5,99 €
Teil 1 der zweiteiligen Saga Der erste Zauber enthüllt sich durch Angst. Der zweite Zauber enthüllt sich durch Wissen. Der dritte Zauber enthüllt sich in Demut. Jeder Magier besitzt exakt drei Talente. Nicht mehr und nicht weniger. Manchmal sind sie gewaltig, manchmal nutzlos, darauf hat niemand Einfluss. Raviyen hat bereits zwei seiner Zauber entdeckt. Um den dritten zu initiieren, muss er sich für ein Jahr in Leibeigenschaft begeben und eine Reise ins Ungewisse antreten. Dabei begegnet er Luas, einem faszinierenden Krieger – der ihn vom ersten Moment an ausschließlich mit Verachtung und Respektlosigkeit überschüttet. Und ein Feind erwartet ihn, der über eine unheilvolle Macht gebietet: Die Magie des Vergessens. Ca. 100.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 500 Seiten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Der erste Zauber enthüllt sich durch Angst.
Der zweite Zauber enthüllt sich durch Wissen.
Der dritte Zauber enthüllt sich in Demut.
Jeder Magier besitzt exakt drei Talente. Nicht mehr und nicht weniger. Manchmal sind sie gewaltig, manchmal nutzlos, darauf hat niemand Einfluss.
Raviyen hat bereits zwei seiner Zauber entdeckt. Um den dritten zu initiieren, muss er sich für ein Jahr in Leibeigenschaft begeben und eine Reise ins Ungewisse antreten. Dabei begegnet er Luas, einem faszinierenden Krieger – der ihn vom ersten Moment an ausschließlich mit Verachtung und Respektlosigkeit überschüttet. Und ein Feind erwartet ihn, der über eine unheilvolle Macht gebietet: Die Magie des Vergessens.
Ca. 100.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 500 Seiten.
Teil 1
von
Sandra Gernt
Ankunft in Avinnar
ei allen Himmelsmächten!“
Raviyen tastete nach seinem Rabenanhänger. Sofort spürte er, wie sein vertrautes Geburtszeichen ihm Ruhe schenkte.
Er hatte in hunderten Schriftrollen über Avinnar gelesen, mit dutzenden Augenzeugen gesprochen, die die Stadt der tausend Türme aufgesucht hatten. Dennoch fühlte er sich bereits vom Anblick der gewaltigen Tore überwältigt, die ihm Einlass in die Stadt gewähren sollten – die Türme hatte er selbstverständlich in mehreren Meilen Entfernung erblickt. Für ihn, der noch nie eine Großstadt betreten hatte, wirkten sie wie etwas, das unmöglich von Menschenhand erbaut worden sein konnte.
Allein die Tore waren höher als die Lú-Bäume in Raviyens Heimat. Bäume, deren Kronen bis in den Himmel ragten. Acht ausgewachsene Männer waren nicht in der Lage, den Stamm eines Lús zu umfassen.
Derartig umfangreich waren die Tore von Avinnar nicht. Doch in sieben Belagerungen der letzten dreihundert Jahre war es nicht gelungen, diese rund zwei Schritt mächtigen Balken zu durchbrechen, die fünfzehn Schritt hohen Mauern zu überwinden oder die Bewohner der Stadt auszuhungern, bevor das königliche Heer zur Befreiung herangeeilt war. Entlang der Mauer waren in regelmäßigen Abständen die sogenannten Späherkuppeln zu finden. Überdachte und geschützte Konstruktionen, in denen bewaffnete Wächter ausharrten und aus luftiger Höhe sowohl nach Feinden Ausschau hielten als auch die Ströme der Händler und Reisenden im Auge hatten. Gab es Probleme, die von den Torwächtern nicht bewältigt werden konnten, griffen sie sofort und ohne lange zu zögern ein.
Raviyen konnte die Spuren der Belagerungen an der Mauer erkennen, obwohl die letzte lange vor seiner Geburt stattgefunden hatte. Die lag einundzwanzig Jahre zurück. Tiefe Scharten im Holz, Brandspuren, Risse und Einkerbungen im moosbewachsenen Gestein sprachen deutlich von der Gewalt der gescheiterten Eroberer. Es verursachte ihm Gänsehaut, über diese Dinge nachzudenken. Zehntausende Männer hatten ihr Leben vor den Toren Avinnars verloren … Kein Fingerbreit Erde, der nicht von ihrem Blut getränkt war. Es tat nicht gut, sich an solche Dinge zu erinnern.
Entschlossen steckte er den daumenlangen, fein aus Silber geschmiedeten Rabenanhänger zurück unter seinen dunklen Wollumhang, rückte sein Tragebündel zurecht, in dem sich seine wenige Habe befand, und trat vor die beiden Wächter, die ihn gelangweilt musterten.
„Mögen die Himmelsmächte Euch leuchten“, sagte er ehrerbietig. „Mein Name ist Raviyen von Kukris, ich bin Magieradept der zweiten Stufe“, fügte er mit möglichst fester Stimme hinzu, bemüht, kein Zittern, keine Schwäche zu offenbaren. Es waren nicht die Wächter, vor denen er sich fürchtete. „Mein Ziel ist der Magiermarkt. Ich bitte daher höflich darum, in die Stadt eingelassen zu werden.“
Die beiden in schwere Lederpanzer gehüllten und mit diversen Zweihandwaffen gerüsteten Männer starrten nach wie vor gelangweilt auf ihn herab. Sie stammten sicherlich aus Varhalanden, ein kleines Fürstentum im Norden des Königreiches. Man munkelte, dass sich das Blut von Riesen in den Adern der Bevölkerung finden ließ, denn außergewöhnlich viele Männer und Frauen besaßen Körpermaße von zwei Schritt Länge und mehr, dazu Schulterbreiten, hinter denen sich ein junger Stier verstecken könnte. Raviyen galt nicht als der Zarteste in seinem Magierkreis in Kukris, aber gegen diese Kerle fühlte er sich wie ein kleiner Junge.
Einer der beiden hatte Brandnarben, die sein halbes Gesicht entstellten und trotz des Lederhelms deutlich sichtbar waren. Dem anderen fehlten Zeige- und Mittelfinger der linken Hand. Die Narben waren rot und wulstig aufgeworfen. Ein grässlicher Anblick, von dem Raviyen schleunigst die Augen abwandte.
Narbengesicht schnaubte und winkte seinem Gefährten zu.
„Erledige du das Frischfleisch“, grunzte er verächtlich. Die Art, wie er die Gemeinschaftssprache des Reiches aussprach, klang unvertraut hart.
„Warum ich?“, entgegnete Achtfinger ungehalten. „Ich hatte heute Morgen bereits zwei von der Sorte, die sind lästig.“
„Warum du? Weil deine Schrift so viel schöner ist als meine, Prinzessin. Nun mach schon, ich will diese dämliche Kinderfresse nicht länger sehen.“
Offenbar besaß Narbengesicht nicht bloß eine Menge Verachtung für Magieradepten, sondern auch den höheren Rang, denn der andere Torwächter gab augenrollend nach und winkte Raviyen, ihm zu folgen. Eine schwere Kampfaxt mit lederumwundenen Handgriff, die in Achtfingers Gürtel steckte, klapperte gegen die dunkle, lederne Beinrüstung, als er durch das Tor schritt. Dahinter öffnete sich eine gepflasterte Straße, breit genug für zwei Ochsenfuhrwerke nebeneinander, die einen grasbewachsenen Hügel emporführte. Avinnar war auf drei Hügeln erbaut worden, die durch Brücken miteinander verbunden waren. Raviyen wusste aus Erzählungen, dass jenseits der großen Außenmauer nichts weiter als diese steile Straße zu finden war, die zum Gipfel des rund dreihundert Schritt hohen Hügels verlief. Dort gab es einen zweiten Mauerring mit einem ebenso gewaltigen Tor wie das erste, und erst dahinter begann die legendäre Stadt der tausend Türme.
Der Wächter brachte Raviyen zu einer kleinen steinernen Behausung, der Wachstube. In solchen Gebäuden wurde tagsüber der Zutritt in die Stadt reguliert – nicht jedem, der Eintritt begehrte, wurde dies auch gestattet. Nachts schliefen hier sicherlich jene Wächter, die als Ablösung im Dienst waren.
Jeder Besucher von Avinnar musste sich zunächst einmal eintragen. Es war streng geregelt, wer und wie viele Menschen sich dort aufhalten durften. Raviyen war froh, dass er erst kurz vor der Abenddämmerung und damit der Schließung der Tore sein Ziel erreicht hatte – andernfalls hätte er Stunden in einer Wartereihe zubringen müssen. Er war vor dem Andrang gewarnt worden, der morgens herrschen musste, wenn die Bauern der Umgebung und Händlerkarawanen in die Stadt einziehen wollten. Vermutlich standen dann Helfer bereit, die die notwendige schriftliche Registrierung vornahmen, sonst würde der Ablauf wohl kaum funktionieren.
Achtfinger setzte sich an einen wackligen Tisch, ergriff ein sichtbar minderwertiges Stück Pergament und eine Schreibfeder und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Raviyen von Kukris“, wiederholte er und buchstabierte seinen Namen.
„Ein Rabengeborener, ja?“, knurrte der Wächter.
Raviyen zückte seinen Geburtsanhänger. Solche Abzeichen waren zwar keine Garantie, dass man den echten Namen angab, doch es erhöhte die Wahrscheinlichkeit. Außerdem gab er damit kund, in welchem Jahr er geboren wurde.
Ein jedes Neugeborenes erhielt einen solchen Anhänger, passend zu dem jeweiligen Himmelsjahr, und der Name musste mit den ersten beiden Buchstaben der heiligen Himmelsmacht beginnen.
„In welchem Fleck in der Landschaft wurdest du geboren?“ Achtfinger wirkte nun erst recht ungehalten. Das lag zweifellos daran, dass die wenigsten Magier wussten, wo sie das Licht der Welt erblicken durften, da sie oft bereits unmittelbar nach der Geburt ausgesetzt wurden. Auf Raviyen traf dies allerdings nicht zu – egal wie sehr er sich das als Kind gewünscht hatte.
„Mein Geburtsdorf ist Fichtenhain in der Provinz Kukris. Ich wurde erst später vom hiesigen Magierzirkel aufgenommen.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen trug der Wächter diese Angabe auf dem Pergament ein und schrieb dann Buchstabe für Buchstabe alles auf den Listen ab. Es wirkte recht angestrengt, sicherlich hatte er erst als junger Erwachsener schreiben lernen müssen. Erst seit knapp drei Jahrzehnten galt die allgemeine Pflicht, dass jeder Mensch im Königreich zumindest rudimentär Lesen, Schreiben und Zählen zu erlernen hatte, egal ob es Mann oder Frau, Adliger, Bauer, Magier, Geistlicher oder ein Sklave war. Wobei man weiterhin streng darauf achtete, dass die Standesunterschiede nicht verwischten und die höhere Bildung für das arme Volk unerreichbar blieb. Das stellte keine Schwierigkeit dar, denn die Bauern und Handwerker gaben ihre Kinder nur mit größtem Widerwillen für die drei Pflichtjahre in die Dorfschulen – ihnen fehlten empfindlich die Arbeitskraft der Kleinen. Die recht neue Erfindung, Bücher mithilfe von Bleigussplatten zu drucken, machte den Erwerb solcher kostbaren Schätze des Wissens günstig. Sie waren viel länger haltbar und robuster als Pergamentrollen und verbreiteten sich allmählich in der Bevölkerung.
Achtfinger schien den Umstand zu verfluchen, dass man an ihn als königlichen Soldaten gehobene Ansprüche stellte. Für König Scarkyn war es der sicherste Weg, sein gewaltiges Reich zu verwalten, denn so war er nicht mehr länger von Schreibern abhängig, von denen es nie genug gegeben hatte und die in den alten Zeiten allzu oft korrupt gewesen waren.
„Nun gut“, sagte der Wächter und reichte ihm das Pergament. „Das ist dein Passierschein. Bewahre ihn nicht bei deinem Geld auf, du darfst ihn nicht verlieren. Gerade ihr jungen Magier glaubt zu gerne, dass ihr unbesiegbar und unangreifbar seid und kein Beutelschneider euch je zu nah kommen könnte. Solltest du den Schein verlieren, warum auch immer, musst du zum Kontrollposten im inneren Stadtring gehen, direkt am Tor. Dort erhältst du gegen eine empfindliche Strafgebühr ein neues Dokument. Ohne Schein darfst du die Stadt nicht wieder verlassen.“ Auf dem Pergament war neben seinem Geburtsjahr auch einige wichtige Merkmale wie Haar- und Augenfarbe vermerkt. Es folgten strenge Mahnungen, was Raviyen in der Stadt zu tun und zu lassen hatte – vornehmlich die Straßen nicht verschmutzen und Magie nur im Notfall anwenden –, in welchen Stadtbezirken er nach Einbruch der Dunkelheit nichts mehr verloren hatte, welche Strafen auf Diebstahl, Trunkenheit, Sachbeschädigung und schlimmere Vergehen standen, und wo er sich für die Nacht einmieten konnte, um am Folgetag bequem den Magiermarkt erreichen zu können.
Dann durfte er endlich gehen. Man hatte ihn vorgewarnt, dass der Umgang mit Magiern seitens der Stadtwächter besonders streng ausfiel. Das hatte seine Gründe … Die Raviyen im Moment nicht sonderlich kümmerten. Zu erleichtert war er, nach der anstrengenden, beinahe zweiwöchigen Reise endlich das Ziel erreicht zu haben. Avinnar! Die Stadt der tausend Türme. Der Hauptknotenpunkt des Handels und damit das schlagende Herz von La’yr, dem Königreich zwischen Himmel und Erde.
Avinnar.
Raviyen hoffte, dass die Stadt ihn gnädig empfing.
Eine fast schlaflose Nacht lag hinter ihm.
Raviyen war von seinem Magierzirkel mit Geldmitteln ausgestattet worden, damit er die Reise nach Avinnar schnellstmöglich überstehen konnte, ohne hungern oder gar betteln zu müssen. Nun war davon bei seiner Ankunft leider gerade genug übrig gewesen, dass er sich eine Schale dünne Gemüsesuppe und einen Platz im Gemeinschaftsschlafraum hatte leisten können. Umgeben von zwanzig Männern und Frauen, die schnarchten, furzten, sich durch die raschelnden Binsen rollten, unterdrückt fluchten, wenn sie von Ungeziefer gebissen wurden und allerlei andere Geräusche und Gerüche verbreitet hatten … Dazu die Aufregung, weil Raviyen nicht wusste, was ihn heute auf dem Markt erwarten würde. Seine Hoffnung, dass sich ein weiterer Magieradept in der Taverne aufhalten würde – immerhin hatten die Torwächter gesagt, dass bereits zwei weitere vor ihm angekommen waren – hatte sich nicht erfüllt. Es wäre gut gewesen, einen Leidensgenossen zu haben. Jemand, der ihn und seine Ängste, Gedanken, Wünsche für die Zukunft teilte. Doch die anderen Reisenden waren allesamt Händler mit ihren Söldnern. Angeheuerte Kämpfer, die dafür Sorge zu tragen hatten, dass Wegelagerern die Lust verging, den Händlerzug in der Wildnis anzugreifen.
Raviyen war froh, als die erste Helligkeit durch den schweren Fensterladen sickerte und er wusste, das es Zeit für den Aufbruch war. Wie wundervoll, diesem miefigen Schlafsaal entkommen zu dürfen! Die feuchte Wärme darin, die Geruchswelten, die knapp zwei Dutzend mehr oder weniger ungewaschene Körper produzieren konnten, intensiv genug, um fast ein Eigenleben zu entwickeln … Er fühlte sich, als müsse er sich die gesamte Haut herunterkratzen und seine Kleidung verbrennen.
Zum Glück bestand die Waschgelegenheit der Taverne nicht wie sonst oft üblich aus einem Pferdetrog, in dem sich sämtliche Gäste der Taverne den Inhalt von drei kleinen Wassereimern teilen mussten, sondern aus einem schmalen Bach, der auf dem Grundstück entsprang und über den abschüssigen, grasbewachsenen Innenhof floss. Da er vollkommen allein hier draußen war, die Fensterläden noch geschlossen waren und das Bedürfnis nach Reinigung einen übermächtigen Drang darstellte, zog sich Raviyen bis auf das Leibtuch aus, stieg in das eisige Nass, das ihm mit starker Strömung die Knöchel umspülte, und kniete sich auf den harten Kieseln nieder. Eine Wohltat! Das kristallklare Wasser wusch den Schweiß und Dreck der Nacht ab, zusammen mit jeglicher Schläfrigkeit, die sich noch in den Muskeln zu halten versuchte.
Zur Feier des Tages, der sein Leben verändern würde, schabte er besonders gründlich mit dem Rasiermesser über seine Wangen. Etwas, das er auf der Reise vernachlässigt hatte, wofür er sich durchaus schämte. Magiern war erst nach der Initiierung des letzten Zaubers gestattet, sich einen Bart wachsen zu lassen. Je länger der Bart, desto respektabler und älter der Zauberer. Dazu benutzte er eine extrareichliche Portion Seifenkraut, um sein blauschwarzes Haar auszuspülen. Er trug es rückenlang, für gewöhnlich in einem Zopf gebändigt.
Seine Eltern und Geschwister waren weißblond gewesen. Eines der wenigen Dinge, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Oder eher gesagt, an die er sich ohne zu starken Schmerz erinnerte. Sie hatten ihn gefürchtet, für das, was er war. Ihn für sein blauschwarz schimmerndes Haar und die nachtschwarzen Augen gehasst und verspottet. Es war nicht zwingend, dass ein Magier im Aussehen seinem Himmelsmächtigen ähnelte, ungewöhnlich war es allerdings auch nicht.
Raviyen verließ den Bach, der noch vor der Tavernenmauer in der Tiefe der Erde verschwand. Eine Weile blieb er im Wind stehen, um zu trocknen – es war die letzte Woche des Weidenmondes und damit der Übergang zwischen Winter und Frühling. Noch etwa zwei weitere Wochen, dann würde es die ersten Knospen mit frischem Grün an den Bäumen geben. Dementsprechend scharf und kalt war der Wind, doch Raviyen war abgehärtet. Ein Magier war verpflichtet, seinen Körper niemals zu vernachlässigen, genauso wie seinen Geist. Anders wäre es unmöglich, die Kontrolle über die Mächte zu bewahren, die im Inneren eines Magiers brodelten …
„Hübscher Arsch.“
Eine tiefe Stimme riss ihn aus seiner Selbstversunkenheit. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er weder daheim in der Sicherheit seines Magierzirkels war noch einsam in der Wildnis stand, wo ihm bestenfalls Rehe auf den entblößten Leib starren könnten.
Raviyen kannte wenig Grund für Scham, wenn es um Nacktheit ging. Schließlich war ein jeder Mensch nackt unter all den Lagen aus Stoff und Leder, Waffen, Schmuck, Insignien der Macht und was immer sonst geeignet schien, um sich von anderen abzugrenzen, hervorzuheben oder im Gegenteil Gleichartigkeit auszudrücken. Die meisten Leute waren zu mehr Hemmung erzogen worden und rümpften die Nase über jedes Fleckchen ungewohnte Haut.
Bedächtig wandte Raviyen den Kopf. Derjenige, der ihn angesprochen hatte, war einer der Händler, mit denen er den Schlafsaal hatte teilen müssen. Ein feister Bursche mit rotem Backenbart und einem Gesicht, das von Fröhlichkeit und einem Hang zum Übermaß bei Met und fetten Speisen sprach. Er beachtete Raviyen nicht weiter, sondern wusch sich prustend, wobei er sich auf Hände und Wangen beschränkte, obwohl man selbst aus der Ferne sah, wie viele andere Stellen Aufmerksamkeit nötig hatten. Reinigung bedeutete für viele Menschen, einmal in der Woche in den Badezuber zu steigen und die Kleidung zu wechseln. Für nicht wenige war selbst das unerreichbarer Reichtum. Als Magier durfte sich Raviyen in dieser Hinsicht privilegiert fühlen.
Innerlich seufzend zog er seine beste Kleidung an, die er für den heutigen Tag aufgespart hatte. Ein kräftiges grünes Leinenhemd und eine dunkle Tuchhose. Darüber kam sein Umgang, den er noch gestern Abend ausgebürstet hatte, zusammen mit den schweren Lederstiefeln. So gerüstet konnte er in den Tag starten. Hinaus in die große Stadt. Hoffentlich würde sein zukünftiger Herr verstehen, dass Raviyen hinsichtlich der Reinlichkeit andere Bedürfnisse als der normale Mensch besaß …
Der Magiermarkt
estern Abend war Raviyen ausschließlich darauf fokussiert gewesen, die Taverne zu finden, die der Torwächter ihm empfohlen hatte. Darum war keine Zeit geblieben, die Wunder der Stadt zu bestaunen. Nun glitt sein Blick über die schlanken weißen Türme, die sich wie ein winterlicher Nadelwald dem Himmel entgegenreckten. Darin befanden sich die Vorratslager und Werkstätten der reichen Handels- und Tuchmacherfamilien, die Avinnar groß gemacht hatten.
Raviyen wusste aus seinen Büchern und Schriftrollen, das stets auf mehreren Ebenen der Türme Webstühle standen, ein jeder vor einem der bodentiefen Fenster mit dicken Butzenglasscheiben, die die Weber vor Wind und Wetter schützten und ihnen zugleich ermöglichte, das Tageslicht zu nutzen. Hauchfeine Stoffe und Tücher stellten sie dort her, die es in dieser Qualität an keinem anderen Ort gab. Berühmt waren die Hebebalken mit Ketten, die über Eisenräder liefen. Mit ihrer Hilfe konnten selbst die schwersten Tuchballen von einem einzelnen Mann gezogen werden, vom Kellerlager bis ins oberste Turmzimmer.
Auch Teppichknüpfer, Elfenbeinschnitzer und andere Handwerker nutzten die Fenstertürme, um so viel Licht wie möglich in ihre Werkstätten zu bringen.
Neben den Türmen gab es selbstverständlich zahllose Wohnhäuser, die dicht an dicht gedrängt standen wie frierende Kinder. Hohe, schmale Gemäuer reckten sich dabei stolz zwischen ihren niedrigeren Nachbarn hervor. Zumeist waren sie reich verziert und schön anzuschauen mit den schwarzen Holzbalken, die sich von weiß getünchten Mauern abhoben, den geschwungenen Giebeln und den oft kunstvoll bemalten Butzenfenstern. In ihnen wohnten die besser gestellten Handwerker- und Händlerfamilien, sowie Heiler und Botschafter.
Raviyen müsste die großen Brücken überqueren, um auf die beiden höhergelegenen Hügel zu gelangen und dort die Viertel der Geistlichen und die Tempelanlagen beziehungsweise der Adligen erkunden zu können. Er wusste von den zahlreichen Wundern der Baukunst. Nur zu gerne würde er die Tempel der Himmelmächte aufsuchen, die in Avinnar besonders prächtig gestaltet sein sollten, und am Schrein des Raben beten. Was würde er dafür geben, den weithin gerühmten Baumgarten besichtigen zu dürfen! Vorzugsweise allerdings in der Frühlingsblüte. Vielleicht war es also ein Plan für das kommende Jahr …
Falls er es erleben sollte.
Der Baumgarten war ein gewaltiger Park, in dem die Erdmächte in Gruppen angepflanzt waren. Das waren jene heiligen Bäume, denen jeweils ein Mondumlauf im Jahr geweiht wurde. Dementsprechend gehörten zu jeder Gruppe achtundzwanzig Bäume, die man zudem passend zum Sternbild der korrespondierenden Himmelsmacht positioniert hatte. Zum Zeichen des Raben gehörte die Weide. Es sollte Glück bringen, wenn man an dem Tag, an dem man geboren war, jenen Baum berührte, der dafür gesetzt war.
Man konnte im Park beten und Knotenbänder am Baum anbringen, um einen innigen Wunsch an die Erd- und Himmelsmacht zu senden. Bloß zerstören durfte man nichts – wer Blätter oder Äste abriss oder gar die Rinde eines heiligen Baumes zerstörte, musste mit schwerer Strafe rechnen. Leider lag Raviyens Geburtstag bereits über eine Woche zurück, als er bereits auf dem Weg nach Avinnar gewesen war. Zwar hatte er eine wunderschöne Trauerweide entdeckt und beinahe eine Stunde lang zwischen ihren Wurzeln gekniet, um den Raben um Kraft und Mut anzuflehen, doch der Baumpark von Avinnar wäre sicherlich noch schöner gewesen. Dort gab es sogar Blutulmen, die sonst kaum zu finden waren. Diese seltene Art von Ulmen mit dunkelroten Blättern waren dem Drachen zugeordnet, der dreizehnten Himmelsmacht. Die Blutulme beendete den Jahreszyklus, in ihre Mondphase fiel die Wintersonnenwende. Der Drache wiederum beendete den Himmelszyklus. Menschen, die im Jahr des Drachen geboren wurden, galten als besonders willensstark und eigensinnig – was keine negativen Eigenschaften sein mussten, aber sein konnten. Rabengeborenen sagte man Wissbegier und Familiensinn nach. Und ja: Raviyen platzte regelrecht vor Wissbegier nach Avinnars Wundern. Er wollte sich unter die zahllosen Menschen mischen, die mittlerweile die gepflasterten Straßen bevölkerten, den Fegern bei der Arbeit zuschauen, die selbige Straßen von Dreck, Tierkot und anderem Unrat befreiten. In die großen Handwerkerhallen eintauchen und all das Geschirr, Werkzeug und dekorative Kunstgegenstände anschauen, die dort zum Verkauf standen. Auf den Bauernmarkt gehen und die Unzahl von Lebensmitteln bestaunen. Die Handelskonvente besuchen, um sich von den Düften seltener Gewürze, Pelze exotischer Tiere und Waffen aus den Niederungen der Calnarthgebirge, wo die besten Schmiede des Reiches angesiedelt waren, überwältigen zu lassen.
Doch ihm blieb keine Zeit. Raviyen hatte bereits zu sehr herumgetrödelt, er musste sich beeilen. Er war ein Magieradept der zweiten Stufe. Was nichts anderes bedeutete, als dass er zwei Zauber beherrschte. Seine dritte Initiierung stand unmittelbar bevor. Darum musste er nun ohne Umwege und Träumereien den Magiermarkt aufsuchen.
Dies war der gefährlichste Abschnitt im Leben eines Magiers. Nicht wenige von ihnen fanden den Tod, wenn sie sich in Demut unterwerfen und ein ganzes Jahr in Leibeigenschaft treten mussten. Je näher Raviyen dem Magiermarkt kam, desto stärker fühlte er sich, als wäre er zu Hause angekommen. Das lag nicht an der ihm fremden Umgebung und stand im Gegensatz zu seinen Ängsten. Doch die Menschen, die ihn umgaben, waren ihm vertraut, ohne dass er ihnen jemals begegnet wäre. Magier erkannten einander instinktiv. Es war ein Empfinden von Zugehörigkeit und Erkenntnis, das sich nicht mit Sinneseindrücken erklären ließ. Keinem Magier stand auf die Stirn geschrieben, welche Fähigkeiten in ihm schlummerten. Dennoch: Immer häufiger hob Raviyen die Hand zum Gruß, legte sie direkt über das Herz, neigte leicht den Kopf, ohne den Augenkontakt zu verlieren. Es waren durchweg junge Männer in seinem Alter, zwischen siebzehn und vierundzwanzig. Es variierte individuell, wann es Zeit für die letzte Initiierung wurde, wobei viele hofften, eher früher als später an die Reihe zu kommen. Die Sehnsucht zu erfahren, was der dritte Zauber sein würde, war für die meisten von ihnen überwältigend.
Der erste Zauber enthüllt sich durch Angst.
Der zweite Zauber enthüllt sich durch Wissen.
Der dritte Zauber enthüllt sich in Demut.
Das war die Weisheit, mit der jeder Magier aufwuchs. Bereits in der frühen Kindheit zeigte sich der erste Zauber, meist zu Beginn der Reife der zweite, in der Regel ohne ein besonderes auslösendes Ereignis. Zur Initiierung des dritten Zaubers schickte man männliche Magier traditionell in Knechtschaft. Sie mussten sich als Leibeigene verpflichten, sei es für Adlige, Söldner oder Handelskontore. Weibliche Magier hingegen wurden auf direktem Weg in adlige Haushalte oder als Bedienstete in Tempeln vermittelt, wodurch man die Gefahr von Vergewaltigungen und unerwünschten Schwangerschaften einzudämmen versuchte. Gerade Letzteres war von Bedeutung, da ein magisch begabtes Elternteil stets und ohne Ausnahme magisch begabten Nachwuchs zeugte – alle Welt war sich einig, dass man die Zahl von Menschen, die jegliches Gesetz der Natur brechen konnten, möglichst gering halten sollte. Dass weibliche Magier am Ende ihrer Knechtschaft gewalttätige Rache für erlittene Qualen nehmen könnten, hielt zumindest die Vernünftigen davon ab, so etwas zu versuchen.
Raviyen zuckte zusammen. Einer von dem etwa halben Dutzend jungen Magier, die er bislang entdeckt hatte, zwinkerte ihm fröhlich zu. Errötend wandte Raviyen den Blick ab. Hatte er ihn etwa angestarrt? So etwas tat er manchmal, ohne es zu bemerken. Gerade bei den gutaussehenden Exemplaren. Der fremde Magier gehörte eindeutig in diese Kategorie – kräftig gebaut, blonde Locken, strahlend blaue Augen. Oh ja, da sollte ein intensiver Blick verzeihlich sein. Auf mehr als einen Blick musste man als Magier leider verzichten …
„Du bist auch auf dem Weg zum Markt, nehme ich an?“, fragte der Fremde und lächelte freundlich, bevor er die Hand auf das Herz legte und sich tief vor Raviyen verneigte. „Mein Name ist Otis“, fügte er hinzu. „Ich bin heilfroh, dass die Zeichen endlich für mich gesprochen haben. Ich hätte nicht noch länger warten wollen, um meinen letzten Zauber kennenzulernen, nachdem inzwischen all meine Freunde gegangen waren.“
Ein Ottergeborener war er und damit ein Jahr älter als Raviyen, der sich nun ebenfalls vorstellte. Diese fröhliche, gesellige Art fand man bei Ottern sehr häufig. Er beschloss spontan, dass er Otis mochte, obwohl sich Raviyen normalerweise eher schwertat, Vertrauen in andere zu fassen und seine zurückhaltende Art aufzugeben.
„Welche zwei Zauber besitzt du?“, fragte Otis munter und lächelte erneut. Es zeugte von ehrlichem Interesse, von zugewandter Offenheit.
„Sagst du mir erst deine?“, bat Raviyen rasch, um etwas Zeit zu gewinnen.
„Natürlich. Ich kann jedes Gewicht heben, egal wie schwer. Der erste Zauber manifestierte sich bei einem Sturm. Ich durfte nach der Geburt bei meiner Familie bleiben, und zwar in den Tälern der Giar-Hügel. Meine Großmutter und ich waren in den Wald gegangen, um Pilze zu sammeln, als ohne Vorwarnung ein Unwetter über uns hereinbrach, das den Berghang herabgefegt kam. Ein Baum stürzte um und begrub meine Nanna unter sich. Und schon traf mich die Macht der erwachenden Magie wie ein Blitzschlag. Ich hob den Baumstamm von ihren Beinen, als wäre es ein dürrer Zweig, und hab sie die vier Meilen nach Hause getragen. Da war ich noch keine sieben Jahre alt gewesen. Ihre alten Knochen waren zertrümmert, doch zum Glück wohnte eine Heilmagerin bei uns im Dorf, die im Austausch gegen gutes Essen stets bereit war zu helfen. Besonders dann, wenn es unverschuldete Unfälle waren. Die Gute war manchmal seltsam … Egal. Und du? Was war dein erstes Mal?“
Raviyen seufzte leise. Es war nicht ehrenrührig, dieses erste Talent, das er besaß. Die meisten Magier hatten zwar sehr viel nützlichere und beeindruckendere als er vorzuweisen, einige waren allerdings auch deutlich schwächer als seines. Und lächerlicher. Sich dafür zu schämen war ein Zeichen von schlechtem Charakter und er wusste es. Doch der Druck unter Magiern war immens. Ihre Talente waren alles, über das sie sich definieren konnten. Gleichgültig, ob sie klein, groß, dick, dünn, lustig, niedergeschlagen, klug oder dumm waren, geschweige denn, welche nicht-magischen Fähigkeiten sie vorzuweisen hatten – ihre Magie war, was wirklich zählte. Und sein erstes Talent war nun einmal recht durchschnittlich. Kümmerlich, um es auf den Punkt zu bringen.
„Ich … ich bin in meinen ersten Jahren bei meiner Familie geblieben, genau wie du“, sagte er, absichtlich leise, um sicherzustellen, dass außer Otis ihn niemand hörte. „Meine Familie hat mich gehasst für das, was ich bin. Gefürchtet, was aus mir werden würde. Dennoch hat meine Mutter nicht zugelassen, dass man mich wie sonst üblich aussetzt. Weiter als das reichte ihr Schutz leider nicht.“ Ein vorsichtiger Blick. Otis nickte ihm ernst zu, die Kiefer fest zusammengepresst, wohl um nichts Falsches zu sagen. Geschichten wie diese gab es zu oft. Man war sich allgemein einig, dass ausgesetzt werden das gnädigere Schicksal war, denn niemand wollte einen Magier in seiner Familie haben. Vermutlich hatte auch Otis nicht ausschließlich glückliche Stunden mit seiner Nanna – ein kindliches Kosewort für eine Großmutter – verbringen dürfen. Raviyen war beinahe jeden Tag von seinem Vater, seinen älteren Brüdern und gelegentlich sogar seinem Großvater verprügelt worden. Oft hatte er sich versteckt, bis der Hunger ihn heimgetrieben hatte – und dann besonders heftige Schläge für sein Verschwinden eingesteckt, denn in dieser Zeit hatte er nicht auf Hof und Feld mit anpacken können.
„Ich war gerade sieben Jahre alt geworden, als meine Mutter krank wurde“, fuhr Raviyen fort. „Meine Brüder sahen ihre Chance gekommen, wissend, dass niemand sie mehr aufhalten würde, und verschleppten mich in ein altes Salzbergwerk, das einige Meilen von dem kleinen Flecken Land meiner Familie entfernt lag. Den Erzählungen nach war dieses Bergwerk bereits vor über hundert Jahren aufgegeben worden, die meisten Schächte längst eingestürzt. Meine Brüder stießen mich in einen der Gänge, nachdem sie mich mehrere hundert Schritt tief hineingetragen hatten, schlugen mich schlimmer zusammen als je zuvor und verschwanden dann. Vollständige Dunkelheit war um mich herum. Es war so finster, dass sämtliche Albträume darin lebendig wurden. Ich lag also auf kaltem Gestein, Salzkristalle brannten auf meiner Haut, Blut klebte an mir und ich konnte vor Schmerz nicht einmal laut heulen. Sie hatten mir die Nase und den Kiefer gebrochen, ich wusste kaum zu atmen, mir war elend von den Bauchtreffern und als ich zu viel von meinem eigenen Blut verschluckte, musste ich mich übergeben. Danach lag ich wieder still in dieser Dunkelheit, die im gleichen Takt wie ich zu atmen schien. In der Ferne hörte ich schweres Poltern und wusste, dass meine Brüder den Haupteingang zum Einsturz gebracht haben mussten. Die Gewissheit, im Nirgendwo zu sterben, tief in den Gebeinen der Erde, von absoluter Finsternis zugedeckt … Sie war laut, diese Gewissheit. Ich wimmerte, heulte und war kaum noch bei Verstand, schlug immer wieder mit der rechten Hand auf den felsigen Boden unter mir, ohne zu spüren, dass ich mir dabei die Finger brach und die Haut blutig einriss. Und dann packte mich etwas wie eine riesige Faust und schüttelte mich durch. Für mich war die Manifestierung des ersten Zaubers sehr schmerzhaft, regelrecht brutal.“ Raviyen musste schlucken, um seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Viele Jahre waren vergangen und dennoch hatte die Erinnerung nichts von ihrer Macht eingebüßt. Beinahe jede Nacht träumte er davon …
Er und Otis waren stehengeblieben, fiel ihm erst jetzt auf. Von tief empfundenem Mitleid erfüllte Augen starrten ihn an. Hastig sprach Raviyen weiter: „Ich kann im Dunkeln leuchten. Das ist mein erster Zauber, ich bin damals wie eine Laterne am ganzen Körper erstrahlt. Das Licht half, einen Nebenausgang zu finden, nachdem ich erst lange genug liegen geblieben war, um fast zu verdursten und mich anschließend gefühlt für Jahre durch das Bergwerk gequält habe. Ich war am Ende meiner Kräfte, als ich endlich im Freien gelandet bin, nach endlosen Fehlversuchen, die mich vor verschütteten Gängen verzweifelt zusammenbrechen ließen … Wäre ich nicht auf Wasser gestoßen, das mich ins Freie geleitet hat, hätte ich es nicht geschafft. Es regnete, als ich in den Wald zurückkehrte, dennoch war es der schönste Anblick meines Lebens gewesen. Seitdem habe ich eine besondere Beziehung zu Wäldern und fließendem Wasser. Und keine Angst mehr vor der Dunkelheit.“
„Bist du danach heimgekehrt?“, fragte Otis leise.
„Nein. Ich bin zunächst ziellos durch den Wald geirrt, bis mich ein Köhler aufgelesen hat. Ich habe gewartet, bis ich eine dünne Suppe essen konnte, bevor ich ihm sagte, was ich bin. Da war der Gedanke, dass er mich totschlagen würde, wie Ungeziefer, das ausgerottet werden muss. Stattdessen hat er mich zur einer der großen Reichsstraßen gebracht und mir gesagt, wie ich zum Magierzirkel von Kukris gelangen kann, wenn ich der Straße treu nach gen Norden folge. Sogar einen Kanten Brot hat er mir mitgegeben, und gute Wünsche für die Reise. Oh, und seine Frau hatte mir die gebrochene Nase gerichtet. Das hatte weh getan, aber so ist sie wenigstens gerade geblieben. Auch die Hand hatte sie mir verbunden. Das waren gute Leute. Es stimmt mich bis heute traurig, dass ich ihnen nicht einmal gedankt habe. Ich war zu jung und zu verstört, zu sehr geschwächt und … zu jung, denke ich. Ich habe ihnen mein Licht gezeigt, was sie wohl beruhigend genug fanden, um mich nicht mit Stockhieben aus ihrem verräucherten Haus zu jagen, und am Abend ein wenig davon gespendet, sodass die Köhlerin eine Näharbeit fertigstellen konnte. Ein echter Dank wäre besser gewesen.“
Otis drückte ihm den Arm und lächelte. „Licht ist Hoffnung“, sagte er nachdrücklich. „Es ist ein gutes Talent. Unterschätze nicht die Macht der Hoffnung.“
Etwas Ähnliches hatte Meister Wiand Raviyen ebenfalls jahrein, jahraus versichert. Dennoch hatte er sich zurückgesetzt gefühlt, denn fast alle anderen Adepten besaßen so viel stärkere, bessere Zauber … Eine simple Fackel genügte bereits, um sein Talent überflüssig werden zu lassen. Man war nicht müde geworden, ihn darauf hinzuweisen und in den Jahren bei den Magiern hatte er keine Freunde gefunden. Niemand wollte mit einem minderwertigen Talent wie ihm zusammen sein. Es tat ihm gut, wie Otis ihn ansah.
„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte Otis und ließ ihn los. „Hat sie erfahren, was geschehen ist?“
„Nein.“ Raviyen nahm sich zusammen, er wollte nicht noch mehr Schwäche zeigen. Langsam lief er weiter in Richtung Markt. „Als die Altmeister im Konvent meine Geschichte hörten, haben sie jemanden geschickt, der den Fall untersuchen sollte. Es war schließlich ein Mordversuch gewesen. Meine Mutter war derweil an einem Fieber gestorben und meine Brüder leugneten hartnäckig, mir irgendetwas angetan zu haben. In ihrer Darstellung hatten wir gemeinsam im Wald gespielt und ich wollte auf eigene Faust das Bergwerk erkunden, obwohl die beiden mich dringend davon abzubringen versuchten. Weil dies genau die Art Unfug ist, die siebenjährige Jungen anstellen und ich überlebt habe, wurde es nicht weiter verfolgt. Die Meister wussten allerdings, dass ich nicht gelogen hatte, es war ein Wahrheitsforscher unter ihnen, und Teile meiner Verletzungen waren von der Art, die man sich schwerlich selbst zufügen kann. Man sagte mir, dass ich vergeben müsse, dass meine Familie es schwer genug habe, gerade durch den Tod meiner Mutter.“ Raviyen seufzte und schüttelte den Kopf. Er wollte sich nicht mehr länger an seine Vergangenheit erinnern. Quälende Einsamkeit war nichts, was ihn mit Sehnsucht erfüllte.
„Was ist dein zweites Talent?“, frage er, um sich von der Verbitterung abzulenken. Von dem alten Zorn, der niemals gänzlich vergehen wollte. Seine Meister mochten leicht predigen, dass er seiner Familie vergeben müsse. Dass er jene Menschen, in denen auch seine Wurzeln lagen, nicht hassen dürfe, sonst würde er niemals aufhören, sich selbst zu hassen. Das klang alles sehr vernünftig, aber Hass gründete genauso wenig in der Vernunft wie Liebe. Raviyen jedenfalls konnte nicht einfach damit aufhören, seine Brüder zu hassen, die versucht hatten, ihn umzubringen. Seinen Vater für die Schläge, die Grausamkeiten, die Kälte, mit denen er Raviyen überschüttet hatte. Seine Mutter hasste er nicht. Ohne sie hätte er seine Kindheit nicht überlebt und sie hatte ihm Liebe geschenkt. Sie hatte ihn beschützt, so gut sie konnte, ihn umarmt, solange ihre Kraft dafür gereicht hatte, seine Wunden versorgt, die anderen aufgehalten, wann immer es ihr möglich war. Dass sie am Ende zu schwach gewesen war, konnte ihr niemand vorwerfen. Auch Raviyen nicht.
„Mein zweites Talent ist das Schweben“, sagte Otis und riss ihn damit aus dem schmerzlichen Sinnieren. „Ich kann für etwa zehn Herzschläge etwa zwei bis drei Schritt in die Höhe steigen, bevor ich wieder langsam herabsinke. Ungemein nützlich, wenn man in der Bibliothek an das Buch ganz oben rechts gelangen muss. Natürlich lässt sich das mit Leitern auch recht fein erledigen, das macht bloß deutlich weniger Spaß. Und wenn man auf der Flucht vor Altmeisterin Drakina ist, die einen im Erdbeerbeet erwischt hat, kommt es auch schon mal nützlich daher, ohne weitere Mühe aufs Dach verschwinden zu können. Genau so hatte ich das übrigens herausgefunden beziehungsweise auf dieser unrühmlichen Flucht hatte sich der zweite Zauber initiiert. Eine saftige Abreibung gab es trotzdem als Strafe.“ Otis lachte lauthals und unbekümmert und Raviyen wusste nun endgültig, dass er ihn gern mochte. Was für ein Jammer, dass sie gleich schon wieder getrennt werden würden!
„Was ist mit dir? Was ist dein zweiter Zauber?“, fragte Otis.
„Nun ja … mein zweites Talent ist deutlich besser als mein erstes“, murmelte Raviyen. Oh ja … Er war vierzehn gewesen, als es sich offenbart hatte, und seit diesem Tag hatte ihn tatsächlich niemand mehr gehänselt … Zusammenhanglos wurde ihm bewusst, was er da gerade eben getan hatte: Einem Wildfremden, den er nie zuvor gesehen hatte, seine schrecklichste und intimste Erfahrung in sämtlichen Details geschildert. Normalerweise öffnete er sich nie, was in Anbetracht seines zweiten Talents ein wenig ironisch war. Zu viele Enttäuschungen hatte er mit Gleichaltrigen erlebt. Lag es an Otis‘ offener, gutherziger Art, die ihm vollkommen ehrlich erschien? Nein, das wäre kein Grund, bis in die tiefsten Details zu gehen, von seinen Ängsten, seiner erschütterndsten Lebensstunde zu erzählen … Vermutlich lag es an der immensen Anspannung. Die Sorge vor dem, was ihn heute erwarten würde. Raviyen atmete tief durch. Bei seiner zweiten Erzählung würde er sich kurzfassen!
„Als ich mit etwa …“, begann er.
„Schade, wir sind schon da“, unterbrach ihn Otis und wies nach vorn. Vor ihnen öffnete sich ein breiter Platz. Auf einer Holztribüne ihnen gegenüber stand ein großgewachsener, ausgesprochen dicker Mann mit kahlem Schädel. Er trug ein weißes Gewand, wie es in Avinnar verbreitet zu sein schien, und pries die Vorzüge der beiden jungen Männer an, die links und rechts von ihm standen und sich sichtlich unbehaglich fühlten. Das war Angesichts der Menschenmassen, die sich vor der Tribüne drängten und laut johlend Kommentare brüllten, auch kein Wunder.
Das ungemütliche Kribbeln, das bereits seit dem Aufstehen in Raviyens Magen breitgemacht hatte, verstärkte sich schlagartig zu einem kaum noch erträglichen Brennen. Er stockte unwillkürlich im Schritt, ohne es zu wollen, und starrte auf die wogenden Massen. Sie waren darauf vorbereitet worden. Jeder der männlichen Altmeister hatte anschaulich beschrieben, wie sie selbst diesen Moment erlebt hatten. Diesen ersten Blick auf eine Horde kaufwütiger Leute, von denen jeder Einzelne einen Magieradepten ergattern wollte – einen möglichst kampfkräftigen oder hochgradig begabten. Das Geld sollte sich schließlich lohnen.
Es sich vorzustellen, jahrelang von der Aufregung und Angst zu träumen, die man selbst empfinden würde, von den Meistern ungeschönte Berichte über alles andere als ein angenehmes Dienstjahr zu hören, mit der beißenden Sorge zu kämpfen, genauso hilflos ausgeliefert in grausame Hände zu fallen … Und nun stand er tatsächlich hier und kein Albtraum, keine Erzählung hatte ihn auf das vorbereitet, was er nun empfand.
„Da wünscht man sich glatt, man könnte die Gestalt seines Himmelsmächtigen annehmen und einfach davonschwimmen. Oder fliegen, in deinem Fall. Nicht wahr? Hauptsache weg. Wäre schön“, murmelte Otis. Auch ihm war das Lachen gründlich vergangen, er starrte bleich und mit weit aufgerissenen Augen auf die Menschenmassen.
„Noch mal in Kurzfassung!“, brüllte der Glatzkopf und übertönte dabei mühelos das Geschrei unter ihm. „Der kleine Rotschopf zu meiner Linken kann eine halbe Stunde am Stück unter Wasser atmen und zudem Wasser in Honig verwandeln. Grandios für Seeleute und Flussschiffer, er erledigt Reparaturen, fängt Fische und verhungern muss mit ihm auch niemand. Der lange Dünne zu meiner Rechten heilt gebrochene Knochen und kann mit Tieren kommunizieren. Wenn irgendjemand weiß, wo es dem Esel weh tut oder warum das Huhn keine Eier mehr legt, dann er!“ Der Glatzkopf gab einer Frau ein Zeichen, die am Rand der Tribüne gewartet hatte. Sie war jung, in ein hochgeschlossenes weißes Wollkleid gehüllt, das mit aufwändigen Stickereien verziert war, und schien die johlende Menge gar nicht wahrzunehmen. Vermutlich war sie die Tochter des Glatzkopfs und an das wilde Treiben gewöhnt. Sie nahm die beiden eingeschüchtert wirkenden Männer bei den Handgelenken und zog sie von der Tribüne herab. Die zwei gesellten sich zu einer Ansammlung weiterer Jungmagier, die ihren Auftritt auf der Tribüne schon hinter sich hatten. Mehr als ein Dutzend waren es, die sich eng aneinanderdrängten. Niemand war gefesselt oder eingesperrt, sie waren freiwillig hergekommen und durften jederzeit gehen, solange noch kein Verkauf stattgefunden hatte. Gegen Mittag würde das Publikum Gelegenheit bekommen, auf die Adepten zu bieten. Ein Wahrheitsforscher stand bereit – ein Magier, der jede Lüge sofort durchschaute. Damit sollte verhindert werden, dass die Adepten in die Hände von Leuten fielen, die die Talente ihrer Leibeigenen nutzen wollten, um Verbrechen oder zumindest unredliche Dinge zu begehen. Das schloss Verbrechen an den jungen Magiern selbst ausdrücklich mit ein.
„Na komm, wir melden uns besser mal an“, sagte Otis und gab Raviyen einen leichten Schubs. „Wenn wir zu spät kommen, schickt man uns schlimmstenfalls weg und wir müssen es morgen wieder versuchen. Ich weiß nicht, wie es dir ergeht, ich jedenfalls habe kein Geld für eine weitere Übernachtung mit Verpflegung.“
„Ich auch nicht“, entgegnete Raviyen und versuchte, seinen wütend knurrenden Magen zu ignorieren. Die dünne, keineswegs sättigende Suppe gestern Abend war seine letzte Mahlzeit gewesen. Natürlich würde der hiesige Magierkonvent sie nicht auf der Straße sitzen lassen, wenn sie dort anklopften, doch jeder Adept strebte ein möglichst schnelles Ende dieser Angelegenheit an. Genau dafür waren sie schließlich hier.
Da sie beide gut instruiert worden waren, wie sie sich auf dem Magiermarkt zu verhalten hatten, wandten sie sich an die schwarz gekleidete alte Frau, die in der Nähe der Tribüne auf einem Hocker vor einem wackligen Tischchen saß und gerade eine Gruppe jener Adepten, die Raviyen auf dem Weg hierher gesehen hatte, zu der jungen Frau im Wollkleid schickte. Wie ein verschrumpelte Weintraube sah die Alte mit ihrem offenkundig zahnlosen Mund aus. Sie besaß keine Magie, dennoch jagte sie Raviyen aus irgendeinem Grund Angst ein.
„Sind wir zu spät?“, fragte Otis besorgt, gerade in dem Moment, als Raviyen ein ehrfürchtiges: „Mögen die Himmelsmächte Euch auf ewig leuchten“ hervorgestoßen hatte.
„Zu spät für dich, um Manieren zu lernen? Möglicherweise“, knurrte die Alte an Otis gewandt. „Nimm dir gefälligst ein Beispiel an deinem Freund. Für die heutige Handelsrunde seid ihr bestens in der Zeit. Bis zur zehnten Stunde nehmen wir Frischfleisch an, da bleibt noch genug Gelegenheit, um euch vor Angst in die Hosen zu pissen.“ Sie musterte Otis und Raviyen aus leicht eingetrübten Augen, bevor sie in einen Käfig griff, der neben ihr auf dem Tisch stand, und einen hübschen, gut genährten Wysla hervorzog.
Diese pelzigen Geschöpfe, die wie recht gewöhnliche Beutelratten aussehen würden, hätten sie nicht nahezu grotesk lange, schmale Nasen, stammten aus den Sümpfen der Zo’a-Niederungen und besaßen ein ebenfalls groteskes Talent: Nahm ein Magier einen von ihnen in die Hände, wurde er unentrinnbar dazu gezwungen, seine Zauber korrekt zu benennen. Dabei war selbstverständlich ebenfalls Magie im Spiel und welchen Sinn das genau haben könnte, war schleierhaft. Wenigstens wenn man davon ausging, dass es für Wyslas schädlich war, dass massenhaft Vertreter ihrer Art in menschlicher Gefangenschaft lebten. Tatsächlich gediehen sie in Käfigen erstaunlich gut, vermehrten sich rasch, wenn man nicht aufpasste und sie konnten bis zu fünfzig Jahre alt werden.
Die Alte drückte Otis den Wysla in die Arme. Das kleine Geschöpf besaß ein seidig wirkendes, braun-weiß geflecktes Fell, schien bestens gepflegt zu sein und war ausgesprochen niedlich, wie es sich für einen Wysla gehörte. Bei normalen Menschen reagierten sie für gewöhnlich mit Misstrauen, Scheu und Fluchtreflex. Bei einem Magier hingegen kuschelten sie sich gurrend an. Der Kleine begann unverzüglich, seine schwache Eigenmagie zu verströmen.
Otis erschauderte leicht und sagte: „Mein Name ist Otis von Angarrand. Nichts ist zu schwer, als dass ich es nicht heben oder tragen kann, sofern es belebt und nicht größer als eine ausgewachsene Lortsch-Tanne ist. Und für zehn Herzschläge steige ich in die Höhe, um langsam wieder zu sinken, und erreiche dabei bis zu drei Schritt. Meine dritte Initiierung wird binnen eines Jahres geschehen.“
Die Alte nickte zufrieden und notierte auf einem Pergament Otis‘ Namen, seine Talente sowie die Bestätigung, dass er bereit für die Entdeckung seines dritten Zaubers war. Wyslas wussten solche Dinge, auch hier war schleierhaft, warum und woher. Sie legten einem Magier durchaus Worte in den Mund, die dieser niemals selbst wählen würde.
Einer von Raviyens Meistern hatte erklärt, dass ein Wysla das wahre Ausmaß eines magischen Talents erfasste, die Beschränkungen, Dauer und Reichweite eingeschlossen.
Nun war er selbst an der Reihe. Seine Hände zitterten leicht – er hasste es, seine Talente offenlegen zu müssen. Das eine war zu geringfügig, das andere hingegen …
Der Wysla kuschelte sich gurrend vor Begeisterung an Raviyens Brust. Das vertraute Kribbeln der Magie pulsierte durch Raviyens Körper und schon öffnete er den Mund, um unabwendbar die Wahrheit auszusprechen:
„Ich bin Raviyen von Kukris. Ich bringe Licht in die Dunkelheit. Und was auch immer verschlossen ist, ich kann es öffnen. Meine dritte Initiierung wird binnen eines Jahres geschehen.“
Die Alte zögerte und musterte ihn scharf. „Erkläre dein zweites Talent!“, verlangte sie. „Du kannst Licht erzeugen und du öffnest Türschlösser, ja?“
„Ich öffne alles“, flüsterte Raviyen ergeben. Er hatte das Gefühl, dass die Kaufinteressenten in der Nähe ihn belauschten und das gefiel ihm gar nicht. Was dumm von ihm war, in wenigen Minuten würde es sowieso von dem Glatzkopf hinausgeschrien werden. „Ich öffne Schlösser, Briefe, Gürtel, Knoten, fest gerostete Eisenkettenglieder und auch magische Siegel. Ich kann trennen, was zusammengehört, sofern ich es will, und selbst entscheiden, ob ich es dabei zerstöre oder es anschließend wieder zusammengefügt werden kann. Einen gebrochenen magischen Bann kann ich allerdings nicht wieder heilen.“
Otis atmete beinahe hektisch neben ihm. Er war entsetzt von der Reichweite dieses Talents. Raviyens Meister hatten ihn gewarnt, dass die Reaktionen auf dem Markt verhalten sein würden – dieses Talent war gefährlich. Nicht umsonst hatten zwar die Hänseleien aufgehört, sobald es sich enttarnt hatte, doch niemand hatte ihm je wieder Vertrauen schenken wollen … Es machte ihn noch einsamer als zuvor, dabei hatte er kein einziges Mal versucht, sein Talent auszunutzen.
„Großartig“, murmelte die Alte. Es klang nicht nach begeistertem Zuspruch. „Ganz und gar großartig, ja. Dich werden wir unter besonderen Schutz nehmen müssen.“ Sie notierte einen entsprechenden Vermerk auf Raviyens Pergament. Er nickte bloß unglücklich. Ihm war selbst klar, dass jede Räuberbande des Reiches morden würde, um jemanden wie ihn in die Finger zu bekommen. Sobald sein Talent lauthals über den Markt gebrüllt worden war, befand sich nicht nur er selbst in Gefahr, sondern auch sein zukünftiger Besitzer. Damit war ausgeschlossen, ihn in die Hände eines einfachen Handwerkers zu geben – der würde den nächsten Sonnenaufgang mit durchgeschnittener Kehle begrüßen …
„Ich berede das mit unserem Wahrheitsforscher“, brummte die alte Frau und hievte sich ächzend und stöhnend auf die Füße. „Vielleicht können wir das wahre Ausmaß der Katastrophe etwas verschleiern, indem wir die Worte geschickt wählen. Wäre ja nicht das erste Mal. Und wir müssen jeden Interessenten doppelt und dreifach überprüfen, ob er eine gutartige Gesinnung hat.“ Sie schlurfte zusammengekrümmt davon, etwas vor sich hinmurmelnd, das wie „Seit dem Burschen, der Wasser in Gift verwandeln konnte, nicht mehr so viel Ärger gehabt“ klang.
„Du hast ein Problem“, flüsterte Otis ihm freundlich zu und gab ihm einen herzlichen Klapps auf die Schulter.
„Mein ganzes Leben ist ein Problem“, erwiderte Raviyen hilflos. Er wusste es ja. Bislang war es einfacher gewesen, diese Tatsache zu ignorieren …
Versteigerungen
uas kämpfte hart gegen den Impuls, die Arme vor der Brust zu verschränken und sich wie ein schmollendes Kind auf die blanke Erde zu werfen, um seinen Protest kundzutun. Möglichst laut genug, dass man ihn noch am anderen Ende der Stadt hören würde.
Mit dreißig Wintern auf dem Buckel sollte einem Mann Besseres als das einfallen; einem Krieger allemal. Leider fiel ihm nichts Besseres als eisernes Schweigen ein, denn die Diskussion hatte er bereits gegen Punir verloren, dem Anführer ihrer kleinen Kampfgruppe. Auch Bärnart, ihr jüngster Mitstreiter, hatte sich den Argumenten gebeugt.
Ja, sie benötigten jedes bisschen Hilfe bei ihrer hoffnungslosen Mission. Ja, eine mächtige Waffe war immer von Vorteil, wenn es um den Kampf gegen einen starken und zahlenmäßig überlegenen Feind ging. Doch warum, im Namen der Himmelsmächte, musste diese Waffe ausgerechnet ein Magier sein?
Ihnen war nicht zu trauen. Es gab zahllose Berichte von Adepten in Leibeigenschaft, die ihre Herren schwer verletzt, absichtlich ins Unglück geführt oder getötet hatten – allen magischen Vorkehrungen zum Trotz, die genau so etwas verhindern sollten. Magie war wie Wasser, es fand seinen Weg. Ein Sprichwort, an das er eher glaubte als an sämtliche Versicherungen, dass man jede Unabwägbarkeit unter Kontrolle hatte. Lieber wollte er sterben, als sich freiwillig einen Magier in die Gruppe zu holen, der in etwa so vertrauenswürdig wie ein Schwarm gereizter Wespen war!
Doch es war einzig Punirs Entscheidung, die als Gesetz für ihre Gruppe galt. Der Pumageborene war elf Jahre älter als Luas, sehr erfahren und ein fähiger Anführer. Auch und gerade weil er in der Lage war, Entscheidungen gegen den Widerstand seiner Krieger durchzuzwingen, wenn es sein musste. Er wusste, wann man nachgeben, diskutieren oder schlichtweg handeln musste, und Luas vertraute ihm. Punir hatte sich Luas’ Beschwerden und die vehementen Argumente gegen einen Magier als Begleiter angehört, intensiv darüber nachgedacht – und erst anschließend beiseite gewischt.
Ohne einen talentierten Magier hatten sie keine Aussicht, ihre Mission zu überleben. Dennoch hasste Luas diesen Gedanken, er hasste ihn!
„Wir sind spät dran“, murmelte Bärnart. „Die besten von ihnen sind möglicherweise bereits versteigert.“
„Die werden nach der Reihenfolge ihrer eigenen Ankunft angeboten, nicht nach Qualität ihrer Magie. Es kommen beinahe täglich neue an. Also können auch die letzten auf der Tribüne sehr interessant für uns sein“, erwiderte Punir geduldig.
Sie waren vielleicht noch hundert Schritt vom Magiermarkt entfernt, das Geschrei und Johlen der interessierten Käufer und Zuschauer betäubte schon hier die Ohren.
„Wir haben begrenzte Mittel. Die Besten können wir uns nicht leisten, wir müssen jemanden nehmen, dessen Potential nicht sofort einleuchtet. Außerdem würde man uns niemanden anvertrauen, der Feuer vom Himmel regnen lassen kann. Dieser Typ Magier wäre unglaublich hilfreich für uns, doch er geht ausnahmslos an die Tempel, wo sie sicher verwahrt werden.“
Die Erwähnung von Feuer in einem Satz mit Magie trieb Luas ruckartig an den Rand seiner Selbstbeherrschung. Er ballte die Fäuste, schluckte den Schrei, der bitter in seiner Kehle brannte. Seine Gefährten kannten seine Geschichte. Jeder kannte sie, es war kein Geheimnis. Solch eine Gedankenlosigkeit hätte er nicht von Punir erwartet! Der schien nicht einmal zu bemerken, was er da gerade gesagt hatte.
Luas atmete mehrfach tief durch. Was vergangen war, war vergangen.
„Lasst uns sputen, ich will die Angelegenheit hinter mir lassen“, grollte er. Es brachte nichts, sich davor herumzudrücken oder alles noch länger hinauszuzögern. Schlimmer als überhaupt einen Magier in seiner Nähe erdulden zu müssen war höchstens noch, einen nutzlosen Magier mit unzureichenden Talenten ein ganzes Jahr lang durchzufüttern.
Als sie den Markt erreichten, stellten sie fest, dass sie weniger verpasst hatten als befürchtet. Es war gerade die zwölfte Stunde ausgerufen worden. Die Vorstellung der noch unvermittelten und im Laufe des Morgens neu eingetroffenen Magier war abgeschlossen und gleich würde der Verkauf beginnen. Es war ungünstig, dass sie nun nicht wussten, welche Talente auf sie warteten. Sie konnten die Ware auch nicht vor dem Kauf prüfen, es war untersagt, sich den Magiern zu nähern und mehrere Wächter bewachten den Marktplatz, um sicherzustellen, dass sich auch jeder an die Regeln hielt. Sie mussten also schnell agieren und spontan zu ersteigern versuchen, was halbwegs passend erschien und dabei in die Gefahr laufen, bessere Angebote liegen zu lassen.
Leider hatten sie es nicht schneller in die Stadt geschafft. Seit zwei Tagen hatte Bärnarts Pferd gelahmt, sodass sie erst nach der neunten Stunde am äußeren Stadttor von Avinnar angekommen waren. Dort konnten sie zwar an den langen Reihen der duldsam Wartenden vorbeimarschieren, weil sie als königliche Gesandte die entsprechenden Siegel vorweisen konnten – die Torwächter hatten sie freundlich begrüßt und beim Anblick ihrer Waffen wäre keiner der wartenden Bauern und Händler auf die Idee gekommen, gegen ihre bevorzugte Behandlung zu protestieren. Doch anschließend hatten sie Zeit verloren, weil sie einen Mietstall für ihre Tiere finden mussten, der genügend Platz bot, und der Heiler für Bärnarts Pferd nicht der Schnellste gewesen war.
„Wir warten auf ein Angebot, das wirklich überzeugend ist“, sagte Punir, während sie sich einen Platz in der dicht gedrängten Menge suchten. Bärnart hatte da eine spezielle Art an sich, Leute freiwillig dazu zu bringen, beiseite zu treten und ihn vorzulassen. Ein Blick in sein Gesicht und auf seine breiten Schultern genügte, zudem die Waffen, die keine weiteren Fragen offenließen, und schon gab jeder nach, sodass sie weit nach vorne gelangen konnten.
„Lieber verbringe ich eine ganze Woche auf diesem verdammten Markt, als mich mit einem faulen Kompromiss herumzuschlagen“, murmelte Punir wild entschlossen, als sie sich vor der Tribüne breitgemacht hatten. Eigentlich war das ein sinnvoller Gedankenansatz. Uneigentlich war ihre Mission zwar nicht direkt zeitabhängig, aber doch drängend und sie hatten bereits Unmengen an Zeit und Geld verschwendet, dazu einen nicht unbeträchtlichen Umweg durch die Reise nach Avinnar auf sich nehmen müssen. Eine Woche zu warten, dass das bestmögliche Angebot kommen würde, war nicht denkbar. Dann hätten sie kein Geld mehr übrig, um diesen Magier zu kaufen. Schließlich füllte ihnen niemand umsonst die Mägen, selbst wenn sie vor den Toren der Stadt schlafen würden, um die Ausgaben zu begrenzen.
Bärnart und Luas tauschten einen resignierten Blick. Sie wussten beide, dass sie ziemlich sicher am Ende dieses Tages einen der viel zu jungen Burschen von hier fortschleifen würden, ob dieser nun gut geeignet oder ein fauler Kompromiss war.
Wie Hühner auf der Stange drängten sich die Magier neben der Tribüne. Die glatt rasierten Gesichter verrieten Anspannung, bei einigen steigerte es sich sogar zu kaum beherrschter Angst. Einerseits konnte Luas diese Angst verstehen – die kochende Menge, die diese Jungen als Nutzvieh oder bestenfalls als billige Diener ansah und sich darum stritt, wer den größten Gewinn machen würde, das musste einfach verstörend sein. Andererseits würde er am liebsten jedes von diesen Monstern eigenhändig erschlagen. Magier waren gefährlich, unberechenbar, jeder Einzelne von ihnen war zu viel! Wenn jeden Tag zwei bis fünf dieser verdorbenen, entarteten Kreaturen nach Avinnar kamen, waren das über tausend in einem Jahr. Tausend! Luas wusste, dass unzählbare Massen an Menschen in dem riesigen Reich zwischen Himmel und Erde lebten, tausend mal tausend mal tausend und möglicherweise noch mehr. Vielleicht noch mehr als es Sterne gab, das wusste niemand. Doch warum im Namen der Himmelsmächte mussten so viele davon Magier sein?
Die ersten beiden Jungen wurden auf die Tribüne geholt. Oder eher gesagt gezerrt, denn beide waren kaum in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie zitterten vor Angst, aber sie hielten sich aufrecht und hielten den Blick in die Menge gerichtet. Letztendlich waren sie freiwillig hier. Tradition hin oder her, niemand konnte einen Magier zwingen, sich in Leibeigenschaft zu begeben. Meister Lunkul hatte zu Raviyen vor dem großen Abschied gesagt: „Du bist frei wie ein Vogel, mein Junge. Dein dritter Zauber wird sich nur in echter Demut in seiner vollen Macht manifestieren, wie du weißt. Doch du kannst auch hierbleiben und ein Jahr damit verbringen, auf den Knien liegend die Fliesen in der großen Halle zu schrubben. Dein Talent würde dann ein kleines sein und ja, Spott wäre dir gewiss. Aber danach könntest du in einen anderen Magierzirkel übersiedeln und niemand würde Fragen stellen. Genau wie du nach deinem Fortgang frei bist, jeden Zirkel dieser Welt aufzusuchen und dort dein Leben zu verbringen. Kein Gesetz nötigt dich, die Gefahren einer Leibeigenschaft auf dich zu nehmen.“
Raviyen kannte persönlich niemanden, der eine dieser Auswegmöglichkeiten in Anspruch genommen hätte. Es sei denn, es gab Lügner unter den Altmeistern, was er sich nicht vorstellen konnte, denn jeder von ihnen besaß einen beeindruckenden dritten Zauber. Ein jeder Mensch hatte seinen Stolz …
Im Augenblick verfluchte er sich dafür. Ohne Stolz ließ es sich leichter leben und nie hatte Fliesen schrubben unter dem Spott der Jüngeren besser geklungen als jetzt, hier und heute …
„Für diejenigen, die die Einführung versäumt oder schon wieder alles vergessen haben“, rief der feiste Glatzkopf mit dröhnender Stimme, während die dicht gedrängte Meute der Käufer mäuschenstill wurde, „der Blondschopf zu meiner Linken kann Wasser ohne Hilfsmittel zum Kochen bringen und essbare Pilze aufspüren.“
Keine aufregenden Zauber, aber durchaus solide Fähigkeiten. Die Angebote blieben dennoch aus, jeder wollte auf eine bessere Gelegenheit warten. Raviyen vermutete, dass dieser Magier in der Nachversteigerung noch am heutigen Tag weggehen würde – es waren drei Runden geplant. Vielleicht würde sich ein Großbauer für seine Talente erwärmen, die hatten es je nach Lage ihres Landes manchmal schwer, an Brennholz zu gelangen. Auch ein Wildhüter war denkbar, denn die durften lediglich Kleinwild für den eigenen Bedarf erlegen und mussten nicht selten im Winter hungern. Und sogar für einen Händlertrupp konnten diese Talente nützlich sein, denn in manchen Gegenden gab es wenig bis gar kein Brennholz. Man sparte Platz in den Zugwagen, wenn man es nicht mitschleppen musste, um abends ein Essen zu kochen.
„Der etwas klein geratene Knabe mit dem traurigen Rehblick zu meiner Rechten ist ein großmächtiger Heiler, liebe Leute!“, rief der Glatzkopf. „Im ersten Talent heilt er gebrochene Knochen und Wunden, im zweiten Gifte. Lasst mich eure Angebote hören!“
Erbittertes Geschrei entbrannte. Mindestens die Hälfte der Anwesenden waren hergekommen, weil sie auf einen Heiler hofften, wie es schien. Wundheiler waren stark verbreitet, Giftheilung hingegen ein sehr rares Talent. Kein Wunder, dass die Angebote rasch in lächerliche Höhen schnellten und die Wächter eingreifen mussten, um Handgreiflichkeiten zu schlichten. Am Ende wurden die drei höchsten Bieter auf die Tribüne geholt, denn es war schon etwas komplizierter als bloß Zahlen zu brüllen, wenn man einen Magier kaufen wollte. Der Wahrheitsforscher prüfte mit routinierten Fragen Gesinnung und Absichten der Interessenten. Man wollte keine Magier in die Hände eines Geisteskranken oder einer Diebesbande übergeben.
Der erste Bieter entpuppte sich sofort als Mittelsmann, der den Heiler für einen anderen Käufer erwerben sollte. Zweifellos war das jemand mit finsteren Absichten, der keine eigene Chancen hatte, überhaupt einen Magier zu kaufen. Erstaunlich, Raviyen hätte nicht geglaubt, dass es jemand mit einem solch plumpen Trick versuchen könnte. Die Gier, einen Magier unter seine Kontrolle bringen und ihn nach Herzenslust ausbeuten zu dürfen, und sei es für ein einziges Jahr, schien Dummheit wachsen zu lassen. Die Wächter, die unauffällig am Rand der Tribüne gestanden hatten, traten hinzu und nahmen den Mittler mit. Auf ihn wartete nun ein gewiss unschönes Verhör, bis er den Bieter im Hintergrund preisgab. Wenn er Glück hatte, würde ein weiterer Wahrheitsmagier anwesend sein, es würde ihm Folter ersparen.
Der zweithöchste Bieter war ein Schiffbauer mit anscheinend ehrlichen Absichten, darum erhielt er den Zuschlag. Vermutlich hatte er hohe Ausfälle unter den Arbeitern zu beklagen – auch Giftanschläge waren da denkbar, sollte ein neidischer Konkurrent beteiligt sein. Bei ihm würde der Heilmagier, der tatsächlich wie ein verwundetes Reh aussah und sicherlich noch keine siebzehn Winter zählte, ein unruhiges Leben führen. Der junge Magier hieß Euron. Ein Eulengeborener also … Der war allerdings eher ein Zwergkauz als ein stattlicher Uhu. Hoffentlich würde der Käufer ihn gut bewachen und beschützen lassen! Wer hundertzwanzig Goldstücke zu zahlen bereit war, sollte allerdings auch Wächter und Söldner in seinem Dienst haben, die seinen Besitz patrouillierten.
Zäh schleppten sich die Versteigerungen voran. Viele Adepten wurden von der Tribüne geschickt, weil nach drei Anfragen kein Gebot für sie abgegeben wurde. Von ihnen würden es einige in der zweiten oder dritten Runde des heutigen Tages schaffen, wenn die Käufer auf niedrige Preise hoffen konnten. Andere befanden sich hingegen schon seit Wochen auf dem Markt, wie Raviyen aus ihren Gesprächen erlauscht hatte. Sie wurden von dem hiesigen Magierzirkel von Avinnar durchgefüttert und mit Schlafplätzen versorgt. Ihre hoffnungslosen Mienen zeigten nichts als Resignation und Leere. Wer nichts als das Talent besaß, Staub zu verwirbeln oder Schnee bunt zu färben, musste darauf gefasst sein, sich schlimmstenfalls ein ganzes Jahr lang auf dieser Tribüne die Beine in den Bauch zu stehen. Das war extrem demütigend, ja vernichtend für Seele und Gemüt und man konnte lediglich hoffen, dass der dritte Zauber am Ende so überwältigend und beeindruckend wurde, dass er für alles entschädigte.
Einen Moment lang überkam Raviyen Panik. Was, wenn ihn einfach niemand wollte? An so etwas hatte er noch nicht gedacht. In seinen Vorstellungen war er stets auf die Tribüne gestiegen, Angebote wurden gemacht, irgendjemand gewann die Versteigerung und schon wurde er, Raviyen, in die Fremde verschleppt, um Frondienst zu leisten. Meistens sah er sich in Bergwerken, wo er Stollen ausleuchten musste. Das Bild hatte seine Gründe … Doch dass er in eine zweite, dritte Bieterrunde geschickt werden könnte, vielleicht mehrere Tage oder Wochen hier ausharren musste, bis auch er die letzte Hoffnung verloren hatte und er ebenso leer und ausgehöhlt wie die anderen Verlierer dastand … Bis es ihn nicht mehr beschämte, Nacht für Nacht an das Tor des avinnarischen Zirkels zu klopfen, um Unterschlupf und einen Kanten Brot zu betteln … Nein, das war alles Unsinn. Sein erstes Talent war bereits besser als Staubverwirbelungen. Bei seinem zweiten Zauber würden hingegen vermutlich ebenfalls Schlägereien ausbrechen, weil man ihn unbedingt haben wollte. Zwar wollte man es nicht in seiner vollen Wirkungsbreite benennen, aber vielleicht gelang dieser Plan nicht … Denn wenn jeder Bieter Betrug und Schaden im Hintersinn hatte, würde Raviyen ebenfalls zurückbleiben, oder?
In dem Fall komme ich spätestens morgen zu einem Besitzer, dachte er und reckte das Kinn.
Nach stundenlangem Warten waren endlich er und Otis an der Reihe. Raviyen hatte gedacht, dass die Masse der Kaufinteressenten mit dem Fortschreiten der Versteigerungen abnehmen würde. Stattdessen kamen nach wie vor neue Bieter an, die die Plätze jener einnahmen, die glücklich mit ihren Neuerwerben davonzogen. Dementsprechend blieb es laut und die Anspannung hoch.
„Wir werden dein zweites Talent verschleiern, Junge“, teilte der Glatzklopf Raviyen leise mit. Vollkommen unnötig, denn das hatte man ihm bereits mehrfach in den letzten Stunden gesagt. „Verrate dich nicht unnötig während der Versteigerung.“
Wie erwartet drehte die Menschenmenge fast durch, als Otis‘ Talente genannt wurden – man hatte sie beide Raviyen zuliebe von der Vorpräsentation ausgeschlossen und sie als Letzte für den Verkauf eingeordnet, um mehr Zeit zu haben, wie man seinen zweiten Zauber am besten verheimlichen konnte. Etwas, was nach den geflüsterten Worten von Adrianna, der jungen Helferin, noch nie zuvor geschehen war, normalerweise wurden Magier nach der Reihenfolge ihres Erscheinens angeboten. Es entzückte ihn keineswegs, auf diese Weise interessant zu sein … Und dass es notwendig war, sie mit auf der Bühne zu haben. Vermutlich sollte sie eingreifen, sollte er sich irgendwie verraten wollen. Hielt man ihn für derartig dumm?