Der Dieb und der Gentleman - Isobel Starling - E-Book

Der Dieb und der Gentleman E-Book

Isobel Starling

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Beschreibung

Band 2 der neuen historischen M/M Buchreihe der preisgekrönten Autorin Isobel Starling. Dienstag, 28. Dezember 1897. Benedict Hannan, Eigentümer von Hannans Auktionshaus in Fitzrovia, London, erhält unerwarteten Besuch in seinem Zuhause in Bloomsbury. Der Mann auf seiner Türschwelle verursacht bei Benedict Herzflimmern, und zugleich mit dem mysteriösen Fremden holt Benedict sich Geheimnisse, Abenteuer und glühende Leidenschaft ins Haus. Sebastian Cavell – seines Zeichens Meisterdieb – scheint Benedict aus geschäftlichen Gründen aufzusuchen, aber die Art von Geschäft, die Sebastian im Sinn hat, hat nichts mit Geld verdienen zu tun! Cavell wurde beauftragt, den Aufenthaltsort eines vermissten deutschen Adeligen herauszufinden. Mit Hilfe von Benedicts gesellschaftlichen Verbindungen erhält er Zutritt zu einem Gentlemans Club und zu gewissen Herren, deren Verhalten alles andere als gentleman-like ist. Benedict wird in den Zirkel eines gefährlichen Geheimbunds gezogen. Und er erfährt dabei nicht nur die Wahrheit über den geheimnisvollen Sebastian Cavell, sondern auch die Wahrheit über sich selbst und das, was er wirklich begehrt. Gut zu wissen: Dies ist ein historischer, schwuler Liebesroman und enthält eindeutige Darstellungen sexueller Natur.

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Inhaltsverzeichnis

INHALT

Der Dieb

und der

Gentleman

Resurrectionist #2

Isobel Starling

Aus dem Englischen übertragen

von

Betti Gefecht

www.decentfellowspress.com

Copyright © 2020 -2023 Isobel Starling

Aus dem Englischen von Betti Gefecht

ISBN: 9783757929237

Deutsche Erstausgabe

Alle Reche vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin nachgedruckt oder anderweitig verwertet werden. Davon ausgenommen sind Rezensionen: Kurze Passagen können in einer Rezension zitiert werden und als Teil davon auch in Zeitungen oder Zeitschriften abgedruckt werden.

Die Figuren und Ereignisse, die in diesem Buch beschrieben werden, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2020

by Isobel Starling

Alle Rechte vorbehalten.

Cover Art Design by Isobel Starling

Vielen Dank an Betti Gefecht

und Veronika Kothmayer.

Ein tolles Team!

INHALT

KAPITEL 1 Ein unerwarteter Gast

KAPITEL 2 Das Buch

KAPITEL 3 Der Auftrag

KAPITEL 4 Zufälle

KAPITEL 5 Das Athenäum

KAPITEL 6 Hinter verschlossenen Türen

KAPITEL 7 Der Silberfisch

KAPITEL 8 Esoterische Vorkommnisse

KAPITEL 9 Die Kutsche

KAPITEL 10 Fratres Seminis

KAPITEL 11 Mannessaft

KAPITEL 12 Das Gefäß

KAPITEL 13 Geständnisse eines Diebes

KAPITEL 14 Eine Einladung

KAPITEL 15 Exeter Hall

KAPITEL 16 Der Cavendish-Ball

KAPITEL 17 Beobachtungen eines Diebes

KAPITEL 18 Skandalöses Benehmen

KAPITEL 19 Das Verschwinden

KAPITEL 20 Haussegen

KAPITEL 21 Der Verräter

KAPITEL 22 Falsches Spiel

KAPITEL 23 Geliebter

KAPITEL 24 Dunkelste Geheimnisse

Autor

KAPITEL 1

Ein unerwarteter Gast

Dienstag, 28. Dezember 1897

Ein Bettler stand auf meiner Türschwelle. Er trug eine Seemannsmütze aus Filz und einen dichten, grauen Bart. Und er schien ein blaues Auge zu haben, so als ob es erst kürzlich Bekanntschaft mit einer Faust gemacht hätte. An seinem mottenzerfressenen Wintermantel glänzten zwei Reihen Messingknöpfe, aber mir fielen die drei Lücken auf, wo Knöpfe fehlten. Der Mantel war für einen deutlich größeren Mann geschneidert, und der Saum hing bis fast auf den mit Schneematsch bedeckten Straßenbelag hinunter. Der Bettler hatte eine hölzerne Krücke unter einen Arm geklemmt, auf die er sich schwer stützte. Als ich an ihm hinabsah, stellte ich fest, dass ihm das halbe linke Bein fehlte und er nur einen einzelnen Stiefel an seinem rechten Fuß trug. Die Sohle hatte sich gelöst, und es war nicht zu übersehen, dass der schmelzende Schnee eingedrungen war, während er über den Platz bis zu meiner Haustür gehumpelt war.

Clarence-Kutschen und Hansoms fuhren vorbei. Die Pferde setzten vorsichtig die Hufe auf, und die Räder der Gespanne knirschten durch den Schneematsch vor meinem Haus am Bedford Square 26, Fitzrovia, London. Fußgänger, gekleidet in ihren besten Winterputz, schnappten frische Winterluft, während sie bedächtigen Schrittes durch den sonst so grünen Garten gegenüber meines Hauses spazierten. Die großen Bäume hatten ihr Laub verloren und wirkten wie kahle Gerippe, aber die Erschaffer des Parks hatten dafür gesorgt, dass immergrüne Sträucher und kleinere Bäume dem öffentlichen Grüngelände das ganze Jahr über Farbe verliehen.

Niemand, der an meinem Haus vorbeikam, schenkte dem Bettler an meiner Tür besondere Aufmerksamkeit. Aber ich schon. Meine Aufmerksamkeit hatte er ganz gewiss! Mein Magen drehte Purzelbäume, und mein Herz raste – nicht vor Zorn wie bei meiner Haushälterin, Mrs. Twigg, die vor wenigen Minuten die Tür geöffnet, den Bettler entdeckt und ihn sogleich mit ihrem Besen verdroschen hatte. Ich hatte ihr den Besen entrissen und sie umgehend nach Tee und einem Teller ihrer hervorragenden Mince Pies geschickt, um sie loszuwerden und die Lage allein handhaben zu können.

Ich musterte den Schauspieler, der vor mir stand, und konnte die Freude, die in mir überschäumte, kaum fassen. Und es amüsierte mich, Sebastian Cavell, seines Zeichens Meisterdieb und – ich errötete, als ich nur daran dachte – mein heimlicher Liebhaber, erneut verkleidet als Josiah vor mir zu haben, einem Bettler, mit dem ich mich angefreundet hatte, Monate bevor ich von seiner wahren Identität erfuhr.

Unser allererstes Schäferstündchen in einem Glasgower Hotelzimmer lag erst sechs Tage zurück. Ich war dort wegen der Schneeverhältnisse gestrandet – auf der Rückreise von einer desaströsen Privatauktion auf einem schottischen Landsitz, bei der ich, wie ich erst viel zu spät erfuhr, gar nicht bieten durfte. Ich war immer noch verärgert darüber, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Dunecht Hall gelockt worden zu sein, wo mein Ex-Geliebter Lord Euan Ardmillan nicht nur versucht hatte, mich zum Komplizen beim Betrug von Kunstkäufern zu machen, sondern auch verlangt hatte, ich solle ein merkwürdiges Sexritual mit ihm vollziehen, um seine schwindende Manneskraft wiederherzustellen.

Ein mysteriöser Fremder hatte mich jedoch vor Euans wahren Absichten gewarnt. Ich hatte den Mann für einen deutschen Kunstsammler namens Artur Engels gehalten, mit dem ich am selben Abend diniert hatte. Aber nachdem er mich auf den zugigen Dachboden gelockt hatte, um mit mir unter vier Augen sprechen zu können, hatte er sich als Sebastian Cavell vorgestellt. Cavell war ein Name, den ich von den Schlagzeilen zahlloser Skandalblätter wiedererkannte. Ich stellte sodann fest, dass Cavell im wahren Leben ein überaus wohlgestalteter Gentleman und Meisterdieb in Personalunion war, der die Polizeikräfte fortlaufend an der Nase herumführte, während die vergeblich versuchten, seine Identität und seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Und dieser Dieb war aus ganz eigenen Beweggründen auf Dunecht Hall gewesen. Cavell hatte mir enthüllt, was er über Euans Pläne wusste. Und obgleich ich ihm zuerst nicht geglaubt hatte, hatte sich alles, was Cavell gesagt hatte, kurz darauf als wahr herausgestellt.

Wütend, enttäuscht und mit leeren Händen hatte ich das Highland-Anwesen verlassen, nur um feststellen zu müssen, dass das verdammte Wetter das gesamte britische Eisenbahnnetz zum Erliegen gebracht hatte und es für mich keine Möglichkeit gab, nach London zurückzukehren.

Ich nahm mir ein Zimmer in dem Hotel, das direkt an die Glasgow Central Railway Station grenzte, und dort war es, wo Cavell mich überraschend aufsuchte. Dort war es auch, wo er mir unerwartet seine Bewunderung für mich gestand und dass – es ist mir peinlich, nur daran zu denken – ich der Preis war, den er Euan hatte stehlen wollen, und nicht eine der kostbaren Antiquitäten.

Widerstrebend hatte ich mich meinen lang unterdrückten Verlangen ergeben, bei einem Mann zu liegen, und es wurde eine recht außergewöhnliche Nacht in den Armen des jeweils anderen. Diese einmalige Nacht der Leidenschaft mit diesem mysteriösen Mann hatte mich auf eine Weise verändert, die ich noch immer nicht ganz verarbeitet hatte. Cavell hatte mich scherzhaft einen zugeknöpften Frömmler genannt, aber seine Zärtlichkeiten und liebevolle Zuwendung hatten all meine Knöpfe definitiv gelöst!

Auf meiner Zugfahrt nach Hause hatte ich jedenfalls nicht wie sonst in engen Zugabteilen in der Bibel gelesen, um Augenkontakt zu vermeiden. Stattdessen hatte ich aus dem Fenster gestarrt und meine Gedanken treiben lassen … hin zu Sebastian Cavell, während sein Duft noch auf meiner Haut verweilte, sein Geschmack auf meinen Lippen.

Wieder zurück in London und nachdem einige Zeit vergangen war, hatte ich mich schon gefragt, ob unsere pikante Begegnung wirklich stattgefunden hatte, denn es fühlte sich an wie das Leben eines anderen. Aber nein, der verkleidete Mann auf meiner Türschwelle hatte ein neckisches Funkeln in seinen haselnussbraunen Augen, von dem ich wusste, dass es ganz mir galt. Ich erschauerte wohlig unter seinem durchdringenden Blick und fühlte mich auf der Stelle bedeutend jünger als meine fünfzig Jahre.

Schließlich fasste ich mich und erinnerte mich an meine soziale Stellung und in welcher Situation ich mich befand. Dies war ein belebter Platz in Bloomsbury, und wenn Bettler hier auftauchten, wurden sie sofort von Personal verscheucht, deren Aufgabe es war, die Gärten zu pflegen und den Platz frei von Gesindel zu halten. Ich musste vermeiden, dass George oder Alfred einen Blick auf Josiah erhaschten, denn das wäre das Schlimmste für ihn gewesen. Wie sehr ich mich insgeheim auch freute, Cavell zu sehen, ich musste vernünftig sein. Plötzlich war ich geradezu überwältigt von dem Drang, den Mann von der Straße zu holen und in mein Haus zu schaffen, um ungestört mit ihm reden zu können.

„Hättense was zu trinken für'n alten Soldaten?“, fragte Josiah in seinem bodenständigen Cockney-Akzent.

„Nun, ich hätte in der Tat. Aber du kannst es dir verdienen, Mann. Lungere hier nicht vor meiner Tür herum! Komm mit in die Küche“, sagte ich laut, sodass jeder, der zufällig mithörte, annehmen musste, dass ich den Vagabunden aus legitimen Motiven in mein komfortables Zuhause einlud.

Josiah stützte sich schwer auf seine Krücke und humpelte auf die Stufe und über die Schwelle. Dann schloss ich hinter ihm die Tür.

„Was zum Teufel machst du hier? Und woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?“, fragte ich in einem gepressten Flüsterton.

Sebastian stieß einen schweren Seufzer aus. Er lehnte sich gegen die Wand, ließ die Krücke fallen und begann, unter seinem Mantel zu hantieren. Er löste ein schwarzes Band, das um Oberschenkel und Wade seines angewinkelten linken Beins gewickelt war. Sobald das Bein von seiner Fessel befreit war, landete sein linker Fuß schwer auf meinen gefliesten Fußboden. Sebastian streckte die Hand aus und packte meine Schulter. Für gewöhnlich mochte ich es gar nicht, angefasst zu werden, aber Cavell überwand irgendwie meine innere Abwehr. Wenn er mich berührte, blieben die überwältigenden Panikattacken und das aufflammende Jucken auf meiner Haut aus. Cavell belastete den soeben befreiten Fuß mit seinem Gewicht und stieß ein orgasmisches Stöhnen aus. Er starrte mich an, die Augen geweitet und glasig. Er sah aus, als befände er sich auf dem Höhepunkt eines Opiumrausches.

„Das … ist ein … ganz schön heftiges Gefühl …“, keuchte er. Ich griff nach ihm, um ihn zu stützen.

„Wenn das Blut wieder zurück ins Bein fließt … eigentlich ist es erregend, der Schmerz … mischt sich mit … einem Lustgefühl“, erklärte er, während seine Finger sich in meine Schulter gruben. Unter meiner Jacke begann meine Haut zu kribbeln, und ich leckte abwesend meine Lippen. Hatte Cavell einen Fessel-Fetisch? Oh Gott, ich durfte mir nicht erlauben, an so etwas auch nur zu denken. Es war schon schändlich genug, dass ich meinen Bedürfnissen nachgegeben hatte und mit diesem Mann intim geworden war – ich durfte nicht wagen, mir auch noch andere Wege auszumalen, wie wir miteinander Erfüllung finden konnten.

Zu meiner großen Erleichterung ließ Cavell mich los und stellte sich auf sein linkes Bein. Dann beugte er sein Knie und stampfte einige Male mit dem Fuß auf. Schließlich, wie um seine Umgebung durch Abschreiten zu vermessen, unternahm er mehrere, lange Schritte den Flur entlang und wieder zurück. Anschließend lehnte er sich zufrieden ans Treppengeländer und schaute mich mit einem Hundeblick an.

„Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich ein heißes Bad nähme und dich um ein paar Sachen zum Anziehen erleichterte, teures Herz?“, fragte er süßlich. Dasselbe hatte Cavell seinerzeit in meinem Hotelzimmer getan. Hätte irgendein anderer Mann mich gefragt, wäre ich entrüstet gewesen und hätte die Frage als höchst unangemessen erachtet. Aber ihm konnte ich nichts abschlagen. Die Kleidung, die er in seiner Rolle als Josiah trug, war ziemlich abstoßend, und ich wusste, dass sich unter dem zotteligen Bart Lippen befanden, die ich zu gern geküsst hätte. Nicht, dass ich zulassen würde, dass so etwas geschah!

„Mein persönlicher Diener ist derzeit in der Stadt, um Besorgungen zu machen“, sagte ich. „Schaffen wir dich die Treppe hinauf, bevor Mrs. Twigg dich sieht. Sie wäre entsetzt darüber, dass ich einem Vagabunden erlaube, auch nur einen Fuß auf ihren frisch gewienerten Boden zu setzen.“

Ich versteckte die hölzerne Krücke im Schrank unter der Treppe, dann ging ich die Stufen hinauf. Nachdem Sebastian sein Bein für seine Verkleidung so lange hochgebunden hatte, humpelte er ein wenig, weshalb ich ihm erneut erlaubte, sich an mir festzuhalten. Das war für mich ungewöhnlich, um es milde auszudrücken, denn meine zwanghafte Abneigung gegenüber jeglicher Intimität war eigentlich so stark, dass sogar mein Kammerdiener gelernt hatte, mir beim Ankleiden zu helfen, ohne mich auch nur im Geringsten zu berühren. Ich hasste und vermied Menschenmengen, und selbst beim Kirchenbesuch verließ ich das Haus erst in letzter Minute, sodass ich in der hinteren Bank sitzen oder im Eingang stehen bleiben konnte, falls sich der Gottesdienst als besonders gut besucht herausstellte. Aber diesem fremden Mann körperlich nah zu sein, erzeugte eine freudig erregte Spannung in mir. Was hatte Cavell nur an sich, das meine Haut singen ließ, anstatt zu brennen?

Verlegen legte ich meinen Arm um Sebastians schlanke Taille, und er ergriff meine Schulter. Ich presste fest die Lippen zusammen, denn ich wollte nicht, dass er auf irgendwelche dummen Ideen kam. Als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, sah ich sein typisches schiefes Grinsen. Sofort wurde mir klar, dass es sinnlos war, Gleichmut vorzutäuschen. In meinem Herzen flatterte etwas wie ein Vögelchen in einem Käfig, und Hitze stieg mir in die Wangen. Dieser Mann kannte mich auf eine Weise, die ein jeder in meiner Kirche als Sünde ansah. Dieser Mann hatte Stellen meines Körper geküsst und geleckt, von denen ich nicht gewusst hatte, dass sie mir solchen Genuss bescheren konnten. Ich hätte mich eigentlich schämen sollen. Ich hätte um meine unsterbliche Seele fürchten sollen, weil dieser Teufel in mein Leben zurückgekehrt war und mir die Versuchung direkt vor die Nase setzte. Aber ich hielt seinen warmen Körper an meine Seite gedrückt und verspürte nichts von der Woge der Scham, die sonst stets über mich kam, wenn ich einen Fremden berührte. Was ich stattdessen fühlte, war ein Aufwallen flüchtiger Freude, und wie ein Kind, das ein Geheimnis hütete, verspürte ich den plötzlichen Drang, laut aufzulachen. Cavell ließ mich sein Gewicht halten und drückte sich sanft an meine Seite. Und so nahmen wir gemeinsam die Stufen hinauf zum Gemeinschaftswaschraum mit der Badewanne.

Mein georgianisches Stadthaus am Bedford Square war geräumig und komfortabel. Es gab acht Schlafzimmer. Der Hauptwohnbereich mit meinem privatem Wohn- und Badezimmer befand sich im ersten Stock. Auf demselben Flur gab es noch ein zweites Badezimmer. Ich beschäftigte fünf Hausangestellte. Mein Hausmeister Mr. Wilkins hatte im Parterre sein Quartier. Mr. Troy, mein Kammerdiener, schlief im zweiten Stock. Mrs. Twigg und die Hausmädchen, Ann-Marie und Maud, hatten Zimmer unter dem Dach. Somit blieben fünf Zimmer übrig für Gäste. Die meiste Zeit des Jahres blieben sie ungenutzt, denn die einzigen Gäste, die ich je in meinem Haus übernachten ließ, waren meine Schwester Gracie, ihr Ehemann Henry und ihre Brut von sechs Kindern.

Ich überließ Cavell seinem Bad und begab mich zu meinen Kleiderschränken, um etwas Passendes zum Anziehen für ihn herauszusuchen. Wir waren etwa von gleicher Körpergröße. Ich entschied mich für einen marineblauen Anzug von Henry Poole aus der letzten Saison, ein weißes Leinenhemd, eine hellblaue Krawatte, dicke Wollsocken und ein paar Lederstiefel von John Lobb, die schon etwas abgetragen waren und die ich zur Seite gestellt hatte, um sie neu besohlen zu lassen. Sie waren natürlich nicht zu vergleichen mit Cavells edlen und äußerst auffälligen Edwin Clapp-Stiefeln, aber da er sie in seiner Verkleidung als Josiah nicht trug, würden meine alten Stiefel wohl ihren Dienst tun.

Ich ließ die Sachen auf der Couch in meinem Wohnzimmer liegen, und nachdem ich die angrenzende Tür zu meinem Schlafzimmer verschlossen hatte, wartete ich am Treppenabsatz. Ich fühlte mich ein wenig schwindelig, so perplex war ich über meinen unerwarteten Gast – und nicht irgendeinen Gast! Auch wenn ich es mir gewünscht hatte, so hatte ich doch nicht damit gerechnet, Sebastian Cavell wiederzusehen. Wieso war er vor meiner Tür aufgetaucht? Nicht, dass ich mich darüber beklagte! Aber es verwirrte mich, dass der Mann meine Adresse kannte, die ich ihm nicht gegeben hatte, und warum er es für notwendig hielt, in Josiahs Verkleidung zu erscheinen.

In einem unserer früheren Gespräche hatte Cavell zugegeben, dass er mich bereits vor unserer offiziell ersten Begegnung in Schottland sechs Monate lang beobachtet hatte, aber bis heute war er mir eine Erläuterung seiner Beweggründe dafür schuldig geblieben. Meinem Beruf als Auktionator war es geschuldet, dass ich eine Art sammelwütige Elster war. Mein Zuhause war angefüllt mit allerlei Kuriositäten, Kunstwerken und Silberwaren, die ich für mich selbst erworben hatte, und nicht, um sie in meinem Auktionshaus zu verkaufen. Ich beschäftigte zwei Hausmädchen, die täglich hier putzten und dafür sorgten, dass meine Kollektion nicht einstaubte. Was meine Hausmädchen jedoch nicht abstaubten, war meine Sammlung phallischer Kunstwerke. Ich besaß eine erkleckliche Menge an Phallus-Skulpturen, die ich in einem geheimen Raum hinter den Bücherregalen in meinem Schlafzimmer verbarg. Einst war dieser Raum ein Ankleidezimmer gewesen, aber da keiner meiner derzeitigen Hausangestellten schon in meinen Diensten gestanden hatte, als ich das Haus gekauft und eingerichtet hatte, wusste niemand von der Existenz meines Geheimzimmers. Nicht einmal Sebastian Cavell wusste von der wahren Natur meiner Kollektion, weshalb ich bezweifelte, dass er hergekommen war, um einen Diebstahl zu begehen. Aber warum war er hier?

Ich trat an die geschlossene Badezimmertür und konnte ihn in der Wanne plätschern und eine fröhliche Melodie summen hören. Plötzlich begann er zu singen. Ich erkannte das Lied nicht, das nach Varietétheater klang, aber seine Stimme machte mir den Magen flau und die Knie weich. Die Vorstellung, dass er hinter dieser Eichentür nackt im Bad saß, die sommersprossige Haut nass und glänzend, während er sang … oh Gott, wie mir das gefiel! Ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte, aber dann knallte unten die Küchentür zu, und Sebastians Lied verstummte auf der Stelle. Offenbar war Mr. Troy von seinen Besorgungen zurückgekehrt. Ich klopfte leise an die Badezimmertür und rief Cavell zu:

„Ich habe Kleidung in meinem Wohnzimmer bereitgelegt. Und du solltest mich in meinem Arbeitszimmer aufsuchen, sobald du angezogen bist.“

„Ist recht!“, rief Sebastian zurück. Er klang vollkommen entspannt und sehr zufrieden mit sich.

KAPITEL 2

Das Buch

Das durfte doch alles nicht wahr sein! Aufgebracht lief ich vor dem Kamin auf und ab, während mir tausend Gedanken darüber, was Sebastian Cavell von mir wollen könnte, durch den Kopf wirbelten. Ich denke, die meisten Männer wären wohl aufgebracht, wenn die Person, mit der sie eine einzige verbotene Nacht verbracht haben, plötzlich vor ihrer Tür steht. Was machte er hier? Wurde ich möglicherweise gerade für dumm verkauft? Raubte Cavell mich in dieser Sekunde aus, während ich hier auf ihn wartete?

Plötzlich zweifelte ich an meinem eigenen Verstand, weil ich einen Kriminellen in mein Haus gelassen hatte. Und obendrein war ich unsicher, wie ich mich in seiner Gegenwart verhalten sollte. Er hatte eine Art an sich, die mich aus der Fassung brachte. Ein einziger Blick von ihm genügte, wenn in seinen Augen eine Herausforderung oder ein Lächeln funkelte, das köstlich verdorbene Dinge verhieß, und ich schmolz innerlich dahin. Er wusste viel zu viel über mich und meine heimlichen Begierden. Ich kam zu dem Schluss, dass Sebastian Cavell in der Tat ein sehr gefährlicher Mann war. Eine einzige Bemerkung zu den falschen Leuten über meine sündige Natur konnte für mich die Ächtung durch meine Kirche und den Verlust meines Standes bedeuten. Wie sehr ich ihm auch zugeneigt war, es wäre leichtsinnig, dem Mann weiteren Zugang zu meinem Leben und meinen Gefühlen zu gewähren. Also entschied ich, ja, ich musste mich wieder auf mich selbst besinnen – auf den frömmelnden, isolierten … unglücklichen Mann, der ich vor meiner Reise nach Schottland gewesen war. Ich massierte meine Nasenwurzel und seufzte tief. Das hier war ein Desaster. Was sollte ich tun? Und dann riss mich ein Klopfen an der Tür aus meinen stürmischen Selbstzweifeln.

„Herein“, brüllte ich, und meine Stimme klang unerwartet rau. Es waren Mrs. Twigg und das Hausmädchen Maud, und sobald sie eintraten, wurde die Atmosphäre angespannt. Mrs. Twigg kniff vorwurfsvoll den Mund zusammen, und ich bereute sofort meinen scharfen Ton. Sie schätzte es gar nicht, wenn ich sie anbrüllte, und das war sonst auch nicht meine Art als Arbeitgeber. Ich ließ beschämt den Kopf hängen wie ein gescholtener Hund.

„Verzeihung“, sagte ich und bedeutete ihr mit einer Geste, den Tee zu servieren, den sie auf einem Tablett trug. Die junge Maud brachte ein zweites Tablett mit einem Teller frisch gebackener Mince Pies. Die fruchtigen Gewürzkuchen waren großzügig mit Puderzucker bestreut.

„Die riechen wunderbar“, lobte ich, um die Atmosphäre zu lockern. Mrs. Twigg nickte mir mit einem Lächeln zu, als sie an mir vorbeiging.

„Ich hatte Tee für Zwei bestellt“, erinnerte ich sie, als ich den Inhalt ihres Tabletts musterte. „Da ist nur eine Tasse.“ Flora warf mir einen ihrer missbilligenden Blicke zu. „Wir haben einen Hausgast. Eine zweite Tasse wird daher erforderlich sein. Wenn Du so nett wärst?“

Ich war ihr keine Erklärung schuldig. Dennoch – Mrs. Twigg war mit der Fähigkeit zu jenen wortlosen, tadelnden Blicken gesegnet, die allen Matriarchinnen zu eigen war. Eine Fähigkeit, die zu mächtig ist, als dass irgendein Mann ihr standhalten könnte. Und so plapperte ich unwillkürlich eine hastige Rechtfertigung.

„Ein Freund von mir rutschte im Schneematsch vor dem Haus aus, gerade als ich den vermaledeiten Bettler fortschickte“, improvisierte ich. „Er – der Freund – war recht mitgenommen von dem Schlamassel. Ich bot ihm an, sich hier zu säubern. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt und dich nicht erschreckst, wenn du einen Fremden im Haus siehst.“ Ich hoffte, mein Tonfall blieb dieses Mal ruhig und geschäftsmäßig. „Also, ja, Tee für zwei, bitte.“ Mrs. Twigg jedoch sah mich an, als hätte ich gerade etwas überaus Empörendes gesagt. Sie wirkte … verwirrt und nicht im Geringsten überzeugt.

„Ein Freund, sagen Sie, Sir?“

„Ja?“, antwortete ich unschuldig. Flora war bereits seit fast zehn Jahren meine Haushälterin und Köchin, und die Male, da ich während dieser Zeitspanne Besuch von einem „Freund“ gehabt hatte, konnte ich an meinen beiden Händen abzählen.

„Aus der Kirche“, fügte ich verlegen hinzu.

Flora stellte das Teetablett auf einem Beistelltisch ab, dessen Seiten sie ausklappte, um ihn auf das doppelte Maß zu vergrößern.

„Sehr wohl, Sir“, sagte sie. Ich wusste, dass zwischen uns wieder alles gut war, als ihr Gesicht aufleuchtete und ihre mütterliche Seite das Ruder übernahm.

„Ich bin froh, dass Sie Besuch von einem Freund haben. Ich sage Ihnen ja immer wieder, Sir, Sie verbringen viel zu viel Zeit allein. Das is’ nich’ richtig! Ein so aufrechter Gentleman wie Sie.“

Die Beziehung zwischen mir und meiner Haushälterin war im Großen und Ganzen freundlich und entspannt. Ich hatte weder eine Gattin noch eine Geliebte, und so war sie gewissermaßen die Frau in meinem Leben. Ich schätzte sie sehr, aber gelegentlich neigte sie dazu, sich zu sehr in meine Angelegenheiten einzumischen und ungewollte Meinungen zu allem abzugeben. Und ich befürwortete keine Kommentare über meine privaten Gewohnheiten oder den Mangel an echten Freundschaften.

Flora instruierte das Hausmädchen: „Stell die Mince Pies hierhin, Maud, Liebes, und dann geh und hol eine Tasse und einen Teller für unseren Gast.“ Maud tat wie geheißen und eilte aus dem Zimmer.

„Die Pies kommen frisch aus dem Ofen, am besten lassen Sie sie noch ein paar Minuten abkühlen, Sir. Soll ich schon einschenken, oder sollen wir auf Ihren … Freund warten?“

Der Duft der warmen, süßen Mince Pies war fürwahr verlockend, aber ich beschloss: „Wir warten.“

„Hat er auch einen Namen, Sir? Ihr Freund?“

Für eine Sekunde überkam mich Panik. Ich hatte keine Ahnung, welchen Namen Cavell gerade benutzte, und wollte meinem Personal nicht seinen – wie ich annahm – echten Namen preisgeben. Zum Glück betrat Sebastian genau in diesem Moment mein Arbeitszimmer. Ich hatte nicht einmal die Treppenstufen knirschen gehört, als er herunterkam, so geschickt war er im Schleichen. Unsere Blicke trafen sich, und Sebastians Augen funkelten hintergründig. Das Lächeln ließ seine Augen leuchten, und sein Blick machte mich ein wenig verlegen und atemlos. Er war nun wieder ein anderer, und ich stellte erfreut fest, dass das Veilchen, welches er als Josiah getragen hatte, fortgewaschen war. Der Bart war ebenfalls verschwunden, und insgeheim gefiel es mir, Sebastian erstmals glattrasiert zu sehen. Er sah frisch, jung und ausgesprochen anziehend aus. Mit dem Überschwang eines Hundewelpen und einem leichten, geschliffen-aristokratischem Akzent wandte er sich an Mrs. Twigg:

„Oh, werte Dame! Diese Pies duften erschreckend gut.“ Dann trat er vor und nahm Mrs. Twiggs rundliche, faltige Hand in seine.

„Madame, sind Sie etwa die begabte Künstlerin, die solch köstliches Gebäck kreiert hat?“, fragte er und küsste Floras Handrücken. Ich sah, wie sie errötete und ganz verlegen wurde. Es kam wahrlich nicht oft vor, dass meine Haushälterin sprachlos war!

„Foxford Robins“, stellte Cavell sich schwungvoll vor.

„Ja, ich hatte mich schon gewundert …“, gestand Mrs. Twigg mit einem mädchenhaften Lächeln.

„Nun, da Sie so köstliches Gebäck machen, dürfen Sie mich Birdie nennen, meine Liebe.“ Cavell ließ seinen ganzen Charme spielen.

„Erfreut, Sie kennenzulernen, Sir … Birdie. Ich bin Flora Twigg“, sagte Flora. Ihr Blick schoss in meine Richtung, als wollte Sie meine Erlaubnis erbitten. Ich nickte ihr zur Antwort lächelnd zu, und so fuhr sie fort: „Tut mir leid zu hören, dass Sie auf dem Weg zum Haus draußen ausgerutscht sind. Ich werde Wilkins sagen, er soll etwas Sand ausstreuen, damit sowas nicht noch einmal passiert.“

Cavell warf mir einen fragenden Blick zu, und ich wand mich innerlich. Ich hatte es für eine plausible Geschichte gehalten, um sein unerwartetes Erscheinen zu erklären– und den Umstand, dass er meine Kleidung trug. Zu meinem Erstaunen griff Cavell den Faden mühelos auf und schmückte die Geschichte aus.

„Ja, das war ein erschreckendes Missgeschick. Und zu allem Überfluss habe ich mich auch noch vor dem Duke of Fotheringham auf den Arsch gelegt. Ich hoffe, er hat mich nicht erkannt!“

Der Duke of Fotheringham unterhielt ein Stadthaus vier Häuser von meinem entfernt. Cavell hatte offenbar Recherchen angestellt. Das Hausmädchen Maud, ein schüchternes Kind von vierzehn Jahren, kehrte mit dem zusätzlichen Geschirr zurück, als Mr. Foxford Robins gerade von seinem Missgeschick berichtete. Sie musste über seine Erklärung lachen und beeilte sich, die Tassen und den Kuchenteller auf den Tisch zu stellen. Es schien ganz so, als wäre Sebastian in seinem Element und würde seine neue Identität genießen. Ich war sicher, er würde zu weiterer darstellerischer Höchstform auflaufen, wenn ich ihn gewähren ließe, also schritt ich ein.

„Das wäre dann alles, meine Damen, vielen Dank“, sagte ich entschieden und brach damit den Zauber, den Cavell nur allzu mühelos gewirkt hatte. Mrs. Twigg und Maud knicksten und verließen den Raum. Als die Tür sich hinter ihnen schloss und ich das Tappen ihrer Schritte im Flur verhallen hörte, wandte ich mich an Cavell.

„Birdie, hm?“ Ich grinste breit und verstieß damit bereits gegen meinen Entschluss, im Umgang mit diesem Mann ungerührt und distanziert zu bleiben. Für gewöhnlich beeinträchtigte sexuelle Anziehung niemals mein Denkvermögen oder führte mich vom rechten Weg ab. Wenn ich auf der Straße oder in meinem Club attraktive Männer sah, gestand ich mir selbst insgeheim mein Verlangen ein, gab ihm jedoch niemals nach. Aber Sebastian Cavell konnte mit seinem Charme die Vögel von den Bäumen holen.

„Ich habe immer ein paar Namen im Ärmel für den Fall, dass ich mal aus dem Stegreif einen brauchen sollte“, erklärte Cavell. Dann schlenderte er zu dem Tisch, wo der Tee und der Kuchen standen. Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm einen der Mince Pies und biss hinein. Seine Augen weiteten sich vor Genuss. Sobald er seinen Mundvoll heruntergeschluckt hatte, rief er aus: „Himmel! Würde die Frau für mich arbeiten, wäre ich mit Sicherheit so dick wie ein Fass!“ Das warme Törtchen war in drei Bissen verschlungen.

„In der Tat“, stimmte ich zu und tätschelte meinen Bauch, denn obwohl ich regelmäßig Leibesübungen machte, war ich nicht mehr der drahtige, flachbäuchige Mann, der ich einst gewesen war.

„Ich habe sie aus der Küche des Hadley-Hauses gerettet.“

„Gerettet?“

„Sie haben dort ohne Unterlass Feste gefeiert, und die arme Frau hatte keine ruhige Minute. Flora ist mehr geeignet, für kleinere Gruppen und einen etwas schlichteren Gaumen zu kochen“, erklärte ich, dann sagte ich beiläufig: „Komm, trinken wir etwas Tee.“

Ich bedeutete Sebastian, gegenüber von mir an dem Mahagonitisch Platz nehmen. Während er sich setzte, musterte ich ihn verstohlen. Die Situation war recht … intim. Ich schenkte den Tee ein und reichte Sebastian seine Tasse über den Tisch. Er fügte Milch und Zucker hinzu. Dann bot ich meinen Gast einen weiteren Mince Pie an. Keiner von uns sprach ein Wort, und das Ticken der Stehuhr und das Knistern des Feuers kamen mir unglaublich laut vor. So etwas wie Elektrizität lag in der Luft, während wir tranken und aßen. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder verstohlen zu Sebastians beinahe feminin geformtem Mund wanderte, während er kaute. Einige butterige Kuchenkrümel klebten an seinen vollen Lippen, und eine innere Stimme beschwor mich, sie abzulecken. Ich bemerkte, dass Sebastian mich ebenfalls beobachtete. Seine Augen schienen jede meiner Bewegungen zu beurteilen.

So viele Jahre lang hatte ich versucht, mich von meinen lüsternen Gedanken an andere Männer zu befreien, und war sogar so weit gegangen, mich ganz und gar meinen Gefühlen zu verweigern und im Zölibat zu leben. Und doch hatten Sebastian Cavells Aufmerksamkeiten in Glasgow diese einsamen Jahre mit einem Mal weggewaschen und meinen Geist für eine Zeitlang wieder befreit. In Gedanken ging ich alles durch, was wir getan hatten, und auch einiges anderes, das ich, wenn ich die Gelegenheit dazu bekäme, Cavell erlauben würde, mit mir zu machen. Aber diese Wunschgedanken verweilten nicht lang. Stattdessen regte sich mein innerer Konflikt. Meine Lüsternheit kämpfte gegen den Widerhall der Kirchenpredigten aus meiner Jugend, die vom Fegefeuer als Strafe für die Sünden des Fleisches sprachen.

Ich musste diesen begehrlichen Gedankengängen ein Ende setzen, denn sie würden meine unsterbliche Seele nur noch mehr beflecken. Und so redete ich mir ein, dass das, was Cavell und ich getan hatten, nichts weiter war als ein einmaliger Ausrutscher. Ich beschloss, beim nächsten Beichtgang meine Sünden zu bekennen, meine Buße dafür anzunehmen und danach wieder von vorn anzufangen und dieses Mal anständig zu bleiben. Ich würde gegen die Versuchungen des Teufels ankämpfen und mein tugendhaftes Leben des Zölibats und der inneren Einkehr wieder aufnehmen.

Ich war tief in Gedanken über den gerechten und tugendhaften Pfad, den ich wählen würde, als Cavell plötzlich sprach und die Stille unterbrach.

„Ist es dir wohl ergangen, Benedict?“ Die präzise Art, wie er meinen Namen aussprach, jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Recht ordentlich“, antwortete ich förmlich. „Und du? Ich nehme an, deine Rückreise nach London verlief ohne Zwischenfälle?“

„Das tat sie.“

Erneut verfielen wir in peinliches Schweigen, und es wurde mir äußerst unangenehm, mit diesem Mann in meinem Arbeitszimmer zu sitzen – einem Mann, dessen Zärtlichkeiten mich in meinen Grundfesten erschüttert hatten. Er war immer noch ein gesuchter Krimineller auf der Flucht vor der Polizei. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass es mir nicht einmal in den Sinn gekommen war, Scotland Yard von seinen Verkleidungen zu erzählen. Ich kam zu dem Schluss, dass es sehr in meinem persönlichen Interesse war, diesen Mann auf meiner Seite und aus dem Gefängnis heraus zu halten. Ich nahm einen Schluck Tee, dann sagte ich in geschäftsmäßigem Ton: „Nun, was kann ich für dich tun, Sebastian, abgesehen davon, dir mein Bad und meine Kleidung zur Verfügung zu stellen?“

„Das wird langsam zur Gewohnheit, oder?“, sagte Sebastian mit einem Lachen, das ansteckend war und meine strenge Haltung erweichte. „Ich benötige bei etwas Unterstützung, und du bist überaus kenntnisreich, also dachte ich, ich wende mich an einen Freund“, erklärte er mit funkelnden Augen.

„Mir war nicht klar, dass wir Freunde sind“, entgegnete ich grob und merkte erst im Nachhinein, wie abweisend und gemein das klang. Verdammt. Ich musste mich zusammenreißen.

„Ich wäre … sehr gern dein Freund, Benedict“, antwortete Cavell leicht gekränkt. In meinem Leben gab es nicht viele Menschen, die ich als Freunde bezeichnen würde. Meine Gewohnheiten und Merkwürdigkeiten hielten die meisten Leute auf Armeslänge von mir fern. Beispielsweise bot ich niemals meine Hand zur Begrüßung an, wie es von einem Mann von guter Herkunft erwartet wurde. Und so eilte mir der Ruf voraus, ein gereizter Zeitgenosse ohne Manieren zu sein.

„Was genau würde das beinhalten?“, fragte ich, als würden wir eine geschäftliche Transaktion verhandeln.

„Was beinhaltet Freundschaft für gewöhnlich?“ Sebastian klang belustigt. „Gespräche, Spaziergänge, zusammen essen, gemeinsame Interessen …“

Oh, ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie diese gemeinsamen Interessen aussehen würden!

„Hättest du Interesse daran, eine … Freundschaft zu beginnen?“, fragte Cavell zögernd.

Ich erwog das Angebot einen Atemzug lang. In der Vergangenheit hatten Freundschaften mir nichts als Kopfschmerzen bereitet, weshalb ich nicht gerade das Gefühl hatte zu wissen, wie man ein guter Freund war. Aber ich war einsam und wusste, seine Freundschaft würde wahrscheinlich meinen Gemütszustand heben. Ich rief mir den Moment zurück, als ich Sebastian auf meiner Türschwelle gesehen hatte. Ich hatte mich gefreut, ihn zu sehen, sehr sogar. Seit unserem Zusammensein in Glasgow hatte ich kaum an etwas anderes gedacht als an ihn. Und vielleicht konnte meine Freundschaft ihn auf einen ehrlicheren Lebensweg führen.

„Also gut“, gab ich nach.

„Und mit der Zeit könnte vielleicht auch mehr daraus werden?“, fügte Cavell hinzu und schaute mich fragend an. Ich war sprachlos. Ein solches Vorpreschen war höchst ungewöhnlich. Der Mann überholte sich selbst.

„M … möglich“, stammelte ich. Seit Euan hatte kein Mann je diese Art von eindringlichem Interesse an mir bekundet. Ich war geschmeichelt. Stille senkte sich zwischen uns. Cavell biss sich auf die Lippe und schaute unbehaglich an die Zimmerdecke, als würde er nach Spinnweben suchen. Vielleicht hatte er zu viel gesagt? Oder zu wenig? Was immer er vielleicht noch sagen wollte, schien ihn eindeutig zappelig zu machen. Schließlich aber setzte Cavell sich gerade auf seinem Stuhl hin und sagte:

„Also gut. Kann ich ganz offen sprechen?“ Ich bedeutete ihm mit einer Geste fortzufahren, auch wenn ich nicht sicher war, dass ich hören wollte, was er zu sagen hatte.

„Ich habe dir alles über meinen Beruf erzählt. Ich arbeite in Verkleidung.“

Ich nickte.

„Es ist schwer für mich, Menschen als … ich selbst zu begegnen …“ Er verstummte, als müsste er seine Worte genau abwägen, bevor er sie aussprach.

„Ich habe festgestellt, dass ich bei dir ich selbst sein kann. Und ich würde dich sehr gern zum Freund haben, Benedict. Verstehst du das?“

Über Gefühle zu reden, war immer qualvoll und peinlich. Ich vermied solche Gespräche stets, so gut ich konnte. Aber als unsere Blicke sich trafen, wurde aus dem Funken eine Flamme, und ich konnte nicht wegsehen. Ja, ich konnte zwischen den Zeilen lesen – und um was er mich bat, war wunderbar – und dennoch … wegen dem, was dieser Mann war, wäre das, worum er mich meiner Überzeugung nach bat, für uns beide leichtsinnig und gefährlich. Von illegal einmal ganz zu schweigen!

„Es kommt eine Zeit, da muss selbst der flatterhafteste Vogel einen Zweig finden, auf dem er sich niederlassen kann. Ich bin müde, Benedict. Ich bin all der oberflächlichen Bekanntschaften müde. Das kannst du dir sicher vorstellen …“

„Ich denke, das kann ich“, stimmte ich zu und hielt mich an meiner Teetasse fest, um die Fassung zu bewahren. Ich erinnerte mich daran, dass Sebastian mir erzählt hatte, wie er einmal in einer finsteren Seitengasse ein schmutziges Stelldichein mit Euan Ardmillan herbeigeführt hatte, nur um besser einschätzen zu können, mit wem er es zu tun hatte! Ich begriff, dass ein so unehrliches Leben Cavell nicht die Art von wahrer Freundschaft bieten konnte, nach der er sich sehnte.

„Ich würde mir gern dein Vertrauen verdienen, und falls du beschließt, dass du mir nicht mehr anbieten kannst, werde ich das hinnehmen und glücklich sein, dich meinen guten Freund nennen zu dürfen“, sagte Cavell. Dann nahm er nervös einen Schluck Tee.

Ich wusste genau, was er mit mehr meinte. Sebastian sah mir geradewegs in die Augen; sein Blick war aufrichtig, und die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme machte mir die Brust eng. Ich musterte ihn mit einer Mischung aus Zuneigung und Beunruhigung. Denn obwohl ich ihn nicht anders kannte als voller Selbstbewusstsein und Zungenfertigkeit, war er jetzt nervös, und über seine Gefühle zu sprechen, schien ihm größtes Unbehagen zu bereiten – als würde er sich vor meiner Zurückweisung regelrecht fürchten. Nicht einmal Euan hatte je so ernsthaft zu mir gesprochen, und ich war unwillkürlich gerührt von Sebastians Respekt. Das Schweigen zwischen uns nahm eine so spröde, zerbrechliche Qualität an, als könnte ein einziges falsches Wort etwas Neues und Wundervolles in Stücke schlagen.

„Ich … ich bin sehr bewegt von deinen aufrichtigen Worten“, stammelte ich. „Aber … ich bin kein junger Mann mehr, Sebastian, und du solltest wissen, dass ich diese … Freundschaft nicht blindlings eingehen werde. Ich genieße deine Gesellschaft durchaus, aber die Wahrheit ist, dass du mir gegenüber im Vorteil bist.“ Sebastian sah verblüfft zu mir auf.

„Du hast mich monatelang beobachtet, verkleidet als Josiah und als John Edwards, und hast dich mit meinen Gewohnheiten vertraut gemacht. Ich hingegen bin dir erst vor acht Tagen zum ersten Mal begegnet.“

„Gott, ist das alles? Es kommt mir vor, als würde ich dich seit einer Ewigkeit kennen!“, gestand Sebastian. Er rieb sich mit einer Hand über den Mund. Seine Pupillen weiteten sich, und ich verspürte ein heftiges Aufflammen von Verlangen. Er sah in diesem Moment so jungenhaft und hinreißend aus, dass ich für eine Sekunde den Faden verlor – und meine Entschlossenheit. Aber ich durfte nicht zulassen, dass meine Gefühle oder seine Anziehungskraft mein Handeln bestimmten. Moral und Wahrheit mussten mein Leitlicht bleiben. Ich holte tief Luft und ordnete meine Gedanken.

„Du bestreitest deinen Lebensunterhalt mit Verbrechen, was ich, wie ich gestehen muss, sehr verstörend finde. Du trittst in Verkleidungen auf, die der Täuschung dienen. Du hast auch mich getäuscht, und doch …“ Ich hielt inne, um tief durchzuatmen.

„Und doch… du hast mir geholfen, Euan aufzuhalten und seine betrügerischen Pläne zu vereiteln. Und du hast mir den den Stab des Asklepios zum Geschenk gemacht.“ Erneut schwieg ich für einen Moment, hin- und hergerissen zwischen meiner Abscheu für das falsche Spiel, das der Mann trieb, und der verstörend magnetischen Anziehung, die er auf mich ausübte.

„Obwohl das, was du vorschlägst, sündig ist, finde ich dich … faszinierend. Ich muss zugeben, dass ich … deinen Wunsch nach mehr teile. Ja, ich würde dich gern näher kennenlernen, aber was die Frage des Vertrauens betrifft, kann ich nicht behaupten, dass ich dir vertraue, denn das wäre gelogen. Was ich jedoch wahrheitsgemäß sagen kann, ist, dass ich versuchen will, dir zu vertrauen, wenn du mir ausreichend Grund gibst, dieses Vertrauen zu rechtfertigen.“

Sebastian fuhr sich abwesend mit Daumen und Zeigefinger über seine vollen Lippen. Er war sehr nachdenklich und schien jedes Wort abzuwägen, das ich gesagt hatte. Ich lehnte mich zurück und nippte an meinem abkühlenden Tee. Dann ergriff Sebastian das Wort.

„Ich bin gerührt, Benedict. Das war eine gütige und wohlbedachte Antwort. Deine Einschätzung meiner Person ist in der Tat sehr treffend. Ich verstehe, dass mein Beruf und die damit einhergehenden Täuschungen dir allen Grund geben, mir nicht zu vertrauen, aber – was meine Verkleidungen betrifft, kann ich zu meiner Verteidigung nur anführen, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, mich dir zu erkennen zu geben. Ich war unsicher, ob ich auf dich als Verbündeten zählen konnte, und als wir uns im Zug begegneten, hatte ich keine Ahnung, ob dir der gesamte Inhalt des Ardmillan-Testaments bekannt war. Erst im weiteren Verlauf der Ereignisse und als wir miteinander sprachen, erkannte ich, dass der Mann, den ich in meiner Verkleidung als Josiah kennengelernt hatte, in der Tat dein wahres Ich war, und dass du dich nicht für Lord Euan Ardmillan und seinesgleichen kompromittieren würdest. In Zukunft jedoch werde ich mich nach Kräften bemühen, ehrlich zu sein, und mein Bestes tun, um dir allen Grund zu geben, mir zu vertrauen.“

„Na gut“, schloss ich. „Also, was kommt als Nächstes?“

Sebastians Augen leuchteten auf, und mit einem schiefen Grinsen antwortete er: „Ist das nicht offensichtlich, mein Freund?“

Männer wie wir suchten unser Vergnügen in gestohlenen Momenten, verbotenem Gefummel in Waschräumen, einem hastigen Hinterhofkoitus oder dem Besuch in einem Männerbordell. Danach machte man mit seinem Leben weiter, als hätte die Begegnung niemals stattgefunden. Ich wollte nicht, dass unsere Verbindung so aussah – schäbig, unzüchtig und gefährlich. Wenn Sebastian mein neuer Freund wurde, dann mussten wir angemessene Arrangements treffen. Wir würden uns regelmäßig treffen und die Vorlieben des jeweils anderen kennenlernen. Das bedeutete allerdings auch, dass ich einem gesuchten Kriminellen Zutritt zu meinem Leben gewähren würde, zu meiner Familie und meinen Geschäftsfreunden.

„Bevor wir weitergehen, musst du mir etwas versprechen.“

Sebastian nickte.

„Du wirst niemals etwas von mir oder meiner Familie stehlen.“

„Gott! Natürlich nicht!“ Sebastian wirkte aufrichtig entrüstet darüber, dass ich auch nur wagte, so etwas zu denken, geschweige denn auszusprechen.

„Also gut.“ Sebastian sah mir fest in die Augen. „Dann sind wir uns einig“, sagte er. Bei den Implikationen hinter diesen Worten fühlte ich mich leichter und jünger, als ich den Jahren nach war.

„So scheint es“, stimmte ich zu. Zum Teufel mit meinem Entschluss, keusch zubleiben. Ich hätte Sebastian am liebsten auf der Stelle geküsst … um unsere Abmachung zu besiegeln … aber es war weder der Ort noch die Zeit dazu. Nicht mit all meinen Bediensteten im Haus.

„Danke. Ich war unglaublich nervös wegen dieses Gesprächs mit dir. Auf meiner Rückreise nach London habe ich im Kopf eine Unmenge möglicher Szenarien durchgespielt“, gab Cavell zu – ein Geständnis, das ich überaus liebenswert fand.

---ENDE DER LESEPROBE---