12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Sieh nichts Böses. Hör nichts Böses. Tu nichts Böses. Der Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort ist glücklich wie nie zuvor. Gerade ist er mit Gina von der Hochzeitsreise zurückgekehrt, die beiden freuen sich auf ihr erstes Kind. Doch ein überraschender Fund reißt Dühnfort aus seiner privaten Idylle. An einem nebligen Novembertag spüren Leichensuchhunde bei einer Polizeiübung den halb verwesten Körper einer jungen Frau auf. Neben ihr liegt eine kleine Messingskulptur - ein Affe, der seinen Unterleib bedeckt. Seine Bedeutung: Tu nichts Böses. Dühnfort findet heraus, dass es sich um eine seit Jahren vermisste Frau handelt. Er stößt auf einen weiteren ungeklärten Mord und kommt so einem niederträchtigen Rachefeldzug auf die Spur, der noch lange nicht beendet ist. Denn wieder verschwindet eine Frau.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Das Buch
Ein nebelverhangener Novembermorgen im Landkreis München. Bei einer Polizeiübung finden die Spürhunde nicht nur die für sie präparierte Probe, sondern auch eine echte Leiche. Daneben liegt eine kleine Messingskulptur, ein Äffchen, das den Unterleib mit beiden Pfoten bedeckt. Es erinnert Kommissar Dühnfort an die drei weisen Affen: Nichts Böses sehen. Nichts Böses hören. Nichts Böses sagen. Kaum jemand weiß, dass es noch einen vierten Affen gibt: Nichts Böses tun.
Kommissar Konstantin Dühnfort ist mit seiner Frau Gina gerade erst aus den Flitterwochen zurückgekehrt. Die beiden freuen sich auf ihr erstes Kind. Doch nun muss Dühnfort sich vom idyllischen Familienleben losreißen, um die Ermittlungen in diesem Fall zu leiten. Schnell findet er heraus, dass es sich bei der Toten um eine vor Jahren angeblich untergetauchte Frau handelt. Und eine weitere Frau verschwindet unter ähnlichen Umständen …
Die Autorin
Inge Löhnig machte sich nach einer Karriere als Art-Direktorin in verschiedenen Werbeagenturen mit einem Designstudio selbstständig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie und einem betagten Kater in der Nähe von München. Ihre Serie um Kommissar Konstantin Dühnfort machte sie zur Bestsellerautorin.
Besuchen Sie Inge Löhnig auf ihrer Homepage: www.inge-loehnig.de
Von Inge Löhnig sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Kommissar-Dühnfort-Serie:
Der Sünde Sold · In weißer Stille · So unselig schön · Schuld währt ewig ·Verflucht seist du · Deiner Seele Grab · Nun ruhet sanft · Sieh nichts Böses
Außerdem:
MörderkindGedenke mein
Inge Löhnig
SIEH NICHTS BÖSES
Kriminalroman
List Taschenbuch
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN978-3-8437-1536-2
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017© Inge Löhnig, www.inge-loehnig.deUmschlaggestaltung: bürosüd˚ GmbH, MünchenTitelabbildung: © Getty Images / Kollektion Moment / LT Photo (Steg);Arcangel / © Mark Owen (Wald)
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Seit sie vor zwanzig Minuten ins Auto gestiegen war, hatte Doro Gutsch schon so ein Gefühl. Es würde kein guter Tag werden, denn heute war Ronja so eigensinnig wie eine Primadonna, mit ganz eigenen Vorstellungen von der Choreographie. Unwillkürlich baute sich das Bild von Ronja im Tutu vor Doro auf, und sie musste grinsen. Aber es stimmte schon, in gewisser Weise glichen sie einem tanzenden Paar. Sie waren ein eingespieltes Team, in dem eine führte, nämlich sie, Doro, und eine folgte, und das war Ronja. Doch manchmal wollte die Border-Collie-Hündin ihre Grenzen ausloten, und ausgerechnet heute schien es wieder einmal so weit zu sein. Ronja hatte Doros Kommando zum Einsteigen in die Transportbox erst beim vierten Mal befolgt. Die Götter wussten, weshalb, denn sie fuhr gerne Auto. Sie liebte es geradezu.
Regentropfen pladderten gegen die Windschutzscheibe. Doro hielt nach dem Weg zum Treffpunkt Ausschau, der hier irgendwo an der M4 zwischen München und Gauting abzweigen musste. Nach einer Weile entdeckte sie ihn, bog auf den Waldweg ein und fuhr tiefer in den Forstenrieder Park.
Hoffentlich besann Ronja sich und erkannte den Ernst der Lage. Wenn sie durch die Prüfung fiel … Das wollte Doro sich gar nicht erst ausmalen und konzentrierte sich auf die holprige Fahrspur, die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Vorgestern war ein Unwetter mit Schneeregen über dem Münchner Süden niedergegangen, und die Spuren waren noch nicht beseitigt. Äste und Zweige lagen im Weg, und die zahlreichen Pfützen waren mehr als knöcheltief.
Mit einer kleinen Verspätung erreichte Doro als Letzte die Brache am Rand des Preysing-Geräumts. Die anderen Teams waren schon eingetroffen. Mike mit Grizzly. Anne mit ihrem Labrador Spike. Charlie mit Cleo und Rob mit Dude, einem Islandspitz. Außerdem Christian Zach, den alle nur Groucho nannten, der Ausbildungsleiter und heute ihr Prüfer.
Doro grüßte in die Runde und öffnete die Transportbox. Mit einem freudigen Bellen sprang Ronja heraus.
»Bei Fuß!« Diesmal gehorchte Ronja sofort und sah mit gespitzten Ohren zu Doro hoch. Als Hütehund war sie von Natur aus auf Lob und Anerkennung ihres Menschen erpicht und versuchte daher normalerweise zu gefallen. »Braves Mädchen. Mach uns heute keine Schande, ja?« Doro kraulte Ronja das Fell. »Wenn du unbedingt herumzicken musst, spar dir das für morgen auf. Heute ist es schlecht. Glaub mir.«
Über den Wipfeln der Bäume spannte sich ein grauer Himmel. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Geruch nach Schnee lag in der Luft, obwohl der November erst ein paar Tage alt war.
Mit den Stiefeln versank Doro sohlentief im Matsch. Sie zog ihre Strickmütze mit der Aufschrift Polizei tiefer in die Stirn und den Reißverschluss an der Allwetterjacke hoch. Um nichts in der Welt hätte sie mit einem der Kollegen tauschen wollen, die Büroluft atmen mussten.
Doro liebte ihren Beruf als Hundeführerin bei der Polizeihundestaffel München. Die Schreibtischarbeit hielt sich in Grenzen, dafür gab es frische Luft, so viel sie wollte. Ihr Alltag war nicht von ödem Verwaltungskram, langwierigen Verhören und endlosem Schreibkram geprägt, sondern von reichlich Bewegung beim Training und der Ausbildung der Hunde und während der Einsätze. Auch wenn diese manchmal erschütternd, oft traurig und gelegentlich auch eklig waren. So wie letzte Woche, als Ronja die Leiche eines Selbstmörders aufgespürt hatte, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Verwesungsstadium befand.
Ronja war auf das Auffinden von Leichen und Leichenteilen trainiert. Auf menschliche Überreste aller Art, vorausgesetzt, wenigstens ein Fitzelchen Gewebe befand sich noch daran oder vom Verwesungsgeruch getränkte Kleidung. Etwas, das die charakteristischen Duftstoffe angenommen hatte und absonderte.
Und diese Fähigkeiten musste Ronja heute unter Beweis stellen, am besten fehlerfrei.
Mike kam näher, reichte ihr einen Thermobecher Tee und fragte sie, ob sie nervös war. Natürlich war sie aufgeregt. Alle waren angespannt, wenn die jährliche Prüfung anstand, bei der die Hunde nicht nur versteckte Proben aufspüren, sondern auch zeigen mussten, dass sie aufs Wort gehorchten und Kommandos korrekt ausführten. Ronja stand noch immer brav bei Fuß. Doro befahl Platz, und sie setzte sich. Offenbar hatte sie verstanden, wie wichtig dieser Tag war. Erleichtert lobte Doro Ronja.
Groucho legte unterdessen mit Anne und Charlie die Proben im Gelände aus, die er beim Institut für Rechtsmedizin besorgt hatte. Natürlich keine Proben von Toten, sondern von Stoffen, die mit Toten in Berührung gekommen waren. Stücke von Sargunterlagen und Leichenhemden, aber auch menschliches Blut.
Anschließend wurden Streichhölzer gezogen. Doro und Ronja waren als Zweite dran. Zuerst startete das Team Mike und Grizzly, der auf Kommando die Nase senkte und in engen Schleifen hochkonzentriert das ihm zugewiesene Areal absuchte, wobei Mike ihn mit Stockzeichen dirigierte. Meter für Meter ging es voran. Groucho beobachtete jeden Schritt und jedes Kommando, und es dauerte nur eine Viertelstunde, bis Grizzly vor einem Findling anschlug, sich flach auf den Boden legte und so anzeigte, dass er die ›Leiche‹ gefunden hatte. Erstklassige Arbeit. Groucho war zufrieden. Das Team erhielt die volle Punktzahl. Mike belohnte Grizzly mit einem Leckerli und reichlich Lob. Für die Hunde war es ein Spiel, und am Ende gab es die erhoffte Belohnung.
»Und nun Doro mit Ronja. Für euch habe ich die Fläche jenseits der Brache, Richtung Osten vorgesehen.« Groucho nickte ihr zu, und Doro gab Ronja den Befehl: »Such!« Folgsam senkte Ronja die Nase und ging los. Nah bei Fuß folgte sie dem Zeichen des Teleskopstocks, den Doro benutzte. Zehn Minuten ging das gut, und sie war stolz auf die Konzentration, mit der Ronja bei der Sache war, als sie den Rand einer kleinen Lichtung erreichten und die Hündin plötzlich den Kopf hob und Witterung aufnahm. Ein Zittern lief durch ihren Körper, und dann stürmte sie laut bellend los, hinaus auf die freie Fläche. »Bei Fuß!«, brüllte Doro und hörte den Seufzer, den Groucho hinter ihr ausstieß.
»Bei Fuß!«
Doch Ronja hörte nicht. Sie rannte auf eine Buche zu, die der Sturm umgerissen hatte.
»Bei Fuß! Ronja. Willst du wohl!« Doch die Hündin war nicht zu halten.
Das Erdreich um den umgestürzten Baum war weiträumig aufgerissen, Wurzeln ragten in die Luft, der herausgerissene Ballen hatte einen Krater hinterlassen. Zehn Meter davor blieb Ronja unter einem Wurzelrest stehen, der senkrecht in die Luft ragte, bellte wie eine Irre und warf sich flach auf den Boden.
Freud und Leid lagen manchmal unglaublich nah beieinander. Dieser Gedanke begleitete Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort, seit er und Gina am vergangenen Sonntag von ihrer Hochzeitsreise aus Venedig zurückgekehrt waren.
Sie hatten die Koffer noch nicht ausgepackt, als Ritas Anruf kam. Ihr Lebenspartner Georges war nach langer Krankheit gestorben. Nicht unerwartet, aber dennoch überraschend. Also hatten sie ein paar Tage Urlaub genommen und waren zur Beisetzung ins Elsass gefahren.
Seit über dreißig Jahren lebte Dühnforts Mutter Rita dort in einem zweihundert Jahre alten Gutshof, in dem Georges bis zu seinem Ruhestand einen Weinhandel betrieben hatte und Rita bis heute die ausgebaute Scheune als Atelier nutzte. Sie war eine bekannte Malerin, und in den vergangenen anderthalb Jahren waren Georges und sie regelmäßig zwischen München und dem Elsass gependelt. Sie, um eine Ausstellung vorzubereiten, und er, um seine Krebserkrankung behandeln zu lassen.
Vorgestern hatten sie ihn auf dem Dorffriedhof bestattet und einen Birnbaum auf seinem Grab gepflanzt, so wie er es sich gewünscht hatte. Dühnfort wäre es am liebsten, wenn Rita sich entschließen könnte, ganz nach München zu ziehen. Doch sie wollte bleiben. »Ich lass Georges nicht alleine«, hatte sie gesagt. »Ich will sehen, wie der Baum auf seinem Grab wächst und erste Früchte trägt, und euer München geht mir nach vier Wochen auf die Nerven. Zu hektisch, zu laut, zu oberflächlich. Was soll ich dort unter all den Wichtigen und Schönen? Ich könnte sie nur beim Tanz ums Goldene Kalb ein wenig stören. Was mir – ich gebe es ja zu – doch eine gewisse Freude bereiten würde. Aber ich male schon lange keine Menschen mehr.«
Die gewalttätige Seite der Natur war zu ihrem Thema geworden. In großformatigen Gemälden fing sie diese Kraft ein, die die menschliche Bedeutung zu einem Nichts zermalmte.
Und nun grübelte Dühnfort während der Rückfahrt über die Frage, wie er seiner Mutter einen Umzug schmackhaft machen könnte. Das Gutshaus war zu groß für sie, und sie war mit Mitte siebzig zu alt, um dort alleine zu leben. Weitab vom nächsten Nachbarn und vom Arzt und einer Einkaufsmöglichkeit. Wenn sie stürzte, wer würde es bemerken? Ihr Galerist war hier und Gina und er und bald das Enkelkind. Außerdem hatte sie in München Freunde, die zwar für zwei Jahre in New York lebten, doch diese Zeit war beinahe um.
Gina räkelte sich auf dem Beifahrersitz. Sie war eingedöst, kurz nachdem sie den Rhein überquert hatten, und reckte sich nun. »Was? Schon Ulm. Da bist du aber tief geflogen.«
»Sollen wir Rast machen?«
»Meinetwegen nicht. Aber wir sollten wechseln. Du sitzt jetzt fast schon drei Stunden hinterm Steuer.«
»Ich kutschiere euch beide auch noch den Rest der Strecke, wenn wir vorher Pause machen.«
»Schwangere dürfen Autofahren. Du musst mich nicht schonen.«
Das wusste er doch. Aber er tat es gerne. Am liebsten würde er sie auf Händen tragen, und irgendwie konnte er es noch immer nicht so ganz glauben, dass sein größter Traum sich erfüllte und er Vater wurde.
Die erste Phase der Schwangerschaft mit morgendlicher Übelkeit und Stimmungsschwankungen war vorüber, und die Aufregung und Freude, Eltern zu werden, war einer ruhigen Erwartung und Gelassenheit gewichen. Seit der Hochzeitsreise ruhte Gina in sich, und manchmal erschien sie ihm wie ein weiblicher Buddha, nicht wegen des Bauches, der Woche für Woche sichtbarer wurde, sondern wegen des in sich gekehrten Lächelns. In den letzten Tagen war ihm aufgefallen, dass sich ihre Sommersprossen vermehrt hatten und ihr Teint einen Schimmer wie Porzellan angenommen hatte. Feinstes Bone China – vielleicht bildete er sich das ja auch ein – und als Kontrast dazu ihre widerspenstigen dunklen Haare. Sie war so schön wie noch nie.
Am nächsten Rastplatz tauschten sie die Plätze. Während der Fahrt unterhielten sie sich über die Einrichtung des Kinderzimmers und ob es wirklich nötig war, sich jetzt schon nach einem Krippenplatz umzusehen. Gina hatte sich erkundigt. Die Wartelisten waren endlos.
Kurz vor Mittag erreichten sie München. Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen. Als sie in der Pestalozzistraße vor dem Haus parkten, ging der feine Regen in einen Graupelschauer über, und sie sahen zu, dass sie nach oben in die Wohnung kamen. Im Flur stand noch Ritas Hochzeitsgeschenk. Das Meer bei Locquémeau. Zwei Quadratmeter tobender Atlantik. Eine apokalyptische Stimmung am Ende der Welt. »Das Bild ist euch irgendwann über«, hatte sie gesagt. »Vielleicht müsst ihr es ab und zu umdrehen.«
Dühnfort stellte den Koffer im Flur ab und schaltete die Espressomaschine in der Küche ein. »Ich mache uns schnelle Spaghetti mit Pesto.«
»Gute Idee. Ich habe Hunger wie ein Wolf.« Gina kam mit der Post herein. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass Thomas uns den Fall Ellen Reitmeier auf den Tisch gelegt hat?«
Thomas Wilzoch war Ginas Chef, und mit ›uns‹ meinte sie ihren Kollegen Holger Morell und sich. Das Team für ungeklärte Altfälle der Münchner Polizei. Von den Medien gerne auch als Spezialisten für Cold Cases bezeichnet.
»Ich glaube nicht.«
»Und was sagst du dazu?«
Was sollte er schon sagen? Dass es ihm nicht recht war, dass ausgerechnet sie sich den einzigen Fall vornahm, den er in seiner Zeit als Ermittler bei der Mordkommission München nicht aufklären konnte? Ein Raubmord an einer Rentnerin, die zurückgezogen gelebt und deren Leiche man erst eine Woche nach der Tat gefunden hatte. Keine Zeugen und ein spurenarmer Tatort. Dennoch hatten sie DNA des Mörders gefunden. Ellen Reitmeier musste ihn selbst hereingelassen haben. Nach vier Monaten waren die Ermittlungen festgefahren. Schließlich hatten sie alle Kontaktpersonen zum DNA-Test gebeten. Viele waren es nicht. Niemand weigerte sich, doch der Täter war nicht dabei gewesen. Es musste sich also doch um einen Fremden handeln.
Natürlich war der Fall Reitmeier Dühnforts offene Wunde, und das lag nicht an seiner Eitelkeit oder daran, dass er glaubte unfehlbar sein zu müssen. Es lag an der Gewissheit, dass ein Mörder frei herumlief. Er hatte nun mal diesen Glauben an Gerechtigkeit und den Willen, jeden Täter hinter Gitter zu bringen. Und es war ihm sehr wohl bewusst, dass es an seinem Vater lag, dem brillanten Strafverteidiger, dem es in seiner aktiven Zeit viel zu oft gelungen war, Kriminelle vor Strafe zu bewahren oder wenigstens für ein mildes Urteil zu sorgen. Der Erfolg seines Vaters und seiner Kollegen war für Dühnfort ein steter Ansporn, ihnen die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Gerichtsfeste Beweise, eine schlüssige Kausalkette, ein Wort für Wort überprüftes Geständnis.
»Was ich dazu sage? Hoffentlich findet ihr einen neuen Ermittlungsansatz.« Dühnfort gab die Spaghetti ins kochende Wasser. »Es ärgert mich natürlich, dass der Täter noch frei ist, obwohl ich nicht glaube, dass wir damals etwas übersehen haben.«
»Das ist nun mal so in unserm Beruf. Manche Fälle lassen sich kaum aufklären. Vor allem, wenn es so wie hier ist und Täter und Opfer sich nicht gekannt haben. Mal sehen, wie weit wir damit kommen. Ab morgen lege ich jedenfalls die Füße auf den Schreibtisch und lese Akten und Akten, und dann lese ich Akten.« Sie gab ihm einen Kuss.
»Und lass sie schön dort oben liegen. Keine Verfolgungsjagden mehr wie im Fall Weber.«
»Ich schwöre.« Sie hob die rechte Hand, gab ihm einen weiteren Kuss, und er erwiderte ihn. Seine Hand glitt über ihren Bauch. Es fühlte sich so gut an, ihr Kind darin zu wissen. Anfang fünfter Monat. In ein paar Wochen könnten sie seine Bewegungen spüren.
Eine großartige Zeit lag vor ihnen. Obwohl seine Eltern seit Jahrzehnten geschieden waren und er seine Differenzen mit seinem Vater ausgetragen hatte, verdankte er ihm doch das Wertvollste, das man einem Kind geben konnte: eine schöne und glückliche Kindheit voller Liebe und Achtung. Sie war das Fundament, auf dem sein Leben stand, und er freute sich darauf, all das an sein Kind weiterzugeben.
Das Nudelwasser kochte über, und gleichzeitig klingelte sein Smartphone. Gina machte sich los und nahm den Deckel vom Topf, während er zum Handy griff. Leonhard Heigl meldete sich, sein Vorgesetzter. »Hallo, Tino. Wo erwische ich dich da?«
»Wir sind gerade zurückgekommen.«
»Sehr schön. Ich brauch dich. Die Teams von Russo und Stahl sind vollauf mit einem Dreifachmord in Pasing beschäftigt. Ich kann ihnen nicht noch eine Ermittlung aufs Auge drücken. Ihr werdet also übernehmen, und wenn du von Anfang an dabei bist, ist das sicher das Beste.«
»Gut. Worum geht’s?«
»Ein Leichenfund im Forstenrieder Park. Kirsten und Alois sind schon unterwegs und Buchholz mit seinen Leuten ebenfalls. Ich informiere die Weidenbach. Du musst dich also nur noch ins Auto setzen.«
Das Großflächenplakat einer Wüstenlandschaft glitt vorbei, dann fuhr die U-Bahn in den Tunnel. Graue Betonwände draußen. Graue Gesichter im Waggon. Jasper Seyboth lehnte den Kopf an den Sitz und schloss die Augen.
Abhauen. Einfach abhauen. Den Krempel in den Geländewagen schmeißen und verschwinden. Zurück nach Afrika. Marokko. Mauretanien. Bis hinunter ans Kap der Guten Hoffnung.
Sein Smartphone summte und holte ihn zurück in die Wirklichkeit, in diesen U-Bahn-Waggon voller grauer Menschen. Ute, seine Beinahe-Schwiegermutter meldete sich. Mit ihrem Anruf hatte er eigentlich gestern gerechnet. »Hallo, Jasper. Wie geht es dir denn?«
Sie fragte das, als wäre er krank. Erwartete sie wirklich, dass er beschissen sagte? Es ging ihm nicht gut. Natürlich nicht, wie jedes Jahr um diese Zeit. Wenn er sie doch nur zurückdrehen könnte. Es ungeschehen machen. Er atmete scharf aus. »Nicht so toll.«
»Entschuldige. Das war eine dumme Frage.« Ute war so. Immer anbiedernd und ein wenig falsch. Selten direkt, meist hintenherum. Gleich würden die versteckten Vorwürfe kommen.
»Ich war gestern auf dem Friedhof und hab Elisabeth Blumen gebracht.«
»Ja, natürlich.« Er war kurz davor hinzuzufügen: Mir fehlt sie doch auch. Ich kann verstehen, dass du an ihr Grab gehst. Doch du wirst nicht verstehen, dass ich es nicht mehr kann. Es macht mich fertig.
Du bist so ein nachtragendes egoistisches Arschloch!
Und du nicht meine Therapeutin!
Die Erinnerung kam aus dem Nichts. Jasper fuhr zusammen, seine Kopfhaut begann zu kribbeln, wie immer, wenn er an diese letzten Minuten dachte, die ihnen gemeinsam vergönnt gewesen waren. Sie hatten es nur nicht gewusst.
»Wir haben uns wohl verpasst.« Ute war gedanklich noch bei ihrem Besuch auf dem Friedhof.
»Sieht ganz so aus.« Sein pampiger Tonfall tat ihm leid. »Sorry. Mir geht es wirklich nicht gut. Ich bin erst nach der Arbeit dazu gekommen und habe Lis Rosen gebracht.« Eine kleine Lüge, weil sie es nicht verstehen würde, und er wollte sie weder verletzen noch sein Verhalten erklären.
»Wie schön, wo sie Rosen doch so gemocht hat. Schade, dass wir uns nicht getroffen haben. Manchmal habe ich das Gefühl, du gehst uns aus dem Weg.«
»Tut mir leid, wenn dieser Eindruck entstanden ist. Ich habe viel zu tun.« Schließlich wollte ich Lis heiraten und nicht dich und Bernd. Er biss sich auf die Lippen. Er musste das alles hinter sich lassen. So hart das auch klang. Er war erst dreißig. Das Leben lag noch vor ihm, und es gab genau zwei Möglichkeiten: es irgendwie durchstehen und wiedergutmachen, was er angerichtet hatte, oder sich vom nächsten Hochhaus stürzen.
Oder einfach abhauen. Doch so einfach war das nicht, denn die Päckchen, die er trug, würden mit ihm reisen. Sie waren mit ihm verwachsen, und selbst wenn er sich über die Klippen stürzte, würden sie mit ihm im Kap der Guten Hoffnung versinken. Auf ewig sein.
»Besuch uns doch mal.«
»Ja, gerne.« Es gelang ihm nicht, auch nur eine Spur von Begeisterung zwischen diese zwei Worte zu quetschen, doch Ute bemerkte es nicht.
»Schön, schön.« Es klang, als ob ein Kind in die Hände klatschte. »Wie wäre es mit nächstem Sonntag? Ich mach’ das Risotto, das du so gerne magst.«
»Nächstes Wochenende passt es nicht. Tobi zieht um, und ich habe versprochen, ihm zu helfen.«
»Dein Bruder? Wohnt er jetzt in München?«
»Er wohnt schon seit Jahren hier.«
»Richte ihm Grüße aus. Dann vielleicht übernächsten Sonntag?« Ihre Stimme klang so hoffnungsvoll, dass er zusagte, obwohl er wusste, dass er in letzter Minute einen Rückzieher machen würde. Er ertrug es nicht, Lis’ Eltern gegenüberzusitzen und das Ersatzkind zu spielen, den Schwiegersohn, der er nicht geworden war.
Ute redete weiter, und er streute ab und zu ein Ja oder ein Hm ein und hoffte, dass sie bald ein Ende finden würde. Er hörte erst wieder zu, als sie sagte, dass man die Hoffnung nicht aufgeben durfte. »Eines Tages werden sie ihn finden. Alles andere wäre so ungerecht.«
Ute war einfältig, und Einfalt hatte Jasper schon immer auf die Palme gebracht. Er atmete durch.
»Der Kerl, der uns das angetan hat, muss dafür büßen. Er muss dafür bezahlen.«
Es ging ihm heute wirklich nicht gut. Natürlich lag es am Jahrestag. Die Erinnerungen kamen wieder hoch. Elisabeth, mit dem schiefen Lächeln. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich in sie verliebt, als sie ihm in der Mensa ihr Tablett so heftig in den Rücken gerammt hatte, dass er das Gleichgewicht verlor und sich unversehens auf dem Boden zwischen Scherben und den Resten ihres vegetarischen Menüs wiederfand.
»Ups. Sorry!«, hatte sie betreten gesagt, und ihr Mund hatte sich zu diesem schiefen Lachen verzogen, das ihn umgehauen hatte. »Angehender Betriebswirt an Gemüsebeilage. Nur heute im Angebot.« Das hatte er tatsächlich gesagt, während sein Herz wie rasend schlug.
Ute wartete auf eine Reaktion von ihm. »Du hast recht. Er muss dafür bezahlen. Vielleicht tut er das ja schon seit vier Jahren.« Sie würden ihn nicht kriegen. Jetzt nicht mehr. Zu viel Zeit war vergangen.
»Ach, Jasper. Manchmal werde ich aus dir nicht schlau. Wie meinst du das denn?«
Er stand auf und stellte sich vor die Tür. An der nächsten Station musste er raus, und außerdem mussten nicht alle mithören. »Wie ich das meine? Hast du nie darüber nachgedacht, dass er vielleicht ein ganz normaler Mensch ist und kein Monster? Und nun muss er mit seiner Schuld leben, und die macht ihm jeden Tag seines Lebens zur Hölle.«
Etwa achtzig Jahre hatte die Buche auf der Lichtung im Forstenrieder Park überdauert und war im Laufe der Zeit von einem zweiblättrigen Schössling zu einem starken Baum mit einer beachtlichen Krone herangewachsen. Sie hatte Wind und Wetter ebenso standgehalten wie Wildfraß und Krankheiten, nur dem Unwetter der vorletzten Nacht nicht.
Dühnfort betrachtete den Krater, den der Baum im Fallen gerissen hatte, und malte sich aus, wie der Sturm sich in den Zweigen und Ästen verfangen hatte wie in einem Segel, das niemand einholte. Wie der Stamm den wachsenden Druck an die Wurzeln weitergab, die sich ins Erdreich klammerten, bis sirrend die ersten, nämlich die dünnsten und feinsten von ihnen rissen, ein dichtes Geflecht, das die stärkeren hielt, die den Kampf nun verloren und sich lösten wie gewaltsam aufgebogene Finger. Wie der Baum schwankte, sich aber noch hielt, bis der Sturm die nächste Böe ins Blätterdach warf und die Wurzeln unter diesem Ansturm rissen wie spleißende Taue. Wie sich endlich die Spannung entlud und der Baum mit einem zitternden Seufzer nachgab und ins Moos der Lichtung stürzte. Achtzig Jahre Beständigkeit, gefällt in Minuten.
Dühnfort wandte sich ab und ging zu Alois Fünfanger und Kirsten Tessmann hinüber. Sie beugten sich neben Dr. Ursula Weidenbach, der zuständigen Rechtsmedizinerin, über eine Grube, die eine herausbrechende Wurzel aufgerissen hatte. Mittlerweile war die Lichtung abgesperrt. Die Besatzung von zwei Streifenwagen sorgte dafür, dass niemand unbefugt das Areal betrat, während die Kollegen von der Polizeihundestaffel zusammenpackten. Die jährliche Prüfung der Leichenspürhunde hatte ein unerwartetes Ende gefunden und sollte in den nächsten Tagen wiederholt werden, worüber die Kollegin Doro Gutsch sichtlich froh war, denn ihre Ronja wäre sonst durchgefallen, obwohl sie die Leiche gefunden hatte.
Frank Buchholz, der Leiter der Spurensicherung, stand mit den Kollegen vor den VW-Bussen. Sie zogen weiße Overalls über und holten die Alukoffer mit dem Equipment aus den Wagen. Frank nickte ihm zu, als er ihn bemerkte. Dühnfort hob grüßend die Hand und gesellte sich zu Alois.
Mit siebenunddreißig war er der Jüngste im Team, ein Beau, der auf seine Erscheinung achtete, mit seinem Charme bei den Frauen ankam und stets für ein Abenteuer zu haben war, nicht aber für eine dauerhafte Beziehung. Die Einzige, die dafür in Frage käme, war Evi, die Mutter seines Sohnes. Mit Evi war er aber nie richtig zusammen gewesen. Das Kind war das Ergebnis eines One-Night-Stands. So schnell konnte man Vater werden. Seinen Sohn Simon liebte Alois abgöttisch, inzwischen auch Evi, doch die hatte sich mittlerweile anderweitig verliebt. Das Leben schrieb merkwürdige Geschichten.
»Servus, Tino.« Alois begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Das ist mal ein leckerer Anblick.« Mit dem Kinn deutete er nach unten in die Grube.
Kirsten drehte sich um. »Grüß dich. Schon zurück? Wir haben dich erst morgen erwartet.« Fröstelnd zog sie die wattierte Jacke enger um sich und schlug den Kragen hoch.
Kirsten war in Dühnforts Alter und seit dem Tod ihres Mannes alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter. Sie war Ginas Nachfolgerin im Team und gehörte erst seit gut einem Jahr dazu. Dühnfort schätzte ihre ruhige und besonnene Art. Bis er mit ihr warm geworden war, hatte es allerdings gedauert. Vom Typ war sie ganz die kühle Blonde und wirkte abweisend, obwohl sie lediglich in sich gekehrt war und ihr Herz nicht auf der Zunge trug.
»Wir sind vor einer Stunde angekommen. Da das unser Fall ist, dachte ich, ich sehe mir das gleich mal an.« Ein schmutziges Bündel lag in diesem seltsamen Grab. Eine grauschwarze gallertartige Substanz, dürftig mit einem Stück Stoff umwickelt. Vielleicht ein Bettlaken oder eine Tischdecke. Was daraus hervorragte, waren vermutlich Unterschenkel und Füße. Ein dreckverschmierter Turnschuh lag daneben. Neongrüne Farbe und ein türkisfarbenes Logo waren zu erkennen. Darunter ein Schriftzug. Fly… irgendwas. Ein Regenwurm ringelte sich in der aufgewühlten Erde. Dr. Ursula Weidenbach kniete vor dem Bündel im Matsch. Mit weißem Overall, Mundschutz und Handschuhen vermummt und einer Handschaufel ausgestattet, legte sie es vollständig frei. Als sie damit fertig war, schlug sie die Enden des Tuchs auseinander, und alle traten einen Schritt zurück. Der Anblick einer Fettwachsleiche war gewöhnungsbedürftig. Kirsten stöhnte. Alois entwischte ein »Echt lecker«. Während Weidenbach zu Dühnfort aufsah. »Ach, Sie auch hier. Ich dachte, Sie sind bei einer Beerdigung.« Mit dem Handrücken schob sie eine Strähne ihres graumelierten Haars aus der Stirn, dabei fielen einige Erdkrümel auf die Brillengläser.
»Die war vorgestern.« Dühnfort ging in die Hocke, um sich das genauer anzusehen. Die Decke entpuppte sich als Wachstuch. Das und der lehmige und feuchte Boden erklärten den Zustand der Leiche. Der Körper war relativ gut erhalten, er sah allerdings ekelerregend aus. Eine aufgequollene, graue wabbelige Masse. Vermutlich die Leiche einer Frau. Reste der Bekleidung waren erhalten. Jeansrock, T-Shirt und neben dem Kopf Büschel von halblangem Haar. Außerdem eine Silberkette mit einem Herzanhänger. Die Tote lag auf der Seite, als habe sie geschlafen, als ihr Schicksal sie ereilte. Am Ringfinger der linken Hand steckte ein Silberring mit rosa Stein. »Was meinen Sie, wie lange liegt sie schon da?« Dühnfort zog Latexhandschuhe über.
»Schwer zu sagen. Der Verwesungsprozess hängt maßgeblich vom Sauerstoffgehalt der Umgebung ab. Nach drei bis vier Jahren im Erdgrab verschwinden zunehmend die Weichteile. Aber hier haben wir es mit einer sauerstoffarmen Umgebung zu tun. Sie kann ein Jahr hier liegen oder zehn. Sie bekommen keine Prognose von mir, bevor ich sie nicht auf dem Tisch gehabt habe.«
»Darf ich?« Dühnfort wies auf die Gesäßtasche des Jeansrocks.
»Das mache besser ich.« Die Rechtsmedizinerin schob ihre Hand hinein und schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Und in den vorderen Taschen?«
Es folgte dieselbe Prozedur und wieder ein Kopfschütteln. »Kein Ausweis. Kein Handy. Kein Schlüssel. Sobald ich sie geborgen habe, können Sie hier buddeln.«
Dühnfort entschloss sich, das Areal gründlich absuchen zu lassen. Egal, wie viel Zeit vergangen war, er wollte wissen, ob sie es lediglich mit dem Fundort oder vielleicht sogar mit dem Tatort zu tun hatten, und bat Alois, sich um die nötigen Leute zu kümmern. Kirsten hatte sich mittlerweile in der Nähe auf einen Baumstumpf gesetzt und ihr Smartphone hervorgezogen. Als er zu ihr trat, sah sie auf. »Maximal zwei Jahre liegt sie da.«
»Wie kommst du darauf?«
Sie zeigte ihm das Display. »Ich habe nach dem Hersteller und Fly gegoogelt und das hier gefunden. Die Turnschuhe sind ein Modell von 2013.«
Tatsächlich. Asphalt Diamonds hieß der Blog zum Thema Must-have-Turnschuhe. Unter anderem wurden dort die Modelle der angesagten Labels nach Kollektionen und Herstellungsjahr aufgelistet. Der Schuh aus dem Grab stammte aus der Kollektion des vorletzten Sommers.
Eine Stunde später war die Leiche geborgen. Frank Buchholz und seine Leute begannen mit der Spurensicherung. Dühnfort bat sie, nach einer Tasche Ausschau zu halten, nach Papieren, Handy, irgendetwas, womit die Tote zu identifizieren war. Er stellte sich wieder an das Grab und rieb sich die kalten Hände.
Wirklich tief hatte sie nicht gelegen, war aber auch nicht hastig verscharrt worden. Etwas dazwischen. Etwas zwischen panischem Verstecken und kühl kalkuliertem Begraben, und er fragte sich, wie man es schaffte, auf einer Waldlichtung im wurzeldurchzogenen Boden eine Grube von knapp einem Meter Tiefe auszuheben. Sicher nicht mit Spitzhacke und Schaufel. Eher mit einem Minibagger, den man allerdings auf einem Anhänger oder einem Wagen mit Ladefläche transportieren musste. Der Forstenrieder Park war kein abgelegener Wald, sondern ein Naherholungsgebiet im Münchner Süden, das unmittelbar an die Stadt angrenzte und von zahlreichen Gemeinden umgeben wurde. Sie konnten die Öffentlichkeit um Hinweise bitten.
Der Suchtrupp kam. Alois wies die Leute ein. Dühnfort schlug den Mantelkragen hoch. Der Wind war eisig und der Himmel bleigrau. Ab und zu taumelte eine vereinzelte Schneeflocke daraus hervor. Mit der Schuhspitze stieß Dühnfort in die Erde am Kopfende der Grube und gegen einen Stein. Er kickte ihn weg. Ein Stück weiter fiel er ins Moos. Schwarz und glänzend. Das war kein Stein. Er hob ihn auf und wischte die erdigen Krümel ab. Zum Vorschein kam eine Figur aus Metall, etwa sechs Zentimeter hoch. Sie stellte einen Affen dar, der mit einer Pfote seinen Unterleib bedeckte.
Marion Lindental hielt vor einer roten Ampel in Grünwald. Sie kam von einem Treffen des Vereins Herzenskinder e.V. und war auf dem Heimweg nach Planegg.
Bereits zum vierten Mal würden Uwe und sie als Gasteltern ein afghanisches Kind betreuen, das in München am Herzen operiert werden sollte. Ohne diesen Eingriff müsste die kleine Rahja sterben, und es war ein gutes Gefühl, diesem Mädchen und seinen Eltern in ihrer Not helfen zu können.
Mit einem Seufzer schob Marion eine blond gefärbte Haarsträhne hinters Ohr. Wie viel einfacher es doch war, die Verantwortung für ein Kind nur für einige Wochen zu übernehmen als für beinahe zwei Jahrzehnte.
Eigentlich hatte sie nie vorgehabt, ein Kind in die Welt zu setzen, und es wäre besser gewesen, wenn sie nie Mutter geworden wäre. Ihr fehlte das Talent zum Muttersein und auch die Bereitschaft, sich aufzuopfern. Doch sie hatte das nicht entschieden. Es hatte sich einfach in ihr Leben gedrängt, dieses Kind, das sie nie gewollt und dennoch bekommen und das ihnen ihre Fürsorge nicht gedankt hatte. Nicht mit Liebe oder mit hervorragenden schulischen Leistungen, geschweige denn einer besonderen Begabung, und auch nicht mit einem adäquaten Studium oder wenigstens einer anständigen Ausbildung. Mit irgendetwas, auf das man als Eltern stolz sein konnte.
Marion wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Sie klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich im Spiegel. Der Haaransatz war dunkel nachgewachsen. Höchste Zeit, einen Termin bei Luigi auszumachen. Mit der Fingerkuppe strich sie eine Augenbraue glatt und zog sich noch die Lippen nach. Sich nur niemals gehenlassen!
Niemand sah ihr an, dass sie Anfang fünfzig war. Man schätzte sie gut und gerne zehn Jahre jünger. Marion war mit sich und ihrem Leben zufrieden. Sie sah blendend aus und hatte einen Mann, der als Verwaltungschef einer Klinik nicht nur einen gewissen Status erlangt hatte, sondern auch passabel verdiente, und selbst die Niederlage Arbeitslosigkeit hatte sie in einen Sieg verwandelt. Alle lobten sie wegen ihres sozialen Engagements. Ehrenamtlich kümmerte sie sich um die Herzenskinder und engagierte sich obendrein in der Gemeinde bei der Tafel.
Nachdem ihr vor drei Jahren betriebsbedingt gekündigt worden war, hatte sie sich nichts vorgemacht. In ihrem Alter würde sie keine passende Stelle mehr finden. Sie war Assistentin der Geschäftsleitung gewesen und nicht bereit, sich zur Sekretärin degradieren zu lassen. Uwe verdiente genug für sie beide. Also hatte sie sich ein neues Betätigungsfeld gesucht und ging ganz darin auf. Seither umgab sie ein Glanz, der ihr bisher gefehlt hatte. Die Aura einer Frau, die selbstlos half. Sie war ein guter Mensch. Ja, das war sie.
Der Fahrer hinter ihr hupte. Die Ampel hatte längst auf Grün geschaltet. Sie fuhr los, hob die Hand und dankte mit dieser Geste ihrem Hintermann, dass er sie darauf aufmerksam gemacht hatte, während sie in Wahrheit dachte, was für ein kleinkariertes Arschloch er doch war.
Bis Rahja kam, war noch einiges zu erledigen. Marion wollte das Gästezimmer renovieren. Sie wusste zwar, dass die Kinder kein eigenes Zimmer brauchten, weil sie es gewohnt waren, dass die Familie zusammen in einem Raum schlief. Der sichere Hafen einer Großfamilie, die ihre Kinder behütete und in einen Kokon aus Liebe, Vertrauen und Geborgenheit einspann. Aber hier ging das nicht. Als Ausgleich sollte Rahja ein hübsches Mädchenzimmer bekommen.
In Neuried bog Marion auf die M4 Richtung Gauting ab. Sie wollte noch bei Luigi vorbeischauen, um den Termin fürs Färben des Ansatzes auszumachen und eine Packung von der Haarkur kaufen, von der er ihr beim letzten Besuch ein Pröbchen mitgegeben hatte und die ihrem Haar einen wunderbaren Glanz verlieh.
Die Straße führte schnurgerade durch den Wald. Seit Tagen war der Himmel bedeckt, und diese graue Tristesse zerrte an Marions Nerven. Wenn sie nicht bald wenigstens ein Fitzelchen Blau sah, würde sie durchdrehen oder Depressionen bekommen. Vielleicht sollte sie sich ein Wellnesswochenende gönnen, bevor Rahja Anfang Januar kam.
Bei der Abzweigung zum Preysing-Geräumt standen Streifenwagen am Straßenrand und daneben Polizisten. Ein Unfall? Doch die Blaulichter waren ausgeschaltet und kein weiteres Fahrzeug zu sehen. Seltsam. Was da wohl los war?
Zehn Minuten später erreichte sie Gauting, vereinbarte einen Termin bei Luigi und kaufte die Haarkur. Uwe würde meckern, wenn er die Rechnung sah. Marion zerknüllte sie und warf sie während der Fahrt aus dem Fenster. Wenn er eine vorzeigbare Frau haben wollte, musste er eben investieren. Zehn Jahre jünger auszusehen war in ihrem Alter eine Frage des Geldes. Hauptsächlich jedenfalls. Und eine Frage der Gene. Leider hatte sie das schlechte Bindegewebe ihrer Mutter geerbt, also musste Uwes Einkommen das ausgleichen.
In Planegg hielt sie beim Metzger, kaufte ein T-Bone-Steak für ihn und ein kleines Filetsteak ohne jedes Gramm Fett für sich. Dazu Bohnen mit ein wenig Butter und Thymian und für Uwe Bratkartoffeln. Bei jedem Gedanken an Uwe wurde ihr noch immer warm ums Herz. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Durchsetzungsstark nannte man das heute. Ja, das war er. Er gab den Kurs vor, und sie folgte ihm, und das war gut so. Nach einem Mann wie ihm hatte sie gesucht, nach einem, an den sie sich anlehnen konnte, der sie bei der Hand nahm, auch wenn diese ihm leider manchmal ausrutschte. Ein Mann, mit dem sie gemeinsam das Leben meistern konnte. Ein starker Kerl wie ihr Vater, der auch ab und zu die Kontrolle verloren hatte, jähzornig, wie er nun einmal gewesen war.
Marion ließ den Wagen auf dem Garagenvorplatz der Doppelhaushälfte ausrollen, die sie vor über zwanzig Jahren gekauft hatten. Natürlich hatten sie nach Uwes Beförderung zum Verwaltungschef über einen Umzug nachgedacht. Ein Haus, das ihrem Status entsprach, doch ein frei stehendes Einfamilienhaus konnten sich im Münchner Raum nur noch Millionäre leisten, und für sie beide war die Doppelhaushälfte groß genug.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass Uwe erst in einer Stunde nach Hause kommen würde. Zeit genug, um das Abendessen vorzubereiten. Sie legte das Fleisch in den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Prosecco ein, sonst würde sie angesichts der grauen Trübsal ausflippen, die über München hing wie ein Leichentuch.
Während Marion Lindental Prosecco trank und Konstantin Dühnfort den Forstenrieder Park verließ, um ins Präsidium zu fahren, saß Anette Körber im Besprechungsraum ihrer Sparkassenfiliale und rang um Zuversicht. Im Grunde war sie eine Optimistin, und ihre Situation war eigentlich gar nicht so schlimm. Das Konto war zwar ordentlich überzogen, doch die neuen Hut-Modelle waren fertig und das Skizzenbuch mit Entwürfen gefüllt. Nächste Woche würde sie damit zur Messe fahren und Aufträge an Land ziehen.
Der Stuhl war unbequem, und sie rutschte unruhig darauf hin und her. Schon fünf nach vier. Wo blieb Claudia nur? Anettes Handflächen waren feucht, und in ihrem Magen flatterte die Nervosität wie ein Schwarm Nachtfalter im Laternenlicht. Claudia Hofmeister und sie waren seit Jahren befreundet. Claudia würde dafür sorgen, dass der Kreditrahmen erweitert wurde. Alles andere war unvorstellbar. Der Gedanke, ihre Hutmacher-Werkstatt mit dem kleinen Laden schließen zu müssen, jagte eine Welle von Panik durch ihren Körper. Was sollte sie dann tun? Hüte zu entwerfen und zu fertigen war ihr Leben, ihre große Leidenschaft. Egal ob winzige Trilbys oder extravagante Fascinators, ob klassische Formen für Herren- oder Damenhüte, ob Strohhüte, Cowboyhüte oder Cloches. Es war ihr Beruf, und sie wollte nichts anderes. Der Geruch ihrer Werkstatt nach Hasenhaarfilz und geflochtenem Stroh. Das Knistern von Satin und Tüll, wenn sie die Stoffe zwischen den Fingern rieb. Garne und Bänder in allen Farben des Regenbogens. Die Schmucksteine, Perlen und Pailletten. Die Hitze des Dampfs, das Surren der Nähmaschine, die glatten Oberflächen der alten Holzformen, die sie nach und nach gekauft hatte. Das war ihre Welt, ihr Leben. Sie konnte es nicht aufgeben.
Doch der Umsatz war zu gering. Oder die Kosten zu hoch. Lag es an der Lage des Ladens? Eigentlich war sie nicht schlecht. Mitten in Schwabing, zwar in einem Hinterhof, der aber von der Straße einsehbar war. Und die Hüte konnte sie nicht billiger verkaufen, wenn etwas übrigbleiben sollte.
Claudia kam herein und sah in ihrem schwarzen Hosenanzug mit der weißen Bluse schrecklich formell aus. Ihr Lächeln wirkte nicht aufmunternd, sondern verrutscht.
»Anette! Grüß dich!« Ihre Freundin drückte sie an sich. Nicht so schwungvoll wie sonst und ein wenig länger als nötig.
»Hallo, Claudia.« Anettes Stimme wollte nicht so recht. Sie räusperte sich. »Ich weiß, die Zahlen sehen nicht so toll aus.« Sie wies auf ihre Unterlagen, die Claudia auf den Tisch gelegt hatte. Buchhaltung, Kontoauszüge, eine Aufstellung der Verbindlichkeiten und Forderungen.
»Sie sind katastrophal.« Das war typisch Claudia. Sie redete nie um den heißen Brei herum. Während sie sich setzte, ließ Anette sich auf ihren Stuhl fallen. Katastrophal also. »Das bedeutet, dass ihr den Kreditrahmen nicht erhöht?«
Claudia knöpfte den Blazer auf. »Es tut mir leid. Wir haben Vorschriften, an denen kann ich mich nicht vorbeimogeln. Ich habe ohnehin schon beide Augen zugedrückt und mir deswegen einen Rüffel von meinem Chef eingefangen. Er ist schier ausgeflippt, als er gesehen hat, wie überstrapaziert dein Dispo ist. Und deine Verbindlichkeiten erst. Offene Lieferantenrechnungen ohne Ende, und seit zwei Monaten hast du keine Miete gezahlt. Was sagt denn dein Vermieter dazu?«
»Ich gehe ihm aus dem Weg. Bisher ist das gutgegangen.« Anette wusste, dass das keine Lösung war. Früher oder später würde Mittermeyer vor ihrer Tür stehen und sein Geld fordern. Die Miete für den Laden im Hinterhof und für die winzige Wohnung im Vorderhaus.
»Ach, Anette. Vom Wegsehen löst sich das Problem nicht«, sagte Claudia. »Es wird nur schlimmer. Man muss das Kind beim Namen nennen: Du bist insolvent.«
Insolvent. Aus der Hut-Traum. Anettes Hals war plötzlich wie zugeschnürt. »Aber die Messe steht bevor. Ich habe Termine mit Einkäufern von verschiedenen Modehäusern. Die werden sicher ordern.«
»Aber niemals die Menge, die du bräuchtest, um rasch in den grünen Bereich zu kommen.«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Du hast keine Wahl. Du musst den Laden schließen und Insolvenz anmelden. Es sei denn, du findest einen Geldgeber. Kann Basti dir vielleicht etwas leihen?«
»Er hat ja selbst Probleme«. Basti war Anettes Freund und Inhaber einer Eventagentur. Ihm hatte vor zwei Monaten das Wasser selbst bis zum Hals gestanden. Ein Kunde war mit einer offenen Rechnung von zehntausend Euro einfach abgetaucht, und ein anderer war pleitegegangen und das Insolvenzverfahren mangels Masse eingestellt worden. Basti hatte sich selbst Geld leihen müssen, weil auch seine Bank nicht mitspielte.
»Und deine Eltern?«
Anette schüttelte den Kopf. Der Druck in ihrem Hals verstärkte sich. Abhauen. Verschwinden, alles hinter sich lassen, das war ihr erster Impuls. Ihren großen Traum endlich wahrmachen. Mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Peking und unterwegs bleiben, wo es ihr gefiel. Mit dem Motorrad durch die Mongolei. In einer Jurte wohnen, dem Obertongesang der Nomaden lauschen, der sie faszinierte, seit sie ihn einmal in der Fußgängerzone gehört hatte. Das einfache Leben. Die Weite der Steppe und des Himmels, die Kargheit der Landschaft. Die Genügsamkeit der Menschen. Doch ihr fehlte der Mut dazu. Sie würde es nie tun.
Claudia griff nach ihrer Hand und sah sie besorgt an. Bei ihr lief alles bestens. Das ganze Leben durchgeplant. Ausbildung, Karriere, der Mann fürs Leben war gefunden. Vor drei Monaten hatte Claudia geheiratet. Das Eigenheim war in Planung, doch vorher stand noch die große Reise auf dem Programm. Drei Monate Sabbatical für eine Trekkingtour durch Thailand. Schon nächste Woche sollte es losgehen.
»Und was soll ich nun tun?«
»Privatinsolvenz anmelden. Geh zu einer Schuldnerberatung. Zu einer seriösen. Auf diesem Feld tummeln sich viele Wunderheiler und Scharlatane, die Geld versprechen und Wucherzinsen abkassieren. Am besten wendest du dich an diesen Verein. Sie sind gut, und sie beraten kostenlos.« Aus der Schublade nahm Claudia eine Visitenkarte und reichte sie Anette. »Lass dir von denen helfen, ja?«
Unschlüssig sah Anette auf die Karte in ihrer Hand. Verein für Schuldnerberatung und Insolvenzhilfe e.V., Jasper Seyboth, Berater.
Wie immer verbrachte Dühnfort die ersten Minuten nach dem Aufstehen auf dem kleinen Balkon vor der Küche, von dem er einen Blick auf den Alten Südfriedhof hatte, den ehemaligen Pestfriedhof der Stadt. Fröstelnd zog er die Strickjacke enger um sich, die er rasch über seinen Schlafanzug gezogen hatte. Es war halb sieben und die Luft klar und frisch.
Bäume, Grabsteine und Gräser waren mit feinem Raureif bedeckt. Das trübe Licht des anbrechenden Tages ließ den Marmorengel, der drei Etagen tiefer seit über hundert Jahren das Grab eines Musikers bewachte, heute reichlich missmutig erscheinen.
Von drinnen hörte Dühnfort das Schlagen der Badezimmertür. Gina war aufgestanden. Er ging hinein, schob die Croissants zum Auftauen in die Mikrowelle und deckte den Tisch. Als die Espressomaschine aufgeheizt war, bereitete er zwei Cappuccini zu.
Er war gerade fertig, als Gina in die Küche kam und ihm den morgendlichen Kuss gab. Er mochte diese kleinen Rituale, die sich bei ihnen bereits eingeschlichen hatten wie bei einem alten Ehepaar. Für ihn waren sie keine Zeichen von Routine oder Langeweile, sondern von Beständigkeit. Und Beständigkeit war etwas, das er in dieser hektischen Zeit schätzte. Im Grunde war er konservativ und fand daran nichts auszusetzen. Als Blaupause für einen Fernsehkommissar würde er nicht taugen, dafür war sein Leben zu normal. Er war der Mann von nebenan, dem sein Beruf weder ein Trauma angehängt hatte, das ihn zum Säufer und Kettenraucher machte, noch reihenweise Beziehungen scheitern und ihn so zum einsamen Wolf werden ließ. Er war auch nicht der prügelnde Bulle, der notfalls mit Gewalt und unter Missachtung aller Regeln, die für Ermittler galten – und das waren nicht wenige – , dem Recht zur Geltung verhalf, indem er es mit Füßen trat. Im Gegenteil, er hielt sich daran, denn schließlich sollten alle Beweise, die sein Team und er zusammentrugen, am Ende vor Gericht standhalten und nicht von einem mit allen Wassern gewaschenen Verteidiger in der Luft zerrissen werden, weil sie auf illegale Weise erlangt wurden und somit ein prozessuales Verwertungsverbot galt.
Gina strich fingerdick Schokocreme auf ihr Croissant, das Glas war schon wieder halbleer. Er trank seinen Cappuccino, und nach dem Frühstück machten sie sich gemeinsam auf den Weg in die Arbeit.
In der Sendlinger Straße und in der Fußgängerzone war es noch relativ ruhig. Die Läden öffneten erst um zehn und bereiteten sich auf den Ansturm der Kundschaft vor. Schaufenster wurden dekoriert, Lieferwagen entladen und Sackkarren voller Kartons in die Geschäfte geschoben.
Auf dem Treppenabsatz zur zweiten Etage des Polizeipräsidiums trennten sich Dühnforts und Ginas Wege. »Habt einen schönen Tag, ihr zwei.« Er strich über ihren Bauch und setzte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze; und für einen Moment streifte ihn der Gedanke, dass sie ab heute in den Akten blättern würde, die er vor Jahren angelegt hatte. Der Fall Ellen Reitmeier. Noch immer ungeklärt. Er lag ihm im Magen, und er hoffte, dass sie einen neuen Ansatz finden würde, um den Täter doch noch zu überführen, und im selben Moment wünschte sich ganz ungewollt ein Teil von ihm das Gegenteil. Denn wenn sie erfolgreich war, würde das bedeuten, dass er etwas übersehen hatte. Mit einem unmerklichen Kopfschütteln schob er dieses irritierende Gefühl beiseite.
Gina erwiderte seinen Kuss. »Wenn du mittags Zeit hast, könnten wir zusammen essen.«
»Um elf beginnt die Obduktion der Toten aus dem Forstenrieder Park. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird, und melde mich.«
Einen Augenblick sah er ihr noch nach, dann ging er nach oben in die dritte Etage. Alois und Kirsten waren schon da und saßen an ihren PCs. »Guten Morgen. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im kleinen Besprechungszimmer.«
In seinem Büro angekommen, lüftete er und schaltete wie immer die Pavoni an. Ohne seine tägliche Überdosis Espresso war er zu nichts zu gebrauchen. Ginas Bemerkung ging ihm durch den Kopf. Wenn er nach dir kommt, wird er bereits mit einem Espresso doppio in der Hand geboren. Lächelnd startete Dühnfort den PC und las die eingegangenen Mails.
Als er das Besprechungszimmer betrat, heftete Kirsten die Fotos vom Grab im Wald an die Magnettafel und Alois beendete ein Telefonat.
»Haben wir schon einen Anhaltspunkt, wer sie sein könnte?«
»Das Absuchen des Fundorts hat nicht viel gebracht«, sagte Alois. »Nur das Übliche. Kondome. Wein- und Bierflaschen. Ein Hundehalsband. Nichts, was wir bis jetzt der Toten zuordnen könnten.«
Kirsten wandte sich um. »Ich habe in der Vermisstendatei nach Frauen zwischen sechzehn und vierzig gesucht, die seit nicht mehr als zwei Jahren abgängig sind. Da kommen einige in Frage. Sobald wir die DNA unserer Toten haben, ist das Rätsel sicher gelöst.«
Dühnfort betrachtete die Aufnahmen, die Buchholz gestern noch von dem Wachstuch, der Kleidung und den Schmuckstücken angefertigt hatte. Das Wachstuch war vermutlich Massenware. Die Turnschuhe stammten von einem angesagten Label und waren teuer gewesen. Jeansrock und T-Shirt kamen von einem spanischen Hersteller, Made in China. Das BH-Etikett verriet nicht nur die Körbchengröße 75 C, sondern auch den Hersteller, Calvin Klein Underwear. Von derselben Marke stammten auch Slip und Sneakersocken. Keine Strümpfe oder Strumpfhose. Weder Jacke noch Pulli. Die Frau war im Sommer gestorben oder im frühen Herbst, und es würde ihn überraschen, wenn es ein Sexualdelikt war. Es sei denn, der Täter hätte die Leiche wieder vollständig bekleidet.
Der Ring war aus Silber. In der runden Fassung saß ein roséfarbener Stein. Kirsten stellte sich zu Dühnfort. »Das ist ein Rosenquarz mit Cabochonschliff.«
»Teuer?«
»Eher nicht. Mehr als achtzig bis hundert Euro muss man dafür nicht hinblättern. Ein Vintagestück aus den achtziger oder neunziger Jahren.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich hab’s gegoogelt. Die Art der Fassung war damals modern.«
»Und die Kette? Die Steine sind doch nicht echt.«
»Könnte man fast glauben. Ist aber Strass von Swarovski. Modell Cupidon. Preis: um die hundert Euro. Unsere Tote stammt vermutlich nicht aus prekären Verhältnissen, aber auch nicht aus der Oberschicht.«
Eine Weile ließ Dühnfort die Aufnahmen noch auf sich wirken. Wer war diese Frau? Was war ihr im Sommer oder Herbst vor zwei Jahren zugestoßen?
Bis es Zeit war, sich auf den Weg zum Institut für Rechtsmedizin zu machen, erledigte Dühnfort Schreibtischarbeit. Um zwanzig vor elf sicherte er das Dokument eines Abschlussberichts und griff nach Mantel und Schal. Die Rechtsmedizin war in fünfzehn Minuten zu Fuß zu erreichen. Mit dem Auto war er im dichten Innenstadtverkehr nicht wesentlich schneller. Er ging bei Kirsten und Alois vorbei. »Ich gehe zu Fuß. Kommt jemand mit?«
»Bei diesem Wetter fahre ich lieber.« Alois sah zum Fenster. Davor blies der Wind das letzte Laub aus den Bäumen.
»Zu ungemütlich da draußen«, meinte Kirsten. »Kathi liegt mit Fieber im Bett, da muss ich nicht auch noch krank werden. Ich lass mich von Alois kutschieren.«
»Dann bis gleich.« Dühnfort verließ das Präsidium. Er mochte den kalten Wind, der ihn an Sylt erinnerte, an das Ferienhaus seines Vaters, Gischt und Brandung, das Feuer im Kamin und all die Geschichten, die sein Vater ihm und seinem Bruder vorgelesen hatte. Die komplette Odyssee, aber auch die Herr-der-Ringe-Saga. Für einen Moment malte er sich aus, wie er sie seinem Sohn vorlas, und allein die Vorstellung hob seine Stimmung.
Alois’ Mini stand bereits auf dem Parkplatz vor dem Institut, als Dühnfort eintraf. In dem Gebäude aus der Gründerzeit war es kalt, und die Flure waren nur spärlich beleuchtet. Unzählige feuchte Schuhspuren bedeckten den Steinboden im Eingangsbereich. Er überholte eine Gruppe Studenten. Die Putzfrau kam ihm mit ihrem Wagen entgegen und schimpfte halblaut vor sich hin. Schlag elf Uhr zog Dühnfort die Tür zum Sektionssaal auf und trat ein.
An allen drei Stahltischen waren Sektionen im Gange. Obduzenten und Gehilfen arbeiteten Hand in Hand und unterhielten sich. Befunde wurden diktiert, Instrumente klapperten, und plötzlich legte sich das Sirren der Oszillationssäge über alle Geräusche
Dühnfort entdeckte Dr. Weidenbach am letzten Tisch. Kirsten und Alois standen neben ihr. Alle drei blickten auf die Wachsleiche, die im neonhellen Licht und entkleidet noch grauenhafter aussah als am Vortag im Wald.
»Guten Tag, Herr Dühnfort.« Die Rechtsmedizinerin schob die silbergefasste Brille ins Haar. Aus ihrem Kittel stieg der Geruch einer heimlich gerauchten Zigarette, und vom Tisch drang der Gestank der Leiche in seine Nase. Er atmete flacher.
»Guten Tag. Wie sieht es aus? Haben Sie schon ein paar Informationen für uns?«
Weidenbachs Tonfall wurde ironisch. »Die Todesursache und den genauen Zeitpunkt? Am besten auf die Minute genau?«
»Eine Zeitspanne haben wir uns aufgrund der Bekleidung schon selbst zusammengereimt. Vermutlich ist sie im Sommer oder Herbst 2013 gestorben. Kommt das hin?«
»Ja, das könnte passen. Aber vieles andere auch.«
Die Röntgenaufnahmen der Toten hingen hinter Weidenbach an der Leuchtwand. »Und die Todesursache? Eine Vermutung?«
»Ach, Herr Dühnfort. Ich muss erst reingucken, deswegen sind wir ja hier. Was ich bis jetzt sagen kann: Es gibt zahlreiche Frakturen, von denen ich nicht annehme, dass sie postmortal entstanden sind. Keine sichtbaren äußeren Verletzungen wie Messerstiche, Strangmarken oder eine Schusswunde. Nur das hier ist mir aufgefallen.« Sie wies auf eine Stelle oberhalb der rechten Brust. Dort befanden sich einige kreisförmige vertrocknete Stellen mit einem Durchmesser von etwa fünf Millimeter.
»Brandverletzungen von einer Zigarette?«, fragte Dühnfort.
»Das wäre möglich.«
Kirsten trat näher und sah sich das an. »Das würde bedeuten, dass sie gefoltert wurde.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Weidenbach zog die Schultern hoch. »Es gibt viele Spielarten der Liebe. Manche mögen das ja. Wollen wir?«
Dühnfort nahm das Döschen mit Erkältungssalbe aus der Sakkotasche und reichte es erst Kirsten und Alois, bevor auch er sich etwas davon unter die Nase strich. Mit Campher und Eukalyptus ließ sich der Geruch einigermaßen ertragen.
Zwei Stunden später war die Obduktion beendet, ohne dass die Todesursache festgestellt worden war. Die kleinen kreisförmigen Verbrennungen sowie Frakturen an beiden Schien- und Wadenbeinen, an Elle und Speiche des rechten Arms, drei Rippen, dem rechten Becken und mehrere feine Risse im Schädelknochen und den Brustwirbeln, die allesamt von Schlägen, aber auch einem Sturz oder Aufprall herrühren konnten, waren das Ergebnis.
Alter zwischen zwanzig und Mitte dreißig. Westeuropäerin. In diesem Punkt legte Dr. Weidenbach sich bereits fest, obwohl die Isotopenanalyse noch ausstand. Es lag am guten Zahnstatus. Die Zähne standen in Reih und Glied. Ergebnis einer kieferorthopädischen Behandlung mit Zahnspange. Außerdem gab es nur zwei kleine Füllungen, und die waren mit hochwertigem Material ausgeführt worden.
»Wenn die Gewebeproben keine toxischen Substanzen zutage fördern, weiß ich nicht, woran sie gestorben ist. Ich kann es nur vermuten. Vielleicht hat eine gebrochene Rippe die Lunge perforiert und die ist daraufhin kollabiert, oder die Leber wurde verletzt oder ein anderes Organ, dann wäre sie innerlich verblutet. Der Zustand der Organe lässt leider keine Aussage zu. Die multiplen Frakturen können ebenso von einem Sturz herrühren wie von einem Gewaltausbruch. Vielleicht ein Unfall, vielleicht Totschlag oder auch ein Mord. Alles ist möglich.«
Im Flur vor dem Sektionssaal schnupperte Alois am Ärmel seines Sakkos. »Puh! Das muss in die Reinigung, bevor ich mich damit wieder unter Menschen wagen kann. Und das für nichts. Wir sind so schlau wie zuvor.«
»Wir haben die DNA-Analyse.« Kirsten hob den Hefter hoch. »Ich seh gleich in die Datenbank. Aber vorher muss ich etwas essen. Kommt jemand mit in die Kantine?«
Schon vor einer Stunde hatte Dühnfort Gina eine SMS geschickt, dass die Obduktion andauerte und aus der gemeinsamen Mittagspause nichts wurde, und die Kantine mied er, wann immer es ging. »Ich besorge mir auf dem Viktualienmarkt einen Happen und gehe dann weiter zur Galerie für asiatische Kunst in der Hochbrückenstraße.«
Überrascht sah Kirsten ihn an. »Was willst du dort?«
»Die Affenfigur einem Fachmann zeigen.«
Auch Alois hatte keine Zeit für ein Kantinenessen. Er traf sich mit seiner aktuellen Freundin beim Bergwolf auf eine Currywurst.
Zum Viktualienmarkt war es nicht weit. Kurz spielte Dühnfort mit dem Gedanken, sich in der Schrannenhalle einen Imbiss zu holen. Doch er mochte die Atmosphäre nicht, obwohl er das Konzept zunächst begrüßt hatte. Ein Haus voller italienischer Lebensmittel, die man nicht an jeder Ecke bekam, und dazwischen Stände, an denen man auf die Schnelle eine Kleinigkeit essen konnte, und Restaurantflächen, wenn man mehr Zeit hatte. Aber er war bereits am Eröffnungstag geflüchtet. Die Münchner Schickeria vertrug er nur in homöopathischer Dosierung. Doch die Schönen, Einflussreichen und Reichen und die Adabeis, die sich wie Putzerfische im Kielwasser der Wichtigen tummelten, hatten die Schrannenhalle zu ihrem Tempel erkoren, und Dühnfort hielt sich weiterhin an den Viktualienmarkt.
Der Wind war noch immer eisig. In den Nieselregen mischte sich Graupel. Dühnfort steuerte auf Fisch Witte zu, um sich an der Theke einen Teller Fischsuppe zu gönnen, als er an der Chocolateria vorbeikam und ihm die Schokoaufstriche im Schaufenster auffielen. Ginas Frühstücksglas war beinahe leer. Spontan trat er ein und verließ den Laden kurz darauf mit einem Glas Nougataufstrich für sie und einem Sortiment Choco-Bars für sich. Schokolade mit achtzig Prozent Kakaoanteil war genau sein Ding und der Vorrat in seiner Schreibtischschublade beinahe erschöpft.
Bei Witte hatte er Glück und bekam sofort einen Platz. Die Fischsuppe war köstlich wie immer, und angenehm gesättigt ging er weiter. Auf dem Weg zur Hochbrückenstraße sah er noch rasch auf einen Espresso bei Marcello am Rindermarkt vorbei und probierte zum Doppio einen der Schokoriegel, während Marcello eingehend das Ultraschallbild von Dühnfort junior betrachtete. Es war schon vier Wochen alt, bald stand die nächste Vorsorgeuntersuchung an, dann gab es eine neue Aufnahme.
»Bella ragazza. Oder wird es ein Junge?«
Dühnfort zuckte mit den Schultern. Sie wollten sich überraschen lassen und hatten Ginas Gynäkologin gebeten, es ihnen nicht zu verraten.
Es war halb drei, als er die Galerie für asiatische Kunst erreichte. Diverse Buddha- und Shiva-Figuren standen im Schaufenster zwischen Vasen und antiken Taiko-Trommeln. Die Glocke bimmelte, als er eintrat. In der Luft lag der Geruch von Sandelholz, und aus einem Lautsprecher klang leise Musik. An der Wand hing ein chinesischer Wandteppich, dessen beherrschendes Motiv ein Drache war.
Im hinteren Teil des Raums bemerkte Dühnfort eine Bewegung. Eine Frau erhob sich aus einem Sessel und kam auf ihn zu. Etwa sechzig Jahre alt, sehr schlank und kaum eins sechzig groß. Twinset, Perlenkette, hochgestecktes graumeliertes Haar. »Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen, oder möchten Sie sich lieber in Ruhe umsehen?«
»Ich würde gerne von Ihrem Fachwissen profitieren. Dühnfort, Kripo München.« Überrascht sah sie ihn an. »Keine Sorge. Es geht nur um eine Auskunft.« Er zog den Beutel aus der Tasche und nahm die kleine Figur heraus. »Diese Affenfigur spielt in einem Fall eine Rolle, und ich wüsste gerne, woher sie stammt und was sie bedeuten könnte.«
»Mal sehen, ob ich Ihnen helfen kann.« Sie nahm die Figur, ging damit ans Licht und betrachtete sie von allen Seiten. »Das ist Massenware und stammt aus China oder Thailand. Eine Bronzelegierung. Vermutlich wurde sie im Set mit den drei anderen verkauft.«
»Mit welchen anderen?«
Mit einem Lächeln gab sie ihm die Figur zurück. »Sie kennen doch sicher die drei weisen Affen.«
»Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen?«
Sie nickte. »Genau genommen lautet das japanische Sprichwort, das durch die Affen dargestellt wird: Nichts Böses sehen, nichts Böses sagen, nichts Böses hören. Während sie in Japan die Bedeutung haben, dass man über Schlechtes am besten weise hinwegsieht, werden sie bei uns in der westlichen Welt negativ interpretiert, als Zeichen für mangelnde Zivilcourage.«
»Und dieser Affe gehört dazu?«
»Er ist der vierte. Den kennt hierzulande kaum jemand. Shirazu, der Affe, der seinen Unterleib bedeckt. Seine Bedeutung: Tu nichts Böses, habe keinen Spaß, was man auch mit habe keinen Sex gleichsetzen könnte. Normalerweise werden diese drei oder vier Affen als Set angeboten.«
Dühnfort bedankte sich für die Auskunft und kehrte ins Präsidium zurück. Habe keinen Spaß. Habe keinen Sex. Tu nichts Böses. Es war kein Zufall, dass sie diese Figur bei der Toten gefunden hatten. Sie war eine Art Grabbeigabe. Eine Warnung oder Mahnung? Oder eine Rechtfertigung?
Jedenfalls hatte diese Figur eine Bedeutung für die Tat, und er beschloss, die Information darüber bei der Pressemitteilung zurückzuhalten. Sie gehörte zum exklusiven Täterwissen.
Sicher hatte Kirsten inzwischen das DNA-Profil aus der Rechtsmedizin mit dem der vermissten Personen in der Datenbank abgeglichen. Dühnfort nahm die Treppe in die dritte Etage und sah bei Alois und Kirsten rein. Er saß nicht an seinem Platz, und sie schloss gerade die Eingabemaske.
»Haben wir einen Namen?«, fragte Dühnfort.
Kirsten schüttelte den Kopf. »Unsere Tote wird anscheinend von niemandem vermisst.«
Tobi hatte ihn um Hilfe beim Umzug gebeten, und Jasper hatte zugesagt, obwohl ihn mit seinem Bruder nichts verband, außer dem Namen und der gemeinsamen Vergangenheit. Dennoch gelang es Tobi immer wieder, Hilfe von ihm zu erhalten, indem er unterschwellig an sein schlechtes Gewissen appellierte. Solange er es nicht übertrieb, war es in Ordnung.
Jasper stellte den vorletzten Karton auf einem Treppenabsatz in der vierten Etage ab, um Luft zu holen. Hinter ihm erklangen Schritte. Sein Bruder kam mit dem letzten Karton durchs Treppenhaus nach oben. Er nahm seinen wieder auf, schleppte ihn noch eine Etage höher in die neue Wohnung und ließ sich darauf fallen. Fünfter Stock. Kein Lift. Er war echt geschafft.
Tobi schien die Schlepperei nicht viel auszumachen. Er war kaum verschwitzt und nur mäßig außer Atem. »Auch ein Bier?«, fragte er.
»Gern.«
Er nahm zwei Dosen aus dem Kühlschrank, den sie als Erstes in die Wohnung gebracht und gleich angeschlossen hatten. »Da. Fang!« Tobi holte aus und warf die Dose mit der Wucht eines Handballspielers, der unbedingt das entscheidende Tor machen will. Sie flog direkt auf Jasper zu, und er duckte sich, denn es war klar, dass er sie nicht fangen konnte. Hinter ihm knallte sie gegen die Wand. »Du Depp. Wenn ich die jetzt aufmache, kannst du gleich deine Fähigkeiten als Putzmann vorführen.« Er hob die Dose auf, legte sie zurück und nahm sich eine andere. »Wieso hast du überhaupt diesen Job angenommen? Putzmann bei der Bahn.«
»Weil keine Stellen für vorbestrafte Schreiner frei waren, und von irgendwas muss ich leben. Ist ja nur vorübergehend.«
Sie stießen an, und Jasper setzte sich wieder auf den Karton. Das Gröbste war geschafft. Tobis Krempel war oben. Die Wohnung war richtig nett, auch wenn sie im Hasenbergl lag, im sozialen Brennpunkt der Stadt. Doch mittlerweile zogen immer mehr Menschen aus der absteigenden Mittelschicht ins Viertel. Die ins Absurde steigenden Mieten würde bald niemand mehr bezahlen können.