Der dritte Zauber 2 - Sandra Gernt - E-Book

Der dritte Zauber 2 E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Teil 2 der zweiteiligen Saga Die Situation ist verzweifelt. Bärnart liegt im Sterben. Die Toresken werden schon bald angreifen. Und noch immer weiß niemand, was genau ihr rätselhafter Feind eigentlich plant … Ca. 80.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

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Die Situation ist verzweifelt.

Bärnart liegt im Sterben.

Die Toresken werden schon bald angreifen.

Und noch immer weiß niemand, was genau ihr rätselhafter Feind eigentlich plant …

 

Ca. 80.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Teil 2

von

Sandra Gernt

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Vorwort und kurze Zusammenfassung von Teil 1

Kapitel 1: Ringreisen

Kapitel 2: Vom Himmel hinab ins Eis

Kapitel 3: Höhlengespräche

Kapitel 4: Abschied

Kapitel 5: Das Archiv von Weidenfurth

Kapitel 6: Offenbarungen

Kapitel 7: Aufruhr in Chomangen

Kapitel 8: Im Nirgendwo, im Nebel …

Kapitel 9: In Gesellschaft

Kapitel 10: Erinnerungspfade

Kapitel 11: Totenklage

Kapitel 12: Das Ende aller Wege

Epilog

Nachwort und Danksagung

Personenregister

Index

Ein Jahr voller Fantasy …

 

 

Vorwort und Zusammenfassung von Teil 1

 

Ihr Lieben,

wie versprochen habe ich mich nach Kräften beeilt, Teil 2 zu beenden. Ich halte mich jetzt auch gar nicht mit langen Reden auf, sondern fasse rasch die wichtigsten Ereignisse von Teil 1 zusammen, denn das Abenteuer geht nahtlos weiter.

Wer sich noch genau an die Details von Teil 1 erinnern kann, springt jetzt einfach weiter zu Kapitel 1.

 

Raviyen ist ein junger Magieradept, der kurz davor steht, seinen dritten Zauber zu entdecken. Zu diesem Zweck begibt er sich zum Magiermarkt nach Avinnar, um sich dort selbst zum Verkauf anzubieten. Für ein Jahr und einen Tag soll er fremden Herren dienen, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen enthüllt sich der dritte Zauber in Demut. Mit einem Leidensgenossen namens Otis schließt er Freundschaft, auch wenn sie sofort wieder getrennt werden.

Er wird von einer Kriegergruppe gekauft: Punir, Bärnart und Luas. Letzterer überschüttet ihn mit Hass und Verachtung, denn sein Bruder war ebenfalls ein Magier, der die gesamte Familie ausgelöscht und dann Selbstmord begangen hat. Sie ziehen durch die Wildnis, ohne Raviyen das Ziel ihrer Mission zu nennen, für die er gekauft wurde.

Obwohl er sich niemals weiter als eine Meile von seinen Herren entfernen darf, lassen ihn die Krieger bei der Nahrungssuche allein zurück. Raviyen wird entführt und erbarmungslos gefoltert – ein Magier stellt Fragen, die er nicht beantworten kann. Dieser Mann besitzt folgende Talente: Er kann magisch in die Ferne sehen, ohne Berührung einen Vergessensbann auf jeden legen, den er erblickt, egal wie weit entfernt er ist, und in einem gewissen Umkreis für vollständige Stille sorgen. Er lässt Raviyen zurück, der es zu den Kriegern schafft. Seine Fesseln waren allerdings mit einem langsam wirkenden Gift getränkt. Nur durch ein riskantes Manöver schaffen die Krieger es, ihn rechtzeitig nach Andrumâr zu bringen, wo sie Hilfe erhalten können. Dafür müssen sie die Nebelsümpfe durchqueren und geraten selbst in Lebensgefahr, doch ein Schwarm Vogelwandler rettet sie.

In Andrumâr begegnen sie Meisterin Schwanja. Die verfügt über magische Heilkunst, kann Rosen zum Wachsen bringen und besitzt ein sehr subtiles Talent für Gastfreundschaft, das sie stets wissen lässt, was ein Gast benötigt, um sich wohlzufühlen. Raviyen bleibt bei ihr, während die Krieger beim Landesfürsten in der nah gelegenen Festung vorsprechen. Hier zeigt sich, dass der Feind erneut attackiert hat, denn sie werden angeklagt, Diebe und Betrüger zu sein, die die königlichen Kriegersiegel durch Mord an sich gerissen haben. Sie landen schwer verletzt im Verlies, ihnen drohen Folter und Hinrichtung. Durch einen Ehrenkampf kann Luas beweisen, dass er tatsächlich ein Krieger ist und Raviyen ist in der Lage, den Vergessensbann zu brechen.

Er erfährt durch Meisterin Schwanja von einer Prophezeiung. Die besagt, dass ein Magier versuchen wird, den uralten Fluch zu brechen, der die Macht sämtlicher Zauberer auf drei einzelne, willkürliche Talente beschränkt.

Als sie weiterreisen, sucht der Feind Meisterin Schwanja auf und attackiert sie. Ein Mann wird getötet, sie selbst bleibt am ganzen Körper gelähmt zurück. Zudem zeigt sich, dass sie mit dem Volk der Vogelwandler verwandt ist. Einer von ihnen, ein Rabenwandler namens Scanju, ist ihr Halbbruder. Dieser beschließt, die Krieger zu verfolgen und zu beobachten, um eventuell eingreifen zu können, sollte sich der Feind erneut zeigen. Ein Wiedererstarken der alten Mächte würde sein schwindendes Volk bedrohen.

Luas und Raviyen kommen sich etwas näher, doch noch mangelt es beidseitig an Vertrauen.

Derweil werden sie nach Eborath gerufen, einem Handelsposten nahe des Grünmeeres. Feinde nähern sich, Piraten, die seit einem Jahrhundert nicht mehr angegriffen haben. Es könnte nicht ungünstiger sein, denn normalerweise wimmelt Eborath vor Händlertruppen mit schlagkräftigen Söldnern als Begleitschutz und eine nah gelegene Garnison bewacht die Zugangsflüsse. Die Kriegerehre erlaubt nicht, Menschen in Not zurückzulassen. Obwohl Punir alles versucht, um die Leute zur Flucht zu bewegen, wollen diese stur ihre Heimat verteidigen. Und so kommt es zu einem Kampf in erheblicher Unterzahl. Durch Mut, Glück und der Hilfe der Raben können die feindlichen Piraten zurückgeschlagen werden. Doch Bärnart ist lebensbedrohlich verletzt und Späher berichten, dass tausende weitere Feinde im Anmarsch sind.

 

Das war es soweit. Wer Schwierigkeiten hat, sich an Namen oder Begriffe zu erinnern, findet im Index hinten im Buch Hilfe. Und nun wünsche ich viel Vergnügen mit Teil 2.

Eure Sandra

 

Ringreisen

 

canju bittet um eine Unterredung mit Adrom und Punir. Niemand soll uns dabei beobachten“, sagte Raviyen. Schweigend nickte Adrom. Er schien im Laufe dieser Nacht um vier Jahrzehnte gealtert zu sein. Mittlerweile konnte er sich kaum noch aufrecht halten und hatte sichtbar starke Schmerzen. Der kurze Höhenflug des unerwarteten Triumphes, gefolgt von dem Absturz durch die Erkenntnis, dass alles umsonst gewesen war, dass die Männer von Eborath nicht hätten sterben müssen, dass sie besser sofort geflohen wären … Es hatte diesen alten Mann gebrochen zurückgelassen. Auch Punir hatte erkennbare Schwierigkeiten, so wie er sich bewegte. Jeder von ihnen bräuchte dringend Schlaf nach diesem Kampf, und seien es nur zwei bis drei Stunden. Luas spürte seine Verletzungen ebenfalls wesentlich stärker als zuvor. Die Aufregung klang ab. Sämtliche Hoffnungen fahren lassen zu müssen war grausam. Die Toresken würden sie überrennen. Was konnten die Wandler denn jetzt noch von ihnen wollen?

Luas musterte Raviyen heimlich von der Seite. Wie eine ertränkte Ratte sah er aus nach seinem tollkühnen Ausflug auf das feindliche Schiff. Verfroren, nass … und anbetungswürdig. Inzwischen hatte Luas es aufgegeben, sich selbst zu belügen; er begehrte diesen schmalbrüstigen, viel zu jungen Magier. Es verlangte ihm nach diesem Körper. Dass Raviyen seinen Mut in der Schlacht bewiesen hatte, machte es leider noch wesentlich schlimmer … Er kannte Krieger, die nicht in der Lage gewesen wären zu tun, was Raviyen gerade vollbracht hatte: Erkennen, was getan werden musste und es schlicht und ergreifend ausführen. Obwohl er wusste, dass die Detonation des Schwarzpulvers Menschenleben fordern würden. Obwohl ihm klar gewesen war, dass es auch ihn selbst hätte erwischen können. Obwohl die Flucht bedeutete, ins tiefe Wasser zu springen, ohne dass er schwimmen konnte.

Wäre es nicht wunderbar, wenn sie sich tatsächlich „einig“ werden könnten, wie Punir es genannt hatte? Auch in dieser Hinsicht hegte Luas keine Hoffnung. Sie lebten in unterschiedlichen Welten nach unterschiedlichen Werten, Zwängen und Ehrenvorstellungen. Träumen war allerdings erlaubt …

Adrom führte sie zu einem Lagerhaus. Es besaß keine Fenster, was dank Raviyens Magie keine Schwierigkeit darstellte. Kaum war die Tür geschlossen, da verwandelten sich Scanju und sein Begleiter. Ihre ausladenden schwarzen Schwingen nahmen ziemlich viel Platz ein und schockierten Adrom stark genug, dass der arme Mann halb ohnmächtig zu Boden ging. Was bewies, dass er vorhin nicht doch heimlich über die Schulter geblinzelt hatte, was zumindest Luas ihm nicht verübelt hätte.

„Ich glaube nicht, dass uns das erlaubt ist“, sagte der fremde Wandler tadelnd. Er war jünger als Scanju, auch wenn es unmöglich zu sagen war, wie alt die beiden tatsächlich sein mochten. Vielleicht alterten Vogelwandler langsamer als normale Menschen? Jedenfalls schien Scanju ein reifer Mann von etwa vierzig Wintern zu sein, sein Gefährte hingegen war mindestens zehn, eher fünfzehn Jahre jünger. Beide besaßen blauschwarzes Haar und tiefdunkle Augen, wodurch sie wie Brüder von Raviyen wirkten. Wobei Scanju sogar sein Vater sein könnte.

„Wir müssen tun, was getan werden muss“, erwiderte Scanju stoisch auf die Anklage.

„Der Befehl lautete beobachten, nicht eingreifen, und auf keinen Fall ohne einen schwerwiegenden Grund vor unwissenden Menschen enttarnen. Was du da vorhin getan hast, war mehr als riskant!“

„Es gab gute Gründe“, zischte Scanju ungehalten. „Und es gibt sie noch immer. Ein ganzes Volk mit Frauen und Kindern macht sich auf, um La’yr anzugreifen? Das ist eindeutig das Werk des Magiers, der Schwanja angegriffen hat! Du kennst die Prophezeiung. Wir müssen handeln, um weitere Tote zu verhindern. Und wenn das bedeutet, dass die halbe Welt unsere Schwingen erblickt, so sei es!“

„Langsam!“, schrie Raviyen dazwischen. „Jetzt ist nicht die Zeit für Streit und Uneinigkeit! Und was soll das heißen? Wurde Meisterin Schwanja etwa angegriffen? Was ist geschehen?“

„Sie lebt!“, entgegnete Scanju knapp. „Der Magier hat sie verletzt, es wird heilen. Aber du hast vollkommen recht, wir dürfen nicht streiten. Wichtig ist, dass wir diesen Mann aufhalten. Was bedeutet, dass wir zunächst einmal die Toresken aufhalten müssen. Was können wir Corvidarin tun, um dabei zu helfen?“

Einige Minuten lang starrten sie einander bloß hilflos an. Welchen Unterschied machten diese beiden Wandler? Sie allein konnten jedenfalls keine Flotte zur Umkehr bewegen. Wohingegen …

„Magier könnten die Toresken in die Flucht schlagen“, sagte Luas. „Selbst ohne spezifische Kampfmagie. Ich denke, dass niemand von uns ein ganzes Volk ausrotten will. Meinetwegen könnten die irgendwo an Land steigen und sich dort eine Stadt erbauen und ein schönes Leben machen. Platz genug gibt es, fruchtbaren Boden ebenfalls. Sie könnten wieder Ziegen und Pferde züchten wie damals, keinen würde es stören. Vielleicht könnten Magier helfen, ihnen solche Angst einzujagen, dass sie ihre Angriffspläne fallen lassen.“

„Adrom, wie weit ist der nächstgelegene Magierzirkel entfernt?“, fragte Punir.

„Eine Tagesreise in etwa. Vielleicht auch zwei. Er liegt bei Rovvel, das ist ein größeres Bauerndorf.“

„Rovvel? Dort gibt es eine ausgedehnte Moor- und Heidelandschaft, nicht wahr?“, fragte Scanju mit gefurchter Stirn.

„Ja, das stimmt. Man nennt es die Nebelheide, weil dort …“

„Dort ist ein Schwarm beheimatet!“, fiel Scanju ihm aufgeregt ins Wort. „Es fügt sich alles zusammen, siehst du das nicht, Dryan? Du trägst Raviyen nach Rovvel. Er bittet die Magier dort um Hilfe. Und ich spreche beim Schwarm vor, um unseren dortigen Brüdern und Schwestern zu erklären, was geschehen ist und warum wir uns in diesem Fall nicht im Nebel verstecken und so tun dürfen, als ginge es uns nichts an. Dies ist keine Angelegenheit der Menschen. Dies betrifft jedes Lebewesen, das La’yr seine Heimat nennt. Eine Rückkehr der alten Zeiten würde uns auslöschen oder in die Versklavung treiben!“

„Möglicherweise werden sie es anders sehen“, erwiderte Dryan leise.

„Ein Risiko, das ich eingehen muss. Jeder hat das Recht, seine eigene Meinung zu besitzen. Ich weiß, dass auch du nicht mit mir einverstanden bist.“

„Oh, ich bin an deiner Seite, sonst hätte ich mich nicht freiwillig gemeldet, dich zu begleiten. Ich denke nur, dass du zu unbesonnen bist. Zu sehr bereit, Geheimnisse zu opfern, die nicht dir allein gehören.“

Scanju neigte den Kopf vor seinem jüngeren Gefährten und wandte sich wieder ihnen zu. „Seid ihr mit diesem Plan einverstanden? Es würde ungefähr eine Stunde dauern, um Raviyen nach Rovvel zu tragen. Vielleicht auch zwei.“

„So viel Hoffnung hatte ich gar nicht erwartet“, entgegnete Punir. Adrom hingegen saß nach wie vor am Boden und war sichtlich nicht in der Lage, dem Verlauf des Gespräches zu folgen. „Raviyen, besorg dir trockene Kleidung und Stiefel und dann brichst du auf. Je schneller, desto besser.“

Luas umfasste Raviyens Schulter, bevor dieser blindlings losrennen konnte.

„Bring unbedingt einen Heilmagier mit zurück, selbst wenn der Zirkel sonst nichts für uns tun will“, bat er. „Nicht nur Bärnarts Leben hängt an einem seidenen Faden.“ Falls ihr Gefährte überhaupt noch lebte …

„Das werde ich, sofern es dort einen gibt“, versprach Raviyen und eilte hinaus.

„Ich benötige ebenfalls andere Kleidung. Außerdem schaue ich zu, dass der Kleine wenigstens etwas trinkt, bevor es weitergeht“, sagte Luas zu Punir. „Es wäre nicht hilfreich, wenn er zwischendurch vor Entkräftung zusammenbricht.“ Er wandte sich zur Tür, um Raviyen zu folgen. Dass er sich eigentlich einen Kuss stehlen wollte, musste er ja niemandem sagen. Wer wusste schon, wie lange sein Magier tatsächlich fortbleiben würde und …

„Moment! Wir haben einen schwerwiegenden Denkfehler!“, rief er. „Raviyen kann sich maximal eine Meile von uns entfernen.“

„Dann kommst du eben mit“, sagte Scanju leichthin. „Ich setze dich mit ihm gemeinsam am Zirkel ab und fliege danach weiter zum Schwarm.“ Er und Dryan verwandelten sich, für sie war offenbar alles Wichtige gesagt. Luas hingegen rannte, um Raviyen einzuholen. Neben Kleidung sehnte er sich nach einem Schluck Wasser und einem raschen Happen zu Essen. Außerdem musste er dringend nach Bärnart sehen. Eine längere Rast war ihnen leider nicht vergönnt … Aber zumindest ein Hauch von Hoffnung.

 

 

Den Flug hatte sich Raviyen schmerzhaft und unangenehm vorgestellt.

Es war tatsächlich nur bedingt gemütlich zu nennen, wie ein Kleinkind in den Armen eines nackten Hünen zu liegen und möglichst eng an den muskulösen Körper gepresst zu werden, weil sich dadurch der Windwiderstand verringerte. Für die kurze Distanz, die es zu bewältigen galt, was diese Methode besser, als Raviyen und Luas in Netzen sitzen zu lassen und auf solche Weise zu tragen. Das war jedenfalls Scanjus Erklärung, warum diese Haltung notwendig war, egal wie unangenehm man diese intime Nähe zu einem Fremden empfinden mochte. Eine Erklärung, mit der Raviyen nichts anfangen konnte. Luas vermutlich auch nichts, der genauso eng an Dryan gedrückt wurde. Wichtig war wohl, dass die Wandler zurechtkamen. Immerhin wollten sie nicht vom Himmel stürzen. Sie flogen sehr weit oben, um nicht gesehen zu werden. Über den Wolken war es kalt und sehr windig und seltsam … schön. Sehr friedlich. Die Sonne schien grell, darum musste Raviyen den Kopf verdreht halten, um nicht geblendet zu werden. Die nagende Angst, dass die Corvidarin sie fallen lassen könnten, spürte er nicht mehr, seit unter ihm diese dicke weiße Plusterschicht aus Wolken war. Natürlich wusste er, dass ihn dieser schaumig-flockige Bausch nicht tragen oder auch nur für einen Moment auffangen würde. Dennoch fühlte er sich irrational sicher und er wurde nicht müde, nach Löchern in der Wolkendecke zu fahnden. Er wollte die Spielzeugwelt dort unten betrachten, die aussah wie etwas, an dem ein Götterkind Freude haben würde. Grüne Fleckenteppiche waren gigantische Wälder. Schmale Glitzerbänder schier endlos lange Flüsse. Gelblich-braune Flicken mussten wohl Felder sein. Einmal flogen sie frei, ohne Wolken unter sich. Da erhaschte Raviyen einen Blick auf ein großes, blau-graues Glitzertuch in weiter Ferne – das Meer. Weder Menschen noch Tiere konnte er von hier oben erspähen. Durch den Wind war es allerdings lauter als gedacht, der pfiff mit Macht um seine Ohren und kühlte ihn aus, egal wie dicht gedrängt er bei Scanju Schutz suchte.

Nie hatte er sich bedeutungsloser und kleiner gefühlt. Konnten ihre winzigen persönlichen Sorgen und Kümmernisse tatsächlich wichtiger sein, als das Geheimnis eines schwindenden, stolzen Volkes zu bewahren? Vielleicht war es wirklich falsch, dass sie die beiden Wandler ausnutzten, auch wenn Scanju es selbst vorgeschlagen hatte.

„Wir werden dort vorn in dem Wäldchen landen, in der Hoffnung, dass es weit genug entfernt von sämtlichen menschlichen Behausungen liegt, damit uns niemand beobachtet“, rief Scanju in diesem Moment. Waren sie denn schon da? Sie waren doch erst vor wenigen Minuten losgeflogen? Und wie konnten sich die Wandler orientieren, obwohl es wenig genug zu sehen gab? Zumal sie die Gegend nicht einmal kannten.

Als sie durch die Wolkendecke stießen, wurde offenbar, dass es unter ihnen zu regnen begonnen hatte. Wie absurd, nachdem sie gerade aus der prallen Sonne kamen! Ein glücklicher Umstand war es noch dazu, denn so hatten die Leute dort am Boden viel weniger Grund, im Freien herumzulaufen oder aus dem Fenster zu schauen. Raviyen erblickte jedenfalls weit und breit niemanden, der ihnen Schwierigkeiten bereiten könnte.

Die beiden Corvidarin setzten sie am Waldrand ab, etwa achthundert Schritt von Rovvels erstem Gebäude entfernt. Scanju verabschiedete sich und flog sofort in Rabengestalt weiter. Dryan hingegen wurde zur Nebelkrähe und hüpfte auf Raviyens Schulter.

„Wird das keine Schwierigkeiten geben, wenn du mit einem Wildvogel auftauchst?“, erkundigte sich Luas stirnrunzelnd. „Nebelkrähen sind schließlich keine dressierten Hunde.“

„Nein, das wird niemandem weiter auffallen“, erwiderte Raviyen leichthin. „Die Leute hier müssen an Magier gewöhnt sein, wenn sie einen Zirkel im Dorf haben. Magier stellen schon für sich ständig seltsame Dinge an. Und auch wenn die meisten Tiere erst einmal vor der magischen Aura zurückschrecken, sofern sie nicht daran gewöhnt sind, gelten tiefe Bindungen zwischen Magiern und allen Arten von Geschöpfen als völlig normal. Selbst dann, wenn Kommunikation mit Tieren nicht zu den drei Talenten gehören und es sich um sehr seltene und einzelgängerische Arten handelt. Zudem bin ich ein Rabengeborener. Also nein, niemand denkt zweimal darüber nach, wenn ich eine Nebelkrähe auf der Schulter sitzen habe.“ Dryan krächzte bestätigend, er war derselben Meinung.

Friedlich durch den Nieselregen zu laufen, an frisch gepflügten Feldern und Bauernhäuser vorbeizugehen und abgesehen von leisem Schafsgeblöke aus einem Stall nichts zu hören, nicht einmal den Wind … Das war wieder eine neue Art von Unwirklichkeit, die Raviyen aus dem inneren Gleichgewicht warf. Konnte es denn wahr sein, dass diese Menschen hier ihr kleines, bedeutungsloses Leben lebten, während eine Tagesreise entfernt heute Nacht ein Inferno gewütet hatte? Warum wussten sie nichts von den Katastrophen? Dem gesprengten Wall, dem Leid und dem Elend der Sterbenden? Von Eumund, der erschlagen im Dreck gelegen hatte? Von Adrom, der seinen Arm verlieren würde, wenn es keinen Heilmagier geben sollte, der mit ihnen kommen wollte? Wobei sie noch klären mussten, wie sie so schnell wie möglich zurück nach Eborath gelangen konnten, möglichst ohne die Corvidarin zu enttarnen. Warum wussten diese braven Leute nichts davon, dass Raviyen mit seinen eigenen Händen Menschen getötet hatte? Ein Boot in die Luft gesprengt? Warum wusste niemand von Bärnart, der vermutlich schon tot war? Warum?

„Tu das nicht“, sagte Luas sanft.

„Was?“ Raviyen fuhr erschrocken aus seiner Versunkenheit.

„Hadere nicht mit dem Schicksal, weil du überlebt hast und die anderen nicht. Zerstöre dich nicht mit Vorwürfen über das, was du tun musstest, damit du selbst und wir anderen überleben konnten. Du hast ein Recht darauf, lebendig zu sein, hörst du? Hättest du gezögert oder versagt, wäre niemandem gedient, denn dein Tod kann nicht nützlicher als dein Leben sein. Du wirst noch gebraucht. Auch die Himmelsmächte sind dieser Meinung. Vertraue ihnen, du bist keinesfalls klüger als sie und sie irren sich im Gegensatz zu dir niemals.“

„Es fällt mir schwer …“, murmelte Raviyen.

„In Eborath bist du zum Held gewandelt worden.“

Er lachte, überzeugt, dass Luas einen Scherz gemacht hatte. Bis ihm klar wurde, dass sein Gefährte gar nicht mitlachte, sondern ernst auf ihn herabblickte.

„Also bitte! Helden frieren nicht handlungsunfähig fest, weil sie vor Angst nicht mehr wissen, wie man atmet! Helden heulen nicht, weil sie sich mehr fürchten, als sie ertragen können! Helden zweifeln nicht oder vergessen, wer sie selbst sind oder fallen über ein bisschen magisch erzeugten Schmerz in Ohnmacht, damit jeder dahergelaufene Schurke sie entführen kann. Helden kämpfen gegen Magier, statt sie anzustarren und sich überwältigen zu lassen. Ich kann also gar kein Held sein, darum veralbere mich nicht!“, widersprach Raviyen energisch.

„Oh doch, mein Freund. Genau das alles, was du gerade gesagt hast, tun Helden. Sie frieren fest, sie heulen, sie brechen zusammen, wissen nicht weiter, sie scheißen sich die Hosen voll. Helden sind sie deshalb, weil sie anschließend aufstehen, sich den Rotz abwischen und tun, was getan werden muss. Du bist ein Held, Kleiner. Gleichgültig, ob du für den Rest deines Lebens kreischend davonläufst, sobald dich eine Mücke bedroht, du bist der Held von Eborath. Der Mann, der eine Übermacht von Toresken in die Flucht geschlagen und mindestens zwei Dutzend Menschen das Leben gerettet hat. Das kann dir niemand wegnehmen, also versuche nicht, es dir selbst kaputt zu machen.“

„Und wenn ich es nicht haben will? Wenn ich einfach kein Held sein kann?“, fragte Raviyen verzweifelt.

„Dann verrate es niemandem. Punir und ich halten die Klappe, versprochen. Solange du es keinem erzählst, erfährt es auch niemand und du bleibst Raviyen, der kleine Magier. Übrigens, ist dir bekannt, dass echte Helden ungern prahlen und lieber verschweigen, was sie getan haben?“ Luas blieb unvermittelt stehen, umfasste Raviyens Gesicht und gab ihm einen raschen Kuss auf die Lippen. Das hatte er bereits vor dem Abflug getan und es irritierte Raviyen ungemein, wie sehr er diese Geste genoss – und wie wenig er wusste, was genau sie bedeuten sollte. Da er auf keinen Fall fragen wollte, folgte er Luas einfach, als dieser weiterging, als wäre nichts geschehen. Und es war ja auch nichts geschehen, oder?

Sie passierten eine Bäuerin, die eine Fuhre Mist aus einem Stall brachte und sie kritisch beäugte.

„Mögen die Himmelsmächte Euch ewig leuchten, die Dame“, begrüßte Luas sie charmant und verbeugte sich sogar. „Mein Gefährte ist übrigens ein Held.“

Sie schnaubte bloß und wandte sich ab.

„Siehst du, es interessiert sie nicht, wer oder was du bist.“ Er versetzte Raviyen einen Klaps gegen die Schulter und marschierte weiter. Raviyen schüttelte verblüfft und leicht empört den Kopf. Manchmal war dieser Kerl unglaublich!

Genau wie dieses Dorf, durch das sie liefen.

Rovvel war eine langgestreckte Ansammlung von drei Bauernhöfen und etwa zwanzig Häusern. Gerade genug, um diesem Flecken einen Eintrag auf eine Landkarte zu gewähren. Es gab weder Zäune noch Mauern und niemand schien seine Türen zu verschließen oder scharfe Hunde zum Schutz des Besitzes zu halten. Anscheinend kannte man in dieser Gegend keine Angst vor Fremden. Die Wälder und Küsten lagen meilenweit entfernt, das Land war flach und bot keine Versteckmöglichkeiten. Keine Handelsroute führte hier vorbei, keine Reichsstraße gab Rovvel Bedeutung. Offenbar hatte man auch niemals Ärger mit Raubtieren.

Ebenfalls erstaunlich war, dass der Magierzirkel zum einen mitten im Dorf statt am Rand oder weit außerhalb lag und es zum zweiten das größte Gebäude weit und breit war. Möglicherweise war die Magie stark in dieser Gegend? In manchen Bereichen wurden ständig magisch begabte Kinder geboren, in anderen fast nie, und niemand konnte sagen, was der Grund dafür sein könnte.

Raviyen klopfte an die große, rundgeformte Holztür, in die Worte eingebrannt waren, die er nicht lesen konnte. Vermutlich ein Willkommensgruß. Manchmal schützten sich Magierzirkel mit Zaubersprüchen, die es unmöglich machten, über die Schwelle zu treten, wenn man nicht von einem Bewohner eingeladen wurde.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Luas leise. „Es sieht eher nach einem Gutshaus aus, meinst du nicht?“

„Oh.“ Raviyen stutzte. Ihm war nicht einmal in den Sinn gekommen, das erklären zu müssen. „Wir sind richtig, daran besteht kein Zweifel“, erwiderte er. „Dieses Gebäude besitzt eine starke magische Aura von all den Zauberern, die es seit seiner Erbauung bewohnt haben. Die Magie sickert regelrecht in das Gestein hinein, verstehst du? Ich spüre, dass dies das Haus des hiesigen Zirkels ist. Genauso wie ein Magier sich nicht vor mir verstecken kann, es sei denn, genau das ist sein Talent.“

„Solche Zauber gibt es auch? Wie sinnlos“, entgegnete Luas.

„Meist ist es das zweite Talent, das, was aus dem Wissen heraus entsteht“, sagte Raviyen. „Und nein, es ist keineswegs sinnlos, sondern eher tragisch. Wer in einem Zirkel aufwächst, in dem er sich bedroht fühlt, oder in einer Umgebung lebt, in der Magier verfolgt und gehasst und womöglich sogar verletzt werden für das, was sie sind, der sucht selbstverständlich nach Wegen, sich und seine wahre Identität zu schützen.“

„Das habe ich noch nie verstanden. Also das mit dem zweiten Talent und dem Wissen. Wenn ihr eure zweiten Talente zumindest ein bisschen beeinflussen könnt, warum sind die dann trotzdem oft so merkwürdig? Du hast eines bekommen, das dich ausgegrenzt hat, Meisterin Schwanja hat diesen Rosenwachstums-Zauber, obwohl sie die Nähe solcher Blumen nicht verträgt. Das klingt in meinen Ohren vollkommen widersinnig.“

Raviyen lächelte unwillkürlich. „Darüber streiten sich die Magieforscher wohl schon seit tausend Jahren. Denn einerseits hat der zweite Zauber etwas mit dem zu tun, was ein Adept lernt und wofür er sich interessiert, und andererseits kann man nie voraussagen, wie sich das auswirkt und ob das Talent nützlich für seinen Besitzer sein wird. Meisterin Schwanja hat sich möglicherweise intensiv für Rosenzüchtung interessiert und darüber gelesen, gerade weil sie wissen wollte, warum sie in der Nähe dieser Pflanzen immer niesen muss. Ein Zauber, der sie vor solcherlei Auswirkungen schützt, hätte sie wohl weitergebracht. Aber vielleicht steckt auch ein tieferer Sinn dahinter, den die Meisterin schlichtweg noch nicht erkannt hat. Trotz der Ausgrenzung, die ich für mein zweites Talent erfahren habe, war es notwendig und ich weiß, wie es entstanden ist. Einer meiner Meister sagte oft, dass Magie in sich selbst einen Sinn besitzen kann, auch wenn wir ihn mit unserem kleinlichen Menschenverstand nicht begreifen können.“

Raviyen klopfte erneut, da sich bislang noch nichts gerührt hatte. Aus Sorge vor der Bedeutung der fremden Schriftzeichen wagte er nicht, die Tür einfach zu öffnen und in das Haus zu stürmen, obwohl in ihm alles drängte, genau das zu tun.

„Hallo.“

Sie fuhren beide herum. Hinter ihnen stand wie aus dem Boden gewachsen ein kleinwüchsiger, sehr hagerer Mann mit dünnem braunem Haar und fransigem Bart. Er trug Kleidung, die ihm viel zu weit und zu lang war und an ihm schlackerte wie ein Sack. Ein Bettler war er indes nicht, sondern ein Magier, aus dessen strahlend blauen Augen Frohsinn und Freude leuchteten.

„Guten Morgen, guten Morgen, einen wahrlich schönen guten Morgen, die Herren!“, rief er und verneigte sich höflich. „Verehrter Luas, es ist mir eine besondere Freude, einen Krieger des Königs in unserem bescheidenen Dorf willkommen heißen zu dürfen! Und Raviyen, ein junger Zauberadept, das ist so reizend. Nun, nun, bitte stellt euch mir vor.“

„Äh – was?“ Luas glotzte ihn an wie eine Erscheinung des Himmels und auch Raviyen wusste nicht, ob er lachen oder staunen sollte.

„Meister, Ihr kennt doch bereits unsere Namen und wisst, wer wir sind. Warum sollen wir uns Euch also vorstellen?“, fragte er so respektvoll wie möglich.

„Du musst das verstehen, mein junger Freund. Nein, natürlich verstehst du es, denn du bist ein tüchtiger Magier, der schon ein wenig von der Welt gesehen hat. In unserem Zirkel geht man übrigens nicht in das Demutsjahr, wusstest du das? Avinnar ist zu weit entfernt für unsere jungen Leute, der Weg zu gefährlich. Wir bleiben darum hier, ein Leben lang. Und haben für gewöhnlich nichts mit Eborath und Piratenüberfällen zu tun. Hach! Ich plappere. Das ist die Aufregung, wir bekommen sonst nie Besuch von edlen Leuten, niemals! Mein Talent, mein lieber Junge, ist es, fünf Minuten in die Zukunft schauen zu können.“ Das seltsam lächerliche Männchen klatschte in die Hände und sprang umher wie ein übermütiger Ziegenbock. „Darum war mir bekannt, wer ihr seid und wie ihr heißt. Aber wenn ihr euch nicht vorstellt, sodass ich das erfahre, was ich in meiner Vision gesehen habe, dann entsteht ein Paradox und ich vergesse, was ich zuvor wusste. Also mach es richtig, junger Mann, von dir hängt es jetzt ab.“ Er kicherte albern. Offenbar war er nicht ganz bei Verstand, was bei einem Talent wie dem seinen nicht weiter verwunderlich war. Raviyen überdachte, was er gerade alles gehört hatte, und verneigte sich ehrerbietig. Es würde die Dinge beschleunigen, wenn sie den Regeln folgten.

„Einen gesegneten guten Morgen, verehrter Meister“, sagte er. „Wie schön wäre es, Euren Namen erfahren zu dürfen, damit wir Euch begrüßen können, wie es Euch gebührt. Mein Name ist Raviyen von Kukris und dies ist Luas, ein Krieger im Auftrag der Krone. Ich bin Magieradept und diene im Demutsjahr. Wir sind gekommen, um Hilfe vom Magierzirkel zu erflehen. Eborath wurde in der Nacht von Toresken angegriffen.“

„Sehr schön hast du das gemacht, lieber Junge. Berichtet mir nun von den hunderten Schiffen und Booten, die zur Stunde den Ebor und die Ratha hinaufrudern und schaut bedröppelt drein, weil ihr mir nicht verraten dürft, wie ihr so offenkundig tapfer in diesem Kampf heute Nacht gefochten habt und dennoch hier an diesem Ort stehen könnt, obwohl es nicht dein Talent ist, dich und einen Gefährten magisch zu transportieren, lieber Raviyen. Ach ja: Mein Name ist Fundris und bitte, kommt herein, während ihr mir erzählt, was ich nicht vergessen darf. Ich führe euch gleich hinüber zu unserem Wysla, damit ich deine beiden Zauber erfahre. Er liebt dich, wie du gleich erfahren wirst.“

Raviyen gluckste in sich hinein, als er Luas‘ verzweifelte Miene bemerkte. Er wirkte, als wolle er schreiend weglaufen; scheinbar überforderte es ihn, ein Gespräch rückwärts zu führen. Wenn man nicht an Magie und deren teilweise unglaublichen Auswirkungen gewohnt war, konnte das sehr irritierend sein, das wollte er ihm zugestehen.

„Du hast völlig recht, mein Junge, diese Schriftzeichen auf der Tür bedeuten, dass nicht jeder ein- und ausmarschieren kann, der Lust dazu hat. Es bedarf einer Einladung. Du musst mir diese Frage nicht stellen, ich kann auf die Erinnerung verzichten. Übrigens weiß ich nicht, aus welcher Sprache diese Zeichen stammen oder was die Worte genau heißen. Ich glaube, das weiß aktuell niemand von unseren Bewohnern. Herr Krieger, es sind sechsundsiebzig.“

Der letzte Satz erfolgte beinahe gleichzeitig mit Luas Frage: „Wie viele Magier leben in diesem Zirkel?“ Fundris lachte und klatschte wieder in die Hände vor Freude. Sie folgten ihm durch einen muffigen, dunklen Gang, der in einer kleinen Halle mit niedriger Decke mündete. Sechs Türen gab es, jede davon war verschlossen. Laternen erhellten die weiß verputzten Wände, der dunkle Steinfußboden war ordentlich gefegt. Raviyen erzählte derweil brav von den heranrückenden Schiffen und der Gefahr, die dadurch für alle Küstenbewohner der Umgebung bestand.

„Ich habe die anderen gebeten, sich zurückzuhalten, um euch nicht zu überfordern. Hier entlang, die Herren. Der Wysla wohnt in der Küche.“

Ein lichtdurchfluteter Raum mit einer riesigen Feuerstelle und bodentiefen Fenstern erwartete sie. In einem Kessel brodelte ein Gemüseeintopf, mit dem man auch hundert hungrige Mäuler stopfen könnte, und es duftete nach frisch gebackenem Brot, Kräutern und geschmolzenem Käse.

„Herr Nebelkrähe, bedient Euch dort am Tisch an dem, was Euch wohlschmecken könnte. Nüsse, getrocknete Früchte, Ihr müsst nicht scheu sein. Falls Ihr Euch langweilt, könnt Ihr gerne in unserem Gemüsegarten nach Jungschnecken und Käferchen suchen. Raviyen, selbstverständlich darfst du den Käfig öffnen.“

Raviyen steuerte auf den Wysla zu, der eingesperrt in einem kleinen Käfig hauste. Das arme Geschöpf hockte sehr trübsinnig herum und rührte sich kaum, als Raviyen die Tür öffnete und mit einigen Nüssen als Kennenlernangebot die Hand hineinstreckte. Er dachte lieber nicht darüber nach, was es bedeutete, dass Meister Fundris Dryan als Person angesprochen hatte. Vielleicht bewies es bloß, wie verrückt er war. Oder er wusste eben doch genau, welche Kreaturen in seiner Nachbarschaft lebten.

Mit ein wenig Überredung schaffte er es, dem Wysla eine Nuss aufzudrängen.

„Er ist alt, der Kleine“, erklärte Meister Fundris. „Wir können ihn nicht mehr frei umherlaufen lassen, er würde sich verirren. Leider ist es unwahrscheinlich, dass wir einen neuen Wysla finden, wenn er uns verlässt. In der hiesigen Heide leben sie nicht und unser Zirkelvorstand erlaubt keine unnötigen Reisen. Da die Zo’a-Niederungen nicht ungefährlich sind, wird er dagegen sein, egal wie nützlich es ist, die Talente der Kinder und unserer wenigen Besucher zu erfahren.“

Raviyen nahm das matte Tier behutsam in die Hand und ließ seine Lichtmagie fließen, damit es sich wohlfühlte. Es kollerte zufrieden und sorgte dafür, dass er seine magischen Talente aussprach.

„Ihr könnt leider nicht mit dem Zirkelvorstand sprechen. Der gnädige Herr Meister Lutran ist nicht vor Ort. Bitte stellt mir diese Frage, damit ich mich erinnere und die Antwort nicht unnötig wiederhole.“

„Es wäre wichtig, dass wir mit dem Zirkelvorstand reden“, sagte Raviyen. „Eborath braucht Hilfe. Es gibt zahlreiche Verwundete und der König muss über die Einmarschierung einer ganzen Volksgruppe informiert werden. Wenn wir irgendetwas tun könnten, um die Toresken zurückzuschicken oder friedlich zu stimmen … Es ist keineswegs unser Wunsch, sie mit Frauen und Kindern und Alten auszurotten.“

„Hast du gemerkt, dass ich den letzten Teil deiner Worte gar nicht vorkommentiert hatte? Ja, manchmal kann ich mich beherrschen.“ Fundris kicherte und drehte sich tänzelnd um die eigene Achse. „Ich hole dann mal diejenigen, die euch helfen können. Es wird ein wenig dauern, bis ich denen alles erklärt habe. Bleibt in der Küche, wir wollen keine unnötige Aufregung riskieren. Eigentlich hat Meister Lutran verboten, dass wir Fremde einlassen, während er unterwegs ist. Hier mag ihn niemand und eure Bitte ist wichtig und ich habe ihm nicht versprochen, gehorsam zu sein. Er redet so ungern mit mir, darum seid ihr im Glück, Glück, Glück! Solange ihr nur in der Küche steht, habe ich euch auch nicht wirklich eingelassen, wie ich finde. Bis gleich! Oder nein, ich werde nicht zurückkommen, sehe ich gerade, weil ich anderweitig benötigt werde. Darum wünsche ich euch vorsorglich ein langes und gesegnetes Leben, die Herrschaften. Möglich, dass wir uns niemals mehr begegnen, was ich nicht voraussagen kann. Ich überblicke ja lediglich fünf Minuten. Und nun gehabt euch wohl.“ Er verneigte sich, bis er fast mit der Nase den Boden berührte, und hüpfte dann wie ein kleiner Junge zur Tür hinaus.

Raviyen ließ sich in der Nähe der Feuerstelle nieder und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Er war unglaublich müde und die Schnittwunden an den Händen brannten gerade mit aller Macht. Es pulsierte und klopfte in den Wunden, stark genug, dass er den Wysla kaum halten konnte. Dennoch drückte er das bedauernswerte Tierchen an sich und ließ sein Licht weiterhin leuchten, wenn auch schwach. Luas setzte sich neben ihn, dicht genug, dass sie sich Schulter an Schulter anlehnen konnten.

„Sieht so aus, als hätten wir ein bisschen Zeit, durchzuatmen“, sagte er leise. „Erzähl mir von deinen Zaubern. Unter welchen Umständen haben sie sich enttarnt? Ich will jedes Detail wissen.“

„Warum?“, fragte Raviyen überrascht.

„Weil ich mein Leben lang Magier gehasst und gefürchtet habe und mir wünschte, man könne sie zusammentreiben und über die nächste Klippe ins Meer jagen. Seit ich dich kenne, bin ich etlichen Magiern begegnet und bis auf diesen einen, der unser Feind ist, war jeder einzelne liebenswert, hilfsbereit und auf seine Weise großartig. Sonderbar vielleicht, die einen mehr, die anderen weniger, aber dennoch großartig. Gut, dieser Meister Lutran klingt weniger liebenswert, und das, obwohl wir uns die Himmelsmacht teilen. Ausnahmen gibt es eben und ich sehe ein, wie sehr ich mich geirrt habe. Die guten Magier sind die Regel, die schlechten und bösen die Ausnahmen, nicht umgekehrt. Darum will ich jetzt mehr erfahren und bei dir kann anfangen. Außerdem hilft dir reden, nicht einzuschlafen.“

Seufzend lehnte sich Raviyen an ihn und begann zu erzählen. Die Geschichte seiner Familie, die ihn so sehr gehasst hatte. Kannte Luas das nicht bereits? Er konnte sich gerade nicht erinnern und es schadete möglicherweise nicht, es noch einmal in schillernden Details zu wiederholen.

„Es war anfangs erschreckend für mich, dich zu sehen“, sagte er am Ende. „In meiner Familie hatte jeder außer mir weißblondes Haar und du bist tatsächlich der erste Mensch, den ich seither mit dieser Farbe erblickt habe.“

„Oh. Es muss also schmerzlich für dich sein, mich anzusehen“, erwiderte Luas betroffen und fasste sich unwillkürlich an den Kopf.

„Nein, inzwischen nicht mehr. Auch meine Mutter hatte diese Haarfarbe und sie habe ich sehr geliebt. Ich weiß ja, dass es nicht daran lag, dass meine Brüder und mein Vater mich hassten und fürchteten.“

„Was ist mit deinem zweiten Zauber? Warum hast du das Talent erhalten, alles zu öffnen?“, fragte Luas rasch.

Diese Geschichte hatte Raviyen in letzter Zeit noch nicht erzählt, stellte er überrascht fest. Erstaunlich, wo er die Umstände seines ersten Zaubers gleich mehrfach ausführlich geschildert hatte …

„Ich war vierzehn“, begann er zögerlich. „In meinem Zirkel galt ich als verachtenswerter Schwächling. Nicht nur wegen meines unnützen ersten Zaubers, sondern weil ich ängstlich war, niemandem vertrauen konnte, Schwierigkeiten mit Berührungen hatte. Die vielen Narben auf meinem Rücken kannte jeder von den gemeinschaftlichen Morgenwaschungen. Es gab böse Gerüchte, was für Gräueltaten ich begangen haben musste, um so viel Prügel verdient zu haben. Die neuen Adepten wurden bereits darauf eingeschworen, mich zu fürchten, weil ich solch ein übler und furchtbarer Mensch wäre. Wenn irgendetwas gestohlen wurde oder kaputt ging, hat man versucht, es mir in die Schuhe zu schieben. Funktioniert hat das nie, die Meister wussten es besser. Doch das änderte nichts daran, dass ich von allen verachtet und gemieden und ausgelacht wurde. Dazu kam, dass ich häufig über Geheimnisse stolperte, die mich nichts angingen. Ich war grundsätzlich zur falschen Zeit am falschen Ort. Hörte geflüsterte Geständnisse, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Fand Briefe, die nicht für mich geschrieben wurden. Stolperte in Räume, in denen gerade Unsinn geplant oder angestellt wurde. Mehr als einmal wurde ich dafür gepackt und irgendwo eingesperrt. Vorzugsweise an dunklen, kalten Orten. Natürlich hatte ich mein Licht und brauchte deswegen keine Finsternis zu fürchten. Wenn es einen Weg hinaus gab, habe ich ihn auch tatsächlich jedes Mal entdeckt. Aber einige Male musste ich ausharren, bis man mich vermisst hat, was durchaus die ganze Nacht bis zur nächsten Morgenwaschung dauern konnte. Ich habe jede Zeile gelesen, die es in unserer Bibliothek über Schlösser, Schlüssel und Riegel zu finden gab und wurde gut darin, mich ohne Magie zu befreien.“ Er stockte, als ihn die Erinnerungen an damals überfielen. Manche Dinge … Gleichgültig wie lange sie vergangen waren, wie gut man sie aus dem Leben verdrängt zu haben glaubte: Sobald man sich ihnen widmete, kehrten sie sofort mit ganzer Macht zurück und waren genauso schmerzhaft und quälend wie zu der Zeit, als sie einem widerfahren waren. Luas strich ihm beruhigend über die Hand und drückte sie ihm sanft, bis sich Raviyen gesammelt hatte und weitersprechen konnte. „Als ich vierzehn war, wurde ich von drei älteren Jungen in eine Kiste gesteckt. Sie haben sie zugenagelt und damit gedroht, mich lebendig zu begraben. Das war die Rache dafür, dass ich sie einen Tag zuvor verpetzt hatte, weil ich sie belauschen konnte – sie hatten einen Übergriff auf eines der Mädchen geplant, deren zweites Talent Schönheit war. Jeder war verliebt in Adrigina, ich glaube, nicht einmal die Himmelsmächte können schöner sein als sie … Ich wurde natürlich nicht lebendig begraben, die Kerle sind einfach weggelaufen. Das wusste ich da allerdings nicht. Nun, während ich noch vor Angst schrie und heulte, enttarnte sich mein zweiter Zauber. Normalerweise geschieht dies im Gegensatz zum ersten eher unauffällig. Oft genug über Nacht im Traum, oder während man ein Buch liest oder selbstvergessen aus dem Fenster starrt. Bei mir war es die gleiche Gewalterfahrung wie beim ersten Mal und es steckte kaum weniger Todesangst und Not dahinter. Ich habe meinen Meistern nicht erzählt, wie es zustande kam. Von diesem Tag an hat mich niemand mehr angegriffen, aber ich wurde noch mehr gefürchtet und verachtet.“ Er verstummte und drückte für einen Moment sein Gesicht gegen Luas‘ Schulter, um sich zu beruhigen. Auf keinen Fall wollte er den Bewohnern dieses Zirkels gleich mit rotfleckigem Gesicht und Tränen in den Augen begegnen.

„Wie kann es sein, dass jemand, der außer Prügel und Hass, Zurückweisung und Verachtung nie etwas Gutes in seinem Leben erfahren durfte, zu einem solch liebenswerten Wesen herangewachsen ist?“, fragte Luas und legte ihm in tröstender Geste einen Arm um die Schulter. „Du willst immer helfen und bist rücksichtsvoll und freundlich …“

„Meine Mutter hat mich das gelehrt“, murmelte Raviyen. „Ich habe lange genug bei ihr gelebt, um mich an vieles erinnern zu können. Sie hat mir beigebracht, das Beste in jedem Geschöpf zu sehen. Sie hat mich geliebt und beschützt, soweit ihr das möglich war. Auch die Meister im Zirkel haben mir geholfen. Wenn ich versucht hätte zurückzuschlagen und rücksichtslos gegenüber meinen Altersgenossen gewesen wäre, hätten sie das aufgegeben. Also die Meister, sie hätten mich aufgegeben meine ich damit. Und nicht zuletzt habe ich mich in die Heldengeschichten geflüchtet. In jede, die ich in die Finger bekommen konnte. Ich wollte immer sein wie Wokan der Listenreiche, der mit Klugheit seine Feinde besiegt hat, ohne sie töten zu müssen oder anderen zu schaden.“ Er dachte an die Männer auf dem Boot, das er gesprengt hatte, und kämpfte weiter gegen die bitteren Tränen an. Wäre er klüger gewesen, hätte er die Toresken vielleicht austricksen können. Stattdessen … „Ich bin nicht, was du in mir zu sehen glaubst, Luas. Ich bin kein guter Mensch.“

„Auf die gleiche Art, wie du kein Held bist, meinst du?“ Luas lachte auf, ergriff ihn hart am Kinn und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Raviyen wünschte, er würde damit aufhören. Es gefiel ihm viel zu sehr, geküsst zu werden. Es verwirrte ihn, ließ die Sehnsucht nach mehr allmählich unerträglich anwachsen.

„Ich bin auf jeden Fall kein Spielzeug“, sagte er mahnend. Für einen Moment wirkte Luas betroffen. Dann nickte er ernst.

„Ich weiß. Ich spiele nicht mit dir. Küssen ist für mich eine heilige Angelegenheit. Niemals würde ich jemanden küssen, mit dem ich es nicht ernst meine.“

Das … war nun endgültig verwirrend. Bevor Raviyen überlegen konnte, wie er auf diese Worte reagieren wollte, klopfte es an der Tür und eine kleine Gruppe von Magiern kam herein.

„Guten Tag“, sagte der Älteste von ihnen respektvoll. Er trug den weißen Bart bis zum Gürtel, wirkte jedoch rüstig und kräftig und schien nicht älter als fünfzig Winter zu sein. An seiner Hand lief ein kleines Mädchen von höchstens neun Jahren. Raviyen entdeckte ihr Geburtsabzeichen, das einen Otter darstellte. Damit war klar, dass er sie richtig eingeschätzt hatte. Zwei Frauen standen hinter dem Graubart. Sie mussten Mitte Dreißig sein und waren unschwer als Zwillinge zu erkennen. Beinahe alle Zwillinge wurden mit magischer Begabung geboren, darum fand man sie in Zirkeln recht häufig vor.

„Die Himmelsmächte mögen euch leuchten“, sagte Raviyen höflich und versuchte aufzustehen. Seine Glieder waren schwer wie Blei, auch Luas hatte Schwierigkeiten.

„Darf ich?“, fragte das Mädchen und blickte fragend zu dem älteren Mann auf.

„Selbstverständlich, die beiden benötigen Hilfe“, sagte er und fuhr an Luas und Raviyen gewandt fort: „Seid gegrüßt. Mein Name ist Windrik. Die Kleine heißt Otranja und ist eine begabte Heilmagierin. Sie möchte euch behilflich sein, ihr seid erkennbar verletzt und erschöpft.“

„Der Wysla mag dich“, sagte Otranja und umfasste Raviyens bandagierte Hände. „Er mag nur besonders freundliche Magier. Meister Lutran beißt er immer.“

„Wo ist Meister Lutran, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Raviyen nach seiner namentlichen Vorstellung, froh dass dieser anscheinend ungeeignete Vorsteher und unerfreuliche Herr nicht vor Ort war.

„Darf ich das sagen, Meister Windrik?“, fragte sie und ließ ihre Magie fließen. Himmel, was war das wohltuend! Er spürte, wie sich seine Wunden schlossen und neue Kräfte in ihm erwachten.

„Eigentlich geht es Fremde nichts an, Liebes“, murmelte Meister Windrik.

„Sie sind Fundris bereits begegnet“, rief eine der Frauen. Beide Schwestern besaßen wunderschönes kastanienbraunes Haar und trugen Rabenanhänger über den grünen Wollkleidern. „Unser Meister Wunderlich, wie wir ihn gerne nennen. Fundris kann nicht bloß in die Zukunft sehen, sondern auch Ideen pflanzen. Das macht er selten. Er sagt selbst, dass nichts gefährlicher ist und abscheulicher wuchert als eine fixe Idee. Nun kann er Meister Lutran wirklich gar nicht leiden und als dieser ihn einmal zu oft geärgert hat …“

„… hat Fundris ihm die fixe Idee aufgezwungen, dass es im Harel-See Gold gibt“, fuhr ihre Schwester fort. „Seitdem verbringt Lutran seine Tage und Nächte damit, an diesem See auszuharren und nach etwas zu schürfen, was es nicht gibt. Wir haben versucht, es ihm auszureden, leider ist das vollkommen unmöglich. Immerhin dürfen wir ihm gelegentlich Nahrung und frische Kleidung bringen. Der See liegt über zwanzig Meilen von hier entfernt.“

„Erinnere mich daran, mir den hochverehrten Meister Fundris auf keinen Fall zum Feind zu machen“, brummte Luas und stand auf, nachdem er sich bei dem Mädchen bedankt hatte.

„Meister Fundris führt den Zirkel jetzt mehr oder weniger an“, sagte Meister Windrik. „Er besteht allerdings darauf, dass er nicht der Vorsteher ist und auch nicht sein kann, denn Lutran hat dieses Amt nicht offiziell niedergelegt. Es ist nicht so, dass der arme Mann unfähig wäre, seinen Misserfolg einzusehen und heimzukehren. Leider scheint er die Idee wirklich zu lieben, eines Tages Gold zu finden …“

„Meister Fundris hat uns erklärt, warum ihr hergekommen seid“, sagte eine der Frauen. „Wir sind übrigens Rabora und Rataurin. Uns ist nicht richtig klar, wie wir helfen sollen, eine herannahende Flotte zu besiegen …“

„Sicherlich hat sich Meister Fundris etwas dabei gedacht, als er euch auswählte und herschickte“, sagte Raviyen. Vielleicht fangen wir damit an, welche magischen Talente ihr besitzt? Deines kenne ich ja schon, Otranja. Vielen Dank, dass du uns so gut geheilt hast.“ Er schenkte dem Mädchen ein Lächeln, das sie scheu erwiderte. „Du wirst in Eborath dringend gebraucht, denn jeder einzelne Krieger dort ist verletzt. Einige derartig schwer, dass sie jeden Moment sterben könnten.“

„Dann sollten wir keine Zeit mit langen Überlegungen vergeuden“, rief Meister Windrik. „Eines meiner Talente besteht in magischen Reisen. Wir können innerhalb weniger Herzschläge in Eborath ankommen.“

„…“ Raviyen suchte nach Worten, um seine Erleichterung in Worte zu fassen, und scheiterte. Es war seine große Sorge gewesen, wie so viele Leute dorthin getragen werden sollten, wo sie gebraucht wurden. Magische Reise war als Talent praktisch nicht vorhanden, soweit ihm bekannt war. In dieser Gegend gab es erstaunlich viele und mächtige Zauberer – zumal wenn man bedachte, dass die jungen Leute kein Demutsjahr begingen, um den dritten Zauber zu enthüllen.

Dryan stieß einen Ruf aus, um ihm mitzuteilen, dass er sich nun, da er nicht mehr benötigt wurde, auf die Suche nach Scanju begeben würde, und flog zum geöffneten Fenster hinaus. Raviyen hingegen setzte schweren Herzens den Wysla zurück in den Käfig. Der arme Kerl würde den Stress einer magischen Reise sicherlich nicht ertragen.

„Wir müssen dir irgendwann deinen eigenen Wysla besorgen“, brummte Luas. „Diese Viecher beten dich regelrecht an.“ Tatsächlich wirkte der Kleine sehr unglücklich, erneut eingesperrt zu werden. Vielleicht war er aber auch nur sehr müde. Altern war keine leichte Aufgabe, für kein Lebewesen. Raviyen streichelte ihm ein letztes Mal über das seidige Fell, bevor er die Tür verschloss. Dann beobachtete er Meister Windrik, der inzwischen einen seltsamen Gegenstand aus der Westentasche gekramt hatte. Er war kreisrund und schwarz, geformt wie ein Armreif und auch etwa von entsprechender Größe. Dieselben merkwürdigen Schriftzeichen, die sich auch auf der Haustür befanden, waren in Gold rundherum aufgemalt.

„Jemand hatte das in einem der Pfosten meines Bettes versteckt“, erzählte er, als er Raviyens neugierigen Blick bemerkte, während er das merkwürdige Artefakt in den Händen drehte. „Ich fand es dort, als ich zwölf Jahre alt war. Niemand konnte sagen, was die Schriftzeichen bedeuten und welchen Sinn das Ding hat. Natürlich durfte ich es nicht behalten und ich war wütend darüber … Eines Nachts bin ich aufgestanden und habe es aus dem Studierzimmer des damaligen Zirkelvorstehers geholt und unter meinem Kopfkissen versteckt. In dieser Nacht träumte ich, dass der Ring wächst und wächst und ich nur hindurchzusteigen brauche, um in ferne Länder zu reisen … Zu jener Zeit war ich vollkommen fasziniert von Landkarten. Ich erwachte, als mich die Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten – an irgendeinem weißen Strand, während türkisfarbene Wellen an meine Zehen spülten. Ich lag inmitten des Rings, der auf Übermannsgröße angewachsen war. Sogar Kissen und Bettdecke hatte ich mitgenommen. Es war zum Glück kein Problem, auf gleichem Weg nach Hause zurückzukehren, sonst wäre ich verloren gewesen.“ Er lächelte schmal, während der Ring in seinen Händen plötzlich gigantisch anwuchs. „Tretet hindurch, meine Herren. Die nächste Reiseetappe ist Eborath.“

Raviyen wollte der einladenden Geste folgen, doch er sah, dass Luas zögerte.

„Hab Vertrauen“, sagte er und umfasste Luas‘ Hand, ohne weiter nachzudenken. „Meister Windrik macht dies seit vielen Jahren, es ist sicher genug.“ Vollkommen sicher fühlte er sich selbst auch nicht. Durch den Ring, der mittlerweile einen halben Schritt über dem Boden schwebte und sich selbstständig aufrecht hielt, sah man weiterhin die Küche mit ihren weißen Wänden und den Körben und Truhen in der Ecke, in denen Vorräte und Gebrauchsgegenstände gelagert wurden. Wie genau funktionierte diese Magie? Das war häufiger eine gute Frage … Da die beiden Frauen und das kleine Mädchen sorglos vorausgingen, sollte es unsinnig sein, sich zu fürchten.

Hand in Hand traten sie hindurch.

Blendendes Licht umgab sie, ein seltsames Knistern und Summen, wie es manchmal kurz vor einem Gewitter in der Luft lag, und ein Geruch, als wäre gerade erst ein Blitz eingeschlagen.

---ENDE DER LESEPROBE---