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Band 1 einer neuen historischen M/M Buchreihe der preisgekrönten Autorin Isobel Starling Montag, 20. Dezember 1897. Benedict Hannan, Eigentümer von Hannans Auktionshaus in Fitzrovia, London, erhält per Brief eine Einladung, der Privatauktion einer Kunst- und Antiquitätensammlung beizuwohnen, die dem verstorbenen Lord Percival Ardmillan gehörte. Benedict kannte Ardmillan, oder besser gesagt: dessen Sohn Euan, und so reist er eilig nach Schottland, um sich endlich einen alten Traum zu erfüllen – ein ganz bestimmtes Stück aus der Sammlung des Lord zu besitzen, von dem er seit dreißig Jahren wie besessen ist. In Schottland trifft Benedict weitere Sammler, die ebenfalls eingeladen wurden, um bei der Versteigerung ihre Gebote abzugeben. Aber schon bald entdeckt er, dass es bei der Privatauktion nicht mit rechten Dingen zugeht. Gezwungen, sich mit seinen vergangenen – und gegenwärtigen – Begierden auseinanderzusetzen, findet Benedict sich als Sklave seiner Leidenschaften wieder, hin- und hergerissen zwischen seinem Ex-Liebhaber und einem mysteriösen Reisenden, der sein Leben für immer verändern wird.
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Inhaltsverzeichnis
Vielen Dank an Betti Gefecht
und Veronika Kothmayer.
Ein tolles Team!
KAPITEL 1
DER BRIEF
MONTAG, 20. DEZEMBER 1897
KAPITEL 2
DIE SAMMLER
DIENSTAG, 21. DEZEMBER 1897
KAPITEL 3
ERINNERUNGEN
KAPITEL 4
DIE BESICHTIGUNG
KAPITEL 5
IN DER DUNKELHEIT
KAPITEL 6
DAS NACHTLICHT
KAPITEL 7
DER MARODEUR
KAPITEL 8
WAHRHEITEN & UNWAHRHEITEN
KAPITEL 9
DIE AUKTION
MITTWOCH, 22. DEZEMBER 1897
KAPITEL 10
EINGESCHNEIT
KAPITEL 11
DER BESUCHER
KAPITEL 12
DAS GESCHENK
EPILOG
MONTAG, 28. DEZEMBER 1897
Der Dieb und der Gentleman
Jagdsaison
Resurrectionist #1
Aus dem Englischen übertragen
von
Betti Gefecht
Isobel Starling
www.decentfellowspress.com
Copyright © 2020-2024 Isobel Starling
Aus dem Englischen von Betti Gefecht
ISBN: 9798652308599
ASIN: B088QHW88G
Deutsche Erstausgabe
Alle Reche vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Autorin nachgedruckt oder anderweitig verwertet werden. Davon ausgenommen sind Rezensionen: Kurze Passagen können in einer Rezension zitiert werden und als Teil davon auch in Zeitungen oder Zeitschriften abgedruckt werden.
Die Figuren und Ereignisse, die in diesem Buch beschrieben werden, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2019
by Isobel Starling
Alle Rechte vorbehalten.
Cover Art Design by Noah Dao
INHALT
KAPITEL 1 Der Brief
KAPITEL 2 Die Sammler
KAPITEL 3 Erinnerungen
KAPITEL 4 Die Besichtigung
KAPITEL 5 In ser Dunkelheit
KAPITEL 6 Das Nachtlicht
KAPITEL7 DerMarodeur
KAPITEL 8 Wahrheiten & Unwahrheiten
KAPITEL 9 Die Auktion
KAPITEL 10 Eingeschneit
KAPITEL 11 Der Besucher
KAPITEL 12 Das Geschenk
Epilog
Ich stieg aus der Kutsche und trat hinaus in den frostigen Londoner Abendnebel. Um die beißende Kälte abzuwehren, schlug ich den Pelzkragen meines Wintermantels hoch.
Aufgrund meines eher reservierten Gemüts, und obgleich ich tagsüber unbesorgt in meinen Büros meinen Geschäften nachging, wagte ich mich für gewöhnlich nach Einbruch der Dunkelheit nur ungern hinaus auf Londons Straßen. Menschenmengen verursachten mir Unbehagen. Ich hasste es, berührt zu werden, und lebhafte Ansammlungen von Menschen machten mich überaus nervös. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen es mich nach Gesellschaft verlangte, besuchte ich meinen Club, wo ich auch übernachten konnte, sollte es erforderlich sein. Aber an diesem Abend hatte ich mich in die schmutzige Stadt gewagt, und mein Ziel war nicht der Club. Es gab etwas, das ich erledigen musste, und es war von so großer Wichtigkeit, dass weder meine irrationalen Ängste noch meine üblichen Bedenken mich davon abhalten durften.
Ein junger, uniformierter Gepäckträger trat aus dem Schatten und nahm seine Kappe ab.
„Hier, Bursche“, bellte ich. „Bring meinen Koffer in den Erste-Klasse-Gepäckwagen des Caledonian Sleeper.“
Er nickte dienstbeflissen und nahm meinen mit Rollen versehenen Reisekoffer vom Kutscher entgegen. Ich warf dem Kutscher ein Sixpencestück zu – viel zu großzügig für ein Trinkgeld, aber es war Weihnachten, die Zeit des Friedens und der Liebe, und ich war in Geberlaune.
Das warnende Schrillen der Zugpfeife ertönte. Ich packte den Griff meiner kleinen Reisetasche, nahm meinen mit einem Silberknauf verzierten Gehstock und eilte in die glücklicherweise leere Euston-Bahnstation. Rasch ging ich zum Fahrkartenschalter, und sobald ich mein Erste-Klasse-Ticket plus Zuschlag für den Schlafwagen erstanden hatte, eilte ich zum Bahnsteig, wo der großartige Zug wartete und fauchend Dampf spie. Er schnaufte und prustete wie ein aufgezäumtes Tier, das es nicht abwarten konnte, seinen Fesseln zu entkommen und zu fliegen. Ich schob mich durch die wallende Wolke aus Rauch und Dampf und fand einen zu dieser späten Stunde verlassenen Bahnsteig vor, ohne den üblichen Trubel von Leuten, die sich von ihren Lieben verabschiedeten.
Der Gepäckjunge zog meinen Rollenkoffer zum Zug und wartete am Gepäckwagen auf Hilfe beim Einladen.
„Der Erste-Klasse-Wagen ist am vorderen Ende des Zuges, Sir“, rief er mit einem Cockney-Akzent, als ich an ihm vorbeilief. Ich hatte es eilig, das richtige Abteil zu finden, mich aufzuwärmen und meine Nerven mit einem Glas warmen Portweins zu beruhigen. Der Wind, der durch den Bahnhof fegte, versprach Schnee, wenngleich die Zeitungen behaupteten, dass uns in den kommenden fünf Tagen bis Heiligabend Schneestürme erspart bleiben würden. Aber mein Reiseziel war Schottland, daher traute ich dieser Vorhersage nicht im Geringsten.
Endlich fand ich den richtigen Waggon. Ich nahm meinen Zylinderhut ab und ging an Bord des luxuriösen Caledonian Sleeper-Zugs, Abfahrt zehn Uhr dreißig von London Euston. Morgen früh um sieben würde ich wohl-ausgeruht am Glasgower Hauptbahnhof ankommen.
Die Erklärung, warum ich eine solch beschwerliche Reise in der kältesten Zeit des Jahres antrat, befand sich in einem Brief, der sich seit erst einer Stunde sorgsam zusammengefaltet in meiner Brusttasche befand. Der Grund für meine Reise war teils geschäftlicher Natur, aber vor allem ging es darum, eine gewisse Besessenheit meinerseits zu befriedigen. Ich war auf dem Weg zur Dunecht Hall auf dem Glenlair-Anwesen in der Nähe von Fort William, um der Auktion persönlicher Besitztümer aus dem Nachlass des verstorbenen Lord Percival Ardmillan beizuwohnen. In dem Brief hieß es, Lord Ardmillans letzter Wille und Testament enthalte eine Klausel, die besagte, dass die kostbarsten Stücke aus seiner privaten Sammlung keinesfalls an seinen Sohn und Erben Euan fallen dürften. Stattdessen sollten sie unter einer ausgewählten Gruppe von Kunst- und Antiquitätensammlern versteigert werden, und zwar genau ein Jahr nach seinem Ableben. Der Rest seiner beweglichen Güter würde schließlich nach Hogmanay, dem schottischen Silvester, öffentlich zum Verkauf stehen, um den wertlosen Tand loszuwerden, ganz nach dem letzten Willen Lord Percivals. Zu diesem Zeitpunkt würde ich längst wieder gemütlich in meinem Londoner Stadthaus sitzen, mit einem Glas Sherry und einem guten Stück Stilton-Käse, und das kostbare Stück bewundern, das ich ersteigert hatte.
Ich sammelte schon Kunst und Antiquitäten, seit ich ein Junge war, eine Leidenschaft, die mein geliebter Onkel Barnard in mir geweckt hatte. Er war ein rechter Abenteurer gewesen und hatte den amerikanischen Doppelkontinent, den Fernen Osten und ganz Europa bereist. Da er selbst kinderlos geblieben war, hatte er mir alle möglichen wundersamen Geschenke von seinen Reisen mitgebracht, und jedes davon erzählte eine eigene Geschichte. Ich besitze eine Golddublone aus dem Jahre 1711, von der er mir erzählte, er hätte sie aus dem Wrack eines versunkenen Piratenschiffes geborgen. Dann ist da noch ein antiker Wikingerring aus gewundenen Silberdrähten, den er in einem Fischbauch gefunden haben wollte. Und nicht zu vergessen ein Set von acht Keramikmurmeln aus dem antiken Griechenland, bedeckt mit den seltsamsten Symbolen. Bereits als zehnjähriger Junge, der bis dahin nur Holzeisenbahnen, Bücher und Brettspiele gekannt hatte, begriff ich, dass die Geschenke meines Onkels unbezahlbare Schätze waren. Er hatte meiner jugendlichen Fantasie und Vorstellungskraft immer neue Nahrung gegeben, und als Folge davon verlor ich mich schon in jungen Jahren in Büchern über alte Zivilisationen.
Später, als ich älter war und die Universität in Edinburgh besuchte, erhielt ich die Nachricht, dass Onkel Barnard von seinem letzten Abenteuer nicht mehr zurückgekehrt war und die Überreste seines Schiffs an der Küste von Cornwall gefunden worden waren, wo es zerschellt war. Und jetzt, in meinem fünfzigsten Jahr ohne Frau und Kind, die mein Geldsäckel ausbluten würden, führe ich Hannans Auktionshaus in Fitzrovia, London. Und in meiner Freizeit erwerbe ich nach Herzenslust Schätze zu meinem Privatvergnügen.
Lord Percival Ardmillan war selbst ein rechter Abenteurer gewesen, ein Mann des Militärs, der in seinem Leben lange Reisen in ferne Länder unternommen hatte. Aber Lord Percy war kein angenehmer Mensch. Er hatte einfach alles an funkelnden Kostbarkeiten gesammelt, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, ob der Eigentümer gewillt war, sie von dem betreffenden Gegenstand zu trennen oder nicht. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass viele von Lord Ardmillans Schätzen durch Blutvergießen den Besitzer wechselten, und ich muss zugeben, dass ich mit einer gewissen Beklommenheit zu seinem schottischen Anwesen reiste. Lord Ardmillan hatte seinen Stand und sein Schwert benutzt, um seine Sammlung aufzubauen. Ich hatte eine Geschichte gehört von einem Sultan, der ermordet worden sein soll, damit Ardmillan in den Besitz des juwelenbesetzten, goldenen Tigerkopfes gelangte, der den Thron des Sultans geschmückt hatte. Ich wusste nicht, ob diese abstoßende Geschichte wahr war, aber ich nahm an, ich würde es bald herausfinden.
Und so hatte sich Lord Ardmillan für den Ruhm der Krone plündernd durch den Mittleren Osten und Indien geschlagen – und für Juwelen, die seinen verdorbenen Lebensstil daheim in England finanzierten. Ich hielt ihn keineswegs für einen gottesfürchtigen Menschen, und wenn ich ehrlich bin, dann war ich sogar froh, von seinem Ableben zu hören, denn ich wusste, es würde eine Zeit kommen, da ich endlich den Gegenstand erwerben konnte, den zu besitzen ich keine Mühen scheute.
Der Gegenstand, den ich begehrte, war spektakulär und einzigartig. Ich hatte ihn einmal gesehen, als ich nicht älter als zwanzig war. Lord Ardmillans Sohn Euan war auf der Universität mein … spezieller Freund, und in unserem Abschlussjahr lud er mich einmal zur Jagdzeit auf das Glenlair-Anwesen ein. Ich muss zugeben, dass ich ein miserabler Schütze bin, aber es gab andere Arten von Schießen, die der anziehende Euan Ardmillan mich lehren wollte. Während jener friedvoll-heiteren Tage mit Euan genoss ich meine ersten verbotenen Lektionen in der Fleischeslust mit einem Mann.
Ich hatte jegliche Gedanken an die schändlichen Dinge, wie wir taten, schon vor langer Zeit aus meinem Bewusstsein verbannt. Zumindest redete ich mir das ein. Ich war jetzt ein gottesfürchtiger, aufrichtiger Mensch. Ich wollte nie wieder daran zurückdenken, wollte keine dieser aufdringlichen Erinnerungen, die wie aus dem Nichts in meinem Geist aufblitzen konnten – Euan, blass und rank und schlank, der sich für mich über den Billardtisch seines Vaters beugt und mich unaussprechliche, pläsierliche Dinge mit seinem jungen, willigen Leib tun lässt. Ich hatte mich danach erbärmlich geschämt, obgleich wir es beide gewollt und genossen hatten. Aber das war ein unanständiger Teil meiner Natur, und ich fürchtete um meine unsterbliche Seele. Also suchte ich Zuflucht in der Heiligen Kommunion und dem Gebet und verweigerte mich fortan jeglicher Fleischeslust.
So mancher in meinen gesellschaftlichen Kreisen fragte sich, warum ich mir keine Frau nahm, andere hielten mich für hartherzig wegen meiner Furcht, andere zu berühren und berührt zu werden. Aber mein einsiedlerisches Dasein gab mir Zeit, zu beten und über das Leben zu sinnieren. Über die Jahre war ich zu dem Schluss gekommen, dass es wegen meines speziellen Gemütszustandes das Beste für mich war, keine emotionalen Bindungen einzugehen. Es war das Beste für mich, menschliche Berührungen zu vermeiden. Nicht, weil ich sie verabscheute, sondern weil das Gefühl von Haut an Haut ein Feuer entfachte, das ich unerträglich fand und mit dem ich in der Öffentlichkeit nicht umgehen konnte. Daher blieb ich für mich und mied Menschenansammlungen. Das einzige Vergnügen, das ich mir erlaubte, war die Jagd nach, sowie das Studium von, Kunst und Antiquitäten.
Ich betrat den Salon der Gott sei Dank gut beheizten ersten Klasse, wo bereits sechs andere Reisende in ledernen Lehnsesseln saßen und lasen, Karten oder Domino spielten und sich einen wohlverdienten Nachttrunk gönnten, um die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben. Am Eingang stand ein Zugbegleiter. Er trug Dienstuniform, bestehend aus einem schwarzen Anzug, weißen Hemd und schwarzer Krawatte. Der Mann war etwa Anfang dreißig, mit tiefliegenden, dunklen Augen und einem militärisch kurzen Haarschnitt, der von Pomade glänzte. Er verbeugte sich anmutig.
„Guten Abend, Sir. Mein Name ist Mr. Cummings. Wie darf ich Ihnen zu Diensten sein?“ Er hatte einen leichten, sanften Edinburgher Akzent, der mich an meine Studienzeit in der Stadt erinnerte.
„Mr. Benedict Hannan. Ich habe ein Erste-Klasse-Abteil reserviert“, antwortete ich, holte mein Ticket aus meiner Tasche und reichte es dem Mann. Er nahm den Fahrschein, lochte ihn mit einer kleinen Metallzange und gab ihn mir zurück. Dann fuhr er fort, mir zu assistieren, indem er mir aus meinem Wintermantel half. Mein eigener Kammerdiener wusste genau, wie er meine Kleidung entfernen konnte, ohne mich auch nur mit einer Fingerspitze zu berühren. Es war mir äußerst unangenehm, mir von einem Fremden den Mantel abnehmen zu lassen, aber ich biss die Zähne zusammen und ließ es über mich ergehen.
Cummings legte meinen Mantel über seinen Arm, nahm meinen Zylinder und meinen Gehstock in die eine, meine Reisetasche in die andere Hand und sagte: „Bitte erlauben Sie mir, Ihnen Ihr Abteil zu zeigen, Sir.“
Dann drehte er sich um, und ich folgte ihm durch den Salon, wo es stark nach Whisky und Tabak roch. Das raue Gelächter der zockenden Männer hallte durch den Gang. Auch das Interieur des Zuges erinnerte mich an einen Herrenclub – die weichen Teppiche, das Mobiliar und die holzvertäfelten Wände, akzentuiert durch Licht aus Lampenschirmen aus geschliffenem Kristall.
„Die Bar hat bis Mitternacht geöffnet. Falls Sie ein Abendessen zu sich zu nehmen wünschen, lassen Sie es mich bitte wissen. Frühstück wird ab sechs Uhr morgens serviert. Benötigen Sie einen Weckdienst?“, fragte der Zugbegleiter. Er führte mich durch den engen Gang zur Kabine Nummer sechs. Cummings öffnete die messingverzierte Holztür, und ich folgte ihm in das kleine Abteil. In diesem Augenblick hörte ich die dröhnende Stimme des Bahnhofsvorstehers vor dem Fenster rufen: „Alles einsteigen!“ Und dann ertönte sein schrilles Pfeifsignal, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Kreischen der Zugpfeife. Der Zug ruckelte vorwärts, und zu meinem Entsetzen taumelte ich nach vorn und fiel gegen Cummings Rücken. Der Mann hatte beide Hände voll, und aus Reflex ergriff ich seine Schultern, um uns beide vor einem Sturz zu bewahren. Plötzlich war ich dem durchaus ansehnlichen Mann sehr nahe, und sofort stieg mir Hitze in die Wangen, und meine Hände schienen zu brennen. Ich hatte ein ganzes Jahr lang ausgehalten, ohne eine lebende Seele zu berühren, und als ich nun die so verlässliche Festigkeit von Cummings Rücken spürte, gegen den ich gepresst war, und meine Finger starke, kantige Schultern packten, durchfuhr mich ein Gefühl scharfer, intimer Erregung, sofort gefolgt von einer Dosis brennender Scham. Ich ließ den Mann los und trat hastig einen Schritt zurück.
„Wie es scheint, sind wir unterwegs, Sir.“ Cummings drehte sich um, und in seinen braunen Augen funkelte ein Lächeln, als sich unsere Blicke begegneten. Dann, als käme er plötzlich wieder zu Sinnen, wurde seine Miene verschlossen, und er fuhr mit der Erledigung seiner Pflichten fort. Cummings richtete sich auf und legte meine Besitztümer auf der Liege ab. Er klappte meinen Zylinderhut zusammen, sodass er nicht so unhandlich war, dann verstaute er den Hut, den Stock und meine Reisetasche auf dem Bord über der Liege. Schließlich hängte er meinen Mantel auf einen Bügel und hakte ihn an der Innenseite der Tür fest.
Der Zug rumpelte und bebte, als wir in die kalte Nacht hinausfuhren. Es ging nach Norden über Crewe, Carlisle und schließlich nach Glasgow.
„Äh … ich danke Ihnen für die Hilfe, guter Mann“, sagte ich verlegen und fummelte geschwind einen Sixpence aus meiner Tasche, den ich ihm als Trinkgeld anbot. „Ich werde keinen Weckruf benötigen. Aber ich hätte gern ein Glas warmen Portwein und was immer es zum Abendessen gibt, wenn Sie so freundlich wären.“
Ich ließ die Münze in Cummings geöffnete Hand fallen, und er steckte sie in die Tasche seiner Weste und nickte. Dabei sah er mir länger in die Augen als streng genommen notwendig, so als würde er an mir Maß nehmen, und ich hatte den Eindruck, dass er noch eine weitere Frage von mir erwartete. Schäkerte Cummings mit mir, oder spielte mir meine abgründige Fantasie einen Streich? Ich kannte den Mann gerade erst eine Minute. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich wollte nicht länger mit dem jüngeren Mann in der Enge dieses kleinen Abteils sein.
„Ich … ich werde mein Getränk im Salon zu mir nehmen“, sagte ich ein wenig zu brüsk. Cummings nickte.
„Sehr wohl, Sir. Sollten Sie während ihres Aufenthalts an Bord irgendeinen Wunsch haben, läuten Sie einfach“, sagte er und deutete auf einen Klingelknopf aus Messing an der Wand. Dann ließ Cummings mich allein und schloss lapidar die Tür hinter sich.
Ich zog meine Lederhandschuhe aus und sank auf das schmale Klappbett, überwältigt von Scham und Furcht. Ich hätte nicht nach ihm greifen, hätte ihn nicht berühren dürfen. Aber hätte ich das nicht getan, wäre ich mit meinem ganzen Körper auf ihm gelandet, was gewiss weitaus schlimmer gewesen wäre. War es nur mein verdrehter Verstand, oder hatte der Zugbegleiter mir tatsächlich auch andere Dienste anbieten wollen? In meinem Club hatte ich Geschichten von Männern gehört, die auf ihren Zugreisen aufregende Schäferstündchen erlebt haben wollten. Ich hatte das zunächst stets für bloße Angeberei gehalten. Aber dann erfuhr ich, dass die Existenz von Prostitution in Zügen ein offenes Geheimnis war, überwiegend jenen bekannt, die solche Dienste suchten oder einen Freund hatten, mit dem sie solch intime Informationen auszutauschen pflegten. Ich war erschüttert darüber, dass Cummings mich nach nur einem Blick für die Art Mann gehalten haben mochte, der solch verbotene Abenteuer mit Fremden im Zug suchte. Was mich jedoch am meisten ärgerte: würde ich meiner dunkleren Seite nachgeben, hätte er mit dieser Annahme sogar recht. Ich war abartig. Schmutzig, gottlos und abartig. Ich hatte versucht, dieser Seite von mir nicht nachzugeben. Es war so lange her, dass ich mir erlaubt hatte, intimen Kontakt mit einem Mann zu haben, dass mein Glied innerhalb von Sekunden halb hart geworden war, als ich an Cummings Rücken gepresst war. Ich fragte mich, ob er das bemerkt hatte. Gott, ich war erbärmlich. Ich muss diese Bedürfnisse unterdrücken! Ich wollte derart erotische Gedanken gar nicht haben. Es gelang mir stets nur für eine gewisse Weile, diesem Drang zu widerstehen, bevor mein Körper mich betrog – und dann musste ich Hand an mich selbst legen und fühlte mich hinterher jedes Mal vollkommen elend.
Ich ließ mich rückwärts aufs Bett sinken. Mein Kragen fühlte sich an meiner Kehle viel zu eng an. Ich hakte ihn auf und öffnete auch den oberen Knopf meines Hemdes. Dann steckte ich meine zitternden Finger hinein und zog das warme, silberne Kreuz heraus, das ich um den Hals trug. Ich hielt es in der Hand, um Trost zu finden. Ich flehte den Herrn um Vergebung für meine sündigen Gedanken an, und nach mehreren Minuten, die ich im Gebet verbrachte, erlangte ich meine Contenance zurück und fasste mich.