Der Dealer - Damaris Kofmehl - E-Book

Der Dealer E-Book

Damaris Kofmehl

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Beschreibung

Mit Blaulicht böse Jungs jagen. So sieht Ricos Traum von einem Cop aus. Doch statt Abenteuer auf der Straße zu erleben, landet er als Gefängnisaufseher in der "Gladiatorenschule", einem der brutalsten Hochsicherheitsgefängnisse Kaliforniens. Messerstechereien und Bandenkriege prägen den Alltag und kosten ihn beinahe das Leben. Da macht ihm sein Cousin Simon ein unmoralisches Angebot: Er kann Partner in einem der größten Drogenringe Nordkaliforniens werden – und Millionen verdienen. Rico greift zu und wird zum Gesetzesbrecher. Doch Gary Smith, Chefinspektor der Drogenbekämpfungsbehörde, ist ihm bereits dicht auf den Fersen …

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Seitenzahl: 439

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ISBN 978-3-7751-7142-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5432-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2013

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG • 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: agentur krauss, Arne Claußen

Titelbild: shutterstock.com

Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

Für Sabine Ruocco, eine Frau, die ihre Vergangenheit überwunden hat und sie heute einsetzt, um Hoffnung zu den Hoffnungslosen zu tragen. Sabine, du bist eine wundervolle Frau.

Inhalt

Prolog

 1  Ein Traum von einem Leben

 2  Judy

 3  Zeiten des Umbruchs

 4  Das Hochsicherheitsgefängnis

 5  Die Gladiatorenschule

 6  Traum und Albtraum

 7  Erzfeinde

 8  Todeskandidaten

 9  Verhaftungen

10  Die Liste

11  Der Aufstand

12  Drogengeschäfte

13  Luxus und Macht

14  Codewort »Suzuki«

15  Knappe Angelegenheiten

16  Der Buchhalter

17  Katz-und-Maus-Spiel

18  Entscheidungen

19  Neue Schritte

20  Ein verlockendes Angebot

21  Ende und Anfang

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Ein lauter Knall. Gary Smith schrie auf und wirbelte herum. Er hatte das Gefühl, als würde seine Bauchhöhle explodieren. Die Kugel drang in seinen Körper ein und schleuderte ihn auf den Korridor. Gary versuchte sich aufzurappeln, doch der Schmerz, der durch seinen Unterleib jagte, hielt ihn davon ab. Er blickte an sich herunter und sah, wie sich sein Hemd rasch mit Blut vollsog.

Gott, nein!, dachte er. Ich bin getroffen!

Er hätte überhaupt nicht hier sein sollen. Es war Sonntagmorgen, und er hatte dienstfrei. Doch wieder mal hatte der Chefinspektor der Drogenbekämpfungsbehörde es vorgezogen, der dicken Luft zu Hause zu entfliehen und sich in die Arbeit zu stürzen. Das hätte er wohl besser bleiben lassen. Aber wer konnte denn ahnen, dass der Dealer, den sie in seiner Wohnung verhaften wollten, Panik kriegen und einfach durch die Tür schießen würde?

»Officer verletzt!«, rief ein Polizist in sein Funkgerät. »Wir brauchen hier einen Arzt! Schnell!«

Während zwei Polizisten die Wohnung des Verdächtigen stürmten, lag Gary auf dem Flur und spürte, wie er langsam die Besinnung verlor.

»Halten Sie durch, Inspektor!«, hörte er neben sich eine Stimme wie durch Watte. »Hilfe ist unterwegs. Halten Sie durch!«

Doch Gary merkte, wie seine Augen schwerer und schwerer wurden. Die Umrisse des Korridors wurden immer verschwommener. Die Welt um ihn herum begann langsam zu verschwinden.

Das war’s wohl, ging es Gary durch den Kopf. Dann wurde es ihm schwarz vor den Augen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1  Ein Traum von einem Leben

Oktober 1975

Ricco war sehr zufrieden mit sich. Der Drogendeal mit Bosko war reibungslos über die Bühne gegangen. Bosko hatte seine bestellten zwölf Kilo Kokain und acht Kilo Heroin erhalten, und Riccos Drogenring war wieder mal um 588000 Dollar reicher geworden. Das Geschäft florierte. Es hätte nicht besser laufen können. Die neue Verkaufsstrategie, die Ricco eingeführt hatte, funktionierte einwandfrei, sodass das Geld in rauen Mengen floss.

Noch vor einem Jahr hätte sich der schnurrbärtige Mexikaner, der eigentlich Ricardo Sotelo hieß, aber von den meisten einfach Ricco genannt wurde, nicht träumen lassen, dass er an der Seite seines Cousins Simon zu einem der mächtigsten Drogenbarone Nordkaliforniens aufsteigen würde. Damals noch hatte er auf der anderen Seite des Gesetzes gestanden und jeden Tag hart gearbeitet, um sich, seine Frau und seine fünf Kinder durchzubringen. Aber dann traf Ricco eine radikale Entscheidung und wechselte von einem Tag auf den anderen die Seiten. Und hier war er nun: 29 Jahre jung, unantastbar, reich. Er hatte mehrere Luxusschlitten in der Garage seines Hauses in Modesto, Kalifornien, stehen und außerdem einen Swimmingpool im Garten. In der gesamten mexikanischen Gemeinschaft wurde er geachtet und auf der Straße ehrfurchtsvoll als »Don Ricardo Sotelo« angesprochen. Klar, es gab auch Schattenseiten, die der Beruf mit sich brachte. Die DEA1, die Drogenbekämpfungsbehörde, saß ihnen ständig im Nacken. Vor allem dieser Gary Smith, der zuständig war für die Metropolregion um die Bucht von San Francisco, war hartnäckig wie ein Kaugummi an der Schuhsohle. Aber Ricco machte sich keine Sorgen. Er wusste, wie man Spuren verwischte, und bisher waren sie dem Mann immer einen Schritt voraus gewesen.

Simon Sotelo war ebenfalls sehr zufrieden, wie die Dinge sich entwickelten, seitdem er seinen Cousin Ricco an Bord des Familienunternehmens geholt hatte. Sie waren zu sechst und alle miteinander verwandt: Simon, dessen Bruder Carlos, dann die Cousins Chale2 und Raul sowie Ricco und sein Bruder Alfredo, auch Fredo genannt. Simon war der Kopf des Drogenrings und Ricco seine rechte Hand. Die beiden waren nicht nur Geschäftspartner und Cousins, sondern auch beste Freunde.

Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Drogendeal mit Bosko standen die Cousins auf der Terrasse von Simons Villa in San José, Kalifornien, und unterhielten sich. Simon fand, sie hätten sich ein paar Tage Urlaub verdient.

»Ricco«, sagte er und legte seinem Partner feierlich den Arm um die Schulter. »Genug gearbeitet. Jetzt hauen wir mal ordentlich auf den Putz. Ich hab uns einen Learjet gemietet. Wir fliegen nach Las Vegas. Nächstes Wochenende. Alle kommen mit. Die teuersten Suiten im Caesars Palace sind schon reserviert. Wir werden eine Menge Spaß haben.«

»Cool. Ich war noch nie in Las Vegas.«

»Es wird dir gefallen, Cousin. Die Stadt ist der absolute Wahnsinn. All die Shows. Die Kasinos. Die hübschen Mädchen. Wow, ich sag dir, die Mädchen bringen dich um den Verstand. Vielleicht lässt du deinen Ehering besser zu Hause.« Simon zwinkerte seinem Cousin verheißungsvoll zu.

Ricco grinste zurück. »Scheint ja das perfekte Wochenende zu werden. Wie viel Kleingeld soll ich denn mitnehmen?«

»Ach, 100000 sollten reichen«, sagte Simon mit einer legeren Handbewegung. »Aber mach dir mal keine Gedanken. Ich hab genug für uns alle dabei. Ich hol dich dann um neun beim Flughafen in Modesto ab.«

»Wie beim Flughafen?«

»Na, mit dem Jet kann ich schlecht vor deiner Einfahrt landen.«

»Moment mal. Du holst mich mit dem Jet ab? Du fliegst extra die paar Kilometer von San José nach Modesto, um mich abzuholen?«

»Aber sicher, Cousin. Man lebt schließlich nur einmal. Also, wie gesagt: neun Uhr beim Flughafen in Modesto.«

»Alles klar. Ich werde da sein.«

Als Ricco spät abends bei offenem Fenster mit seinem Chevrolet El Camino Pick-up nach Modesto zurückfuhr, fühlte er sich wie ein König. Mit einem Privatjet nach Las Vegas fliegen. In der teuersten Suite des Caesars Palace übernachten. Glücksspiele. Essen. Frauen. Partys. Vergnügen pur. Das war genau nach seinem Geschmack.

Was für ein traumhaftes Leben!, dachte Ricco und sog die warme Nachtluft tief ein.

Was für ein ätzendes Leben!, dachte Johnny und zog die weiße Kokainlinie, die sich auf dem Couchtisch vor ihm befand, in seine Nase. Genervt ließ er seinen Blick durch seine verdreckte Bude in Modesto schweifen. Warum krepier ich nicht einfach? Es würde mich sowieso keiner vermissen. Was tu ich hier eigentlich? Wozu um alles in der Welt bin ich hier? Ich bin ein elender Versager genau wie mein Vater. Mann, wie ich ihn hasse! Warum schwängert er meine Mutter, wenn er sowieso keine Kinder haben will? Und dann macht er sich einfach aus dem Staub, dieser Drecksack. Ich weiß nicht, wie Mom das all die Jahre durchgestanden hat. Und jetzt ist sie tot, und ich werde bestimmt auch bald tot sein. Aber was spielt das schon für eine Rolle. Nichts spielt eine Rolle. Das Leben ist Schrott. Ich bin Schrott. Vielleicht sollte ich dem allen ein Ende setzen. Dann ist es endlich vorbei.

Das Kokain begann zu wirken und Johnny hatte das Gefühl, als würde er mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit einmal zum Mond und wieder zurück katapultiert. Der Puls des Mexikaners begann zu rasen. Seine Pupillen weiteten sich. Das Licht an der Decke schien auf einmal so hell wie die Sonne. Er sah schillernde Farben und Musik. Ja, er sah Klänge. Sie schwebten wie Linien vor ihm durch die Luft. Johnny musste plötzlich heftig lachen und ließ sich zurückfallen. Er hatte das Gefühl, als würde er schweben. Der Boden unter ihm war verschwunden. Alles war weg. Der Frust, die Depressionen, die Probleme. Alles war wie weggewischt. Nur noch das irre Gefühl von Schwerelosigkeit und absolutem Glücklichsein war da. Johnny fühlte sich entspannt und war gleichzeitig hellwach und voller Energie. Er hätte Bäume ausreißen können. Ja, das war es, was er gebraucht hatte. Genau nach diesem Kick hatte er sich den ganzen Tag lang gesehnt. Oh, es tat so gut, die Welt hinter sich zu lassen, diese kleine, erbärmliche Welt, in der er lebte, dieses armselige Leben, das keinen Sinn ergab.

Im Grunde war sein Leben schon immer armselig gewesen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Der Feigling hatte seine Mutter gleich nach Johnnys Geburt verlassen und war nie mehr aufgetaucht. Johnny war der Nachzügler der Familie. Sein Bruder und seine zwei Schwestern waren schon in der Schule, als er geboren wurde. Johnnys Mutter war eine sehr einfache Frau, die aber einen unerschütterlichen Glauben an Gott hatte. Jeden Sonntag nahm sie die Kinder mit zur Kirche. Wenn Johnny abends am Zimmer seiner Mutter vorbeiging und durch den Türspalt guckte, sah er, wie sie vor ihrem Bett kniete und betete.

Als Johnny in die fünfte Klasse kam, zog die Familie in eine Sozialwohnung in Modesto, Kalifornien. Das war kein guter Ort, um dort seine Kindheit zu verbringen. Die Wohnblöcke waren heruntergekommen und unfreundlich. Überall auf dem Gelände lagen Bierflaschen und Müll herum. Die engen Korridore waren nur schlecht beleuchtet und dessen Wände mit Graffiti überzogen. Die Wände zwischen den Wohnungen waren so dünn, dass man jeden Streit hören konnte, den die Nachbarn hatten. Johnny begann, sich mit den Kindern aus der Nachbarschaft anzufreunden. Sie kamen alle aus schwierigen Familienverhältnissen und hatten Väter, die nur selten zu Hause waren, oder Stiefväter, die ständig wechselten. Die großen Vorbilder der Kinder waren die harten Jungs, die nachts vor den Wohnblocks herumlungerten, laute Musik hörten, tranken und kifften. Johnny wollte so werden wie sie. Sie waren so lässig und schienen ihr Leben im Griff zu haben.

Eines Tages nahm Phil, der Mann seiner Schwester Marcia, Johnny mit zum Einkaufen und bot ihm eine Haschischzigarette an. Da war Johnny gerade mal elf Jahre alt. Er wollte die Kippe nicht rauchen, aber er wollte auch nicht, dass sein Schwager dächte, er habe Angst. Also rauchte er den Joint.

Als Johnny 14 Jahre alt war, starb seine Mutter an einer Infektion. Von nun an entglitt ihm sein Leben immer mehr. Ein Jahr lang wohnte er bei Marcia und Phil. Seine Schwester ließ ihn tun und lassen, was er wollte, und Phil dachte nur daran, den Teenager mit Drogen zu versorgen. Mit 15 lernte Johnny einen achtzehnjährigen Burschen namens Sergio kennen. Die beiden wurden gute Kumpel, und da Sergio noch ein Zimmer in seiner Wohnung frei hatte, zog Johnny bei ihm ein. Er brach die Schule ab und fand einen Job als Pizzabote. Abends, wenn er und Sergio von der Arbeit kamen, pumpten sie sich gemeinsam mit allem voll, was ihnen zwischen die Finger kam: Heroin, Kokain, Marihuana, Crystal Meth oder irgendwelche Drogencocktails.

An all das musste Johnny nun denken, während er seinen Rausch genoss. Hier war er nun: 18 Jahre alt, chronisch pleite, drogenabhängig und ein absolutes Wrack. Er hasste sein Leben. Er hasste es, von einem Flash zum anderen zu jagen. Aber es war eben, wie es war. Er konnte es nicht ändern. Und nur Gott allein wusste, wie lange sein Körper und seine Seele diesen Wahnsinn noch mitmachen würden.

Am Freitagmorgen landete der Businessjet pünktlich um neun Uhr auf dem Rollfeld des Flughafens in Modesto. Die Passagiere im Warteraum blickten neugierig auf das Flugfeld hinaus. Die Treppe des zweistrahligen Flugzeugs wurde ausgeklappt, und eine Limousine fuhr vor der Glastür der Abflughalle vor.

»Entschuldigen Sie! Lassen Sie mich mal bitte durch. Entschuldigen Sie bitte!«, sagte Ricco und drängte sich durch die Menge. Er kam sich unglaublich wichtig vor. Und es amüsierte ihn, die verstohlenen Blicke zu sehen, die ihm die Leute zuwarfen. Wahrscheinlich dachten sie, er sei irgendein berühmter Schauspieler oder ein wichtiger Politiker, um einen derartigen VIP-Service zu beanspruchen. Mit geschwellter Brust schritt Ricco zur Glastür und nahm in der bereitstehenden Limousine Platz, die ihn auf kürzestem Weg zu dem Privatflugzeug brachte. Seine Cousins Simon, Carlos, Raul, Chale und sein Bruder Alfredo erwarteten ihn bereits im Inneren der Maschine, gut gelaunt und jeder mit einem Glas Champagner in der Hand.

»Na, Cousin!«, rief Simon, kam mit offenen Armen auf ihn zu und küsste ihn auf die linke und dann auf die rechte Wange. »Willkommen an Bord! Champagner gefällig?«

»Du weißt doch, dass ich das Zeug nicht vertrage.«

Simon lachte. »War nur ein Scherz. Wir wollen ja nicht, dass sich deine Hochzeitsnacht wiederholt. Oh, das ist übrigens Ron von unserem Kautionsbüro. Du weißt schon, der Schutzpatron der Straßendealer.«

»Du meinst Suzuki?« Ricco betonte das Wort, als wäre es eine Art Code.

»Ganz genau«, grinste Simon. »Darf ich vorstellen: Ron, das ist mein berühmter Cousin Ricco.«

»Freut mich sehr«, sagte Ron und schüttelte Riccos Hand. »Endlich lernen wir uns mal persönlich kennen.«

»Auf unseren Trip nach Las Vegas!«, rief Simon unterdessen und hob das Champagnerglas. »Und immer daran denken: Was in Las Vegas passiert, bleibt in Las Vegas.«

Ron und die schnurrbärtigen Mexikaner mit ihren Cowboystiefeln, farbigen Seidenhemden und Goldkettchen lachten und prosteten einander zu. Dann kehrten sie auf ihre Plätze zurück. Ricco nahm neben Ron Platz.

»Du verträgst also keinen Champagner?«, fragte Ron, nachdem die Maschine gestartet war und die Häuser unter ihnen immer kleiner wurden.

»Ich vertrage überhaupt keinen Alkohol«, erklärte Ricco. »Ich war ein einziges Mal in meinem Leben so richtig betrunken. Da war ich 15 und hab an einem einzigen Abend vier Liter von einem billigen Rotwein getrunken mit dem Resultat, dass ich volle drei Tage außer Gefecht gesetzt war. Es war furchtbar. Ich dachte, ich müsste sterben.«

»Und seither trinkst du nicht mehr?«

»Genau. Irgendwie ist damals wohl mein Organismus durcheinandergekommen. Keine Ahnung. Jedenfalls rühre ich seither keinen Alkohol mehr an.«

»Und … ich will ja nicht aufdringlich sein, aber was hat es mit deiner Hochzeitsnacht auf sich?«, wollte Ron wissen.

»Oh, das!« Ricco verdrehte die Augen. »Ach ja, unsere Hochzeitsnacht. Ich dachte, wenigstens in unserer Hochzeitsnacht könnte ich eine Ausnahme machen und mit meiner Frau auf unsere Ehe anstoßen. Fehlanzeige. Ich habe nur ein einziges Glas Champagner getrunken, nur ein klitzekleines Glas, und trotzdem habe ich den Rest der Nacht kniend vor der Toilettenschüssel verbracht.«

»Ist nicht wahr!«, meinte Ron und lachte. »Und habt ihr wenigstens …«

Ricco schüttelte den Kopf und begann auch zu lachen. »Es war ein Desaster. Meine Frau rief die ganze Zeit vom Schlafzimmer aus: ›Schatz, wann kommst du endlich ins Bett?‹ Und ich umklammerte die Klobrille und würgte, was das Zeug hielt. Nein, als sehr romantisch würde ich unsere Hochzeitsnacht nicht bezeichnen. Wie steht’s mit dir? Bist du verheiratet?«

»Nein, aber verliebt.« Ron griff in seine hintere Hosentasche, holte seine Brieftasche hervor und nahm ein Foto heraus. »Hier. Das ist sie. Natalia, die schönste Frau der Welt.«

»Sie ist hübsch.«

»Sie ist fantastisch. Schon mal erlebt, dass deine Hormone verrücktspielen, nur weil diese eine Frau dich mit diesem ganz bestimmten Blick ansieht?«

Ricco atmete tief durch. »Ich weiß ganz genau, wovon du redest.«

Ron kam ins Schwärmen. »Du schließt die Augen, und alles, was du siehst – ist sie. Du wachst auf, und alles, woran du denken kannst – ist sie. Du hast das Gefühl, du würdest sterben, wenn du nicht in ihrer Nähe bist. Kennst du das?«

»O ja«, murmelte Ricco und nickte. Seine Gedanken schweiften zwölf Jahre zurück in die Vergangenheit. »Das kenne ich nur allzu gut.«

[Zum Inhaltsverzeichnis]

2Judy

September 1963

Es war Liebe auf den ersten Blick. Und das an Riccos erstem Schultag an der neuen Highschool in Morgan Hill, Kalifornien! Dabei war er alles andere als ein Romantiker. Er war tough, so wie es sich für einen echten Mexikaner gehörte. Außerdem wirkte er allein schon wegen seiner Größe und seines kräftigen Körperbaus wie einer, der sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Doch als er sich kurz vor Beginn seiner ersten Englischstunde ausgerechnet hinter dieses blondhaarige Mädchen setzte, es sich völlig überraschend zu ihm umdrehte und ihn mit großen blauen Augen anstrahlte, war’s um ihn geschehen.

»Hi«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Judy. Judy Tiger.«

Sie lächelte ihn freundlich an. Es war das bezauberndste Lächeln, das Ricco je gesehen hatte, und er fühlte sich, als würden schlagartig tausend Feuerfunken in seinem Herzen sprühen.

»Ricardo Sotelo«, stellte sich der Siebzehnjährige vor und schüttelte ihre Hand, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. »Aber alle nennen mich Ricco.«

»Hi, Ricco«, sagte Judy fröhlich. »Willkommen an der Live Oak Highschool. Wenn du irgendetwas brauchst, ich helfe dir gerne.«

»Danke«, nuschelte Ricco verlegen.

Judy drehte sich wieder nach vorne. Ricco starrte von hinten auf ihre goldblonden Haare, während die Schmetterlinge ordentlich in seinem Bauch tanzten.

Judy…

Irgendetwas war anders an ihr. Ricco hätte es nicht benennen können. Aber da war etwas in ihren Augen, als sie ihn angesehen hatte, das ihn völlig verzauberte. Ja, noch mehr als das. Es entwaffnete ihn. Und das war ihm noch nie passiert. Er war es gewohnt, die Kontrolle zu haben. Er war derjenige, der den anderen sagte, wo’s langging, und nicht umgekehrt. Dem letzten Kerl, der ihm sein Mädchen ausgespannt hatte, hatte er mitten auf dem Pausenhof eine ordentliche Abreibung verpasst. Dass er damals seine Freundin verloren hatte, fand er weniger tragisch, als dass er sein Gesicht und damit seine Würde als Mann verloren hatte. Mut, Tapferkeit, Ehre, Männlichkeit– das waren Worte, die in der mexikanischen Kultur großgeschrieben wurden. Ein Mann weinte nicht. Ein Mann zeigte keine Gefühle. Jemandem zu sagen, dass man ihn liebte, galt als Zeichen von Schwäche. Und da tauchte dieses Mädchen auf und brachte mit einem einzigen Lächeln seine gesamte Machofassade zum Bröckeln. Ricco erkannte sich selbst kaum wieder.

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