Kompromissmöglichkeit. Es gab nur entweder oder.
»Du grübelst. Alles okay?«
Das Thema Umzug war heikel. Er wollte es nicht ausgerechnet heute ansprechen, bevor er nach Oslo flog, also schwieg er.
Oslo Gardermoen war ein Flughafen wie unzählige andere. Hell erleuchtete Flure, Anzeigetafeln und Leuchtplakate überall. Menschenmengen, die sich in Richtung der Gates oder des Ausgangs schoben.
Das Rattern von Rollkoffern begleitete Dühnfort auf dem Weg zur Ankunftshalle. Seit halb fünf war er auf den Beinen und entsprechend müde. Er sehnte sich nach einem ordentlichen Kaffee, denn am Gate in München hatte er nur Plörre in einem Pappbecher ergattert, und der Kaffee im Flugzeug war keinen Deut besser gewesen.
Schon aus fünfzig Metern Entfernung bemerkte er Ingrid Johannsen, die am Meeting Point auf ihn wartete. Es lag einerseits an ihrer Körpergröße von einem Meter fünfundachtzig und andererseits an ihren roten, krausen Haaren, die ihren Kopf ungebändigt wie eine Wolke umgaben. Als sie ihn sah, hob sie die Hand zum Gruß und kam auf ihn zu. Sie trug Jeans, Blazer und Turnschuhe.
»Hallo Tino. Super, dass du da bist.« Sie umarmten sich. »Wie war der Flug?«
»Gut. Nur ein wenig früh.«
»Willst du erst im Hotel einchecken?«
»Das hat Zeit.«
»Prima, dann fahren wir gleich nach Fagerstrand.«
»Einverstanden. Vorausgesetzt, es gibt unterwegs irgendwo einen anständigen Kaffee.«
Ingrid lachte. Sie kannte sein Faible für Espresso und er ihres für Nikotin. »Ich kenne da ein nettes Café.«
Sie fuhren Richtung Süden. Dühnfort blickte auf Nadelwälder, grauschrundige Felsen, dann wieder auf sanfte Hügel und in der Landschaft verstreute Bauernhöfe, bis sie Oslo erreichten. Über den Himmel zogen dicke graue Wolkenkissen, aus denen ab und zu ein paar Tropfen fielen.
Gerade als Dühnfort sie nach dem Café fragen wollte, fuhr Ingrid bei der Vallhall Arena von der E6 ab und steuerte eine Tankstelle an. »Während ich tanke, bekommst du da drüben den besten Kaffee weit und breit.« Sie wies auf die gegenüberliegende Straßenseite. Henock Desta’s fine Ethiopian Coffee. The best coffee you’ve ever had. Das klang doch vielversprechend.
»Bringst du mir einen Cappuccino und eine Zimtschnecke mit?«, fragte Ingrid.
»Aber sicher.« Er überquerte die Straße. Das leise Bimmeln einer Messingglocke erklang, als er das Café betrat. Es war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet. Eine Tapete mit den farbenfrohen Motiven des Pop-Art-Künstlers Keith Haring spannte sich über die gesamte Raumbreite. Davor eine Glastheke mit Kuchen und Gebäck und dahinter ein großer schwarzer Mann mit Afro, der ihn anstrahlte. »Hei, hei! Hva kan jeg gjøre for deg?« Ein Schild an seinem orangefarbenen Poloshirt wies ihn als Henock Desta aus.
»Guten Morgen.« Dühnfort besann sich, dass er mit Deutsch hier nicht weit kam. »Do you speak English?«
»Of course. Aber auch eine wenig Deutsch. Meine Freundin ist Deutsche. You are from Germany?«
Dühnfort nickte. Sein Blick fiel auf eine La Cimbali Maschine mit zwei Brühgruppen und eine imposante Reihe Espressomühlen, gefüllt mit unterschiedlichen Kaffeesorten. »Ich hätte gerne einen Doppio und einen Cappuccino zum Mitnehmen.«
»Wie magst du den Doppio?«, fragte Henock. »Du hast die Wahl. Kaum Säure und mit Taste nach Strawberry, Blueberry und Honigmelone. Oder die kräftige Richtung. Kakao, Honig, Muskat?«
Dühnfort entschied sich für die zweite Variante. Für den Cappuccino schlug Henock einen Hochland-Arabica vor, handverlesen und sonnengetrocknet. »Schmeckt wie Urlaub.«
Während er den Kaffee zubereitete, was er mit ruhiger Hingabe tat, sah Dühnfort sich die Auswahl an Gebäck an. Als er noch überlegte, was er nehmen wollte, wurde die Tür zum hinteren Bereich des Cafés aufgestoßen. Eine junge Frau kam mit einem Blech voller Zimtschnecken aus der Backstube. »Nachschub ist fertig«, rief sie dem Barista zu und begann, die frische Ware in die Auslage zu räumen.
»Danke, Jojo. Du bist ein Schatz.« Henock stellte den Doppio vor Dühnfort ab und ein Schälchen braunen Zucker daneben. »Am besten trinkst du ihn gleich. Jetzt ist er perfekt.«
Und das war nicht zu viel versprochen. Bedächtig trank Dühnfort den Espresso in kleinen Schlucken. Das war genau das, was er gebraucht hatte. Vielleicht wirklich der beste Kaffee, den er je getrunken hatte. Während Henock den Cappuccino für Ingrid machte, kaufte Dühnfort bei Jojo zwei Zimtschnecken und schließlich noch ein Päckchen Espresso von der Sorte, die er gerade hatte. Mit einer Gebäcktüte im Arm und dem To-go-Becher für Ingrid verließ er Henock Desta’s Coffee Shop und überlegte einen Moment, ihm zu raten, eine Filiale in München zu eröffnen. Ein Stammkunde wäre ihm schon sicher. »Ha det!«, rief Henock ihm nach, was wohl Tschüss bedeuten sollte.
»Ha det!« Dühnfort hob die Hand mit der Tüte zum Gruß.
***
Gegen elf erreichten sie die Halbinsel Nesodden im Oslofjord und kurz darauf Fagerstrand. Der Ort hatte zweitausend Einwohner, im Sommer seien es mehr, wenn die Ferienhäuser bewohnt seien, erklärte Ingrid. Er erstreckte sich entlang der Küstenstraße, der Ingrid folgte. Rechter Hand stieg das Gelände an. Zwischen Birken, Kiefern und gewaltigen Felsen lugten an den Hängen schmucke Holzhäuser hervor. Auf der anderen Seite, der Meerseite, versteckten sie sich in einem Waldgebiet und waren nicht ganz so prächtig. Entlang des Fjords gab es unzählige Stege und Bojen, an denen Boote lagen. Für einen Moment dachte Dühnfort an die Sissi, sein Segelboot, das am Starnberger See lag. Bevor es ins Winterquartier musste, wollte er mit Chiara und Gina noch einmal raus aufs Wasser.
Am Ortsende bog Ingrid in einen Weg Richtung Meer ab und fuhr durch ein Waldgebiet. Hier befanden sich nur wenige Häuser. Sie standen weit voneinander entfernt und keines in Sichtweite eines anderen. Die Straße endete. Ingrid ließ den Wagen vor einem cremefarben gestrichenen Holzhaus ausrollen und stellte den Motor ab. »Wir sind da.«
Die Luft war frisch und kühl, sie roch nach Salz und Meer. Dühnfort sah sich um. Kein Gartenzaun. Das war ihm schon während der Fahrt aufgefallen. Es gab kaum Zäune.
Der Garten glich einem Stück Wald. Gestrüpp und Bäume zwischen grau schimmernden Felsen, von denen manche so groß wie ein Auto waren und manche wie ein Haus, dazwischen Heidelbeeren und Moos. Vermutlich konnte man hier Pilze finden.
Das Anwesen war gepflegt. Der cremefarbene Anstrich bildete einen Kontrast zu den dunkelblau lackierten Fensterläden. Es gab eine Garage und einen Geräteschuppen, die ebenso gestrichen waren.
»Hübsch. Es gehörte den Springers?«
Ingrid nickte. »Sie haben es vor achtzehn Jahren gekauft, als er in Rente ging. In der Regel waren sie von Anfang Mai bis Ende September hier. In den ersten Jahren war es ihr Stützpunkt, um Norwegen zu erkunden. Damals hatten sie noch einen Campingbus, mit dem sie oft tagelang unterwegs waren. Irgendwann haben sie das aufgegeben. Vermutlich lag es am Alter. Diese Informationen habe ich von den Ohlsens, den nächsten Nachbarn. Ich zeige dir, wo es passiert ist.«
Sie gingen auf einem schmalen, von Gestrüpp und Gehölz gesäumten Pfad Richtung Meer. Er war steinig, an manchen Stellen felsig und dann wieder erdig. Nach etwa hundert Metern erreichten sie den Küstenstreifen aus Felsen und Geröll. Ein sachter Wind kräuselte die Wasseroberfläche des Fjords. In etwa einem Kilometer Entfernung schob sich eine Fähre hinter zwei bewohnten Schären vorbei. Bunt gestrichene Häuser lugten zwischen Felsen und Bäumen hervor, und Dühnfort dachte an Astrid Lindgrens Bücher, die er als Junge gelesen hatte. Was für ein friedvoller Ort. Doch das täuschte natürlich. Zwei Menschen waren hier ums Leben gekommen.
Sie erreichten einen Holzsteg, der ein Stück oberhalb der Wasseroberfläche in den Fjord ragte. Am Ende lag ein vertäutes, etwa vier Meter langes GFK-Boot mit Außenbordmotor.
Dühnfort beugte sich vor, um die Wassertiefe zu schätzen. »Etwa ein Meter«, sagte Ingrid. »Bei Flut nicht viel mehr. Die ist hier im Fjord nicht sehr ausgeprägt. Wie die Unfalltheorie begründet wird, habe ich dir ja schon erklärt.« Ingrid stand breitbeinig auf dem Steg, zog ein Haargummi aus der Hosentasche und bändigte die im Wind tobende rote Haarflut. »Springer kehrt vom Angeln zurück. Er steht für das Anlegemanöver auf, sein Blutdruck sackt aus unerfindlichen Gründen ab, ihm wird schwarz vor Augen, und er fällt ins Wasser. Seine Frau stellt genau in diesem Moment die Einkäufe in der Küche auf die Ablagefläche, sieht aus dem Fenster und beobachtet das.
Als wir hier ankamen, war der Kofferraum ihres Autos geöffnet, ein Kasten Wasser stand noch darin. Die Haustür war ebenfalls offen, und zwei Tüten mit Einkäufen lagen in der Küche unter dem Fenster auf der Ablage. Alles spricht dafür, dass Mathilde gerade vom Einkaufen kam, die Sachen ins Haus trug und den Sturz zufällig beobachtete. Aksel, mein Chef, ist ganz vernarrt in seine Theorie, dass sie genau in der Sekunde aus dem Fenster sieht, als Wolfram über Bord geht. Ich vermute dagegen, dass sie einen Kampf oder Streit zwischen ihrem Mann und einem anderen beobachtet hat. Statt die Polizei zu rufen, greift sie selbst ein.«
»Wie kommst du darauf?«
»Es gibt Ungereimtheiten.« Sie nahm das Handy aus der Jackentasche, scrollte durch die Fotos und zeigte ihm zwei. Auf dem einen sah man Mathilde bäuchlings auf dem Sektionstisch der Rechtsmedizin. Auf ihrem Rücken befanden sich zwei ovale Hämatome von mehreren Zentimetern Durchmesser. »Die stammen angeblich von der Heckleiter. Sie muss ausgerutscht und darübergestürzt sein, meint Aksel, als sie ihren Mann aus seiner Lage befreien wollte. Mit dem Rücken voran?« Ingrid schüttelte den Kopf. »Dafür müsste sie sich während des Sturzes um hundertachtzig Grad gedreht haben.«
Die zweite Aufnahme zeigte Wolfram Springer. Er hing kopfüber im Wasser, gehalten von zwei Sprossen der Heckleiter, zwischen denen sich sein linker Fuß verfangen hatte.
»Du hast recht. Es sieht merkwürdig aus. Habt ihr mal versucht, den Sturz nachzustellen?«
»Noch nicht. Ich brauche dafür einen Kollegen, die sind aber alle hinter dem Serienvergewaltiger her.«
»Wer hat das Foto gemacht?«
»Der Postbote, der sie gefunden hat. Er hat es geistesgegenwärtig aufgenommen, bevor er Springer rausgezogen und mit Reanimation begonnen hat. Die Leute sehen zu viele Krimis. In diesem Fall war das gut für uns.«
Etwas störte Dühnfort, seit er hier auf dem Steg stand und das Boot betrachtete. »Ich sehe kein Angelzeug.«
»Das hat Ohlsen inzwischen mit meiner Genehmigung aufgeräumt. Der Nachbar. Als wir ankamen, waren zwei Angelruten an Bord. Außerdem Köder und eine Tasche mit Angelzubehör.«
»Kein Fang?«
»Nein. War wohl nicht sein Tag.«
Dühnfort sah sich nach Nachbarhäusern um. Vom Steg aus war nur das Dach eines Hauses weiter oben im Wald zu sehen. »Der Postbote hat die beiden also gefunden?«
»Aber erst am nächsten Tag. Der Unfall …«, Ingrid sprach das Wort mit deutlicher Betonung aus, »hat sich am Mittwoch, dem 23. August, am Abend ereignet. Mathilde war einkaufen. Sie hat den Supermarkt um 17.11 Uhr verlassen. Auf dem Kassenbon befinden sich Datum und Uhrzeit. Anschließend wollte sie wie jeden Mittwoch zur Seniorengymnastik um halb sechs. Doch die Stunde fiel an diesem Tag aus, da die Lehrerin krank und kein kurzfristiger Ersatz verfügbar war. Das bestätigen einige Teilnehmerinnen des Kurses, die Mathilde vor dem Eingang des Sportzentrums getroffen haben. Das war um halb sechs. Von dort zum Haus sind es mit dem Auto zwölf Minuten. Zwischen Viertel vor sechs und sechs muss sie hier angekommen sein.
Als der Postbote am nächsten Tag gegen vierzehn Uhr kam, bemerkte er den offenen Wagen und die geöffnete Haustür. Auf sein Rufen reagierte niemand. Er hat im Haus nach ihnen gesucht, obwohl ihm nichts Gutes schwante. Als er niemanden antraf, ist er zum Steg gegangen und hat sie gefunden. Erst Wolfram, dann sie. Sie lag ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Grund. Einen ihrer Schuhe haben wir am Ufer gefunden. Den anderen trug sie noch. Aksel hat sich schnell auf die Unfalltheorie festgelegt.« Ingrid zuckte die Schultern. »Er liegt falsch. Ich weiß es einfach. Ach, der Blutdruck … Wolfram nahm ein Medikament deswegen. Ich habe seinen Hausarzt angerufen. Er sagt, dass Springers Blutdruck gut eingestellt war und er die Tabletten gewissenhaft nahm. Er schließt eine versehentliche Überdosierung aus, die zu einem drastischen Absinken geführt hätte. Und der Rechtsmediziner schließt Herzinfarkt und Schlaganfall aus. So, jetzt zeige ich dir noch das Haus, bevor wir zur Kripos fahren.«
***
Das Haus war hell und modern eingerichtet. Große Fenster zur Meerseite ließen Licht herein. Die Wände waren mit Holz vertäfelt und in jedem Raum in einem anderen hellen Farbton gestrichen. Von Cremeweiß in Flur und Bad über ein elegantes Hellgrau in Wohn- und Esszimmer bis zu einem zarten Fliederton im Schlafzimmer. In einem Anbau befand sich eine Sauna und auf der kleinen Terrasse davor ein Badefass mit kaltem Wasser, daneben ein abgedeckter Hot Pot. Im Wohnzimmer stand ein Kaminofen, und auch die Küche war bestens ausgestattet. Induktionskochfeld, Backofen und Dampfgarer. Beim Geschirrspüler war die Tür angelehnt. Dühnfort sah hinein. Darin stand noch das Geschirr vom Frühstück und Mittagessen.
Von der Durchschnittsrente haben die beiden nicht gelebt, dachte Dühnfort. »Was haben sie beruflich gemacht?«
»Er war früher Arzt und sie Fremdsprachenkorrespondentin. Den Beruf hat sie aber aufgegeben, als die Kinder kamen. Das hat mir der Sohn erzählt. Es war das klassische Rollenmodell dieser Generation.«
Dühnfort kehrte mit Ingrid ins Wohnzimmer zurück. Die Essecke, bestehend aus einem Kiefernholztisch, passenden Stühlen und einem bunten Webteppich, befand sich in einer Fensternische mit Aussicht auf den Fjord. Ingrid wies auf den Teppich. »Hier hat der Spielstein gelegen. Er passte nicht in das ordentliche Ambiente. Als wir hier ankamen, war alles aufgeräumt. Jedes Teil stand an seinem Platz. Und dann liegt da dieses Schatzplättchen auf dem Boden, und es gibt keine Gesellschaftsspiele in diesem Haus. Und auch keine Erklärung, wie der Spielstein ins Haus gekommen sein könnte. Denn Spieleabende haben die Springers nie veranstaltet. Das erklären übereinstimmend der Sohn und die Ohlsens von nebenan, die häufig hier waren. Ich denke, der Täter hat es verloren. Oder er hat es absichtlich hingelegt.« Ingrid zog ihr Handy aus der Hosentasche und scrollte durch die Fotos. »Das ist es.« Sie reichte Dühnfort das Handy. Es war eine Pappscheibe von etwa drei Zentimetern Durchmesser mit der Illustration einer goldenen Maske vor grünem Hintergrund. Auf der Rückseite des Plättchens war eine goldene Kette abgebildet.
»War die Spurensicherung auch im Haus?«
»Natürlich nicht. War ja ein Unfall, der am Steg passiert ist. Aksel hat die Kriminaltechnik nur dort hingeschickt. Das Schatzplättchen habe ich gefunden.«
»Wenn ich deiner Überlegung folge, war der Täter nicht im Haus. Das Geschehen hat sich auf dem Steg und dem Boot abgespielt.« Dühnfort reichte das Handy zurück.
»Ich gehe davon aus, dass er auch hier war. Er muss patschnass gewesen sein und wird sich umgezogen haben.«
»Hast du entsprechende Spuren gefunden?«
Ingrid hob die Schultern. »Nein.«
»Fehlt etwas?«
»Wenn, dann nichts, was offensichtlich wäre. Geld, Papiere, Schmuck, alles da.«
»Was denkst du, wie das hier abgelaufen ist?«, fragte Dühnfort, dem nicht gefiel, dass die Kriminaltechniker sich das Haus nicht vorgenommen hatten. Es kam immer wieder vor, dass Morde als Unfälle getarnt wurden. Man durfte sich nie mit dem ersten Eindruck zufriedengeben. Doch genau das war hier passiert.
Ingrid zog ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche. Dühnfort hatte sich schon gefragt, ob sie mit dem Rauchen aufgehört hatte. »Die Nikotinpflaster helfen nicht wirklich. Ich rauche jetzt eine. Lass uns auf die Terrasse gehen.«
Während Ingrid rauchte, schilderte sie ihm ihre Theorie des Tatablaufs. »Ich nehme an, dass der Täter das Haus beobachtet hat. Vielleicht über einen längeren Zeitraum. Er will Springer allein erwischen. Die Gelegenheit ergibt sich am 23. August, als Mathilde zum Einkaufen und anschließender Gymnastik aufbricht. Wolfram ist mit dem Boot noch unterwegs und kehrt gegen halb sechs von seinem Angelausflug zurück. Er steuert den Steg an. Der Täter hat sich im Wald verborgen. Er beobachtet Springers Ankunft und schwingt sich auf sein Rad …« Ingrid unterbrach sich. »Das habe ich noch nicht erwähnt. Der Weg vom Haus zum Steg ist auf einer Länge von etwa drei Metern erdig. Am Tag zuvor hatte es geregnet, also war es dort matschig. Dort habe ich einen Reifenabdruck eines Fatbikes entdeckt.«
»Was ist das?«, fragte Dühnfort.
»Ein Rad mit extradicken Reifen, mit dem man problemlos über Stock und Stein fahren kann. Unser Mann fährt also zum Steg. Springer hat angelegt und verlässt gerade das Boot, als der Täter ihn erreicht. Vielleicht haben sie zuerst geredet., doch dann kommt es zu einer Auseinandersetzung. Unser Mann schubst Springer in den Fjord, springt hinterher und drückt ihn so lange unter Wasser, bis er sich nicht mehr rührt. Dann verhakt er Springers Fuß in der Heckleiter und zieht sich am Steg hoch.«
»Gibt es Spuren, die auf diesen Ablauf hindeuten?«
Ingrid stieß den Rauch aus und nahm den nächsten Zug. »Nur einen blauen Fleck an Springers rechtem Oberarm und eine schmale Blutunterlaufung unterhalb des Rippenbogens. Der Mann war achtundsiebzig Jahre alt und sicher schwächer als sein Gegner. Ich nehme an, dass er schnell das Bewusstsein verloren hat. Jetzt kommt Mathilde dazu. Sie läuft, so schnell sie kann, doch wirklich schnell ist sie in ihrem Alter nicht. Sie stolpert, verliert einen Schuh und lässt ihn liegen. Auf dem Steg steht der Fremde, oder vielleicht ist er auch nicht fremd, aber er ist gefährlich. Deshalb läuft sie ins Wasser, um zu ihrem Mann zu gelangen.«
»Und unser Mann sieht zu?«
»Er muss sich entscheiden. Mit Mathilde hat er nicht gerechnet. Sein Ziel war Wolfram. Er zögert vermutlich und überlegt, was er tun soll. Doch es gibt aus seiner Sicht nur eine Möglichkeit. Er springt zu ihr ins Wasser und taucht sie so lange unter, bis auch sie sich nicht mehr rührt.«
»Und dann legt er das Spielplättchen im Haus ab. Das ergibt keinen Sinn.«
Ingrid trat die Kippe auf der Terrasse aus, hob sie auf und steckte sie in ein mitgebrachtes Döschen. »Ich behaupte ja nicht, dass ich eine lückenlose Indizienkette habe. Es gibt Ungereimtheiten, und ich komme allein nicht weiter. Kann ich auf dich zählen?«
Jasmin Steiner saß an diesem Septembermorgen im niederbayerischen Schönham am Ufer des kleinen Waldsees und sah dem Tag beim Erwachen zu.
Der Himmel schimmerte in pastelligem Grau und Blau und schließlich wie mattes Silber. Er spannte sich über Wälder und Felder und den See, von dem dunstige Schleier aufstiegen, während sich der zartgelbe Schimmer im Osten verstärkte, ins Orangerote wechselte und einen schönen Tag ankündigte.
Ein kühler Lufthauch streifte Jasmins Gesicht. Er trug den Duft nach feuchtem Moos und verrottendem Laub in sich. Nach Pilzen, aber auch nach brackigem Wasser, das seit dem Wolkenbruch einige Tage zuvor in den Senken stand. Sie genoss die Stille, die so tief war, dass man beinahe glauben konnte, man sei taub. Nur ab und zu war ein Vogelruf zu hören, das Knacken eines Zweigs oder der sanfte Aufprall einer Buchecker auf dem Moos. Und jetzt, weit hinter ihr, ein leises Rascheln im Unterholz. Vielleicht der Fuchs, der nach erfolgreichem Beutezug auf dem Weg zu seinem Bau war, um den Tag zu verschlafen.
Ein paar Meter von Jasmin entfernt hatten zwei Enten im Schilf ihren Schlafplatz gefunden. Sie erwachten, zogen die Köpfe unter den Flügeln hervor, putzten ihr Gefieder und glitten hinaus aufs Wasser.
Ruhe und Frieden. Das war es, wonach Jasmin suchte. Nicht erst seit zwei Jahren, eigentlich schon immer. Ihr ganzes dreißigjähriges Leben lang. Sie suchte die Einsamkeit in der Natur, weil sie hier zur Ruhe kam und der Drang nachließ, etwas zu tun, sich permanent zu beschäftigen und abzulenken. Sie wusste nicht, wovon. Wobei ihr das Stillsitzen oft nicht gelang, denn meistens sah sie die Arbeit. Reisig oder Fichtenzapfen, die sie zum Anfeuern des Herds sammeln konnte, oder Beeren, aus denen sie Marmelade kochte, und Pilze, die sie für den Winter trocknete. Immer gab es etwas zu tun.
Der Tag zog herauf. Es war Lucas Todestag. Und sie fragte sich wieder, ob sie einen Anteil am Schicksal ihres kleinen Bruders trug und, falls ja, welchen.
Sein Tod hatte alles verändert. Er hatte den morschen Boden, auf dem Jasmin damals gestanden hatte, unter ihren Füßen zusammenkrachen lassen. Von einem Tag auf den anderen hatte sie alles infrage gestellt. Ihre Beziehung zu Felix, mit dem sie nicht glücklich war, der sie aber liebte, und das war schon was, geliebt zu werden. Wie konnte man ein solches Geschenk wegwerfen? Dann ihren Beruf als Konditorin, der sie nicht erfüllte und der ihr auf einmal sinnlos erschien. Und letztendlich auch das Leben in der Stadt. Denn sie hatte von Kindesbeinen an von einem Dasein in der Natur geträumt. Wie Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel. Oder wie ein Eremit in einer Höhle hoch oben im Gebirge. Wie ein Waldläufer in Alaska. Stets träumte sie sich allein hinein in die Natur. Als sie Felix einmal davon erzählte, meinte er, ihre Wünsche würden ihre Verletztheit und ihren Verlust an Vertrauen zeigen. Dabei war sie nicht verletzt. Ihr war nie etwas wirklich Schlimmes zugestoßen. Das mit dem Vertrauen stimmte allerdings. Damit tat sie sich schwer.
Heute vor zwei Jahren hatte sie mit Felix beim Frühstück gesessen, als eine WhatsApp ihrer Mutter kam und ihr ganz flau wurde. Mama meldete sich nie bei ihr, es sei denn, etwas war passiert. Daher konnte diese Nachricht nichts Gutes bedeuten. Am liebsten hätte Jasmin die WhatsApp ungelesen gelöscht, doch sie las sie.
Luca ist heute Nacht gestorben. Wessen Schuld das ist, wissen wir ja wohl alle. Das hast du prima hingekriegt.
Sie war zur Beerdigung nach Berlin gefahren, obwohl sie annahm, dass sie nicht willkommen war. Das Gefühl, von Luca Abschied nehmen zu müssen und vor allem zu wollen, war stärker gewesen. In Berlin hatte er zuletzt gelebt. Zusammen mit einem Kumpel in einem Wohnwagen auf einem Schrottplatz, irgendwo im Osten der Stadt. Ausgerechnet Luca, der eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hatte, aus seinem Leben etwas zu machen, war total abgestürzt. Am Tag seiner Volljährigkeit, als ihm niemand mehr etwas vorschreiben konnte und er für sich selbst verantwortlich war, war er Richtung Berlin verschwunden. Dort hatte er sich binnen kürzester Zeit den Drogen und dem Alkohol ergeben. Vier Jahre hatte er dieses Leben durchgehalten. Bis er total zugedröhnt an seinem Erbrochenen erstickt war.
Jasmin stellte sich in der Trauerhalle hinten neben die Tür und zog das Basecap tief ins Gesicht. Trotzdem entdeckte Mama sie. Vor Beginn der Zeremonie drehte sie sich um, als hätte sie Jasmins Anwesenheit gespürt. Ihre Blicke trafen sich, und ihre Mutter winkte sie herbei. »Wenn du schon da bist, dann setz dich zu uns.« Es klang versöhnlich, und dafür war Jasmin ihr dankbar.
Die Beisetzung war der Horror. Eine eiskalte Trauerhalle. Auf einem verschrammten Tisch die Urne mit Lucas Asche. Als einziger Schmuck ein Kranz aus künstlichen Blumen. Regen trommelte aufs Dach, während der Trauerredner, der Luca nicht gekannt und von Mama reichlich schönfärberisch gebrieft worden war, sich durch seinen Text haspelte. Kaum Trauergäste. Von der Familie waren nur Mama, Julian und sie gekommen. Tabea und Marcel waren sich wohl zu gut dafür. Von den Freunden war nur der Wohnwagen-Kumpel da. Schließlich erklang das Ave-Maria blechern aus dem Lautsprecher, damit war die Feier nach fünfzehn Minuten beendet. In einer losen Prozession ging es hinaus auf den Friedhof. Der Regen lief ihnen in die Krägen und in das ausgehobene Loch, in dem der Träger Lucas Urne versenkte, so schnell er konnte. Jeder warf noch eine Schaufel Erde hinterher. Jasmin hatte eine Rose mitgebracht, die sie ablegte, und dann war es schon vorbei.
Irgendwo knackte ein Zweig. Jasmin hob den Kopf. Die Sonne schob sich über die Baumwipfel am gegenüberliegenden Ufer. Stand dort jemand unter der alten Eiche und blickte zu ihr hinüber? Es sah beinahe so aus. Eine schemenhafte Silhouette im Halbdunkel des Waldes. Wer konnte das sein, so früh am Morgen? Vielleicht ihr Nachbar, der Scheffler Adam, der nach seinen Bäumen sah. Der Wald gehörte ihm. Und er war nicht gut auf Jasmin zu sprechen, was einerseits daran lag, dass er ihre Lebensweise nicht verstand. Seiner Meinung nach brauchte Jasmin einen Mann, der für sie sorgte, und ein paar Kinder, die dem Leben erst Sinn gaben. Und natürlich ein richtiges Dach über dem Kopf. So wie er es gemacht hatte. Er hatte den alten heruntergewirtschafteten Hof von seinem Opa geerbt, seine Frau Lena geheiratet und bereits zwei Kinder in die Welt gesetzt, das dritte war unterwegs. Hauptsächlich aber lag die angespannte Stimmung zwischen ihnen an der Wiese, die Jasmin ihm vor der Nase weggepachtet hatte. Für eine Jurte. Wo er sie doch für eine Herde Ziegen wollte.
Seit zwei Jahren lebte sie nun in Schönham, doch angekommen war sie noch immer nicht. Sie war die Außenseiterin, die spinnerte Aussteigerin aus der Stadt, die in einer Jurte wohnte, als gäbe es keine Wohnungen und Häuser zu mieten. Sie war die, die sich dem verweigerte, was die anderen ein normales Leben nannten. Sie fühlten sich von ihr in ihrer Lebensweise infrage gestellt oder gar bedroht. Obwohl sie niemandem riet, so zu leben wie sie, verstanden manche es als Kritik oder Mahnung. Adam hatte jedenfalls abfällig gegrinst, als sie zum ersten Mal Holz für den Ofen bei ihm gekauft hatte, und ihr erklärt, da sei auch CO2 drin, sie solle sich besser ein Solarpanel aufs Jurtendach schrauben, um klimaneutral zu heizen und zu kochen. Als ob es ihr darum ginge. Wobei ihre Art zu leben natürlich den Nebeneffekt hatte, umweltfreundlich zu sein.
Jasmin stand auf und blickte noch einmal über den See. Die Silhouette war verschwunden. Auf dem Rückweg entdeckte sie am Wegesrand etliche Fichtenzapfen, die der Wind der letzten Tage aus den Bäumen geschüttelt hatte. Die würde sie später holen und zum Trocknen in die Sonne legen. Jetzt war es Zeit fürs Frühstück. Sie ließ den Wald hinter sich und ging über den Feldweg zum Dorf, das erwachte. Irgendwo knatterte ein Traktor. Aus den Ställen klang das Muhen der Kühe und das Zischeln der Melkanlagen. Als Jasmin ihre Wiese erreichte, in deren Mitte unter den alten Obstbäumen ihre Jurte stand, bemerkte sie jenseits des Staketenzauns Adams Frau Lena, die den Hühnerstall ansteuerte. Sie war hübsch, mit strahlenden Augen und Sommersprossen auf Nase und Stirn. Heute trug sie das lange blonde Haar zu einem Dutt aufgesteckt. Der Bauch wölbte sich unter dem Kleid, die Beine steckten in Gummistiefeln. Lena sah häufig aus wie einer Zeitschrift mit dem Titel »Landidyll« entstiegen. Sie winkte Jasmin zu, als sie sie bemerkte. Jasmin hob dir Hand zum Gruß. Seit einiger Zeit suchte Lena Kontakt, und das fühlte sich gut an. Außer der sechzigjährigen Klara, der das Café gehörte, in dem Jasmin stundenweise aushalf, und ihren Vermietern Solveig und Laurenz, die auch schon über fünfzig waren, hatte sie im Dorf zwar Kontakte, aber die waren eher oberflächlich. Über die sich anbahnende Freundschaft mit Lena freute sie sich daher.
Auf der Außenhaut der Jurte perlte der Tau der Nacht. Jasmin zog die Schuhe aus, stellte sie auf die Matte neben der orangefarbenen Tür und trat ein. Das Morgenlicht fiel sanft durch die durchsichtige Kuppel auf den Tisch, der in der Mitte des runden Raums stand. Die Luft duftete nach dem Holz des Bodens und dem Filz der Dämmung. Im Ofen war noch ein Rest Glut. Jasmin legte Holz nach und füllte aus dem Kanister Wasser in den Kocher. Vom Regal nahm sie die Frischhaltedose mit dem Weißbrot, das sie vorgestern gebacken hatte, und ein Glas selbst eingekochtes Brombeergelee. Die Früchte hatte sie an einem heißen Augusttag am Bahndamm gesammelt, und für einen Moment spürte sie bei dieser Erinnerung die Hitze des Tages auf ihrer Haut und die feinen Schweißperlen, die sich im Haaransatz gesammelt hatten. Als das Wasser kochte, goss sie eine Kanne Tee auf und entschloss sich, im Bett zu frühstücken. Es bestand aus Holzpaletten, einem Futon und zahlreichen bunten Kissen und diente ihr auch als Sofa. Mit dem Tablett in der Hand steuerte sie es an und sah, dass etwas nicht stimmte. Auf der Decke lag etwas Dunkles, Verdrehtes. Ein blutiges Bündel, aus dem glänzende schwarze Federn ragten, Krallen und ein Schnabel.
Ach Gott, dachte sie. Das arme Tier. Sie stellte das Tablett auf den Boden und ging in die Hocke. Es war eine Krähe und sie war tot. Die Augen von einem milchig grauen Film überzogen. Eine klaffende Wunde am Hals, verkrustet mit getrocknetem Blut. Wie war das passiert, und wie war sie hereingekommen? Vielleicht hatte eine Katze sie hereingeschleppt. Oder sie war durch die Kuppel gekommen. Jasmin sah nach oben. Der Lüftungsspalt war zu schmal für einen Vogel dieser Größe. Es blieb nur eine Möglichkeit. Jemand hatte ihr die tote Krähe aufs Bett gelegt. Ein kühler Schauder streifte sie. Wer hatte das getan? Und vor allem: Warum?
»Das sind Mathilde und Wolfram Springer.« Ingrid projizierte die Bilder des Paares mit dem Beamer an die Wand des Konferenzraums, der sich in der obersten Etage des Kripos-Gebäudes in Oslo befand. Von hier hatte man eine großartige Aussicht über die Stadt und den Fjord. Dühnfort dachte an das Wertstoffhof-Panorama vor seinem Büro und sehnte sich für einen Moment nach seinem alten Arbeitsplatz in der Münchner Innenstadt zurück. Mit Blick auf die Frauenkirche. Nur fünf Fußminuten vom Viktualienmarkt entfernt und nur sieben von Marcellos Espressobar am Rindermarkt.
Vor einer halben Stunde waren sie bei der Kripos angekommen. Ingrids Chef Aksel hatte Dühnfort begrüßt und sich für die Unterstützung bedankt, aber kaum einen Hehl daraus gemacht, was er von der Aktion seiner Kollegin hielt. Mit einem Lächeln hatte er Shakespeare zitiert. »Much adoe about nothing.« Viel Lärm um nichts. Und im Moment konnte Dühnfort ihn verstehen. Bis jetzt sprach viel für ein Unfallgeschehen und kaum etwas für ein Gewaltverbrechen. Er unterdrückte die Frage, ob er hier seine Zeit vertat. Einen Moment ließ er den Blick aus dem Fenster schweifen. Wolken zogen eilig über den Himmel. Weiter hinten sah er das Meer. Dazwischen die Stadt mit ihren grünen Hügeln. Etwas lief grundsätzlich falsch in seinem Leben. Der Gedanke blitzte auf und verlosch gleich wieder, er bekam ihn gar nicht richtig zu fassen und wollte das auch nicht. Ihm ging es gut. Er hatte alles erreicht.
»Das Foto ist Anfang August entstanden, drei Wochen vor ihrem Tod.«
Dühnfort wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ingrid zu. Das Bild war ein Selfie. Lächelnd sah das Ehepaar Springer in die Kamera. Beide trugen Funktionskleidung und Stirnbänder. Mathilde hatte die Sonnenbrille ins grau melierte Haar geschoben, Wolfram seine auf die Halbglatze. Im Hintergrund sah man einen See und eine verwitterte Holzbank. Weiter ging es mit Mathilde und Wolfram im Munch-Museum und beim Essen in einem Restaurant. Vor einem Wikingerschiff im Vikingskiphuset und beim Waffelessen in einem Café. Zwei lebensfrohe, agile Senioren, die jäh aus dem Leben gerissen wurden.
Ingrid wechselte zu den Fotos vom Unfallort. Wolframs Leiche in einer Pfütze auf dem Boden seines Boots. Die Funktionshose klebte nass an den Beinen. Das Sweatshirt war bis zu den Achseln hochgeschoben. Sein Gesicht bleich und die Augen geöffnet. Sie blickten ins Leere wie in eine andere Welt.
Von der Auffindesituation gab es nur das Foto des Postboten. Ingrid projizierte es an die Wand. Der nackte verhakte Fuß zwischen den Sprossen der Leiter sah noch immer seltsam aus. Kaum vorstellbar, wie das passiert sein sollte. »Du solltest wirklich versuchen, das nachstellen zu lassen«, schlug Dühnfort erneut vor.