Der Einzelgänger - Lee Child - E-Book

Der Einzelgänger E-Book

Lee Child

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Beschreibung

»Dieser Story-Band zeigt, was Fans an Lee Child so schätzen: Er ist ein geborener Erzähler und ein scharfsinniger Beobachter.« Publishers Weekly

Jack Reacher ist der wahrscheinliche härteste Actionheld der Thrillerliteratur, und das bereits seit 20 Jahren. Am liebsten ist er allein. Er macht sich nicht viel aus der Gesellschaft anderer Menschen. Aber wenn er Ungerechtigkeit bemerkt, dann kann er gar nicht anders als einzugreifen. In zwölf Storys ermöglicht SPIEGEL-Bestsellerautor Lee Child seinen Fans einen tieferen Einblick in einen der faszinierendsten und erfolgreichsten Serienhelden des modernen Thrillers. Ob in New York, dem ländlichen Maine oder in Japan, ob im Alter von 17 oder 57 Jahren: Jack Reacher begeistert Leser und Kritiker – und das seit zwanzig Jahren!

Dieses Buch enthält folgende Storys:
Zu viel Zeit
Der zweite Sohn
Hitzewelle
Tief drinnen
Kleinkriege
James Penneys neue Identität
Das Verhör
Dies ist keine Übung
Vielleicht haben sie eine Tradition
Ein Kerl kommt in eine Bar
Kein Raum in der Herberge
Der einsame Diner

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Seitenzahl: 509

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Lee Child

Der Einzelgänger

Jack-Reacher-Storys

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »No Middle Name – The Complete Collected Jack Reacher Short Stories« bei Bantam, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Lee Child

Published by arrangement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

»Everyone Talks« (dt. Das Verhör) first appeared in Esquire, 2012; »Maybe They Have a Tradition« (dt. Vielleicht gibt es eine Tradition)

appeared in Country Life, 2016; »No Room at the Motel« (dt. Kein Raum in der Herberge) appeared in Stylist, 2014.

»The Picture of the Lonely Diner« (dt. Das einsame Diner) was first published in Manhattan Mayhem

(Mystery Writers of America), 2015. »Too Much Time« (dt. Zu viel Zeit) (Erstveröffentlichung in dieser Ausgabe)

Die anderen Storys dieser Ausgabe erschienen als e-only:

»Second Son« (dt. Der zweite Sohn), © 2011; »High Heat« (dt. Hitzewelle), © 2013; »Deep Down« (dt. Tief drinnen), © 2012; »Small Wars« (dt. Kleinkriege), © 2015; »Not a Drill« (dt. Dies ist keine Übung), © 2014.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: Alex Potemkin/E+/Getty Images; Sally Mundy/Trevillion Images

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22637-4V004

www.blanvalet.de

INHALT

Zu viel Zeit

Der zweite Sohn

Hitzewelle

Tief drinnen

Kleinkriege

James Penneys neue Identität

Das Verhör

Dies ist keine Übung

Vielleicht gibt es eine Tradition

Ein Kerl kommt in eine Bar

Kein Raum in der Herberge

Der einsame Diner

ZU VIEL ZEIT

Sechzig Sekunden pro Minute, sechzig Minuten pro Stunde, vierundzwanzig Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche, zweiundfünfzig Wochen pro Jahr. Reacher überschlug die Zahlen im Kopf und kam auf etwas über dreißig Millionen Sekunden für jeden Zwölfmonatszeitraum. In den Vereinigten Staaten würden in dieser Zeitspanne fast zehn Millionen schwere Straftaten verübt werden. Grob gesagt alle drei Sekunden eine. Nicht gerade wenig. Tatsächlich als Augenzeuge zu erleben, persönlich und aus nächster Nähe, wie ein Verbrechen begangen wurde, war nicht völlig unwahrscheinlich. Wo man sich aufhielt, spielte natürlich eine Rolle. Verbrechen gab es, wo Menschen waren. Mitten in einer Großstadt standen die Chancen höher als mitten auf einer Wiese.

Reacher hielt sich in einer ehemals blühenden Kleinstadt in Maine auf. Nicht an einem See. Nicht am Atlantik gelegen. Hatte nichts mit Hummern zu tun. Aber sie musste einst für etwas gut gewesen sein. Das stand fest. Ihre Straßen waren breit, die Gebäude solide gemauert. Über allem lag ein Hauch von längst vergangenem Wohlstand. Was früher Luxusgeschäfte gewesen sein mochten, waren nun Dollar Stores. Aber nicht alles wirkte trist und trübe. Immerhin machten die Dollar Stores etwas Umsatz. Es gab einen Coffeeshop einer Kette. Auf dem Gehsteig standen Tische und Stühle. Auf den Straßen herrschte fast Gedränge. Dazu trug das Wetter bei. Der erste Frühlingstag, und die Sonne schien.

Reacher bog auf eine Straße ab, die so breit war, dass man sie in eine Fußgängerzone umgewandelt und in Plaza umbenannt hatte. Vor geduckten Klinkergebäuden auf beiden Seiten standen Cafétische, und auf der freien Fläche zwischen ihnen waren ungefähr dreißig Personen unterwegs. Reacher sah die Szene anfangs genau von vorn, wobei die Menschen vor ihm willkürlich verteilt zu sein schienen. Später wurde ihm klar, dass die Leute, auf die es ankam, ein fast perfektes großes T bildeten. Er befand sich an seinem Fuß, blickte nach oben, und ungefähr vierzig Meter entfernt, auf dem Querbalken des Buchstabens T, ging eine junge Frau rechtwinklig durch sein Blickfeld: von rechts nach links, von einem Gehsteig der breiten Straße zum anderen. Über einer Schulter hatte sie eine Stofftasche hängen. Der Stoff schien starkes Leinen in Naturfarbe zu sein, die sich blass von ihrer dunklen Bluse abhob. Sie war schätzungsweise zwanzig. Oder auch jünger. Vielleicht erst achtzehn. Sie lief langsam, blickte zum Himmel auf, genoss die Sonne auf ihrem Gesicht.

Dann kam vom anderen Ende des Querbalkens – aber viel schneller – ein Junge auf sie zugerannt. Ungefähr in ihrem Alter. Sneakers an den Füßen, enge schwarze Hose, Hoodie mit hochgeschlagener Kapuze. Er packte die Stofftasche der Frau, riss sie ihr von der Schulter. Sie öffnete den Mund wie zu einem atemlosen Schrei und schlug der Länge nach hin. Der Junge klemmte sich die Tasche wie einen Football unter den Arm, schlug einen Haken nach rechts und lief den senkrechten T-Balken entlang genau auf Reacher zu, der am Fuß des Buchstabens stand.

Dann erschienen am rechten Ende des Querbalkens zwei Männer in Anzügen, die wie zuvor die Frau von einem Gehsteig der breiten Straße zum anderen unterwegs waren. Sie kamen etwa zwanzig Meter hinter ihr. Die Straftat ereignete sich unmittelbar vor ihnen. Sie reagierten wie die meisten Leute: Nachdem sie im ersten Augenblick wie gelähmt dagestanden hatten, drehten sie sich um, sahen dem Flüchtenden nach, rissen die Arme lebhaft, aber unkoordiniert hoch und riefen etwas, das wie He! klang.

Dann nahmen sie die Verfolgung auf. Als wäre ein Startschuss gefallen. Sie rannten stampfend und mit flatternden Jackenschößen. Cops, dachte Reacher. Unbedingt. Wegen des stillschweigenden Einverständnisses. Sie hatten nicht mal einen Blick gewechselt. Wer außer Cops hätte sonst so reagiert?

In vierzig Metern Entfernung rappelte die junge Frau sich wieder auf und rannte weg.

Die Cops stampften weiter. Aber der Junge in dem schwarzen Hoodie hatte zehn Meter Vorsprung und war viel schneller. Sie würden ihn nicht einholen. Niemals. Sein Vorsprung vergrößerte sich stetig.

Der Junge war jetzt zwanzig Meter von Reacher entfernt, wich nach links aus, umkurvte rechts einen Passanten. Noch ungefähr drei Sekunden entfernt. Vor sich hatte er eine Lücke, dann wieder freie Bahn. Noch zwei Sekunden entfernt. Reacher machte einen Schritt nach rechts. Noch eine Sekunde entfernt. Ein weiterer Schritt. Reacher ließ den Jungen von seiner Hüfte abprallen, sodass er mit wild rudernden Armen und Beinen zu Boden ging. Die Stofftasche segelte durch die Luft, und der Junge wälzte sich auf den Bauch; aber dann kamen schon die Männer in Anzügen heran und stürzten sich auf ihn. Ein paar Neugierige blieben stehen. Die Stofftasche lag ungefähr einen Meter vor Reachers Füßen. Verschlossen war sie mit einem zugezogenen Reißverschluss. Reacher bückte sich, um sie aufzuheben, ließ sie dann aber doch liegen. Beweismittel, auch wenn sie nicht viel hergaben, fasste man lieber nicht an. Er trat einen Schritt zurück. Hinter ihm versammelten sich weitere Gaffer.

Die Cops richteten den benommen wirkenden Jungen auf, drehten ihm die Hände auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Während einer von ihnen ihn bewachte, hob der andere die Stofftasche auf. Sie erschien flach und gewichtslos und leer. Irgendwie kollabiert. Der Cop suchte die Gesichter der Umstehenden ab und fixierte zuletzt Reacher. Er zog seine Geldbörse aus der Hüfttasche und klappte sie mit geübtem Schwung auf. Hinter dem trüben Sichtfenster des Ausweisfachs steckte sein Dienstausweis mit Lichtbild. Detective Ramsey Aaron, County Police Department. Das Foto zeigte denselben Kerl: einige Jahre jünger und weit weniger außer Atem.

Aaron sagte: »Vielen Dank, dass Sie uns bei dieser Sache helfen.«

Reacher sagte: »Bitte sehr.«

»Haben Sie gesehen, was genau passiert ist?«

»Ziemlich alles.«

»Dann muss ich Sie bitten, Ihre Aussage zu Protokoll zu geben.«

»Haben Sie gesehen, wie das Opfer anschließend weggelaufen ist?«

»Nein, das habe ich nicht gesehen.«

»Ihr hat nichts gefehlt, glaube ich.«

»Gut zu wissen«, meinte Aaron. »Aber Ihre Aussage brauchen wir trotzdem.«

»Sie haben alles viel besser gesehen als ich«, sagte Reacher. »Es ist vor Ihrer Nase passiert. Protokollieren Sie Ihre eigenen Beobachtungen.«

»Ehrlich gesagt, Sir, würde die Aussage eines gewöhnlichen Bürgers mehr zählen. Geschworene mögen Aussagen von Polizeibeamten nicht immer. Ein Zeichen der Zeit.«

Reacher sagte: »Ich war auch mal ein Cop.«

»Wo?«

»In der Army.«

»Dann sind Sie sogar noch besser als ein gewöhnlicher Bürger.«

»Aber ich kann nicht bis zur Verhandlung hier rumhängen«, erklärte Reacher. »Ich bin auf der Durchreise und muss weiter.«

»Es kommt zu keiner Verhandlung«, sagte Aaron. »Wenn wir die Aussage eines Zeugen haben, der außerdem ein Veteran mit Erfahrung im Vollzugsdienst ist, plädiert die Verteidigung auf schuldig, um einen Deal zu erreichen. Einfache Arithmetik. Plus- und Minuspunkte. Wie bei Ihrem Kreditscore. So funktioniert das heutzutage.«

Reacher schwieg.

»Zehn Minuten Ihrer Zeit«, sagte Aaron. »Nur was Sie gesehen haben. Was könnte schlimmstenfalls passieren?«

»Okay«, entgegnete Reacher.

Es dauerte gleich zu Anfang länger als zehn Minuten. Sie warteten darauf, dass ein Streifenwagen kam, um den Jungen auf die Polizeistation zu bringen. Als er dann eintraf, folgte ihm ein Notarztwagen, damit der Junge auf Haftfähigkeit untersucht werden konnte. Um einen unerklärlichen Tod in der Zelle zu vermeiden. Das alles dauerte seine Zeit. Aber zuletzt fuhr der Streifenwagen mit dem Jungen auf dem Rücksitz und den beiden Uniformierten auf den Vordersitzen davon. Die Gaffer verliefen sich. Reacher und die beiden Cops blieben allein zurück.

Der zweite Cop sagte, er heiße Bush. Kein Verwandter der Bushs in Kennebunkport. Auch er war Detective im County Police Department. Er sagte, ihr Wagen stehe in der Querstraße am anderen Eck der Plaza. Er zeigte auf die Stelle, wo sie ihren Spaziergang in der Sonne begonnen hatten. Sie gingen alle in diese Richtung: den senkrechten T-Balken hinauf, dann rechts auf den Querbalken abbiegend. Die Cops kehrten dorthin zurück, woher sie gekommen waren, und Reacher folgte ihnen.

Reacher fragte: »Wieso ist das Opfer weggelaufen?«

Aaron antwortete: »Das müssen wir noch rauskriegen, denke ich.«

Ihr Wagen war ein alter Crown Vic, abgenutzt, aber keine durchgesessenen Sitze. Sauber, aber nicht auf Hochglanz poliert. Reacher stieg hinten ein, was ihm nichts ausmachte, weil der Wagen eine normale Limousine war. Ohne Trennscheibe aus Panzerglas. Und mit der meisten Beinfreiheit, wenn er sich seitlich so hinsetzte, dass er die Tür im Rücken hatte, was er unbesorgt tat, weil er sich ausrechnete, dass die hinteren Türen eines Cop-Cars nicht gleich beim leisesten Druck aufspringen würden.

Die Fahrt zu einem tristen niedrigen Betonbau am Stadtrand war kurz. Er hatte hohe Funkmasten und Satellitenschüsseln auf dem Dach. Davor lag ein Parkplatz, auf dem ordentlich aufgereiht drei neutrale Dienstwagen und ein einzelner schwarz-weißer Streifenwagen standen. Ungefähr zehn weitere Plätze waren frei, und ganz hinten in einer Ecke parkte ein Unfallwagen: ein SUV mit eingedrückter Motorhaube. Detective Bush fuhr vor und hielt auf einem mit D2 bezeichneten Platz. Sie stiegen alle aus. Die schwache Frühlingssonne schien noch immer.

»Damit keine Missverständnisse aufkommen«, erklärte Aaron. »Je weniger Geld wir in unsere Gebäude stecken, desto mehr können wir dafür ausgeben, die Kriminellen zu fassen. Hier geht’s um Prioritäten.«

»Sie reden wie der Bürgermeister«, meinte Reacher.

»Gut geraten. Das war ein Stadtrat, in einer Rede. Wort für Wort.«

Sie gingen hinein. Drinnen sah die Polizeistation weniger schlimm aus als draußen. Reacher war sein Leben lang in Dienstgebäuden ein und aus gegangen. Nicht unbedingt in den eleganten Marmorpalästen in D.C., sondern in den schmuddeligen, abgenutzten Gebäuden, in denen tatsächlich regiert wurde. Und in Bezug auf luxuriöse Räumlichkeiten standen diese Country Cops ungefähr auf halber Höhe der Skala. Ihr Hauptproblem waren niedrige Raumhöhen. Selbst staatliche Architekten unterlagen manchmal Moden, und in der allgemeinen Atomhysterie der 1950er-Jahre hatten sie für kurze Zeit auf äußerst massive Betonbauten gesetzt, als könnte es die Bürger beruhigen, dass ihre Sicherheitskräfte allem Anschein nach atombombensicher untergebracht waren. Aber aus irgendwelchen Gründen verbreitete sich die Bunkermentalität auch oft im Inneren, in den beengten, schlecht belüfteten Räumen. Das war das einzige wirkliche Problem der County Police. Der Rest schien in Ordnung zu sein. Vielleicht etwas schlicht, aber smarte Leute wollten keine unnötigen Komplikationen. Vermutlich war es okay, hier zu arbeiten.

Aaron und Bush brachten Reacher in einen Vernehmungsraum in dem Korridor, der am Großraumbüro der Kriminalbeamten vorbeiführte. Reacher fragte: »Machen wir das nicht an Ihrem Schreibtisch?«

»Wie in Fernsehserien?«, fragte Aaron. »Nicht zulässig. Nicht mehr. Seit dem 11. September nicht mehr. Kein Zutritt zu Diensträumen für Unbefugte. Sie sind einer, solange Ihr Name nicht als aussagebereiter Zeuge in den Akten steht. Was ja noch nicht der Fall ist. Außerdem greift unsere Versicherung hier am besten. Ein Zeichen der Zeit. Sollten Sie ausrutschen und hinfallen, hätten wir lieber eine Kamera im Raum, die beweist, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht mal in Ihrer Nähe befanden.«

»Verstanden«, sagte Reacher.

Sie gingen hinein. Der standardmäßig eingerichtete Raum wirkte noch bedrückender durch das schwer auf ihnen lastende Gefühl, auf allen Seiten von Tausenden von Tonnen Beton umgeben zu sein. Die Wände waren unverputzt, aber schon so oft gestrichen worden, dass sie glatt und glänzend aussahen. Die Energiesparbirnen in den Lampen machten das dienstlich verordnete Blassgrün nicht besser. In die Wand gegenüber der Tür war ein großer Spiegel eingelassen. Garantiert eine Scheibe aus Einwegglas.

Reacher setzte sich dem Spiegel gegenüber auf die für böse Kerle vorgesehene Seite des quer stehenden Tischs. Auf der anderen nahmen Aaron und Bush Platz, beide mit Notizblöcken und jeweils mehreren Filzschreibern ausgestattet. Als Erstes warnte Aaron den Zeugen, hier würden Videoaufnahmen mit Ton gemacht. Dann forderte er ihn auf, seinen vollen Namen, sein Geburtsdatum und seine Sozialversicherungsnummer anzugeben, was Reacher wahrheitsgemäß tat. Warum auch nicht? Als Nächstes fragte Aaron nach seiner gegenwärtige Adresse, woraus eine große Debatte entstand.

Reacher sagte: »Ohne festen Wohnsitz.«

Aaron fragte: »Was soll das heißen?«

»Was es besagt. Das ist ein feststehender Ausdruck.«

»Sie wohnen nirgends?«

»Ich wohne an vielen Orten. Jeweils für eine Nacht.«

»In einem Wohnmobil? Sind Sie im Ruhestand?«

»Kein Wohnmobil«, antwortete Reacher.

Aaron sagte: »Mit anderen Worten, Sie sind obdachlos.«

»Aber freiwillig.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bin ständig unterwegs. Einen Tag hier, einen Tag dort.«

»Warum?«

»Weil es mir gefällt.«

»Wie ein Tourist?«

»Das stimmt wohl.«

»Wo ist Ihr Gepäck?«

»Ich habe keines.«

»Sie haben keine Sachen?«

»Ich habe mal auf einem Flughafen in einer Broschüre geblättert. Anscheinend sollen wir uns von allem trennen, was uns keine Freude bringt.«

»Also haben Sie Ihr Zeug entsorgt?«

»Ich hatte schon nichts mehr. Zu diesem Schluss bin ich schon vor Jahren gelangt.«

Aaron starrte unsicher auf seinen Notizblock. Er fragte: »Was wäre die beste Bezeichnung für Sie? Vagabund?«

Reacher sagte: »Landstreicher. Obdachloser. Nichtsesshafter. Wohnsitzloser.«

»Ist Ihr Militärdienst wegen irgendeiner Erkrankung beendet worden?«

»Würde das meine Glaubwürdigkeit als Zeuge beeinträchtigen?«

»Das Ganze gleicht wie gesagt einem Kreditscore. Kein fester Wohnsitz ist schlecht. Eine posttraumatische Belastungsstörung wäre noch schlimmer. Die Verteidigung könnte im Zeugenstand Ihre Zuverlässigkeit anzweifeln. Das kann Sie ein paar Punkte kosten.«

»Ich war im 110th MP«, sagte Reacher. »Ich habe keine Angst vor einer PTBS. Die PTBS hat Angst vor mir.«

»Was war die 110th MP?«

»Eine Eliteeinheit.«

»Wie lange sind Sie schon draußen?«

»Länger, als ich drinnen war.«

»Okay«, sagte Aaron. »Aber das entscheide nicht ich. Hier geht’s um Zahlen, um sonst nichts. Gerichtsverfahren laufen in Laptops ab. Spezielle Software. Zehntausend Simulationen. Die Mehrheitsmeinung gewinnt. Ein paar Punkte hin oder her können den Ausschlag geben. Auch ohne alles andere ist Wohnsitzlosigkeit nicht ideal.«

»Machen Sie, was Sie wollen.«

Wie Reacher erwartet hatte, machten die beiden weiter. Man konnte nie zu viel haben. Was nicht gebraucht wurde, konnte man später immer noch weglassen. Das war ganz normal. Selbst in eindeutigen Fällen wurde viel gute Arbeit vergeudet. Also schilderte er, was er gesehen hatte: sorgfältig, zusammenhängend, vollständig, von Anfang bis Ende, von links nach rechts, von unten nach oben, und als er fertig war, waren sich alle einig, so müsse es gewesen sein. Aaron schickte Bush weg, damit er den Mitschnitt abtippen ließ, sodass Reacher ihn unterschreiben konnte. Als sein Kollege gegangen war, sagte Aaron: »Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Nochmals bitte sehr«, entgegnete Reacher. »Erzählen Sie mir jetzt, welches Interesse Sie an dem Fall haben.«

»Sie haben ja gesehen, dass sich alles direkt vor unseren Augen abgespielt hat.«

»Was anfängt, immer interessanter zu werden. Ich meine, wie wahrscheinlich war das? Detective Bush hat vorhin auf D2 geparkt. Das bedeutet, dass er bei den hiesigen Kriminalbeamten die Nummer zwei ist. Aber er hat den Wagen gefahren und ist jetzt in Ihrem Auftrag unterwegs. Folglich sind Sie hier die Nummer eins. Das heißt wiederum, dass die beiden wichtigsten Namen in der glorreichsten Abteilung der ganzen County Police zufällig hinter einer jungen Frau hergegangen sind, die dann zufällig beraubt wurde.«

»Zufall«, meinte Aaron.

Reacher sagte: »Ich glaube, dass Sie sie beschattet haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil es Ihnen gleichgültig zu sein scheint, was aus ihr geworden ist. Vermutlich wissen Sie, wer sie ist. Sie wissen, dass sie bald zurückkommen und Ihnen alles erzählen wird. Oder Sie wissen, wo sie zu finden ist. Weil Sie sie erpressen. Oder sie ist eine Doppelagentin. Oder vielleicht ist sie eine von Ihnen, eine verdeckte Ermittlerin. Jedenfalls vertrauen Sie darauf, dass sie selbst zurechtkommt. Die junge Frau macht Ihnen keine Sorgen – Sie interessiert nur ihre Stofftasche. Sie wird vor Ihren Augen beraubt, aber Sie waren nur an der Tasche interessiert, nicht an der jungen Frau. Vielleicht ist die Tasche wichtig. Ich wüsste allerdings nicht, wieso. Sie hat leer ausgesehen.«

»Das klingt wirklich nach einer großen Verschwörung, nicht wahr?«

»Stutzig gemacht hat mich Ihre Wortwahl«, sagte Reacher. »Sie haben mir für meine Hilfe gedankt. Meine Hilfe wobei? Weil ich spontan etwas getan habe? Ich glaube nicht, dass Sie sich dann so ausgedrückt hätten. Sie hätten vielleicht gesagt: Wow, das war was, wie? Oder so etwas in der Art. Oder nur eine hochgezogene Augenbraue. Als eine Art Erkennungszeichen, als Eisbrecher. Als wären wir alte Kumpels. Aber stattdessen haben Sie mir recht förmlich gedankt und gesagt: Vielen Dank, dass Sie uns bei dieser Sache helfen.«

Aaron sagte: »Ich wollte nur höflich sein.«

Reacher sagte: »Aber ich glaube, dass diese Art von Förmlichkeit eine längere Inkubationszeit bräuchte. Und Sie haben ›bei dieser Sache‹ gesagt. Damit sich jemand innerlich eine Sache vorstellt, ist mehr nötig als etwas, das nur eine Zehntelsekunde gedauert hat, glaube ich. Sie muss dann schon früher existiert haben. Außerdem haben Sie gesagt, dass ich Ihnen helfe, was einen fortdauernden Zustand bezeichnet. Etwas, das es gegeben hat, bevor der Junge sich die Tasche geschnappt hat, und weiterhin existieren wird. Und Sie haben den Plural benutzt. Sie haben gesagt: ›Danke, dass Sie uns bei dieser Sache helfen.‹ Bush und Ihnen. Bei etwas, das Ihnen schon gehört, das Sie schon betreiben und das nur ein bisschen entgleist ist, was sich aber noch leicht beheben lässt. Ich glaube, dass Sie mir für diese Art Hilfe gedankt haben, weil sie extrem erleichtert waren. Alles hätte viel schlimmer ausgehen können – zum Beispiel wenn dem Jungen die Flucht gelungen wäre. Deshalb haben Sie ›vielen Dank für Ihre Hilfe‹ gesagt. Aber das war viel zu herzlich für einen kleinen Raubüberfall. Folglich muss Ihnen diese Sache weit mehr bedeutet haben.«

»Ich wollte nur höflich sein.«

»Und ich glaube, dass meine Zeugenaussage für keinen Computer, sondern vor allem für den Polizeichef und die Stadträte bestimmt ist. Um denen zu zeigen, das das nicht Ihre Schuld war. Um denen zu beweisen, dass nicht Sie ein schon länger laufendes Unternehmen fast an die Wand gefahren haben. Deshalb wollten Sie einen gewöhnlichen Bürger. Jeder unbeteiligte Dritte wäre recht gewesen. Sonst hätten Sie nur Ihre eigenen Aussagen zu Ihren Gunsten gehabt. Bush und Sie, die sich gegenseitig den Rücken freihalten.«

»Wir waren auf einem Spaziergang.«

»Sie haben nicht mal einen Blick gewechselt. Keine Sekunde lang überlegt. Ihnen ist’s nur um die Tasche gegangen. An die hatten Sie den ganzen Tag über gedacht. Oder die ganze Woche lang.«

Aaron gab keine Antwort. Er hatte keine Gelegenheit mehr dazu, denn in diesem Augenblick öffnete jemand die Tür einen Spalt breit und streckte den Kopf herein. Er winkte den Detective auf ein Wort heraus. Aaron ging, und die Tür schloss sich mit leisem Klicken hinter ihm. Aber bevor Reacher sich Sorgen machen konnte, ob er nun eingesperrt war oder nicht, streckte nun Aaron den Kopf herein und erklärte: »Die restliche Befragung führen andere Detectives durch.«

Die Tür fiel wieder ins Schloss.

Ging wieder auf.

Der Mann, der zuvor den Kopf hereingestreckt hatte, trat zuerst ein. Ihm folgte ein ganz ähnlicher Kerl. Beide sahen wie typische Neuengländer auf historischen Schwarz-Weiß-Fotos aus. Das Produkt vieler Generationen langer Arbeit und strenger Selbstdisziplin. Beide waren hager und drahtig, sehnig und grobknochig, fast ausgezehrt. Sie trugen Chinos, dazu karierte Hemden unter blauen Sportsakkos. Sie hatten einen Bürstenhaarschnitt. Kein Versuch, Stil zu beweisen. Rein funktional. Sie sagten, sie seien von der Maine Drug Enforcement Administration, der Drogenbekämpfungsbehörde. Sie sagten, staatliche Ermittlungen hätten Vorrang gegenüber denen eines Countys. Daher die gekaperte Befragung. Sie sagten, sie hätten Fragen zu Reachers Beobachtungen.

Sie saßen dort, wo Aaron und Bush gesessen hatten. Der Mann links sagte, er heiße Cook, und der rechts stellte sich als Delaney vor. Er schien der Teamführer zu sein, der jetzt begann, Fragen zu stellen. Nach Reachers Beobachtungen, wiederholte er. Sonst nichts. Vor allem nichts, was ihm Sorgen machen müsse.

Aber dann sagte er: »Als Erstes brauchen wir mehr Informationen über einen bestimmten Aspekt. Wir glauben, dass unsere County-Kollegen ihn ein Stück weit vernachlässigt, ihn ein bisschen beschönigt haben, was vielleicht verständlich ist.«

Reacher fragte: »Was beschönigt?«

»Was genau haben Sie in dem Augenblick beabsichtigt, in dem Sie den Jungen zu Fall gebracht haben?«

»Ernsthaft?«

»Mit Ihren eigenen Worten.«

»Wie viele?«

»So viele Sie brauchen.«

»Ich wollte den Cops helfen.«

»Sonst nichts?«

»Ich habe den Taschenraub beobachtet. Der Täter ist direkt auf mich zugerannt. Er war schneller als seine Verfolger. Dass er schuldig war, stand für mich fest. Also habe ich ihm den Weg verstellt. Er hat sich nicht mal sehr wehgetan.«

»Woher wussten Sie, dass die beiden Cops waren?«

»Erster Eindruck. Hatte ich recht?«

Delaney hielt einen Moment inne.

Dann sagte er: »Erzählen Sie mir jetzt, was Sie gesehen haben.«

»Sie haben sicher schon beim ersten Mal zugehört.«

»Das haben wir«, erwiderte Delaney. »Auch bei Ihrem weiteren Gespräch mit Detective Aaron. Nachdem Detective Bush hinausgegangen war. Anscheinend haben Sie mehr gesehen, als in Ihrer Zeugenaussage steht. Sie haben von einem seit Langem laufenden Unternehmen gesprochen.«

»Das war eine Vermutung«, sagte Reacher. »Die gehört nicht in eine Zeugenaussage.«

»Aus ethischen Gründen?«

»Wahrscheinlich.«

»Sind Sie ein ethisch handelnder Mensch, Mr. Reacher?«

»Ich tue mein Bestes.«

»Aber jetzt können Sie Ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Ihre Aussage ist protokolliert. Jetzt können Sie nach Herzenslust spekulieren. Was haben Sie gesehen?«

»Wieso fragen Sie das mich?«

»Vielleicht haben wir ein Problem. Vielleicht können Sie uns dabei helfen.«

»Wie denn?«

»Sie waren bei der Militärpolizei. Sie wissen, wie so was funktioniert. Das große Bild. Was haben Sie gesehen?«

Reacher antwortete: »Ich denke, dass ich gesehen habe, wie Bush und Aaron die junge Frau mit der Stofftasche beschattet haben. Irgendeine Art Überwachungsaktion. Im Prinzip eine Überwachung der Tasche. Als sie geraubt wurde, haben sie die junge Frau völlig ignoriert. Ich vermute, dass die Tasche einem noch unbekannten Verdächtigen übergeben werden sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt. An einem anderen Ort. Wie eine Lieferung oder als Bezahlung. Vielleicht war es wichtig, die Übergabe zu verfolgen. Vielleicht war der unbekannte Verdächtige das letzte Glied einer Kette. Daher die hochrangigen Augenzeugen. Oder was auch immer. Nur ist der Plan gescheitert, weil das Schicksal in Gestalt eines zufälligen Handtaschendiebs eingegriffen hat. Künstlerpech. Kann den Besten von uns passieren. Und eigentlich keine große Sache. Sie können die Übergabe gleich morgen wiederholen.«

Delaney schüttelte den Kopf. »Wir bewegen uns in trübem Gewässer. Verpasst man bei den Leuten, mit denen wir’s zu tun haben, einen Treff, ist man für sie erledigt. Diese Sache ist gelaufen.«

»Das tut mir leid«, sagte Reacher. »Aber Scheiße passiert eben. Am besten versucht man, rasch darüber hinwegzukommen.«

»Sie haben gut reden.«

»Nicht meine Affen«, sagte Reacher. »Nicht mein Zirkus. Ich bin nur ein Kerl auf der Durchreise.«

»Darüber müssen wir auch noch reden. Wie können wir Sie notfalls erreichen? Besitzen Sie ein Handy?«

»Nein.«

»Wie erreichen Leute Sie dann?«

»Gar nicht.«

»Nicht mal Angehörige oder Freunde?«

»Hab keine Angehörigen mehr.«

»Auch keine Freunde?«

»Nicht von der Art, die alle fünf Minuten anrufen.«

»Wer weiß also überhaupt, wo Sie sind?«

»Ich«, sagte Reacher. »Und das genügt.«

»Bestimmt?«

»Bisher hat mich noch niemand retten müssen.«

Delaney nickte. »Reden wir noch mal darüber, was Sie gesehen haben.«

»Über welchen Teil?«

»Über alles. Vielleicht ist die Sache noch nicht vorbei. Könnte es eine andere Interpretation geben?«

»Möglich ist alles«, sagte Reacher.

»Was wäre noch möglich?«

»Früher bin ich für so was bezahlt worden«, meinte Reacher.

»Ich könnte Ihnen auf Kosten des Hauses einen Becher Kaffee anbieten.«

»Abgemacht«, sagte Reacher. »Schwarz, ohne Zucker.«

Cook ging hinaus, um ihn zu holen, und als er zurückkam, kostete Reacher einen Schluck und sagte: »Danke. Aber letzten Endes glaube ich doch, dass das ein zufälliges Ereignis war.«

Delaney sagte: »Benutzen Sie Ihre Fantasie.«

Reacher sagte: »Benutzen Sie Ihre.«

»Okay«, sagte Delaney. »Nehmen wir mal an, dass Bush und Aaron nicht wussten, wo oder wann oder wer oder wie, aber damit gerechnet haben, dass die junge Frau die Tasche irgendwann jemandem übergeben würde.«

Reacher bestätigte: »Okay, nehmen wir’s mal an.«

»Und vielleicht haben sie genau das gesehen. Nur etwas früher als erwartet.«

»Möglich ist alles«, wiederholte Reacher.

»Wir müssen davon ausgehen, dass die bösen Kerle sich auf Geheimhaltung und Täuschungsmanöver verstehen. Vielleicht haben sie zum Schein einen Übergabeort vereinbart und wollten die Tasche schon unterwegs an sich bringen. Unberechenbarkeit ist immer für Überraschungen gut. Und die sind das beste Mittel gegen jegliche Form von Überwachung. Vielleicht war das Ganze sogar eingeübt. Ihrer Aussage nach ist die junge Frau gleich wieder auf den Beinen gewesen. Sie ist hingeknallt, hat sich blitzschnell aufgerappelt und ist geflüchtet.«

Reacher nickte. »Das bedeutet, dass Sie sagen würden, der Junge in dem schwarzen Hoodie sei der unbekannte Verdächtige gewesen, und die Tasche sei von Anfang an für ihn bestimmt gewesen.«

Delaney nickte ebenfalls. »Und wir haben ihn, folglich war das Unternehmen ein voller Erfolg.«

»Das können Sie leicht behaupten. Und sehr praktisch ist’s außerdem.«

Delaney gab keine Antwort.

Reacher fragte: »Wo ist der Junge jetzt?«

Delaney wies mit dem Daumen auf die Tür. »Zwei Zimmer weiter. Wir bringen ihn bald nach Bangor.«

»Redet er?«

»Bisher nicht. Er ist ein braver kleiner Soldat.«

»Oder er ist gar kein Soldat.«

»Wir halten ihn für einen. Und wir glauben, dass er auspackt, wenn er merkt, in welcher Gefahr er schwebt.«

»Es gibt ein weiteres Problem«, gab Reacher zu bedenken.

»Nämlich?«

»Die Stofftasche hat leer ausgesehen. Was für eine Lieferung oder Zahlung soll das gewesen sein? Eine leere Tasche zu verfolgen reicht für keine Verurteilung aus.«

»Die Tasche war nicht leer«, sagte Delaney. »Zumindest nicht ursprünglich.«

»Was war drin?«

»Dazu kommen wir noch. Aber erst müssen wir noch mal zurückgehen. Zu der Frage, die ich Ihnen anfangs gestellt habe. Der nach Ihrer Gemütsverfassung.«

»Ich wollte den Cops helfen.«

»Tatsächlich?«

»Macht Ihnen die Haftungsfrage Sorgen? Als Zivilist, der Nothilfe leistet, genieße ich den gleichen Schutz wie ein Polizeibeamter. Außerdem ist der Junge nicht wirklich verletzt. Vielleicht ein paar Prellungen. Vielleicht ein aufgeschürftes Knie. Kein Problem. Außer Sie haben hier ein paar echt komische Richter.«

»Unsere Richter sind in Ordnung. Wenn sie den Kontext verstehen.«

»Was gibt’s am Kontext zu verstehen? Ich habe eine Straftat beobachtet. Und gesehen, dass das Police Department versucht hat, den Täter zu fassen. Ich habe den Beamten geholfen. Wollen Sie sagen, dass Sie darin ein Problem sehen?«

Delaney fragte: »Würden Sie uns bitte einen Augenblick entschuldigen?«

Reacher gab keine Antwort. Cook und Delaney standen auf, kamen hinter dem quer stehenden Tisch hervor. Sie gingen zur Tür und verließen den Raum. Die Tür schloss sich mit einem Klicken hinter ihnen. Diesmal war Reacher sich ziemlich sicher, dass er eingesperrt war. Er warf einen Blick in den Spiegel. Sah nur sein Spiegelbild, grau mit deutlichem Grünstich.

Nur zehn Minuten Ihrer Zeit. Was könnte schlimmstenfalls passieren?

Nichts passierte. Drei lange Minuten lang nicht. Dann kamen Cook und Delaney zurück. Sie setzten sich wieder an den Tisch, Cook links, Delaney rechts.

Delaney sagte: »Sie behaupten, Polizeibeamten geholfen zu haben.«

Reacher sagte: »Korrekt.«

»Möchten Sie diese Aussage abändern?«

»Nein.«

»Bestimmt nicht?«

»Glauben Sie mir nicht?«

»Nein«, sagte Delaney.

»Warum nicht?«

»Wir denken, dass die Wahrheit ganz anders aussieht.«

»Wie denn?«

»Wir glauben, dass Sie dem Jungen die Tasche weggenommen haben. Wie er sie zuvor der jungen Frau geraubt hat. Wir glauben, dass Sie ein weiterer überraschender, unvorhersehbarer Verbindungsmann waren.«

»Die Tasche ist zu Boden gefallen.«

»Wir haben Zeugen, die gesehen haben, wie Sie sich nach ihr gebückt haben.«

»Aber ich habe sie nicht angefasst. Ich habe sie liegen lassen. Aaron hat sie aufgehoben.«

Delaney nickte. »Und da war sie bereits leer.«

»Wollen Sie mich durchsuchen?«

»Wir glauben, dass Sie etwas aus der Tasche genommen und an jemanden in der Menge weitergegeben haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Warum sollte es keinen dritten Mann gegeben haben, wenn Sie der zweite waren?«

»Bullshit«, sagte Reacher.

Delaney sagte: »Jack-ohne-Reacher, Sie sind verhaftet wegen illegaler Beziehungen zu einer Organisation, die unter das RICO-Gesetz [Racketeer Influenced and Corrupt Organization Act] zur Bekämpfung von organisiertem Verbrechen fällt. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, auf der Anwesenheit eines Anwalts zu bestehen, bevor Ihre Vernehmung fortgesetzt wird. Sollten Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen ein Pflichtverteidiger gestellt.«

Vier Cops kamen herein, drei mit schussbereiten Pistolen, der vierte Mann mit einer schräg vor dem Körper gehaltenen Schrotflinte. Auf der anderen Seite des Tischs öffneten Cook und Delaney nur ihre Sportsakkos, um ihre Glock 17 in Schulterholstern sehen zu lassen. Reacher saß reglos da. Sechs gegen einen. Zu viele. Chancenlos. Dazu nervöse Spannung in der Luft, Finger am Abzug und ein völlig unbekannter Ausbildungs-, Kenntnis- und Erfahrungsstand.

Da konnten Fehler geschehen.

Reacher blieb still sitzen.

Er sagte: »Ich verlange einen Pflichtverteidiger.«

Danach sagte er gar nichts mehr.

Sie fesselten ihm die Hände hinter dem Rücken und führten ihn auf den Korridor hinaus, um zwei Ecken und durch eine Stahltür, die aufgeschlossen werden musste, in den kleinen Zellenblock der Station, der aus drei leeren Zellen an einem schmalen Korridor bestand, dessen andere Begrenzung ein langer Tisch war. Einer der County Cops steckte seine Pistole weg und trat hinter den Tisch. Reacher wurden die Handschellen abgenommen. Er gab seinen Reisepass, seine Bankkarte, seine Zahnbürste, siebzig Dollar in Scheinen, fünfundsiebzig Cent in Münzen und seine Schnürsenkel ab. Im Tausch dafür bekam er einen Stoß in den Rücken und die erste der drei Einzelzellen. Die Tür fiel scheppernd ins Schloss, das laut metallisch klirrend einrastete. Die Cops sahen noch einen Augenblick wie Zoobesucher herein, dann machten sie kehrt und marschierten hintereinanderher an dem langen Tisch vorbei zum Ausgang. Reacher hörte, wie die Stahltür sich nach dem letzten Mann schloss. Er hörte, wie sie abgesperrt wurde.

Er wartete. Er verstand sich aufs Warten. Er war von Natur aus geduldig. Er wollte nirgendshin und konnte sich dafür alle Zeit der Welt nehmen. Er saß auf dem Bett, das ebenso wie der kleine Tisch mit dem Hocker davor aus Beton gefertigt war. Auf dem Hocker lag ein dünnes Plastikkissen aus demselben Material wie die Matratze auf dem Bett. Die Toilette aus Edelstahl hatte eine Vertiefung im Klodeckel, die als Waschbecken diente. Es gab nur kaltes Wasser. Das schlechteste Motelzimmer der Welt, nochmals abgespeckt und auf ein Mindestmaß reduziert. Die damaligen Architekten hatten hier noch mehr Stahlbeton verwendet als anderswo. Als wären Häftlinge, die auszubrechen versuchten, gefährlicher als Atombomben.

Reacher behielt die Zeit im Kopf. Mehr als zwei Stunden verstrichen, bevor der jüngste Cop vorbeikam, um nach ihm zu sehen. Er schaute durch die Gitterstangen und sagte: »Alles okay?«

»Mir geht’s gut«, sagte Reacher. »Vielleicht ein bisschen hungrig. Mittag ist schon vorbei.«

»Da gibt’s ein kleines Problem.«

»Hat der Küchenchef sich krankgemeldet?«

»Wir haben keinen und lassen das Essen von auswärts kommen. Aus dem Diner gleich um die Ecke. Ein Lunch darf bis zu vier Dollar kosten. Aber das ist der County-Satz. Sie sind ein Staatsgefangener. Wir wissen nicht, wie viel die fürs Mittagessen kriegen.«

»Mehr, hoffe ich.«

»Aber das müssten wir wissen. Sonst bleiben wir vielleicht darauf sitzen.«

»Weiß Delaney das nicht? Oder Cook?«

»Die sind schon weg. Sie haben den anderen Verdächtigen in ihre Zentrale in Bangor mitgenommen.«

»Wie viel gebt ihr fürs Abendessen aus?«

»Sechseinhalb.«

»Frühstück?«

»Zum Frühstück sind Sie nicht mehr hier. Sie sind ein Staatsgefangener. Wie der andere Mann. Sie werden heute Abend abgeholt.«

Eine Stunde später kam der junge Cop mit einem gegrillten Käsesandwich und einem Coke in einem Styroporbecher zurück. Drei Bucks und irgendwas. Detective Aaron hatte offenbar gesagt, wenn der Staat weniger zahle, begleiche er die Differenz aus eigener Tasche.

»Richten Sie ihm meinen Dank aus«, sagte Reacher. »Und bestellen Sie ihm, dass er vorsichtig sein soll. Eine Hand wäscht die andere.«

»In welcher Beziehung vorsichtig?«

»Auf wessen Seite er sich schlägt.«

»Was soll das heißen?«

»Keine Angst, er weiß, was ich meine.«

»Sagen Sie, dass Sie’s nicht gewesen sind?«

Reacher lächelte. »Das haben Sie bestimmt schon oft gehört.«

Der junge Cop nickte. »Das sagen alle. Keiner von euch hat je was gemacht. Das erwarten wir.«

Damit ging der Mann weg, und Reacher verspeiste sein Sandwich und wartete dann weiter.

Wieder zwei Stunden später tauchte der junge Cop zum dritten Mal auf. Er sagte: »Die Pflichtverteidigerin ist da. Sie bespricht den Fall am Telefon mit den DEA-Kerlen in Bangor. Vorläufig telefoniert sie noch. Aber sie kommt bald zu Ihnen.«

Reacher sagte: »Wie ist sie so?«

»Sie ist okay. Als mir das Auto geklaut wurde, hat sie mir bei der Versicherung geholfen. In der Highschool war sie in der Klasse meiner Schwester.«

»Wie alt ist Ihre Schwester?«

»Drei Jahre älter als ich.«

»Und wie alt sind Sie?«

»Vierundzwanzig.«

»Hat die Versicherung Ihnen den Schaden ersetzt?«

»Einen Teil davon.«

Der Mann wandte sich ab, setzte sich auf den Hocker hinter dem langen Tisch. Um den Eindruck zu erwecken, der Häftling werde ständig betreut, dachte Reacher, solange seine Anwältin im Haus ist. Er selbst blieb, wo er war – auf dem Bett. Und wartete weiter.

Eine halbe Stunde später erschien die Anwältin. Zu dem Cop hinter dem Tisch sagte sie freundlich Hallo, weil er der jüngere Bruder einer Schulfreundin war. Dann fügte sie ruhig und bestimmt etwas hinzu, das die Vertraulichkeit des Gesprächs mit einem Mandanten betraf, und der Mann stand auf und ging hinaus. Er schloss die Stahltür hinter sich. Die Anwältin betrachtete Reacher durchs Gitter. Wie eine Zoobesucherin. Vielleicht im Gorillahaus. Sie war mittelgroß und mittelschlank und trug ein schwarzes Kostüm. Sie hatte kurzes braunes Haar mit hellen Strähnchen, braune Augen und ein rundes Gesicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Wie ein umgekehrtes Lächeln. Als hätte sie in ihrem Leben schon viele Enttäuschungen erlebt. Sie trug eine lederne Aktentasche, die zu voll war, als dass ihr Reißverschluss sich hätte zuziehen lassen. Oben ragte ein gelber Block heraus, dessen erste Seite mit handschriftlichen Notizen bedeckt war.

Sie stellte die Aktentasche ab und holte sich den Hocker, der hinter dem langen Tisch stand. Sie schob ihn vor Reachers Käfig, setzte sich darauf und machte es sich mit zusammengepressten Knien und über die Querstrebe gehakten Absätzen bequem. Wie bei einem normalen Gespräch mit einem Mandanten, dem sie an einem Tisch gegenübersaß – nur gab es hier keinen Tisch oder Schreibtisch, bloß eine Wand aus dicken Stahlstangen mit geringen Abständen.

Sie sagte: »Mein Name ist Cathy Clark.«

Reacher schwieg.

Sie sagte: »Tut mir leid, dass ich erst so spät komme. Ich war wegen einer Zwangsversteigerung unterwegs.«

Reacher fragte: »Sie machen also auch in Immobilien?«

»Die meiste Zeit.«

»Wie viele Kriminalfälle hatten Sie schon?«

»Einen oder zwei.«

»Der prozentuale Unterschied zwischen einem und zweien ist groß. Wie viele waren’s genau?«

»Einer.«

»Haben Sie gewonnen?«

»Nein.«

Reacher schwieg.

Sie sagte: »Sie kriegen den, der dran ist. So funktioniert das. Es gibt eine Liste. Ich habe heute auf Platz eins gestanden. Wie in der Taxischlange am Flughafen.«

»Wieso reden wir nicht in einem Konferenzraum miteinander?«

Sie gab keine Antwort. Reacher hatte den Eindruck, die Gitterstangen gefielen ihr. Er hatte den Eindruck, diese Barriere sei ihr nur recht. Als fühlte sie sich dadurch sicherer.

Er fragte: »Halten Sie mich für schuldig?«

»Was ich denke, spielt keine Rolle. Was ich tun kann, darauf kommt’s an.«

»Und das wäre?«

»Reden wir erst mal miteinander«, sagte sie. »Sie müssen mir erklären, weshalb Sie hier sind.«

»Irgendwo muss ich schließlich sein. Diese Kerle müssen erklären, wieso ich ihnen meinen Komplizen ausgeliefert habe. Ohne mich hätten sie ihn nie erwischt.«

»Sie glauben, dass Sie ungeschickt waren. Sie wollten sich nur die Tasche schnappen und haben ihn versehentlich umgestoßen. Sie glauben, er wäre sonst weitergerannt.«

»Was hatten County Detectives mit einem staatlichen Unternehmen zu tun?«

»Sparzwänge«, sagte sie. »Außerdem fällt etwas Glanz auf sie ab, damit alle zufrieden sind.«

»Ich habe die Tasche nicht mal angefasst.«

»Sie haben vier Zeugen, die aussagen, dass Sie sich danach gebückt haben.«

Reacher schwieg.

Sie sagte: »Wieso waren Sie dort?«

»Auf der Plaza befanden sich mindestens dreißig Leute. Wieso waren die dort?«

»Allen Aussagen nach ist der Junge geradewegs auf Sie zugerannt. Nicht auf andere Leute.«

»Ganz so war’s nicht. Ich habe mich ihm in den Weg gestellt.«

»Genau.«

»Sie halten mich für schuldig.«

»Was ich denke, spielt keine Rolle«, sagte sie noch einmal.

»Was soll in dieser Tasche gewesen sein?«

»Das sagen sie noch nicht.«

»Ist das legal? Müsste ich nicht erfahren, was man mir vorwirft?«

»Ich glaube, dass das für gewisse Zeit legal ist.«

»Glauben Sie? Das reicht mir nicht.«

»Wenn Sie einen anderen Anwalt wollen, können Sie sich gern einen nehmen, den Sie selbst bezahlen.«

Reacher fragte: »Hat der Junge in dem Hoodie schon ausgepackt?«

»Er behauptet, das sei ein gewöhnlicher Raubüberfall gewesen. Er behauptet, er habe in der Tasche die Geldbörse des Opfers vermutet. Er behauptet, er habe auf Cash und Kreditkarten gehofft. Vielleicht auf ein Smartphone. Die DEA-Agenten sehen das als erfundene Ausrede – für alle Fälle.«

»Wieso bin ich ihrer Ansicht nach nicht weggelaufen? Wozu sollte ich stehen bleiben?«

»Noch mal das Gleiche«, sagte sie. »Eine erfundene Geschichte für den Fall, dass alles schiefgeht. Als Sie gesehen haben, dass Ihr Kumpel geschnappt wurde, haben Sie beide blitzschnell auf Plan B umgeschaltet. Er war ein Straßenräuber, und Sie haben den Cops geholfen. Er würde eine milde Strafe, Sie ein Lob der Polizei bekommen. Offenbar traut man Ihnen beiden eine gewisse Raffinesse zu. Diese Sache scheint ziemlich groß zu sein.«

Reacher nickte. »Wie groß, glauben Sie?«

»Hier geht’s um umfangreiche Ermittlungen, die schon lange laufen.«

»Bestimmt teuer, was?«

»Ich denke schon.«

»In einer Zeit, in der Sparzwänge anscheinend ein Thema sind.«

»Sparzwänge sind immer ein Thema.«

»Genau wie Egos und berufliches Renommee und dienstliche Beurteilungen. Denken Sie an Delaney und Cook. Versetzen Sie sich in deren Lage. Schon länger andauernde, sündhaft teure Ermittlungen werden durch einen dummen Zufall entwertet. Sie stehen plötzlich wieder am Anfang. Vielleicht ist alles sogar noch schlimmer. Vielleicht gibt’s kein Zurück mehr. Überall verlegene Gesichter. Was passiert dann als Nächstes?«

»Weiß ich nicht.«

»Menschliche Natur«, erklärte Reacher. »Anfangs haben sie gebrüllt und geflucht und an die Wand gehämmert. Dann hat ihr Überlebenstrieb gesiegt. Sie haben eine Möglichkeit gesucht, ihren Arsch zu retten. Vielleicht ließ sich alles doch so hindrehen, dass das Unternehmen ein Erfolg gewesen war. Genau das hat Agent Delaney getan. Sie haben sich die Idee einfallen lassen, der Junge sei Teil eines Täuschungsmanövers gewesen. Dann haben sie mitgehört, als Aaron mit mir gesprochen hat. Sie haben gehört, dass ich nirgends wohne. Dass ich ein Vagabund bin, wie Aaron sagte. Das hat sie auf eine noch viel bessere Idee gebracht. Sie konnten einen Doppelschlag führen und behaupten, zwei Kerle geschnappt und damit die ganze verdammte Bande zerschlagen zu haben. So würden sie zuletzt doch noch ihr Schulterklopfen und ein Anerkennungsschreiben bekommen.«

»Sie behaupten, Ihr Fall sei erfunden?«

»Ich weiß, dass er’s ist.«

»Schwer zu glauben.«

»Sie haben sich eigens bei mir vergewissert. Haben alles noch mal abgefragt. Sich bestätigen lassen, dass ich kein Handy besitze. Dass niemand auf dem Laufenden ist, was meinen Aufenthaltsort betrifft. Sie wussten, dass ich der perfekte Sündenbock bin.«

»Sie waren mit der Annahme einverstanden, der Junge sei mehr als nur ein Straßenräuber gewesen.«

»Ja, als Hypothese«, erwiderte Reacher. »Und nicht sehr enthusiastisch. Im Rahmen einer Diskussion unter Profis. Sie haben mich durch Schmeichelei dazu gebracht. Ich wollte nur mitspielen. Ich wusste, dass sie dabei waren, sich irgendwelchen Scheiß auszudenken, um ihren Arsch zu retten. Ich war zu höflich, glaube ich.«

»Sie haben gesagt, das sei denkbar.«

»Weshalb hätte ich das sagen sollen, wenn ich selbst daran beteiligt war?«

»Sie denken, dass das ein doppelter Bluff war.«

»So clever bin ich nicht«, meinte Reacher.

»Das glauben sie aber. Sie waren in einer Eliteeinheit der Militärpolizei.«

»Stünde ich dann nicht automatisch auf ihrer Seite?«

Die Anwältin sagte nichts. Sie rutschte nur etwas auf ihrem Hocker hin und her. Unbehagen, vermutete Reacher. Mangel an Empathie. Misstrauen. Vielleicht sogar Widerwillen. Der Wunsch, hier rauszukommen. Das war nur menschlich. Er wusste, wie solche Dinge funktionierten.

Er sagte: »Sehen Sie sich die Zeitangaben auf dem Tonband an. Sie haben gehört, dass ich keinen festen Wohnsitz habe, und wenig später hatten sie das Verhör gekapert und waren im Vernehmungszimmer mit mir allein. Später sind sie noch mal kurz rausgegangen. Um sich zu beraten. Sie haben sich gegenseitig bestätigt, dass sie genug in der Hand hatten. Dass sie’s riskieren konnten, ihren Plan umzusetzen Also sind sie zurückgekommen und haben mich verhaftet.«

»Damit kann ich nicht vor Gericht auftreten.«

»Womit können Sie auftreten?«

»Mit nichts«, sagte sie. »Ich kann bestenfalls versuchen, einen Deal zu vereinbaren.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Absolut. Man wird Sie wegen einer schweren Straftat anklagen. Die DEA-Leute werden dem Gericht eine funktionierende Theorie vorlegen und sie mit Aussagen von gewöhnlichen Bürgern unterfüttern, die tatsächlich oder gefühlt Freunde und Nachbarn der Geschworenen sind. Sie sind ein Outsider mit einem ungewöhnlichen Lebensstil. Ich meine, woher kommen Sie überhaupt?«

»Schwer zu sagen.«

»Wo sind Sie geboren?«

»Westberlin.«

»Sind Sie Deutscher?«

»Nein. Mein Vater arbeitete beim Marine Corps. In New Hampshire geboren. In Berlin war er damals nur stationiert.«

»Sie waren also immer beim Militär?«

»Als Junge und als Mann.«

»Nicht gut. Die Leute danken Ihnen für Ihre langen Dienste, aber im Innersten denken sie, dass Sie an Traumata leiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie verurteilt werden, ist hoch, und Sie müssen dann mit langer Sicherungsverwahrung rechnen. Es wäre viel ungefährlicher, eine weniger schwere Tat zu gestehen. Damit würden Sie dem Gericht Zeit und die Kosten eines langen Verfahrens ersparen. Das zählt viel. Es könnte den Unterschied zwischen zwanzig und fünf Jahren ausmachen. Als Ihre Anwältin fühle ich mich verpflichtet, Ihnen diesen Weg zu empfehlen.«

»Sie empfehlen mir, fünf Jahre wegen einer Straftat zu sitzen, die ich nicht verübt habe?«

»Jeder behauptet, nicht schuldig zu sein. Das kennen die Geschworenen.«

»Und Anwälte?«

»Mandanten lügen ständig.«

Reacher schwieg.

Seine Anwältin sagte: »Sie sollen heute Abend nach Warren verlegt werden.«

»Was ist in Warren?«

»Das staatliche Zuchthaus.«

»Klasse.«

»Ich habe beantragt, Sie noch ein bis zwei Tage hierzulassen. Für mich wäre das praktischer.«

»Und?«

»Antrag abgelehnt.«

Reacher schwieg.

Seine Anwältin sagte: »Morgen früh werden Sie zur mündlichen Verhandlung über die Anklage zurückgebracht. Das Gericht befindet sich in diesem Gebäude.«

»Ich werde also in weniger als zwölf Stunden hin- und wieder zurückgebracht? Nicht sehr effizient. Ich sollte hierbleiben.«

»Sie sind jetzt ein Teil des Systems. So funktioniert es eben. In Zukunft wird Ihnen nie mehr etwas vernünftig erscheinen. Daran müssen Sie sich gewöhnen. Worauf Sie plädieren sollen, besprechen wir morgen früh. Ich rate Ihnen, heute Nacht sehr ernsthaft darüber nachzudenken.«

»Wie wär’s mit einer Entlassung gegen Kaution?«

»Wie viel könnten Sie aufbringen?«

»Etwas über siebzig Bucks.«

»Das Gericht würde das als Beleidigung auffassen«, sagte sie. »Das lassen wir lieber.«

Dann rutschte sie vom Hocker und bückte sich nach ihrer überquellenden Aktentasche und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Reacher hörte, wie die Stahltür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. In dem Zellenblock herrschte wieder Stille.

Nur zehn Minuten Ihrer Zeit. Was könnte schlimmstenfalls passieren?

Eine weitere Stunde verstrich, dann kam der junge Cop zurück. Der Staat habe die gleichen sechseinhalb Dollar fürs Abendessen bewilligt, sagte er, die das County ausgegeben hätte. Dafür könne man fast alles auf der Speisekarte des Diners nehmen, sagte er. Und er ratterte eine erstaunlich lange Liste möglicher Gerichte herunter. Reacher überlegte kurz. Vielleicht die Hühnerpastete. Oder die Spaghetti bolognese. Oder den Eiersalat. Er dachte laut über diese drei Optionen nach. Der Cop empfahl die Hühnerpastete. Die sei echt gut, sagte er. Reacher vertraute ihm. Und schwarzen Kaffee, fügte er hinzu. Viel Kaffee, betonte er, am besten eine Thermoskanne voll. Dazu eine richtige Tasse mit Untertasse. Ohne Sahne, ohne Zucker. Der Cop notierte sich alles mit einem Bleistiftstummel auf einem Zettel.

Dann sagte er: »War die Pflichtverteidigerin okay?«

»Klar«, sagte Reacher. »Eine nette junge Frau. Und clever dazu. Sie denkt, dass das Ganze irgendein Missverständnis ist. Dass diese DEA-Agenten manchmal ein bisschen übertreiben. Anders als ihr County-Leute. Kein gesunder Menschenverstand.«

Der junge Cop nickte. »Das stimmt wohl.«

»Sie sagt, dass ich wahrscheinlich schon morgen freikomme, dass ich mich ruhig verhalten und dem System vertrauen soll.«

»Das ist immer am besten«, meinte der Junge. Er steckte den Zettel in seine Hemdtasche und ging hinaus.

Reacher blieb auf seinem Bett. Er wartete. Er spürte, wie es in dem Gebäude ruhiger wurde, als die Nachtschicht zum Dienst erschien. Weniger Leute. Sparzwänge. Ein ländliches County in einem bevölkerungsschwachen Teil von Maine. Nach einiger Zeit tauchte der junge Cop mit dem Essen auf. Das war heute bestimmt seine letzte Aufgabe. Er trug ein Tablett mit einem Teller unter einer Warmhaltehaube, einer kannelierten bauchigen weißen Thermoskanne, einer Tasse, die umgekehrt auf ihrer Untertasse stand, und Messer und Gabel, die in eine Papierserviette gewickelt waren.

Die Thermoskanne gab den Ausschlag. Ihretwegen passte das Ganze nicht durch die waagrechte Durchreiche zwischen den Gitterstäben. Der Junge konnte die Kanne nicht einfach aufs Tablett legen. Sie würde umherrollen und auslaufen und die Hühnerpastete in Kaffee ertränken. Er konnte sie aber auch nicht aufrecht durchs Gitter hineinreichen, denn dafür waren die Abstände zwischen den Stäben zu eng.

Der junge Cop zögerte unsicher.

Vierundzwanzig Jahre alt. Noch neu im Vollzugsdienst. Ein junger Kerl, der Reacher nur als friedlichen älteren Mann kannte, der die meiste Zeit auf seinem Bett lag und entspannt resigniert wirkte. Kein Fluchen, kein Schreien. Keine Klagen. Keine Wutanfälle.

Vertraut dem System.

Keine Gefahr.

Er würde das Tablett wie ein richtiger Ober auf den Fingern einer Hand balancieren. Er würde seine Schlüssel vom Gürtel loshaken. Er würde die Tür aufsperren, sie mit der Schuhspitze öffnen. Sein Holster würde leer sein. Keine Waffe. Das entsprach der weltweit geübten Praxis. Gefängniswärter waren nie bewaffnet. Sich mit einer geladenen Waffe unter Häftlingen zu bewegen konnte nur schiefgehen. Der Junge würde in die Zelle kommen, den Schlüssel wieder einhaken und das Tablett wie zuvor in beide Hände nehmen. Er würde sich abwenden, dabei Reacher den Rücken zukehren, um es auf den Schreibtisch aus Beton zu stellen.

Aus diesen verschiedenen Positionen konnten sich unterschiedliche Möglichkeiten ergeben.

Reacher wartete.

Aber er wurde enttäuscht.

Der Junge war ein Anfänger, der sich sogar das Auto klauen ließ, aber er war nicht ganz blöd. Er stellte das Tablett vorübergehend auf den Fußboden vor der Zelle ab, nahm Thermoskanne, Tasse und Untertasse herunter und stellte sie auf die Fliesen vor den Gitterstäben. Dann hob er das Tablett wieder auf und schob es durch die waagrechte Durchreiche. Reacher nahm es entgegen. Wollte er einen Kaffee, würde er durchs Gitter greifen und ihn draußen einschenken müssen. Die Tasse konnte er dann zu sich hereinholen. Vielleicht nicht auf der Untertasse stehend, aber schließlich war hier nicht das Ritz.

Der junge Cop sagte: »So müsste es klappen.«

Nicht ganz blöd.

»Danke«, sagte Reacher trotzdem. »Sehr freundlich.«

Der Junge sagte: »Guten Appetit.«

Den hätte Reacher gebraucht. Die Pastete war schlecht, der Kaffee dünn.

Nach einer Stunde kam ein anderer Uniformierter, um das Geschirr abzutragen. Jemand von der Nachtschicht. Reacher sagte: »Ich muss Detective Aaron sprechen.«

Der Neue sagte: »Er ist nicht hier. Er ist heimgefahren.«

»Dann soll er zurückkommen. Sofort! Diese Sache ist wichtig.«

Der Mann gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Wenn er rauskriegt, dass Sie meine Bitte nicht weitergegeben haben, tritt er Sie in den Hintern. Oder sorgt dafür, dass Sie entlassen werden. Wie ich höre, gibt es Sparzwänge. Ich würde Ihnen raten, ihm keinen Vorwand zu liefern.«

»Worum geht’s überhaupt?«

»Um etwas, mit dem er punkten kann.«

»Wollen Sie gestehen?«

»Vielleicht.«

»Sie sind ein Staatsgefangener. Wir sind vom County. Uns ist’s egal, was Sie verbrochen haben.«

»Rufen Sie ihn trotzdem an.«

Der Mann sagte nichts. Er nahm lediglich das Tablett mit und schloss die Stahltür hinter sich.

Der Mann musste angerufen haben, denn Aaron kam ungefähr anderthalb Stunden später. Gegen Mitte des Abends. Er trug noch denselben Anzug und wirkte weder gespannt noch ärgerlich. Nur neutral. Vielleicht ein bisschen neugierig. Er sah durch die Gitterstäbe und fragte: »Was wollen Sie?«

Reacher antwortete: »Über den Fall reden.«

»Für den ist die DEA zuständig.«

»Nicht wenn es sich um einen einfachen Raubüberfall handelt.«

»Das war er nicht.«

»Denken Sie das wirklich?«

»Es war eine glaubhafte Methode, eine Überwachung zu durchkreuzen.«

»Und was ist mit mir als dem zweiten geheimen Faktor?«

»Ebenfalls glaubwürdig.«

»Das hätte unglaublich präzise Koordination erfordert, stimmt’s? Exakt zur rechten Zeit am rechten Ort.«

»Vielleicht haben Sie stundenlang dort gewartet.«

»Tatsächlich? Was sagen Ihre Augenzeugen dazu?«

Aaron gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Kontrollieren Sie die Zeitangaben auf dem Tonbandmitschnitt. In dem Augenblick, in dem Sie und ich miteinander reden. Stellen Sie sich den zeitlichen Ablauf vor. Delaney hat’s auf mich abgesehen, weil er irgendwas aufgeschnappt hat.«

Aaron nickte. »Das hat Ihre Anwältin schon weitergegeben. Der Obdachlose als Sündenbock. Hat mich zuvor nicht überzeugt, überzeugt mich auch jetzt nicht.«

»Kein berechtigter Zweifel?«, fragte Reacher.

»Ich bin Kriminalbeamter. Berechtigter Zweifel ist etwas für die Geschworenenbank.«

»Ihnen macht es also nichts aus, wenn ein Unschuldiger hinter Gitter kommt?«

»Über Schuld oder Nichtschuld entscheiden die Geschworenen.«

»Was ist, wenn ich freigesprochen werde? Macht es Ihnen nichts aus, wenn Ihr Fall brennend abgeschossen wird?«

»Nicht mein Fall. Dafür ist die DEA zuständig.«

Reacher sagte: »Hören Sie sich das Tonband noch mal an. Achten Sie auf die Zeiten.«

»Geht nicht«, entgegnete Aaron. »Es gibt kein Tonband.«

»Aber Sie haben gesagt, alles würde aufgenommen.«

»Wir sind die County Police. Wir dürfen keine staatliche Vernehmung aufzeichnen. Nicht unsere Zuständigkeit. Also ist die Aufnahme eingestellt worden.«

»Ich meine einen früheren Zeitpunkt. Als Sie und ich miteinander gesprochen haben.«

»Der erste Teil ist nicht mehr vorhanden. Alles davor ist versehentlich gelöscht worden, als das Gerät ausgeschaltet wurde.«

»Gelöscht?«

»Kann mal passieren.«

»Wer hat die AUS-Taste gedrückt?«

Aaron gab keine Antwort.

»Wer war’s also?«, fragte Reacher.

»Delaney«, sagte Aaron. »Als er mich abgelöst hat. Er hat sich dafür entschuldigt. Es ist passiert, weil er mit unserem Gerät nicht vertraut war.«

»Haben Sie ihm das geglaubt?«

»Wieso nicht?«

Reacher schwieg.

»Kann mal passieren«, wiederholte Aaron.

»Wissen Sie bestimmt, dass das ein Versehen war? Wissen Sie bestimmt, dass die beiden kein Beweismaterial beseitigen wollten? Wissen Sie bestimmt, dass sie nicht versucht haben, ihre Spuren zu verwischen?«

Aaron schwieg.

Reacher fragte: »Haben Sie so was noch nie erlebt?«

»Was soll ich dazu sagen? Als Cop ist er ein Kamerad.«

»Das bin ich auch.«

»Das waren Sie früher mal. Jetzt sind Sie nur ein Mann auf der Durchreise.«

»Das sind Sie eines Tages auch. Sollen all diese Jahre wirklich nicht zählen?«

Aaron gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Gleich zu Anfang haben Sie mir erklärt, dass Geschworene oft nicht viel von Aussagen von Polizeibeamten halten. Woran mag das liegen? Oder irren die Geschworenen sich alle?«

Keine Antwort.

Reacher fragte: »Können Sie sich wenigstens daran erinnern, was wir besprochen haben?«

»Selbst wenn ich’s könnte, stünde mein Wort gegen das der beiden. Und hier ist niemand mit einem rauchenden Colt in der Hand geschnappt worden, oder?«

Reacher sagte nichts. Aaron betrachtete ihn noch eine halbe Minute lang durch die Gitterstäbe, bevor er ging.

Reacher streckte sich auf dem schmalen Bett aus, stemmte einen Ellbogen gegen die Wand und ließ seinen Kopf in der gewölbten Handfläche ruhen. Stellen Sie sich den zeitlichen Ablauf vor. Er rief sich ins Gedächtnis, woran er sich aus seinem ersten Gespräch mit Aaron erinnerte. In dem grünen bunkerartigen Raum. Seine Zeugenaussage. Die Präambel. Name, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer. Dann seine Anschrift. Ohne festen Wohnsitz und so weiter und so fort. Er stellte sich vor, wie Delaney sie dabei belauschte. Ein blechern klingender Lautsprecher im Raum nebenan. Mit anderen Worten, Sie sind obdachlos, hatte Aaron gesagt. Das hatte auch Delaney gehört. Laut und deutlich. Wie lange hatte er gebraucht, um seine Chance zu erkennen und die Vernehmung an sich zu reißen?

Zu lange, dachte Reacher.

Anfangs hatte es noch eine nicht sehr ernsthafte Debatte über PTBS und die 110th MP gegeben, bevor Aaron sich lange darüber ausließ, ob seine Aussage nützlich oder schädlich sein würde. Und dann die Aussage selbst: überlegt, nüchtern, zusammenhängend, detailliert, klar und langsam. Anschließend ihr privates Gespräch, nachdem Bush den Raum verlassen hatte. Die Vermutungen und die sie bestätigende sprachliche Analyse. Sie haben »vielen Dank für Ihre Hilfe« gesagt. Und so weiter. Dieses ganze Zeug. Insgesamt vielleicht sieben Minuten. Oder acht, möglicherweise neun.

Oder zehn.

Zu viel Zeit.

Delaney hatte auf etwas anderes reagiert.

Auf etwas, das er später gehört hatte.

Als die Uhr in Reachers Kopf zweiundzwanzig Uhr anzeigte, hörte er das Trampeln schwerer Schritte auf dem Flur vor der Stahltür. Sie wurde aufgestoßen. Sechs Männer kamen herein. Andere Uniformen. State Police. Das Begleitkommando für Gefangenentransporte. Sie hatten Schlagstöcke, Pfefferspray und Taser an ihren Gürteln. Dazu Hand- und Fußfesseln und dünne Stahlketten. Sie gingen methodisch vor. Ließen Reacher rückwärts an die Gitterstäbe treten und die Hände durch die Durchreiche hinausstrecken. Sie hielten ihn an den Handschellen fest, während sie durch die Stäbe griffen, um ihm Fußfesseln anzulegen, die sie mit einer Kette mit seinen Handschellen verbanden. Erst dann sperrten sie die Zellentür auf und schoben sie zur Seite. Er schlurfte mit kleinen klirrenden Schritten heraus. Sie ließen ihn an dem Tisch haltmachen, aus dessen Schublade sie seinen persönlichen Besitz nahmen: den Reisepass, die Bankkarte, die Zahnbürste, die siebzig Dollar in Scheinen, die fünfundsiebzig Cent in Quarters und die Schuhbänder. Das alles steckten sie in einen festen braunen Umschlag, der zugeklebt wurde. Dann führten sie Reacher über den zweimal rechtwinklig abknickenden Korridor, unter den niedrigen Betondecken hindurch und auf den Parkplatz hinaus. Neben dem SUV-Wrack in einer Ecke stand ein grau lackierter Schulbus mit vergitterten Fenstern. Sie stießen ihn hinein, und er musste auf einer hinteren Bank Platz nehmen. Er war der einzige Fahrgast. Einer der Kerle fuhr, die anderen fünf saßen vorn beieinander.

Warren erreichten sie wenige Minuten vor Mitternacht. Das Gefängnis war schon aus einer Meile Entfernung zu sehen, denn das zurückgeworfene Licht seiner Bogenlampen durchdrang selbst den Nebel. Der Bus wartete mit laut nagelndem Dieselmotor am Tor, während Suchscheinwerfer über ihn hinwegglitten. Dann öffnete sich das Tor metallisch klirrend, und der Bus fuhr hindurch, um gleich wieder am nächsten Tor zu halten. Dahinter lag eine hell beleuchtete Fläche vor einer Stahltür mit der zweizeiligen Aufschrift HÄFTLINGSEMPFANG.

Reacher wurde hineingeführt und an einer Y-förmigen Gabelung des Korridors nach rechts zu den Zellen für Untersuchungshäftlinge dirigiert. Man nahm ihm Handschellen, Stahlkette und Fußfesseln ab. Sein persönlicher Besitz in dem braunen Umschlag wurde weggesperrt, und er bekam einen weißen Overall und blaue Badeschuhe. Dann brachte man ihn in eine Zelle, die mehr oder weniger mit der identisch war, die er vor zwei Stunden verlassen hatte. Die Gittertür schloss sich scheppernd und wurde abgesperrt. Die Uniformierten gingen, und eine Minute später erlosch das Licht. Der Zellenblock versank in lärmendes, rastloses Dunkel.

Um sechs Uhr morgens ging das Licht wieder an. Auf dem Korridor hörte Reacher einen Wärter, der eine Gittertür nach der anderen aufschloss. Irgendwann erschien er vor Reachers Zelle: ein bösartig aussehender Typ Anfang dreißig. Er sagte: »Los, hol dir dein Frühstück.«

Das Frühstück gab es in einem langen niedrigen Raum, in dem es nach Garküche und Desinfektionsmitteln roch. Reacher stellte sich mit ungefähr einem Dutzend Männer an. Der Junge in dem schwarzen Hoodie war nicht darunter. Weiterhin in Bangor, vermutete Reacher, in der dortigen DEA-Zentrale. Wo er vielleicht redete, vielleicht auch nicht. Reacher erreichte die Essensausgabe und bekam einen Klacks von einer hellgelben Masse, die Rührei sein konnte, auf einer Scheibe, die Weißbrot sein konnte, und einen Melaminbecher mit etwas, das Kaffee sein konnte. Oder das Spülwasser vom Vorabend. Er setzte sich an einem freien Tisch auf die Bank und aß. Sein Kleinhirn führte automatisch eine Bedrohungsanalyse durch, entdeckte aber nichts, was ihm hätte Sorgen machen müssen – es sei denn, Karies war ansteckend.

Nach dem Frühstück wurden sie alle zu dem einstündigen morgendlichen Hofgang hinausgescheucht, der hier Vorschrift war. Weil der Trakt für Untersuchungshäftlinge viel kleiner als das eigentliche Gefängnis war, hatte er einen entsprechend kleineren Hof, der von den restlichen Insassen durch einen hohen Maschendrahtzaun abgetrennt war. In den Zaun war eine Tür mit Klinke, aber ohne Schloss eingelassen. Der Schließer, der sie ins Freie getrieben hatte, baute sich davor auf. Hinter ihm zog ein blässlicher Frühlingstag am Morgenhimmel auf.

Der größere Gefängnishof war voller Männer in Overalls in allen möglichen Farben. Hunderte von Männern. Die meisten liefen in Gruppen unterschiedlicher Größe durcheinander. Manche sahen verwegen aus. Einer davon war ein über zwei Meter großer Hüne, der mindestens hundertdreißig Kilo wog. Er wirkte fast wie die Karikatur eines Holzfällers aus dem alten Maine. Dazu fehlten ihm nur noch ein kariertes Flanellhemd und eine zweischneidige Axt. Der Kerl schien größer als Reacher zu sein, was statistisch selten war. Er stand sechs, sieben Meter weit entfernt und schaute durch den Maschendraht. Starrte Reacher an. Reacher erwiderte seinen Blick. Der Kerl kam näher. Reacher sah ihm weiter ins Gesicht. Im Gefängnis war das gefährlich. Aber Wegsehen konnte noch gefährlicher sein. Zu unterwürfig. Unklarheiten in Bezug auf die Hackordnung löste man am besten sofort. Das kam der menschlichen Natur entgegen. Reacher wusste, wie solche Dinge funktionierten.

Der Kerl trat an den Zaun.

Er fragte: »Was gibt’s zu glotzen?«

Die Standarderöffnung. Uralt. Reacher sollte sich einschüchtern lassen und »nichts« sagen. Woraufhin der Kerl fragen würde: »Nennst du mich nichts?« Woraufhin eine bereits prekäre Situation noch prekärer würde.

Also sagte Reacher: »Dich seh ich an, Arschloch.«

»Was hast du mich genannt?«

»Ein Arschloch.«

»Du bist tot.«

»Noch nicht«, sagte Reacher. »Nicht, als ich letztes Mal nachgesehen habe.«

In diesem Augenblick entstand in der entferntesten Ecke des großen Hofs ein lauter Tumult. Später wurde Reacher klar, dass er präzise ausgelöst worden war. Ein Flüstern und Handzeichen waren diagonal, von Mann zu Mann weitergegeben worden. In der Ferne war eine Schlägerei ausgebrochen; dort schrien und brüllten Männer durcheinander. Auf den Wachtürmen flammten Suchscheinwerfer auf, wurden dorthin geschwenkt. Sprechfunkgeräte knackten. Alle liefen hinüber. Auch das Wachpersonal. Auch der Wärter an der Tür zu dem kleineren Hof. Er schlüpfte hindurch und verschwand in der Menge.

Worauf der große Kerl sich in Gegenrichtung bewegte. Durch die unbewachte Tür. Auf den kleineren Hof. Direkt auf Reacher zu. Kein erfreulicher Anblick. Schwarze Badeschuhe, keine Socken, ein orangeroter Overall, der sich über Muskelpaketen spannte.

Dann kam es noch schlimmer.

Als der Kerl den rechten Arm schlenkerte, erschien in seiner Hand eine Waffe. Die hatte er im Ärmel versteckt. Eine selbst gebastelte Knastwaffe. Aus durchsichtigem Kunststoff. Vielleicht der an einem Stein zugeschliffene Stiel einer Zahnbürste, etwa fünfzehn Zentimeter lang. Wie ein Stilett. Ein Drittel seiner Länge war mit Heftpflaster umwickelt. Um es besser anfassen zu können. Nicht gut.

Reacher streifte seine Badeschuhe ab.

Der große Kerl tat das Gleiche.

Reacher sagte: »Für mich gibt’s seit jeher eine Regel. Bedroh mich mit einem Messer, dann brech ich dir die Arme.«

Der große Kerl erwiderte nichts.

Reacher sagte: »Die Regel ist eisern, fürchte ich. Ich kann keine Ausnahme machen, bloß weil du ein Schwachkopf bist.«

Der große Kerl machte einen Schritt auf ihn zu.