Der Elefant, der weinte - Jodi Picoult - E-Book

Der Elefant, der weinte E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Alice Metcalf ist Elefantenforscherin und untersucht in einem Wildreservat in Botswana das Gedächtnis der Tiere. Besonders deren ausgeprägter Familiensinn und ihr Trauerverhalten interessieren sie sehr. Als sie ein verwaistes Elefantenkalb findet, verstößt sie gegen die wichtigste Regel des Reservats: Sie darf nur beobachten und sich nicht einmischen. Doch Alice bringt es nicht übers Herz, das Tier seinem Schicksal zu überlassen. Sie setzt ihre Karriere aufs Spiel um ihm zu helfen und findet sich dabei plötzlich in der Rolle einer Mutter wieder …

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Buch

Alice Kingston ist Elefantenforscherin und untersucht in einem Wildreservat in Botswana das Gedächtnis der Tiere. Besonders deren ausgeprägter Familiensinn und ihr Trauerverhalten interessieren sie sehr. Als sie ein verwaistes Elefantenkalb findet, verstößt sie gegen die wichtigste Regel des Reservats: Sich nicht einzumischen. Doch Alice bringt es nicht übers Herz, das Tier seinem traurigen Schicksal zu überlassen. Sie setzt ihre Karriere aufs Spiel, um ihm zu helfen, und findet sich dabei plötzlich in der Rolle einer Mutter wieder …

Autorin

JODI PICOULT, geboren 1967 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie mehr als zwanzig Romane, von denen viele Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste waren. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa 2003 mit dem renommierten New England Book Award. Picoult lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und zahlreichen Tieren in Hanover, New Hampshire. Der Elefant, der weinte ist eine Vorgeschichte zu Die Spuren meiner Mutter, ihrem zweiten Roman bei C. Bertelsmann, der im September 2016 erscheint.

Jodi Picoult

Der Elefant, der weinte

Erzählung

Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel

C.Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Larger than Life bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

© 2014 by Jodi Picoult© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: www.buerosued.de, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-20804-2V001www.cbertelsmann.de

Botswana 1999

Kurz nachdem ich die schlimmste Nachricht meines Lebens erhalten habe, fahre ich mitten in ein Massaker hinein.

Die fünf Elefanten liegen auf der Seite wie staubige Hügel, Anomalien der Landschaft. Fliegen umschwärmen das schwarze Blut, das in die Erde eingesickert ist, und am Himmel kreisen Geier.

Ich parke den Land Rover neben einem Mopanebaum und nähere mich den Körpern. Ich suche nach Lebenszeichen, obwohl ich weiß, dass ich keine finden werde. Ich weiß nicht, auf welche Weise die Wilderer diese Herde umgebracht haben. Sie setzen Waffen und Speere ein, manchmal auch mit Acokanthera vergiftete Pfeile. Wie ich gehört habe, kontaminiert man in Ostafrika sogar die Wasserlöcher, und die Elefanten kippen dann, wenn sie getrunken haben, wie Felsen um.

Der größte Elefant ist einer, den ich kenne. Von Karabos rechtem Ohr, das jetzt wie ein Leichentuch auf ihrem Gesicht liegt, fehlt ein halbmondförmiges Stück. Ich ziehe die Haut zurück, wie ich ein sauberes Laken auf einem Bett glatt streichen würde, und lege die klaffende Wunde in ihrem Fleisch frei. Ihr Kopf sieht aus wie eine ungelöste Gleichung, denn die Stirn fällt dort, wo man ihren Rüssel und die Stoßzähne abgetrennt hat, stumpf ab.

Mir ist übel, und ich übergebe mich ins Gebüsch, die Hände auf die Knie gestützt. Reiß dich zusammen Alice, sage ich mir. Du hast einen Job zu erledigen.

Der Tod im Buschland ist mir nicht neu, und es gibt dafür immer ein Protokoll. Wenn ein Elefant stirbt, halten wir Forscher pflichtbewusst Ort und Todeszeit in den Unterlagen fest, die wir über die Herden führen. Wir nehmen Kontakt zu einem Ranger auf, damit die Stoßzähne entfernt werden können, bevor die Dorfbewohner nachts kommen, um sie abzusägen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Die Kadaver überlassen wir den Geiern und den Hyänen und Schakalen. Aber was sollen wir tun, wenn die Stoßzähne bereits fehlen? Wenn dies der Grund für das Abschlachten war?

Man hat mir erzählt, dass die Chinesen glauben, die Elefanten würden ihre Stoßzähne abwerfen wie Rotwild sein Geweih, und deshalb keine Ahnung haben, wie hoch der Preis für die Elfenbeinanhänger und Schnitzereien ist, auf die sie so versessen sind. Ihnen ist auch nicht bewusst, welcher Kollateralschaden damit einhergeht: Außer den fünf Elefanten aus dieser Herde, die man abgeschlachtet hat, gibt es noch weitere, die in Todesangst vor den Wilderern davonrennen – und nun keine Matriarchin mehr haben, die sie zu Nahrung und Wasser führt und vor Gefahren beschützt. Stirbt die Matriarchin, stirbt auch das kollektive Gedächtnis der Herde.

In diesem Moment ist das alles zu viel für mich, und ich fange an zu weinen. Weil immer wieder schlimme Dinge passieren. Weil ich zu spät gekommen bin. Weil diese Elefanten gestern noch Teil einer Familie waren, heute jedoch nicht mehr.

Vielleicht liegt es am Lärm, den ich mache, vielleicht hat sich der Wind gedreht und trägt meinen Geruch, der zu menschlich ist, über das Buschland. Denn plötzlich erregt ein Rascheln meine Aufmerksamkeit. Ich blicke auf und sehe ein Elefantenkalb, so jung, dass sein Rüssel noch wie ein schlaffes Komma nach unten baumelt, hinter dem Rücken seiner toten Mutter hervorspähen.

Das weibliche Kalb kann höchstens ein oder zwei Wochen alt sein, seine Schulterhöhe erreicht noch keine neunzig Zentimeter. Das Kalb stupst den Körper seiner Mutter an und versucht, sie aufzuwecken. Es streckt seinen Rüssel dem Maul seiner Mutter entgegen, die übliche Trost spendende Begrüßungsgebärde, aber da ist kein Maul mehr.

Da ist keine Mutter.

»He Süße«, schmeichle ich und spreche dabei mit tiefer Stimme, wie die Elefanten es mögen. »He du, jetzt kann dir nichts mehr passieren.«

Und ohne weiter nachzudenken, bewege ich mich darauf zu – obwohl es noch kein voll ausgewachsener Elefant ist, bringt es doch leicht über hundert Pfund mehr als ich auf die Waage. Ich möchte es nicht erschrecken und vertreiben – weiß auch, dass es sich nicht vertreiben lassen wird. Das Kalb wird beim Kadaver seiner Mutter bleiben, bis seine Kräfte schwinden.

Das habe ich schon mit eigenen Augen gesehen.

Bis vor wenigen Monaten habe ich in Südafrika gearbeitet, im Madikwe Wildreservat. Die Elefanten dort waren allesamt Jugendliche, Überlebende der massiven Keulungen im Krüger-Nationalpark, die Mitte der 1990er-Jahre durchgeführt worden waren, um die Elefantenpopulation einzudämmen. Vom Helikopter aus beschossen Jäger im Regierungsauftrag die Matriarchin mit Scoline, einem Betäubungsmittel, das für den menschlichen Gebrauch verboten ist, weil es bei völligem Bewusstsein den Körper lähmt. Fiel die Matriarchin zu Boden, gruppierten sich die anderen Herdenmitglieder verwirrt und nervös um sie herum. Ohne Matriarchin, die ihnen sagte, wohin und wann sie wegzurennen hatten, war der Rest leichte Beute. Die Kälber wurden verschont, und weil sie die Leichen ihrer toten Mütter nicht verließen, konnte man sie problemlos zusammentreiben. Man brachte sie in Zoos und Zirkusse im Ausland oder stellte mit ihnen künstliche Herden in Reservaten wie dem in Madikwe zusammen. Dahinter stand die Hoffnung, dass diese Waisen gemeinsam neue Familienverbände bilden würden. Aber auf lange Sicht funktionierte es so nicht. Sie wurden ungewöhnlich aggressiv. Ihnen fehlte das soziale Wissen, das sie in der Wildnis von einer Matriarchin gelernt hätten.

Hier in Botswana hatte es nie eine Keulung gegeben, also gab es auch keine Reservate für verwaiste Tiere. Wenn mein neuer Boss, Grant, davon erfuhr, dass ich dieses Kalb gefunden hatte, würde er mir sagen, ich solle der Natur ihren Lauf lassen.

Ich gehe so weit auf das Kalb zu, bis ich die Härchen sehen kann, die auf seinem Kopf sprießen, und die dunklen Flecken seiner Augen.

Als Wissenschaftlerin besteht meine Aufgabe darin, das Leben in der Wildnis zu studieren, ohne einzugreifen. Deshalb nennt man uns auch Naturforscher. Doch gab es im vergangenen Jahr viel zu viele Situationen, in denen ich mich gefragt habe, ob dies nicht nur als Entschuldigung dafür gebraucht wird, keine Verantwortung übernehmen zu müssen, wenn etwas völlig aus dem Ruder gelaufen ist.

Das Kalb erschrickt genauso wie ich, als einer der Geier wie ein Geschoss auf den Körper des Elefanten herabstürzt, um am rohen Fleisch zu picken. Ich drehe mich um, schlage mit den Armen um mich und schreie so lange, bis der Vogel wieder in den Himmel aufsteigt und für einen Moment die Sonne verdunkelt.

Als mein Blick dann wieder auf das Kalb fällt, kommt es zwei Schritte auf mich zu, und da weiß ich, dass ich gegen alle Regeln verstoßen werde. Wieder einmal.

Mit zehn Jahren stand ich auf einer umgedrehten Kiste hinter einem Podium und hatte Mühe, gegen meinen Würgereiz anzukämpfen. Meine Hände waren schweißnass, und meine Knie schlugen gegeneinander, und im Meer der Gesichter des Publikums suchte ich nach dem einen, das mir wichtig war. Sie wusste, dass wir heute unsere Präsentationen hatten. Sie versprach mir, da zu sein.

»Das Leben eines Elefanten und das Leben eines Menschen«, sagte ich kaum hörbar, »sind nicht so verschieden.« Meine Finger umklammerten das Aquarell, das ich von einem afrikanischen Elefanten angefertigt hatte, und zerknitterten die Ränder des schweren Papiers, sodass ich mich darauf konzentrieren musste, meinen Griff zu lockern. Ich spürte das Drängen der Worte in meiner Kehle, die drohten, falsch herauszukommen; ich wusste, dass mein Gesicht rot war und alle mich deswegen anstarrten, was das Ganze nicht besser machte. Ein Vortrag vor Publikum ist mir noch nie leicht gefallen, aber angesichts meines Tierforschungsprojekts, das ich an diesem Tag einem rammelvollen Turnsaal vorstellen musste, hätte meine Angst nicht größer sein können, wenn man mir befohlen hätte, in Unterwäsche zum Unterricht zu gehen.

Ich schluckte heftig. »Im Lauf eines Lebens beeinflussen die Elefanten ihre Umwelt genauso, wie sie von dieser beeinflusst werden. Elefanten leben in weiblichen Herden. Die Matriarchin – die Älteste in der Familie – trifft sämtliche Entscheidungen.«

Ich schielte auf meinen Lehrer, der mir aufmunternd zulächelte, und dabei nahm ich auch eine Bewegung an der rückwärtigen Tür des Turnsaals wahr. Sie sah nicht aus wie die anderen Mütter. Selbst wenn sie ihre Politessenuniform trug, lag kein Härchen falsch, und das Make-up war makellos. Sie hätte ein Filmstar in der Rolle einer Staatsdienerin sein können. »Elefanten kommunizieren nicht nur mit Kollern, Brüllen und Gesten, sondern auch mit Lauten, die für unser Gehör zu leise sind.«

Und plötzlich wurde mein Kopf so leer wie unser Hof nach einem Schneesturm. Ich konnte mich an kein einziges Wort mehr erinnern, fand nicht mehr die vertraute Landmarke des nächsten Satzes. Mein Atmen wurde zum Herzschlag der Welt.

Ich hatte diese Präsentation unter der Dusche, während des Zähneputzens, während der Busfahrt geprobt. Hatte diese Präsentation so lange einstudiert, bis sie das Erste war, was mir morgens beim Aufwachen in den Sinn kam. Wie sich herausstellte, gab es tatsächlich etwas, das noch schlimmer war, als öffentlich etwas vorzutragen: zu vergessen, was man sagen wollte.

ENDE DER LESEPROBE