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In einem Neustadter Museum wird eine Original-Bibel von 1587 gestohlen, in der sich handschriftliche Eintragungen befinden. Ein Experte vermutet, dass diese verschlüsselten Symbole zu dem vor 400 Jahren verschwundenen Reliquienschatz der Stiftskirche führen. Kommissar Palzki begibt sich mit dem Bibelexperten Michael Landgraf auf die Suche nach dem Täter, der Bibel und dem Kirchenschatz. Auch andere, teils zwielichtige Gestalten mischen sich in die Schatzsuche ein. Nachdem das letzte Rätsel gelöst ist, kommt es zum spektakulären Showdown …
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Seitenzahl: 327
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Harald Schneider
Der Bibel-Code
Kriminalroman
Die geheimen Symbole In einem Neustadter Museum wird bei einem Raubüberfall eine Original-Bibel aus dem 16. Jahrhundert gestohlen, in der mysteriöse handschriftliche Eintragungen enthalten sind. Ein Experte vermutet, dass diese verschlüsselten Informationen zu dem vor über 400 Jahren verschwundenen Reliquienschatz der Stiftskirche führen, der damals als einer der größten in Süddeutschland galt. Kommissar Reiner Palzki begibt sich im Auftrag seines Chefs Klaus P. Diefenbach gemeinsam mit dem Bibelexperten Michael Landgraf auf die Suche nach dem Täter, der Bibel und dem Kirchenschatz. Diese führt sie durch die ältesten noch existierenden Bauwerke der Umgebung. Auch andere, teils zwielichtige Gestalten mischen sich mit unterschiedlichen Interessen in die nebulöse Schatzsuche ein. Nach weiteren Attentaten auf Leib und Leben und neuen Rätseln sind sich alle Beteiligten sicher, dass die Reliquien und die kostbaren Behältnisse nach wie vor existieren. Nachdem das letzte Rätsel gelöst ist, kommt es zum großen Showdown …
Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 21. Fall »Ordentlich gemordet«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Rolf Schädler
ISBN 978-3-8392-7400-2
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Personenglossar
Gefährliches Leben in Neustadt
Rätsel um die mysteriösen Zeichen
Palzki muss leiden
Die Neustadter Stiftskirche und ihre Geheimnisse
Lauter alte Sachen
Eine Kirchenführerin verschwindet
Zu Hause mit viel Kultur
Die Weinstube ist nur ein Etappenziel
Viele Stufen hoch gen Himmel
Eingesperrt!
Wer ist der Erste?
Des Rätsels Lösung
Viele Besucher und wenig Platz
Danksagung
Bildverzeichnis
Bonus – Ratekrimi – Palzki und Martin Luther
Lesen Sie weiter …
Fiktive Personen
Reiner Palzki: Kriminalhauptkommissar und stellvertretender Dienststellenleiter der Kriminalinspektion Schifferstadt
Klaus P. Diefenbach: Palzkis Chef, Spitzname KPD
Gerhard Steinbeißer, Jutta Wagner, Jürgen: Kollegen Reiner Palzkis
Stefanie Palzki: Reiner Palzkis Ehefrau mit den Kindern Melanie, Paul, Lisa und Lars
Frau Ackermann: Palzkis Nachbarin, die Frau, die schneller spricht als ihr Schatten
Dietmar Becker: Krimischreibender Student
Doktor Matthias Metzger: Not-Notarzt
*
Realpersonen
Michael Landgraf: Theologe, Leiter des Pfälzischen Bibelmuseums und des Religions-pädagogischen Zentrums in Neustadt
Marc Weigel: Oberbürgermeister Neustadt
Martin Denzinger: Inhaber Antiquitätengeschäft in einem der ältesten Fachwerkhäuser der Pfalz in Neustadt
Joachim Specht: Polizeioberkommissar und Leiter der Gemeinde des tridentinischen (lateinischen) Messritus in der Stiftskirche
Inge Löchel: Inhaberin der Weinstube Herberge, der ältesten Weinstube Neustadts
Helga Gutermann: Kirchenführerin der Stiftskirche
Marco Fratelli: Geschäftsführer der Peregrinus GmbH (Echtname Marco Fraleoni)
Steffen Boiselle: Cartoonist, 100% PÄLZER! Inhaber des Neustadter Agiro Verlags
Günter Wallmen: Gehilfe von Doktor Metzger
Es hätte so ein schöner Tag werden können.
Der Ärger begann bereits am frühen Morgen.
»Ohne Chauffeur?« Mein Chef sah mich dermaßen entrüstet an, als hätte ich von ihm verlangt, seine tägliche Lachsbrötchenlieferung zukünftig selbst zu bezahlen und nicht aus dem Gästebewirtungs-Etat unserer Kriminalinspektion, den es offiziell sowieso nicht gab.
Er stellte sich wichtigmachend in Positur und drückte seine Brust heraus, während er breitbeinig auf den Fersen wippte. Mit seinen zahlreichen klimpernden Orden an der Brust der maßgeschneiderten Uniform wirkte er wie eine gezeichnete Witzfigur in den frivolen Illustrierten der 60er- und 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. KPD, wie wir unseren Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach aufgrund seiner Initialen nannten, war sich für keine Peinlichkeit zu schade. Arroganz, Überheblichkeit und eine krankhaft extrem übersteigerte Selbstsucht zeichneten seinen Charakter aus. Als Vorgesetzter war ein solches menschliches Desaster eigentlich untragbar, in den Führungsetagen von Unternehmen und Behörden aber leider keine Ausnahme.
»Nein, das geht nicht. Auf keinen Fall!« Er räusperte sich und schaute mich mit einem durchdringenden Blick an, der nichts Gutes verhieß. »Ich als guter Chef kann bei diesem wichtigen Termin unmöglich alleine erscheinen. Was würde das für einen Eindruck erwecken? Wollen Sie, dass man mir nachsagt, dass ich meinen Laden nicht im Griff habe?«
Auch wenn es sich nur um eine rhetorische Frage handelte, war ich nahe dran, ihm die Wahrheit zu sagen. In letzter Sekunde siegte mein Gehirn über mein Mundwerk. Jeder außer KPD selbst wusste, dass ihn niemand ernst nahm.
»Einer meiner Untergebenen muss mich begleiten.« Er fixierte mich eine Nuance schärfer. »Bei Ihnen, Herr Palzki, fällt es am wenigsten auf, wenn Sie mal einen halben Tag nicht in der Dienststelle sind. Freuen Sie sich, Sie dürfen meinen neuen Dienstwagen fahren.«
»Ein halber Tag?«, rutschte es mir heraus. Bis eben ging ich von einer kurzen Dienstfahrt aus, was schlimm genug war.
KPD setzte eine glückselige Miene auf. »Es werden lehrreiche Stunden für Sie, Herr Palzki. Sie müssen nicht im Wagen auf meine Rückkehr warten wie ein einfacher Chauffeur. Sie dürfen mich zu dem Treffen begleiten. Sie werden Dinge sehen, die Sie für den Rest Ihres Lebens beeindrucken. An langen Winterabenden können Sie am Kamin Ihren Enkelkindern davon berichten. Und als Höhepunkt werden wir uns bei einer kleinen Führung eine echte Schatzkammer anschauen. Na, was sagen Sie jetzt?« KPD schmatzte unappetitlich.
Mir fiel die Kinnlade herunter. »Eine Schatzkammer?«, stöhnte ich verzweifelt.
Da für meinen Chef Empathie ein Fremdwort war, registrierte er meine Spontandepression nicht. Er klappte eine sauteure Ledermappe auf, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Sie chauffieren mich zu einem fachkundigen Experten nach Neustadt an der Weinstraße, der mir diese Urkunde bestätigen wird. Endlich komme ich meinem persönlichen Lebensziel einen wichtigen Schritt näher. Ich bin mir zwar von Anfang an sicher gewesen, dass ich wie immer recht habe, aber diese Hinterwäldlerbehörden beharren auf Beweisen. Diese Urkunde wird sie hoffentlich überzeugen.« KPD strahlte wie eine 100-Watt-Birne.
Mein Sarkasmus war mal wieder schneller als mein Gehirn: »Ich habe auch mal fast eine Urkunde bekommen, Herr Diefenbach. Und zwar eine Teilnahmeurkunde der Bundesjugendspiele. Leider habe ich den 100-Meter-Lauf nicht bis zum Ende durchgehalten.«
Während KPD mit rotem Kopf nach Luft schnappte, prusteten meine Kollegen Gerhard Steinbeißer und Jutta Wagner ihren Kaffee über den Tisch.
Schneller als erwartet beruhigte sich mein Chef. »Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Palzki. Sie sollten froh sein, dass ich Sie ab und zu unter meine persönlichen Fittiche nehme, sonst hätte man Sie schon längst aus dem Polizeidienst entlassen.« Er scannte mich herablassend von oben bis unten. »Der Innenminister ist leider der Irrmeinung, dass die Polizei intellektuell den Durchschnitt der Bevölkerung abbilden soll. Und da wir aus diesem Grund auch die ganz Schwachen unserer Gesellschaft berücksichtigen müssen …« Er ließ den beleidigenden Satz unvollendet.
Zwecks Deeskalation mischte sich Jutta Wagner ein. »Um welche wertvolle Urkunde geht es überhaupt, Herr Diefenbach?«, flötete sie zuckersüß mit auffälligem Wimpernschlag.
KPD schenkte ihr ein Lächeln. »Wenigstens Ihnen scheint die Zukunft unserer Gesellschaft nicht egal zu sein.« Stolz präsentierte er meiner Kollegin die Urkunde.
»Das kann ich nicht lesen«, bekannte sie. »Ist das lateinisch?«
»Selbstverständlich«, bestätigte KPD. »Diese Urkunde bestätigt meine Besitzansprüche. Ich bin nämlich Großgrundbesitzer. Das ist der wichtige Anfang meiner Beweiskette.«
»Sie haben geerbt?«, fragte Gerhard und ergänzte hoffnungsvoll: »Liegt das Grundstück in der Nähe, oder müssen Sie umziehen?«
KPD stutzte einen Augenblick. »Geerbt ist zwar grundsätzlich korrekt, Herr Steinbeißer. In meinem Fall geht es um ein generelles Erbe und eine Ortschaft. Genau genommen ist es nur ein Ortsteil mit über 1.000 Hektar, aber eben dort hat sich vor Jahrhunderten Großes angebahnt.«
»Sie haben ein Dorf geerbt?«
KPD zögerte. »Wie gesagt, es geht um grundsätzliche Ansprüche, die die Urkunde bezeugen. Kennen Sie Diefenbach?«
Wir glotzten unseren Chef an, als käme er vom Mars.
KPD winkte ärgerlich ab. »Sie haben keinen Blick für die Historie und die Entwicklung unserer großartigen Kurpfalz, ich sehe schon.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe mich bereits als Schüler für meine Herkunft und meine Heimat interessiert«, erklärte er stolz. »Als ich vor wenigen Jahren den Fall im Mannheimer Barockschloss und im Schwetzinger Schloss aufgeklärt habe, war ich nahe dran, den letzten entscheidenden Beweis zu finden.«
Ich rollte mit den Augen. Im Ermittlungsfall in Sachen Wittelsbacher hatte KPD nicht das Geringste beigetragen. Er hatte lediglich am Ende die Lorbeeren kassiert.1
»Ich bin überzeugt, einer der Haupterben der kurpfälzischen Wittelsbacher Linie zu sein«, fuhr KPD fort.
Ein vielsagender Blick von Jutta zeigte mir, dass sie sich ebenfalls an die hanebüchene Geschichte unseres Chefs erinnerte.
»Diefenbach ist ein Ortsteil der Gemeinde Sternenfels und liegt östlich von Bretten, im Dreieck Heilbronn, Pforzheim und Stuttgart.«
»Ein Ort mit Ihrem Namen?«, unterbrach ich ihn. Damit hatte ich nicht gerechnet.
KPDs Mundwinkel zogen sich fast bis zu den Ohren. »Mein guter Name kann die gute Herkunft nicht verschweigen. In diesem Diefenbach liegt der Ursprung der Wittelsbacher, lange bevor sie im Jahre 1356 Kurfürsten wurden und gemäß der Goldenen Bulle den Kaiser wählen durften.«
Ich schmunzelte und wollte schon besserwisserisch darauf aufmerksam machen, dass die Verwendung des Wortes »Bulle« in Gegenwart von Polizisten strafbar ist, doch KPD fuhr fort.
»Diffenbach, so hieß das Dorf früher, wird erstmals im Jahr 1023 erwähnt. Viele der Grundstücke waren im Besitz von mehreren Bischöfen. Selbst die Klöster Maulbronn und Herrenalb waren in meinem Dorf ständig präsent.«
»Ihr Dorf?« Gerhard rutschte die provokante Rückfrage heraus.
»Ja, mein Dorf«, entgegnete unser Chef mit fester Stimme. »Einer meiner Urahnen in direkter Linie war der Namensgeber. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit entwickelten sich aus der Diefenbach-Linie die Urväter der Wittelsbacher. Dies ist zwar noch nicht 100-prozentig geklärt, aber ich schließe kategorisch jeden Zweifel aus.«
»Dann gehören Ihnen das Mannheimer Barockschloss und das Schwetzinger Schloss samt Park«, sagte ich mit ironischem Unterton, den KPD freilich nicht bemerkte.
»Und nicht nur das«, bestätigte unser Chef mit erhobenem Zeigefinger. »Denken Sie nur an Bayern! Wenn der Kurfürst Carl Theodor 1799 auf seinen Umzug von Mannheim nach München verzichtet hätte, würde heute die Landeshauptstadt von Bayern Mannheim heißen.«
Juttas Stirn kräuselte sich. »Kamen die Kurpfälzer Wittelsbacher nicht ursprünglich aus Heidelberg? Die residierten doch, soviel ich weiß, auf dem Heidelberger Schloss, bevor sie irgendwann nach Mannheim umgezogen sind. Ohne diesen Wechsel wäre nach Ihrer These sogar Heidelberg die Landeshauptstadt von Bayern.«
»Ja, ja, ganz recht, Frau Wagner. Sie haben in der Schule gut aufgepasst. Der Umzug nach Mannheim war damals wegen … äh … ja … äh … also die Erklärungen würden Sie jetzt bestimmt langweilen, aber das Heidelberger Schloss gehört auch den Wittelsbachern, absolut korrekt.«
»Prima«, freute ich mich und stellte eine dreiste, aber ehrliche Frage: »Dann werden Sie demnächst Schlossherr in Mannheim und Heidelberg sein. Steht Ihr Nachfolger als Dienststellenleiter bereits fest?«
Der Blick KPDs zeigte mir, dass ich besser still geblieben wäre. »So weit ist es ja noch nicht«, entgegnete er knapp. »Machen Sie sich fertig, in zehn Minuten fahren wir los.« KPD stiefelte aus Juttas Büro.
Ich musste mir einiges von meinen lieben Kollegen anhören.
»Welche Ehre für dich, Reiner, einen Fast-Kaiser chauffieren zu dürfen.«
»Vergiss nicht, den roten Teppich auszurollen, wenn KPD aussteigt.«
»Ab sofort musst du deinen Chef mit Hochwohlgeboren oder Euer Durchlaucht ansprechen.«
Ich ließ den beiden ihren fragwürdigen Spaß und stellte meine Ohren auf Durchzug. Als Gegenleistung futterte ich mit Hingabe Juttas Keksdose leer, die eigentlich für die Gästebewirtung gedacht war. Ein letzter Schluck des viel zu starken Kaffees, und ich verabschiedete mich mit einer lässigen Handbewegung von meinen Kollegen.
Mit dem üblichen halbletalen Sodbrennen begab ich mich in KPDs Büro, das eher die Ausmaße einer luxuriös ausgestatteten Turnhalle besaß. Ich redete mir ein, schon schlimmere Sachen erlebt zu haben, als mit KPD für ein paar Stunden nach Neustadt zu fahren und verrückte Geschichten über den angeblichen Stammbaum meines Chefs zu erfahren. Spontan fiel mir aber keine schlimmere Situation ein, die ich erlebt hatte. Ich musste sie allesamt erfolgreich verdrängt haben.
»Da sind Sie ja endlich, Palzki«, bellte KPD mit nervösem Blick auf seine Armbanduhr. »Herr Landgraf weiß Pünktlichkeit zu schätzen. Solch eine prominente Person lässt man nicht warten.«
»Landgraf?«, wiederholte ich. »Ist das auch ein Wittelsbacher?«
KPD benötigte einen Moment, um meinen gerechtfertigten Gedankengang zu verstehen. »Ach was«, antwortete er. »Das ist der Nachname des Experten, den wir aufsuchen. Die Landgrafen waren das Adelsgeschlecht, das über Hessen und Thüringen regierte. Ein Wittelsbacher ist er bestimmt nicht.« Er überlegte eine Sekunde. »Ganz bestimmt nicht.«
Ich nutzte seine Unsicherheit mit einer spitzen Bemerkung gnadenlos aus. »Und wenn doch?«
»Quatsch«, entschied mein Chef, grübelte aber weiterhin sichtlich über meine Bemerkung.
Gemeinsam gingen wir in den Hof zu seinem mittlerweile dritten, aber bestimmt nicht letzten Dienstwagen des aktuellen Jahres. Nur das allerneuste Modell war seiner Meinung nach gut genug für ihn als Chef.
Jedem normalsterblichen Bürger würde man den Führerschein auf Lebenszeit entziehen: KPDs Kurzsichtigkeit endete irgendwo im Bereich der Motorhaube, alles weiter Entfernte lag für ihn optisch in einer undurchdringbaren Dunstglocke. Aus Eitelkeitsgründen verweigerte er jede Form von Sehhilfen. Wenn KPD seinen Wagen selbst fuhr, müsste man den öffentlichen Verkehrsraum komplett sperren, um Gefahr für Leib und Leben der Bürger auszuschließen.
Diese Probleme waren mir heute egal. Immerhin durfte ich seinen Wagen fahren, was garantiert nicht aus Nächstenliebe geschah.
Unbeeindruckt ließ ich meinen Chef vor der geschlossenen Fondtür auf der Beifahrerseite stehen und machte es mir auf dem Fahrersitz bequem. KPD wartete ein paar hoffnungsvolle Sekunden ab, bevor er laut seufzend seine Tür selbst öffnete. »Wenn wir am Ziel sind, öffnen Sie mir aber wie ein richtiger Chauffeur die Tür, Palzki. Wie sieht das denn sonst aus?«
Ich reagierte mit einem angedeuteten Kopfnicken und startete den Motor. »Springt nicht an, haben Sie getankt?«, fragte ich nach hinten.
»Der Motor läuft doch«, antwortete KPD verwirrt. »Das Aggregat ist mehrfach gedämmt und schnurrt wie ein junges Kätzchen.«
Ich gab vorsichtig Gas und landete um ein Haar im Unterstand der Dienstmotorräder. »Ups, der hat ein paar PS mehr als das Vorgängermodell«, entschuldigte ich mich.
KPD, der noch nicht angeschnallt war, klebte mit der Wange an der Kopfstütze des Beifahrersitzes. »Ein weiteres Attentat, und ich versetze Sie bis zur Pensionierung in unser Archiv.«
»Wir haben überhaupt kein Archiv«, stellte ich naiv fest.
»Noch nicht«, war seine bissige Antwort.
Grundsätzlich gab es zwei Alternativen, die von Schifferstadt nach Neustadt führten und in etwa genauso lange dauerten: Der kürzere Weg führte durch die verkehrsberuhigten Gassen von Iggelheim und Haßloch, der längere Weg über die A61 und A65. Da ich nach wie vor Schwierigkeiten mit dem feinfühligen Gaspedal hatte, entschied ich mich für die Autobahn. Das erste rote Blitzlicht bemerkte ich kurz nach der Auffahrt auf die A65.
»Wo müssen wir genau hin?«, fragte ich meinen Chef ein paar Kilometer vor der Ausfahrt Neustadt-Nord.
»Drücken Sie auf dem Navi die Mikrofontaste«, befahl er.
Ich suchte auf dem Armaturenbrett und zwischen den Sitzen, kam aber zu keinem überzeugenden Ergebnis. An mehreren Stellen befanden sich Ansammlungen von Dutzenden Schaltern, Drehknöpfen und kleinen Lämpchen. Es sah aus wie im Cockpit eines Jumbos.
KPD zog aus seinem Anzug einen Laserpointer und leuchtete auf die von ihm gemeinte Taste. »Draufdrücken, dann laut Neustadt, Stiftstraße 23 sagen«, befahl er kurz und knapp.
Ich folgte erfolgreich seinen Anweisungen. Das Navi war mit meiner Wahl zufrieden und bestätigte die Adresse: »Sie werden das Ziel in drei Stunden und 55 Minuten erreichen.«
»Sie haben genuschelt«, schrie KPD aus dem Fond. Ich vermutete den Fehler an einer anderen Stelle, denn ich erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, in dem stand, dass es rund 70 Städte und Ortschaften namens Neustadt gab. »Neustadt an der Weinstraße, Stiftstraße 23«, plärrte ich beim zweiten Versuch in das Mikrofon.
»Geht doch«, beruhigte sich mein Chef, als das Navi unsere Ankunft in wenigen Minuten prophezeite.
Kurz darauf hatten wir die steil ansteigende Stiftstraße erreicht. Linker Hand befand sich das Neustadter Krankenhaus Hetzelstift, das wie alle mir bekannten Krankenhäuser einen eher ambivalenten Ruf genoss.
Nun entdeckte ich ein Schild »Pfälzisches Erlebnis-Bibelmuseum« vor einem länglichen, in Blautönen gehaltenen Einfamilienhaus, im gleichen Moment, als das Navi »Sie haben Ihr Ziel erreicht« quäkte. Erschrocken stoppte ich abrupt den Wagen. Von hinten vernahm ich mehrfaches Bremsenquietschen.
»Was soll das?«, herrschte mich KPD wütend an.
»Die Adresse stimmt nicht.« Zwei Autos mit nicht sehr freundlich dreinblickenden Fahrern fuhren an uns vorbei, einer davon mit einer eindeutigen Fingergeste.
»Da drüben!« KPD zeigte auf das blaue Haus. »Zwischen dem Eingang und dem grauen Skoda können Sie parken.«
Mit gemischten Gefühlen fuhr ich in die nicht allzu breite Parklücke. »Erlebnismuseum? Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Absolut«, bestätigte KPD. »Michael Landgraf ist Theologe sowie international bekannter Autor und Dozent, der an Hochschulen in Deutschland und Österreich lehrt. Er leitet das Museum sowie das hier ansässige Religionspädagogische Zentrum, das für die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern zuständig ist. Außerdem wohnt Herr Landgraf in diesem Haus.«
Ein Theologe, dachte ich mit Schrecken. KPDs Experte war ausgerechnet ein Theologe! Ich dachte an meine wenige Jahre zurückliegenden Ermittlungen zur Osterzeit im Katholischen Ordinariat im Bistum Speyer rund um den Dom. Diese Zeit im kirchlichen Milieu hatte ich sehr zwiespältig in Erinnerung. Ständig eckte ich unbeabsichtigt an oder wurde missverstanden, weil das Branchen-Vokabular der Kirche vor Mehrdeutigkeiten nur so strotzte.
Auf der anderen Seite hatte ich viele herzliche Menschen kennengelernt, die im kirchlichen Bereich arbeiteten und hohe Zufriedenheit ausstrahlten. Ich konnte während dieser Zeit viele persönliche Vorurteile abbauen.
»Machen Sie mir endlich die Tür auf!« KPD weckte mich aus meinem Tagtraum.
Ich versuchte, meine Fluchtgedanken zu verdrängen, stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Fondtür eine Handbreit. Im gleichen Moment hörte ich das Klirren von Glas. In der ersten Schrecksekunde ging ich davon aus, durch eine ungeschickte Bewegung das Fenster des neuen Dienstwagens zerstört zu haben. Doch das Geräusch kam von weiter weg, vermutlich ein Altglascontainer.
»Weiter öffnen«, befahl KPD.
»Geht nicht«, antwortete ich und meinte es auch so. »Sie haben selbst gesagt, dass ich an dieser Stelle parken soll.« Ich deutete auf den benachbarten Skoda.
»Und jetzt?«, fragte KPD und sah dabei ziemlich debil aus der Wäsche.
»Und jetzt zeigen Sie als Chef mal etwas Flexibilität und steigen auf der anderen Seite aus.«
»A… ab… äh … aber wenn mich jemand sieht?«, stotterte KPD.
Eine ehrliche Antwort verkniff ich mir. »Ich gebe Ihnen Rückendeckung. Im Moment ist kein Mensch zu sehen, der Sie diskreditieren könnte.«
Meinem Chef war die Unzufriedenheit anzusehen. Mangels Alternative folgte er nach kurzem Murren meiner Empfehlung. »Wenn ich mein Anliegen geklärt habe, fahren Sie gefälligst vorher raus auf die Straße.« Er überzeugte sich, dass seine Ledermappe unversehrt war. »Gehen wir rein, Palzki. Am besten, Sie halten sich strikt im Hintergrund, wenn ich mich mit Herrn Landgraf unterhalte. Sonst stören Sie bloß wieder mit Ihren unqualifizierten Bemerkungen.«
»Und die Schatzkammer?«, ärgerte ich ihn.
»Keine Angst, Sie werden, wie versprochen, zu Ihrer kulturellen Teilhabe kommen. Herr Landgraf wird uns alles genaustens zeigen und erklären. Aber zunächst …« Er klopfte mit einem seligen Lächeln auf seine Mappe.
Ich schickte ein innerliches Stoßgebet gen Himmel und hoffte, dass der Experte die Urkunde sofort als Fälschung entlarvte und ich mich mit einem frustrierten Chef in wenigen Minuten auf die Heimfahrt begeben konnte. Selten hatte ich mich mehr getäuscht.
KPD öffnete schwungvoll die gläserne Eingangstür. Nach einem Windfang kamen wir in einen großen Büroraum. Hinter einer Theke befand sich ein verwaister Computerarbeitsplatz. Die Theke selbst war bis zum letzten Quadratzentimeter mit Büchern, Broschüren und anderen Dingen belegt. Der Rest des Büros sah nicht anders aus: deckenhohe Regale, vollgestopft mit Pappordnern, Büchern, Zeitschriften und vielen Büroutensilien. Um den Raum einigermaßen erfassen zu können, müsste man viel Zeit investieren. Zeit, die wir nicht hatten, da aus einem Nebenraum eine freundliche Dame heraustrat.
Sofort stellte sich KPD stramm hin. »Diefenbach, guten Tag. Ich habe einen wichtigen Termin bei Herrn Michael Landgraf.« Mich erwähnte er mit keiner Silbe.
Die Frau lächelte gütig. »Guten Tag, Herr Diefenbach. Ich bin Barbara Landgraf. Mein Mann erwartet Sie bereits.« Sie gab uns beiden die Hand. Auch mir nickte sie freundlich zu. »Gehen Sie nur gleich runter in die Ausstellung. Mein Mann ist vor ein paar Minuten nach unten gegangen, um den Raum zu lüften. Heute früh war eine Besuchergruppe im Museum.« Mit einer Handbewegung zeigte sie uns eine breite Wendeltreppe, die in die Museumsräume im Untergeschoss führte.
Das Haus war in den Hang gebaut. Die Straßenfront lag einen Stock höher als der Museumsbereich. Ich ging auf die Treppe zu und schaute mich noch einmal in dem oberen Raum um. Auf dem Tisch stand ein Stehsammler, in dem ich Bücher und Arbeitshefte entdeckte. Bei dem Raum handelte es sich wahrscheinlich nicht um ein Büro, sondern um eine Bibliothek. Die Wendeltreppe führte nach unten in einen großen Raum mit einer breiten Fensterfront. Tageslicht fiel durch mehrere Fenster, hinter denen mutmaßlich ein Garten lag.
Der Raum war ungewöhnlich eingerichtet. Mein Blick heftete sich zunächst auf ein Beduinenzelt, vor dem ein Teppich mit vielen Sitzkissen lag, die für Kinder und Jugendliche gedacht waren. Dann entdeckte ich eine beeindruckende hölzerne Druckerpresse. So eine hatte ich schon mal im Gutenberg-Museum in Mainz gesehen. Daneben lagen schwarze Hemden und Utensilien, wie sie früher ein Drucker benutzte. Vermutlich konnte mit dieser alten Druckerpresse noch gearbeitet werden. Dennoch empfand ich das Beduinenzelt und die Druckerpresse als eine äußerst seltsame Kombination. Ein Teil des Raums war mit Tischen ausgestattet, auf denen Gegenstände und Arbeitsblätter lagen. An den Wänden standen beleuchtete Vitrinen. Ich trat näher und entdeckte darin Tongefäße, offensichtlich archäologische Funde, sowie alte Bibeln. Ich schlich vorbei an einer großen Figur, die vermutlich Martin Luther darstellte. Weiterhin entdeckte ich einen Tisch mit alten Bibeln, in denen man bestimmt blättern durfte, sowie einen weiteren Tisch mit Schreibfedern, Tinte und Mönchskutten. Hier durften sich die Besucher verkleiden und wie ein Mönch im Mittelalter mit den Federn schreiben.
»Nanu?«, staunte ich, als ich die Verandatür entdeckte, die zuvor von dem Zelt verdeckt war, und die zum Garten führte. »Die ist ja zerbrochen.«
»Das war bestimmt der Wind«, erklärte mir KPD, der sich suchend umschaute.
»Wind? Welcher Wind?«, fragte ich meinen Chef. Doch der zeigte an solchen Lappalien kein Interesse.
»Herr Landgraf?«, rief er stattdessen in verschiedene Richtungen. »Vielleicht ist er im Garten?«
Als bestens geschulter Kriminalbeamter und psychologisch Interessierter kam mir die Situation merkwürdig vor. Zunächst dachte ich an einen Einbrecher, aber in diesem Fall würden die Glasscherben im Inneren des Gebäudes liegen. Dann bemerkte ich einen großen runden Stein, der nach einem alten Mühlstein aussah. Dieser lag vor der Verandatür im Freien. Die Sache sah eindeutig aus: Jemand hatte mit diesem Mühlstein von innen die Scheibe der Tür eingeschlagen, um zu flüchten. Warum hatte der- oder diejenige nicht einfach die Tür geöffnet? War es Michael Landgraf selbst oder hatte dieser im Museum einen Unbekannten getroffen, der plötzlich geflohen war? Aber warum hatte seine Frau nichts über die andere Person gesagt?
Während die verschiedenen Alternativen wild in meinem Gehirn mäanderten, wurde mir klar, dass unter Umständen Gefahr im Verzug herrschte. Falls die Person, die für den Schlamassel mit der Verandatür verantwortlich zeichnete, nicht der Leiter der Ausstellung war, musste sich dieser noch hier unten befinden. Diese Möglichkeit bereitete mir aus einem ganz bestimmten Grund Kopfzerbrechen: In den letzten Jahren war es eine unumstößliche Gesetzesmäßigkeit, dass es jedes Mal, wenn ich mit meinem Chef unterwegs war, mindestens einen Toten gab. Wegen des heutigen harmlosen Besuchsgrunds hatte ich dieses Verbrechen-Axiom allerdings nicht in Betracht gezogen. Doch die Realität strafte mich schon wieder Lügen. Mein Adrenalinspiegel war längst auf ein Allzeithoch geschnellt. Der Experte Michael Landgraf war tot. Er musste tot sein, Zweifel waren absolut ausgeschlossen. Es ging nur noch darum, seine Leiche zu finden. Und anschließend den Täter. Wie immer würde mein Chef die Lorbeeren für die Ergreifung des Täters einheimsen, doch zunächst würde er einen exorbitanten Wutanfall zelebrieren, weil er sich einen neuen Fachmann für seine Urkunde suchen musste.
KPD hatte die Situation immer noch nicht begriffen. Naiv, wie er war, suchte er unter den vielen Sitzkissen, die im Beduinenzelt lagen, nach dem Theologen. »Wo könnte der nur stecken?«, murmelte er vor sich hin.
Für mich gab es nur eine Möglichkeit, wenn man Landgrafs Frau vorläufig als Mittäterin ausschloss. Ich schaute mich weiter im Raum um und entdeckte eine Treppe, an der ich zuvor vorbeigegangen war, weil mein Blick durch das Zelt und die Druckerpresse gefangen war. Sie führte unterhalb der Eingangstreppe zum Museum weiter nach unten.
»Da muss noch eine Ebene des Museums sein«, sagte ich laut und zeigte auf die Treppe, die an der östlichen Raumseite nach unten führte. Ein unterkellerter Keller, das konnte nichts Gutes bedeuten, zumal Landgraf auf mein Rufen nicht geantwortet hatte.
KPD, neugierig wie immer, folgte mir. Die Treppe war kurz, es ging höchstens eine halbe Geschosstiefe nach unten. Eine schwere blaue Metalltür, auf der mit weißen Lettern das Wort »Schatzkammer« aufgetragen war, stand offen. Ich schluckte hart. Allein der Hinweis auf die Nutzung des tiefergelegten Kellers bestätigte meine Vermutung, dass wir in den nächsten Sekunden eine Leiche finden würden.
1 Ahnenfluch, Palzkis 9. Fall, ISBN 978-3-8392-1437-4
Der etwa 25 Quadratmeter große Raum war komplett in dunklem Blau gehalten. An den Wänden standen große Vitrinen, deren Halogenlampen den Raum mystisch erleuchteten. In der Mitte des Raums befand sich eine breite Tischvitrine, deren Glas teils zertrümmert auf dem Vitrinenboden lag.
Im selben Moment, als ich erfasste, dass es sich bei sämtlichen Ausstellungsstücken in der Schatzkammer nur um alte und gebrauchte Bücher handelte, entdeckte ich die Leiche, die hinter der Tischvitrine lag.
»Was glotzen Sie so aufdringlich auf den Boden?«, fragte KPD hinter mir, der den Ernst der Situation immer noch nicht erfasst hatte. Mir dagegen war inzwischen sogar die zerbrochene Scheibe des Tischs aufgefallen.
»Landgraf ist tot«, sagte ich zu meinem Chef, während ich um den Tisch herumging.
»Tot?«, wiederholte KPD ungläubig. »Warum das denn? Und was ist jetzt mit meiner Urkunde?« KPD, der sich von der anderen Seite näherte, stolperte über ein riesiges blutverschmiertes Schwert.
»Nanu, was ist das?«, rief er erschrocken. Um ein Haar wäre er auf die Leiche gefallen. Im Reflex griff er nach dem Vitrinentisch und schnitt sich an der Bruchstelle des Glases in den Finger. »Aua, verdammt, was soll das?« KPD betrachtete seinen blutenden Zeigefinger.
Ich schüttelte den Kopf über den Tollpatsch und fragte mich, was so ein großes Schwert ausgerechnet im Bibelmuseum zu suchen hatte. Als KPD wie ein Derwisch herumzuhüpfen begann und seine Hand anjammerte, wiederholte ich ungeduldig: »Landgraf ist tot. Würden Sie bitte die Kripo anrufen?« Mein Vorgesetzter war mit der Lage hoffnungslos überfordert.
»Aber ich bin doch der gute Chef der Kriminalpolizei«, stotterte KPD. »Was soll ich jetzt tun?« Er blickte kurz zur Leiche, dann starrte er seine Aktentasche an.
»Die Neustadter Polizei informieren!«, bellte ich meinen Chef an. »110, die Nummer sollten Sie kennen!« Ich klang derart autoritär, dass KPD willenlos gehorchte. Da er keinen Handyempfang hatte, ging er hoch zur Ausstellung. Mir war klar, dass ich auf die Spurensicherung warten musste und nichts anfassen durfte. Ich kniete mich neben die Leiche und betrachtete die Wunde an deren Hinterkopf. Sie sah recht hässlich aus, solche Anblicke und noch viel schlimmere war ich aber gewohnt. Ich wunderte mich über die geringe Menge Blut, die auf den Boden gelaufen war. Nach wie vor war ich überzeugt, dass hier ein Toter vor mir lag. Dennoch fühlte ich an seiner Hand versuchsweise den Puls. Einen Pulsschlag konnte ich nicht feststellen, allerdings entdeckte ich, wie sich sein Brustkorb millimeterweise hob und senkte. Landgraf lebte, es gab keinen Zweifel. Da seine Atmung, wenn auch gering, funktionierte, war es besser, ihn nicht zu bewegen und den Notarzt abzuwarten. Ich hoffte, dass die Neustadter Kollegen diesen automatisch alarmiert hatten, obwohl ich nicht wusste, was KPD ihnen erzählt hatte.
Ich stand auf, um meinen Chef zu suchen. Weit kam ich nicht.
»Michael?«, rief Landgrafs Frau. Sie war die Treppe heruntergekommen, um zu sehen, was vor sich ging. Sie hatte die Aufregung wahrgenommen und stand bereits am Eingang der Schatzkammer. Als sie das Blut auf dem Boden sah, stieß sie einen Schrei aus und rempelte mich zur Seite. Bevor ich reagieren konnte, kniete sie neben ihrem Mann und schüttelte ihn.
»Nein, nein!«, mischte ich mich nach einer Schrecksekunde ein. »Ihr Mann lebt, bitte, lassen Sie ihn in Ruhe, damit seine Atmung nicht behindert wird.« Vorsichtig versuchte ich, sie am Oberarm von ihrem Mann zu ziehen. Dabei sah ich, dass ihre linke Hand in der Hosentasche ihres Mannes steckte. Zufall? Oder hatte dies etwas zu bedeuten?
»Er lebt?« Sie drehte sich zu mir und stand zitternd auf. Ihre linke Hand konnte ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen. Hatte sie etwas aus der Tasche ihres Mannes gezogen?
»Ja«, antwortete ich. »Der Arzt wird gleich hier sein. – Hatte Ihr Mann heute schon Besuch, bevor wir gekommen sind?«
Sie schüttelte den Kopf, ließ aber ihren Mann dabei nicht aus den Augen. »Nein, es war außer der Besuchergruppe niemand bei uns, das hätte ich bemerkt.«
»Vielleicht ein Besucher, der durch den Garten kam?«, fragte ich hartnäckig weiter.
»Wäre möglich«, gab Frau Landgraf zu. »Aber warum?«
Ich begleitete sie nach oben in die Ausstellung zu einem der vielen Stühle. Dass ich den Schwerverletzten für einen kurzen Moment alleine ließ, konnte ich nicht ändern.
»Ist das bei der Neustadter Polizei ein arroganter Laden!«, hörte ich KPD herummotzen. Ziellos stöberte er in einem Regal, das mit historischen Bibeln vollgestopft war. »Der Beamte am Notruf hat sich überhaupt nicht dafür interessiert, warum ich nach Neustadt zu Herrn Landgraf gefahren bin.«
Mit offenem Mund sah ich ihn an. »Sie haben dem Beamten doch hoffentlich von dem Einbruch und dem Schwerverletzten berichtet?«
»Verletzt?«, hakte KPD nach. »Landgraf ist gar nicht tot? Warum haben Sie diese Falschnachricht verbreitet und mich so blamiert, Palzki? Ich habe mich schließlich mit meinem guten Namen verbürgt, als ich eine Leiche meldete. Was sollen die Neustadter jetzt von mir denken? Das geht auf Ihre Kappe, Palzki.« KPD ging zur Treppe, die in die Schatzkammer führte.
»Wo wollen Sie hin?«
»Zu Herrn Landgraf«, gab mir KPD zu verstehen. »Ich möchte die Echtheit meiner Urkunde bestätigt haben, bevor die Polizei kommt.«
Diese Verhaltensweise war typisch für Diefenbach. Ich könnte ihn jetzt ins Verderben rennen und in die Schatzkammer gehen lassen. Mit viel Glück würde er für sein Vorgehen den Job als Dienststellenleiter einbüßen, was mir und allen Kollegen nicht ganz unrecht wäre. Auf der anderen Seite würde ich damit das Leben eines Menschen riskieren, selbst wenn es sich um einen Theologen handelte. Ich musste etwas tun. Selbstverständlich hätte ich genauso gehandelt, wenn in dem Keller ein schwerverletzter Lehrer, ein Arzt oder ein Politiker liegen würde.
»Sie dürfen nicht runter«, stoppte ich meinen Chef. »Er ist sowieso nicht ansprechbar. Sie müssen warten, bis er wieder bei Bewusstsein ist.«
KPD setzte ein missmutiges Gesicht auf und setzte sich gegenüber von Frau Landgraf an den Tisch. »Kennen Sie sich auch mit alten Handschriften aus?«, fragte er völlig unsensibel.
Sie hob ihr verweintes Gesicht und antwortete: »Ich bin als Informatiklehrerin eher in der Gegenwart unterwegs.«
Ich hörte, wie mehrere Personen die Treppe herunterkamen. Um Missverständnisse durch KPD wegen seiner falschen Prioritätensetzung auszuschließen, ging ich den Beamten entgegen.
»Guten Tag«, stellte sich der vorderste der Kollegen vor. »Ich bin Polizeioberkommissar Joachim Specht von der Dienststelle Grünstadt. Ich bin hier kommissarischer Leiter und vertrete eine Neustadter Kollegin, die länger ausfällt. Haben Sie angerufen?«
»Das war mein Chef.« Ich zeigte auf KPD, der kaum reagierte, weil er in seiner Aktenmappe kruschelte. »Ich bin Reiner Palzki, Kriminalhauptkommissar aus Schifferstadt. Wir waren als Erste am Tatort.«
Specht nickte. »Und wo liegt der tote Kollege?«
Ich stutzte. Kollege? Hatte KPD bei seinem Anruf im Delirium einiges durcheinandergebracht? »Es muss sich um einen Übertragungsfehler handeln. Der Verletzte ist kein Polizeibeamter.«
Jetzt stutzte der Grünstadter Beamte. »Kein Toter? Lebt Michael Landgraf?«
Irgendwie hatte ich den Eindruck, als würden wir aneinander vorbeireden. »Ist Herr Landgraf ein Polizist?« Hatte Landgraf meinen Chef angelogen, als er sagte, ein Theologe zu sein? War er ein Neustadter Undercover-Beamter?
»Wie kommen Sie auf diese blöde Idee? Selbstverständlich ist er kein Polizist. Michael Landgraf ist Dozent, und zwar für Theologie und Geschichte. Aus diesem Grund haben die Beamten der Polizeiinspektion Neustadt mich als Vorhut geschickt. Und natürlich wegen der geringen Glaubwürdigkeit des Anrufers«, ergänzte er seufzend.
Das Gespräch wurde immer verworrener. »Aber warum sprechen Sie von einem Kollegen?«
Joachim Specht lachte kurz auf. »Ach so, als Schifferstadter wissen Sie das wahrscheinlich nicht: Neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Polizeioberkommissar leite ich die Katholische Stiftskirchengemeinde, die die Tridentinische Messe auf Latein feiert.«
»Aha«, antwortete ich, weil ich aus dem Kontext heraus hinter dem Begriff »Tridentinische Messe« keine Kerwe oder Kirchweihfest, sondern etwas Kirchliches vermutete.
Specht fuhr fort: »Herr Landgraf hat den Stiftskirchenführer und einen historischen Roman geschrieben. Beides hat mich motiviert, ebenfalls ein Buch über die Geschichte der Stiftskirche zu verfassen.«
Jetzt verstand ich, woher die Verbindung kam. »Ihr kirchlicher Kollege liegt unten in der Schatzkammer. Nach dem ersten Eindruck sah er tot aus, was sich zum Glück als falsch herausstellte. Haben Sie einen Notarzt dabei?«
Der Polizeioberkommissar gab zwei Beamten ein Zeichen, damit sie nach unten gingen. »Der muss jeden Moment hier sein. Was ist passiert?« Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke, und er fixierte mit zusammengekniffenen Augen KPD. »Ist das etwa Klaus Diefenbach, der arrogante Dienststellenleiter aus Schifferstadt?«, flüsterte er mir zu.
»Volltreffer«, sagte ich. »Haben Sie zufällig eine Planstelle für mich frei? Egal, ob in Grünstadt oder Neustadt oder sonst wo.«
Specht hob seine buschigen Augenbrauen, ging aber auf meine ernst gemeinte Anfrage nicht ein. Von einer Sekunde auf die andere wurde er förmlich, autoritär und laut: »Meine Herren Diefenbach und Palzki, dies ist ein Tatort. Ich muss Sie bitten, diesen sofort zu verlassen. Gegebenenfalls werden wir auf Sie zukommen, falls wir Ihre Zeugenaussage benötigen.«
Na prima, dachte ich. Diefenbach war auch in Neustadt bestens bekannt. Vermutlich nicht erst seit den Ermittlungen auf dem Hambacher Schloss vor zwei Jahren. Specht ließ mir nicht einmal die Möglichkeit, die bisherigen Erkenntnisse zu erklären.
»Dass die Terrassentür eingeschlagen wurde, sehe ich selbst. Gehen Sie jetzt bitte.« Er zog eine dicke Zigarre aus seiner Jacke und betrachtete sie hingebungsvoll.
KPD setzte auf seine ureigene Autorität als einziges Argument und versuchte einen verbalen Angriff, indem er Gift und Galle spuckte. Doch letztendlich verlor er das Duell gegen Specht sang- und klanglos.
Wütend stapfte er nach oben zur Bibliothek. »Palzki, wir gehen!«, rief er mir erbost zu, obwohl ich nur einen Meter von ihm entfernt stand.
Vor dem Gebäude angekommen, deutete er auf seinen Dienstwagen. »Fahren Sie da rüber.« Er zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite.
Ich tat ihm den Gefallen, obwohl mir das Verhalten meines Chefs komisch vorkam. Warum hatte er so schnell den Rückzug angetreten? Hatte er seinen Meister gefunden?
Kaum hatte ich die Zielposition im Parkverbot erreicht, öffnete KPD die Beifahrertür und setzte sich neben mich.
»Sie sitzen vorne?«
»Eine ungewöhnliche Lage erfordert ungewöhnliches Handeln«, antwortete mein Chef. »Lassen Sie den Wagen ein paar Meter zurückrollen, damit ich das Haus beobachten kann, ohne mir den Hals zu verrenken.«
Wegen des Gefälles der Straße reichte es, die Handbremse zu lösen. Von der neuen Parkposition aus hatten wir freien Blick auf das Bibelhaus. Fast zeitgleich kam ein Rettungswagen mit Martinshorn angefahren. KPD nickte zufrieden.
»Heimfahren?«, fragte ich naiv.
Mein Beifahrer wedelte mit seiner Aktenmappe. »Denken Sie etwa, ich gebe auf? Ein Diefenbach gibt niemals auf.«
Fünf Minuten später trugen zwei Sanitäter den verletzten Theologen auf einer Trage aus dem Haus. Seine Frau stieg ebenfalls in den Rettungswagen.
»Folgen Sie dem Wagen«, befahl KPD.
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
KPD nickte streng. »Ich muss wissen, in welche Klinik er gebracht wird.«
»Hetzelstift?«, riet ich aufs Geratewohl.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil das Krankenhaus keine 100 Meter entfernt ist. Da lohnt sich eigentlich nicht mal ein Krankenwagen.«
Es war die kürzeste Verfolgungsfahrt meiner Karriere. Als der Krankentransport in die Notaufnahme des Hetzelstifts bog, nickte mein Chef zufrieden. »Fahren Sie auf den Besucherparkplatz, das ist unauffällig.« Er quälte sich ein Lächeln ab, eine bei ihm äußerst selten vorkommende und absolut unauthentische Mimik. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Mir war sofort klar, dass er dies nicht aus Menschenfreundlichkeit mir gegenüber tat. KPD musste Zeit überbrücken, da er während der Zeit, in der Landgraf in der Notaufnahme lag, keinen Zugriff auf ihn hatte.
Wir setzten uns in das kleine Café des Krankenhauses. Mein Chef drückte mir zwei Euromünzen in die Hand. »Neben der Säule steht der Kaffeeautomat. Meiner bitte mit einem Hauch laktosefreier Milch.«
Die Fülle der Tasten des Kaffeeautomaten überforderte mich. Selbstbewusst drückte ich auf die erstbeste Taste, die ich aufgrund eines Logos mit Milch in Verbindung brachte. Im Display leuchtete »Caffè Latte« auf, ein eindeutiges Erfolgserlebnis.
Ich überreichte meinem Chef einen der beiden Becher.
»Mein Café au lait?« KPD nickte dankbar.
»Olé?«, wiederholte ich überrascht. »Sie wollten einen spanischen Kaffee?«
Zu einer Antwort kam es nicht, da er den ersten Schluck zurück in den Becher spuckte. »Was ist das?«, schimpfte er los. »Da ist viel zu viel Milch drin.«
Mir schmeckte das Pappbechergetränk ebenfalls nicht. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann holte ich mir am Kiosk eine kleine Flasche Cola Zero. KPD rümpfte die Nase, blieb aber stumm.
Ich versuchte, auf einem unbequemen Plastikstuhl sitzend, die krankenhaustypischen Gerüche, meinen Chef sowie die Umgebung geistig auszublenden. Als Hypnosehilfe diente mir eine an der Säule über dem Kaffeeautomaten hängende Analoguhr, deren Zeiger jede Minute einen kleinen Sprung vollführte. Ich blendete sämtliche Gedanken aus und konzentrierte mich auf den nächsten Minutensprung. Irgendwann verschwamm die Uhr in meinem Gesichtsfeld, kurz darauf der Rest.
»Frau Landgraf!« Der laute Ruf KPDs weckte mich nicht nur auf, er sorgte bei mir beinahe für einen Herzstillstand. Töten durch plötzliches Aufwecken, ob so etwas möglich war?
»Frau Landgraf!« KPD war von seinem Stuhl aufgesprungen. In den Händen hielt er eine Flasche Wein und ein passendes Glas. Ich hatte keine Ahnung, wo er diese Utensilien in einem Krankenhaus aufgetrieben hatte. »Ich muss zu Ihrem Mann!« Keine Frage nach dessen Gesundheitszustand und ob er überhaupt noch lebte.
Barbara Landgraf reagierte brüskiert. Ihr war die Last der vergangenen beiden Stunden deutlich anzusehen. Energisch antwortete sie: »Michael ist zwar wieder bei Bewusstsein, es darf aber niemand zu ihm. Demnächst kommen zwei Beamte von der Kriminalpolizei vorbei, die alles Weitere mit den Ärzten besprechen. Vereinbaren Sie mit meinem Mann einen Termin, wenn er wieder gesund ist.«
»A… äh … aber … das geht nicht«, versuchte sich mein Chef zu wehren. Frau Landgraf ließ ihn einfach stehen und ging wortlos zum Ausgang.
»Unverschämt«, grummelte KPD. Er stellte Wein und Glas auf seinen Stuhl und schnappte sich seine Ledermappe. »Auf geht’s, Palzki«, befahl er mir. »Äh, wo gehen Sie hin?«, fragte er mich Sekunden später.
»Zum Parkplatz«, antwortete ich.
»Da lang!« KPD zeigte in eine andere Richtung. »Wir müssen zur Intensivstation.«
Hatte mein Chef nicht verstanden, was Frau Landgraf zu ihm gesagt hatte? Um keinen zusätzlichen Stress zu erzeugen, folgte ich KPD, der anhand der guten Beschilderung schnell die entsprechende Abteilung fand.
»Ja?«, meldete sich an der Türsprechstelle der Intensivstation eine Schwester.
»Kriminalpolizei«, brüllte KPD in das unschuldige Mikrofon. »Ich muss zu Herrn Landgraf.« Auf der Gegenstelle war in diesem Moment bestimmt ein Trommelfell geplatzt.