Ich wünschte, du wärst hier - Jodi Picoult - E-Book
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Ich wünschte, du wärst hier E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Der neue NYT-Nr.1-Bestseller der großen Erzählerin: Jodi Picoult stellt stets die richtigen Fragen zur richtigen Zeit – emotional, unterhaltsam, weise

Die New Yorkerin Diana O'Toole überlässt nichts dem Schicksal - ganz besonders nicht ihre Zukunft. Bis ins kleinste Detail hat sie ihr Leben durchgeplant und der nächste große Schritt steht kurz bevor: Auf der gemeinsamen Reise zu den Galapagosinseln wird ihr Freund Finn ihr einen Antrag machen. Doch kurz vor der Abreise bricht in der Stadt ein Virus aus und Finn wird als Arzt in seinem Krankenhaus gebraucht. Widerstrebend bricht Diana allein auf und findet eine Insel im Ausnahmezustand. Inmitten dieser Situation, die niemand wirklich einschätzen kann, gerät Diana immer mehr an ihre Grenzen - all die Pläne, die sie so sorgfältig geschmiedet hat, haben plötzlich keinen Wert mehr. Doch wie schafft man es, in einer Welt, die sich von einem Tag auf den anderen verändert hat, dem eigenen Kompass zu vertrauen?

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Seitenzahl: 532

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Zu diesem Buch

Manchmal muss alles schiefgehen, um gut zu enden

Diana O’Toole hat ihre Zukunft perfekt geplant: Mit dreißig will sie verheiratet sein, mit fünfunddreißig Kinder haben und in einen Vorort von New York City ziehen, während sie in der Welt der Kunstauktionen Karriere macht. Sie wähnt sich ihren Zielen schon sehr nahe, sie hat einen der begehrten Juniorjobs bei Sotheby’s ergattert, und sie geht davon aus, dass ihr Freund Finn, ein Chirurg, ihr auf der bevorstehenden Reise zu den Galapagosinseln einen Heiratsantrag machen wird – wenige Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Doch dann taucht in der Stadt ein Virus auf, und Finn eröffnet ihr am Vorabend der Abreise, dass er in der Klinik dringend gebraucht wird. Diana bricht widerstrebend allein auf. Auf den Galapagosinseln entwickelt sich der Traumurlaub schnell zum Albtraum: Ihr Gepäck geht verloren, es gibt fast nie WLAN, und das Hotel ist geschlossen. Die ganze Insel steht unter Quarantäne, die Grenzen sind dicht. Völlig isoliert muss sie sich dem Unkalkulierbaren stellen. Als eine Jugendliche Diana ein Geheimnis offenbart, obwohl der Vater des Mädchens Fremden gegenüber misstrauisch ist, knüpft Diana zaghaft Kontakt zu deren Familie. Auf den Galapagosinseln, wo Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese entstand, muss Diana ihre Beziehung, ihre Entscheidungen und sich selbst auf den Prüfstand stellen. Wird sie, wenn sie nach Hause zurückkehrt, noch dieselbe sein?  

»Jodi Picoult versteht es großartig, über ernste Themen unterhaltsam zu schreiben.« Boston Globe

Zur Autorin

Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, studierte an den Universitäten Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie achtundzwanzig Romane, von denen die meisten auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Auch ihr neuester Roman Ich wünschte du wärst hier hat sofort den ersten Platz erobert. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa mit dem renommierten New England Book Award. Picoult lebt mit ihrem Mann und zahlreichen Tieren in Hanover, New Hampshire.

JODI PICOULT

Ich wünschte, du wärst hier

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Wish You Were Here bei Ballentine Books, a division of Penguin Random House, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 der Originalausgabe by Jodi Picoult

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Nathalie Seiferth/Trevillion Images

This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Penguin Random House, a division of Random House LLC.

Redaktion: Gerhard Seidl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26244-0V002

www.cbertelsmann.de

Für Melanie Borinstein, schon bald unser neuestes Familienmitglied.Mit ihr würde ich selbst in Quarantäne-Zeiten einen künstlerischen Salon führen.

Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern.

Charles Darwin

EINS

1

13. März 2020

Im Alter von sechs Jahren malte ich ein Stück vom Himmel. Mein Vater war einer der Restauratoren, die mit der Arbeit am Deckengemälde des Grand Central Terminal beauftragt waren – aquamarinblauer Himmel, über den sich schimmernde Sternkonstellationen zogen. Es war schon spät, ich hätte längst im Bett sein sollen, aber mein Vater nahm mich mit zur Arbeit, weil meine Mutter – wie üblich – nicht zu Hause war.

Ganz behutsam half er mir hinauf aufs Gerüst, von wo aus ich verfolgen konnte, wie er an der gereinigten türkisfarbenen Stelle arbeitete. Ich betrachtete die verwischte Spur der Sterne der Milchstraße, die goldenen Flügel von Pegasus, Orions erhobene Keule, die zwei Linien der Fische. Das originale Deckengemälde war 1913 entstanden, wie mein Vater mir erzählte. Undichte Stellen im Dach hatten den Putz beschädigt, sodass seit 1944 nur noch auf Platten angebrachte Kopien am Deckengewölbe zu sehen waren. Ursprünglich war vorgesehen, diese zur Restaurierung abzunehmen, aber da sie asbesthaltig waren, ließen die Restauratoren sie an Ort und Stelle und machten sich mit Baumwolltupfern und Reinigungslösung an die Arbeit, um die Verunreinigungen von Jahrzehnten zu entfernen.

Dabei legten sie Geschichten frei. Die Künstler der Originalplatten hatten zwischen den Sternbildern Signaturen und Insider­witze sowie Nachrichten hinterlassen. Daten erinnerten an Hochzeitstage und an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Es fanden sich Namen von Soldaten. Die Geburt von Zwillingen war dicht am entsprechenden Sternbild verewigt.

Die Künstler des Ursprungsgemäldes hatten einen Fehler gemacht: Man sah den Tierkreis am Nachthimmel seitenverkehrt. Doch mein Vater sah es nicht als seine Aufgabe an, dies zu ändern, im Gegenteil. In jener Nacht arbeitete er an einem kleinen Quadrat goldener Sterne. Er hatte die winzigen gelben Punkte bereits mit Kleber bestrichen und trug anschließend hauchdünnes Blattgold auf. Er sprach mich an, streckte mir seine Hand entgegen, und ich stieg hoch und stellte mich vor ihn, gesichert von seinem Körper. Er gab mir einen Pinsel, um damit über das Blattgold zu streichen und es zu fixieren. Er zeigte mir, wie ich es vorsichtig mit meinem Daumen andrücken sollte, sodass nur noch die Galaxie zurückblieb, die er geschaffen hatte.

Als sämtliche Arbeiten ausgeführt waren, ließen die Restauratoren in der Nordwestecke des Grand Central Terminal, wo die hellblaue Decke auf die Marmorwand trifft, absichtlich einen kleinen dunklen Fleck zurück. Mein Vater erklärte mir, dass dies so üblich sei, für den Fall, dass Historiker sich ein Bild von der Urfassung machen wollten. Wie weit man gekommen ist, erschließt sich nur, wenn man weiß, wo man begonnen hat.

Jedes Mal, wenn ich in den Grand-Central-Bahnhof komme, muss ich an meinen Vater denken. Und daran, wie wir diesen in jener Nacht verließen, die miteinander verschränkten Hände überzogen von Sternenglanz.

Wir haben Freitag, den Dreizehnten, ich hätte es also wissen müssen. Um von Sotheby’s an der Upper East Side zum ­Ansonia an der Upper West Side zu kommen, muss ich mit dem Q-Train erst in die Gegenrichtung bis zum Times Square fahren und dann umsteigen. Ich hasse es, mich rückwärts zu bewegen.

Normalerweise würde ich durch den Central Park laufen, aber in meinen neuen Schuhen, die ich nie angezogen hätte, wenn Kitomi Ito mich nicht hätte rufen lassen, melden sich bereits die ersten Blasen. Also bleibt nur der öffentliche Nahverkehr. Aber irgendwas stimmt nicht, doch es dauert ein wenig, bis sich mir der Grund dafür erschließt.

Es ist zu ruhig. Für gewöhnlich muss ich mich durch Scharen von Touristen kämpfen, die einem Straßensänger oder einem Streichquartett lauschen. Heute jedoch ist das Atrium leer.

Gestern Abend waren die Broadway-Theater für einen Monat geschlossen worden, nachdem einer der Platzanweiser posi­tiv auf Covid getestet worden war. Eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, wie Finn meinte, jedenfalls war man im NewYork-Presbyterian-Krankenhaus, in dem er als Assistenzarzt arbeitet, noch nicht mit den massenhaften Coronafällen konfrontiert, wie man sie aus Washington D. C., Italien und Frankreich kannte. Als wir die Abendnachrichten sahen und ich mich laut fragte, ob Grund zur Panik bestand, beruhigte Finn mich mit der Information, dass wir nur neunzehn Fälle in der Stadt hatten. »Wasch deine Hände, und fass dir nicht ins Gesicht«, riet er mir. »Dann wird alles gut.«

Auch die Subway stadtauswärts ist fast leer. Ich steige an der Seventy-second aus, trete blinzelnd wie ein Maulwurf ins Freie und setze mich dann im New-York-typischen Laufschritt in Bewegung. Das Ansonia ragt in seiner ganzen Glorie wie ein wütender Dschinn vor mir auf und reckt sein Belle-Époque-Kinn trotzig dem Himmel entgegen. Einen kurzen Moment verweile ich auf dem Gehweg und bewundere das ausladende Gebäude mit seinem Mansardendach. Im Erdgeschoss gibt es einen North-Face- und einen American-Apparel-Laden, aber so überkandidelt war es nicht immer. Von Kitomi erfuhr ich, dass es in den Siebzigern, als sie und Sam Pride dort einzogen, nur so wimmelte von Hellsehern und Medien und es einen Swingerklub mit einem Raum für Orgien und einer Bar für Freigetränke sowie einem Imbiss gab. Sam und ich, meinte sie, sind mindestens einmal in der Woche dort gewesen.

Ich war noch nicht geboren, als Sams Band, die Nightjars, von Sam und seinem Songwriter-Kollegen William Punt mit zwei anderen Schulkumpeln aus Slough, England, gegründet wurde. Und auch nicht, als ihr erstes Album dreißig Wochen lang die Billboard-Charts beherrschte und ihre kleine vierköpfige Band in der Ed Sullivan Show auftrat, wo die vier Jungs von kreischenden amerikanischen Mädchen frenetisch gefeiert wurden. Und auch nicht, als Sam zehn Jahre später Kitomi Ito heiratete und sich die Band auflöste, wenige Monate nach dem Erscheinen ihres letzten Albums, mit Kitomi und Sam nackt auf dem Cover, Spiegelbilder der Personen eines Gemäldes, das über ihrem Bett hing. Und ich war auch noch nicht auf der Welt, als Sam drei Jahre später ermordet wurde, auf den Stufen dieses Gebäudes, niedergestochen von einem geistig Verwirrten, der ihn anhand jenes ikonischen Albumcovers erkannte.

Aber wie alle anderen auf diesem Planeten kannte ich natürlich die ganze Geschichte.

Der Pförtner des Ansonia lächelt mich höflich an, die Concierge blickt auf, als ich mich ihr nähere. »Ich bin hier, um Kitomi Ito zu besuchen«, erkläre ich cool und schiebe ihr meine Lizenz über die Theke zu.

»Sie werden erwartet«, erwidert die Concierge. »Achtzehnter Stock.«

»Ich weiß.«

Im Ansonia haben jede Menge Berühmtheiten gewohnt – von Babe Ruth über Theodore Dreiser und Toscanini bis hin zu Natalie Portman –, aber Kitomi und Sam Pride dürften wohl die berühmtesten sein. Wäre mein Ehemann auf den Eingangsstufen meines Wohnhauses ermordet worden, wäre ich nicht noch weitere dreißig Jahre hier wohnen geblieben, aber was zählt das schon. Außerdem zieht Kitomi jetzt endlich um, und das ist auch der Grund, warum die berühmt-berüchtigtste Rockwitwe meine Nummer auf ihrem Mobiltelefon gespeichert hat.

Was ist dagegen mein Leben, überlege ich, gegen die Wand des Aufzugs gelehnt.

Wenn man mich in meiner Jugend gefragt hatte, was ich als Erwachsene tun wollte, konnte ich mit einem ganzen Plan aufwarten. Als Erstes wollte ich in meinem Beruf Fuß fassen, mit dreißig heiraten und bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr alle meine Kinder bekommen. Wollte fließend Französisch sprechen und auf der Route 66 durchs Land gefahren sein. Mein Vater hatte über meine Checkliste nur gelacht. Du, erklärte er mir, bist zweifellos die Tochter deiner Mutter.

Und das empfand ich nicht als Kompliment.

Aber fürs Protokoll: Ich befinde mich absolut auf Kurs. Ich arbeite in meinem Fachgebiet bei Sotheby’s – Sotheby’s –, und Eva, meine Chefin, hat angedeutet, dass ich nach der Auktion von Kitomis Gemälde sehr wahrscheinlich mit einer Beförderung rechnen könne. Verlobt bin ich nicht, aber als ich am letzten Wochenende keine sauberen Socken mehr hatte und bei Finn nach einem Paar kramte, entdeckte ich versteckt in seiner Schublade für Unterwäsche einen Ring. Morgen brechen wir in den Urlaub auf, und dort wird Finn um meine Hand anhalten. Dessen bin ich mir so sicher, dass ich mir heute, anstatt zu Mittag zu essen, eine Maniküre gegönnt habe.

Und ich bin neunundzwanzig.

Die Aufzugstür öffnet sich direkt in Kitomis Foyer, das mit seinen schwarz-weißen Marmorfliesen an ein riesiges Schachbrett erinnert. Mit ihrem weißen Haarschopf und ihrem Markenzeichen, der violetten herzförmigen Brille, kommt sie mir in Jeans, Springerstiefeln und einem rosa Seidenmorgenmantel entgegen. Sie hat mich immer an einen Zaunkönig erinnert, ein zerbrechliches Federgewicht. Ich muss daran denken, wie Kitomis schwarzes Haar über Nacht vor Kummer weiß wurde, nachdem Sam ermordet worden war. Denke an die Fotos von ihr auf dem Gehweg, wie sie fassungslos dasteht.

»Diana!«, begrüßt sie mich, als wären wir alte Freundinnen.

Es kommt zu einem kurzen peinlichen Moment, als ich ihr instinktiv die Hand entgegenstrecke, bis mir einfällt, dass wir das ja nicht mehr tun, und ich ihr unbeholfen zuwinke. »Hi Kitomi«, sage ich.

»Ich freue mich, dass Sie heute kommen konnten.«

»Das ist kein Problem. Es gibt viele Verkäufer, die auf eine persönliche Übergabe der Papiere Wert legen.«

Über ihre Schulter hinweg kann ich es am Ende des langen Flurs sehen – das Gemälde von Toulouse-Lautrec, Anlass meiner Bekanntschaft mit Kitomi Ito. Mein Blick entgeht ihr nicht, und sie muss lächeln.

»Ich kann nicht anders«, sage ich. »Ich werde des Anblicks nie überdrüssig.«

Über Kitomis Gesicht huscht ein Schatten. »Dann sollten wir mal näher rangehen«, erwidert sie und führt mich tiefer in ihre Räumlichkeiten.

Henri de Toulouse-Lautrec löste in der Kunstwelt des Impressionismus einen Skandal aus, als er von 1892 bis 1895 in ein Bordell zog, um dort die Prostituierten miteinander im Bett zu malen. Eins der berühmtesten Gemälde dieser Le Lit genannten Reihe hängt im Musée d’Orsay. Andere wurden für zehn oder zwölf Millionen Dollar an Privatsammlungen verkauft. Das Gemälde, das bei Kitomi hängt, gehört eindeutig zu dieser Serie und unterscheidet sich doch ganz offensichtlich von den anderen.

Hier sind keine zwei Frauen zu sehen, sondern eine Frau und ein Mann. Die Frau sitzt nackt gegen das Kopfteil gelehnt, das Laken schmiegt sich um ihre Taille. Hinter dem Kopfteil befindet sich ein Spiegel, und in diesem ist das Abbild der zweiten Figur im Gemälde zu sehen – Toulouse-Lautrec selbst, der nackt am Fußende des Betts sitzt, die Laken gebauscht in seinem Schoß, den Rücken dem Betrachter zugewandt, während er die Frau mit dem gleichen bohrenden Blick mustert wie diese ihn. Es ist intim und voyeuristisch, gleichzeitig privat und öffentlich.

Als die Nightjars ihr letztes Album Twelfth of Never veröffentlichten, wählten sie für das Cover die barbusige Kitomi vor dem Kopfteil ihres Betts mit Blick auf Sam, dessen breiter Rücken das untere Drittel des Blickfelds füllt. Hinter ihrem Bett hängt das von ihnen nachgestellte Gemälde genau an der Stelle, wo sich im Kunstwerk der Spiegel befindet.

Jeder kennt dieses Albumcover. Jeder weiß, dass Sam dieses Gemälde als Hochzeitsgeschenk für Kitomi aus einer Privatsammlung erworben hatte.

Aber nur eine Handvoll Leute weiß, dass sie es jetzt verkauft, auf einer ungewöhnlichen Auktion von Sotheby’s, und ich diejenige bin, die diesen Deal eingefädelt hat.

»Haben Sie noch immer vor zu verreisen?«, unterbricht ­Kitomi mich bei meinen Tagträumereien.

Hatte ich ihr von unserer Reise erzählt? Vielleicht. Aber ich kann mir keine logische Erklärung vorstellen, warum es sie interessieren sollte.

Räuspernd – schließlich werde ich nicht fürs Bestaunen von Kunst, sondern für deren Abwicklung bezahlt – setze ich ein Lächeln auf. »Nur für zwei Wochen, und sobald ich zurückkomme, kümmere ich mich mit Volldampf um die Auktion.« Ich habe einen merkwürdigen Job – meine Aufgabe ist es, Klienten davon zu überzeugen, ihre geliebten Kunstwerke zur Adoption freizugeben, was eines vorsichtigen Lavierens zwischen Schwärmerei angesichts des Werks und dem ermunternden Zuspruch bedarf, dass sie mit dem Verkauf das Richtige tun. »Sie brauchen keinerlei Bedenken hinsichtlich des Transfers des Gemäldes in unsere Räumlichkeiten zu haben«, versichere ich ihr. »Ich verspreche Ihnen, dass ich das Verpacken und das Auspacken persönlich begleiten werde.« Mein Blick richtet sich wieder auf das Bild. »Wir werden das perfekte Zuhause dafür finden«, gelobe ich. »Und nun zum Papierkram?«

Kitomi wirft einen Blick aus dem Fenster, bevor sie sich mir zuwendet. »Tja, das«, sagt sie.

»Was soll das heißen, sie möchte nicht verkaufen?«, hakt Eva mit forschendem Blick über ihr Hornbrillengestell hinweg nach. Eva St. Clerck ist meine Chefin, meine Mentorin und eine Legende. Als Verkaufsleiterin der Imp-Mod-Auktion – dem Verkauf impressionistischer und moderner Kunst im großen Stil – ist sie genau dort, wo ich gern sein möchte, wenn ich vierzig bin, und bis gerade eben hatte ich es entschieden genossen, die Lieblingsschülerin unter den Fittichen ihrer Expertise zu sein.

Evas Augen werden schmal. »Ich wusste es. Da war jemand von Christie’s bei ihr.«

In der Vergangenheit hatte Kitomi andere Kunstwerke über Christie’s, den Hauptkonkurrenten von Sotheby’s, verkauft. Natürlich war man davon ausgegangen, dass sie den Toulouse-Lautrec ebenfalls über diese Schiene verkaufen würde … bis ich etwas unternahm, was ich in meiner Position niemals hätte tun dürfen, und sie es sich anders überlegte.

»Das hat nichts mit Christie’s …«

»Phillips?«, hakt Eva mit hochgezogenen Brauen nach.

»Nein. Keins von beiden. Sie möchte nur Zeit gewinnen«, stelle ich klar. »Sie ist besorgt wegen des Virus.«

»Wieso das?«, wundert sich Eva. »Das Gemälde wird sich das sicher nicht einfangen.«

»Nein, aber womöglich die Käufer auf der Auktion.«

»Also da kann ich sie beruhigen«, meint Eva. »Immerhin haben die Clooneys und Beyoncé und Jay-Z Interesse bekundet.«

»Kitomi ist auch nervös wegen möglicher Börseneinbrüche. Sie meinte, die Lage könnte sich rasch verschlechtern. Und sie möchte ein wenig abwarten … um nichts bereuen zu müssen.«

Eva massiert sich die Schläfen. »Ihnen ist schon klar, dass wir diesen Verkauf bereits publik gemacht haben. Der New Yorker hat bereits ein Feature darüber gebracht.«

»Sie braucht einfach ein wenig mehr Zeit«, erwidere ich.

Eva wendet sich ab, hat sich im Geiste bereits von mir verabschiedet. »Sie können gehen«, befindet sie.

Ich verlasse ihr Büro und bewege mich durch das Labyrinth der Flure, gesäumt von Büchern, die ich für meine Recherchen benutze. Seit sechseinhalb Jahren bin ich nun bei Sotheby’s – sieben, wenn man das Praktikum mitzählt, als ich noch auf dem Williams College war. Unmittelbar nach meinem Studium begann ich mit dem hauseigenen Masterprogramm für den Kunsthandel. Angefangen habe ich als Volontärin und stieg dann zur Nachwuchs-Titelaufnehmerin der Impressionisten-Abteilung auf, mit der Aufgabe, Erstrecherchen zu den eingehenden Gemälden anzustellen. Ich holte Informationen zu den Kunstwerken ein, an denen der Künstler etwa zur gleichen Zeit gearbeitet hatte, und brachte in Erfahrung, welchen Preis vergleichbare Werke erzielt hatten. Manchmal verfasste ich auch den ersten Entwurf für den Werbetext im Katalog. Wenngleich der Rest der Welt heutzutage digital funktioniert, kommt die Kunstwelt ohne ansprechende, detailreiche Hochglanzkataloge nicht aus. In meiner jetzigen Position als Fachfrau erledige ich andere Aufgaben für Eva: Ich sehe mir die Kunstwerke vor Ort an und untersuche sie auf mögliche Mängel, so wie man auch einen Mietwagen auf Dellen absucht, bevor man den Vertrag unterschreibt; betreue persönlich das Verpacken und den Transport des Gemäldes in unsere Geschäftsräume und begleite meine Chefin gelegentlich zu Treffen mit potenziellen Klienten.

Eine Hand kommt mir schlängelnd aus einem Eingang entgegen, den ich passiere, packt mich an der Schulter und zieht mich in einen kleinen Nebenraum. »Großer Gott«, schnaube ich und falle fast über Rodney – meinen besten Freund hier bei Sotheby’s. Wie ich hat er als Collegepraktikant angefangen. Doch im Unterschied zu mir ist er nicht auf der Businessseite des Auktionshauses gelandet. Er macht Designentwürfe und lässt die Räume entstehen, in denen die zu versteigernden Kunstwerke präsentiert werden.

»Stimmt es denn?«, fragt Rodney. »Hast du das Gemälde der Nightjars verloren?«

»Erstens ist es nicht das Gemälde der Nightjars. Es gehört Kitomi Ito. Zweitens, wie hast du das so schnell erfahren?«

»Gerüchte sind doch das Lebenselixier dieser ganzen Branche«, erwidert Rodney. »Und es verbreitet sich in diesen Fluren schneller als die Grippe.« Zögernd ergänzt er: »Oder meinetwegen wie das Coronavirus.«

»Also, ich habe den Toulouse-Lautrec nicht verloren. Kitomi möchte einfach abwarten, bis sich alles wieder beruhigt hat.«

Rodney verschränkt die Arme vor der Brust. »Glaubst du, das wird so bald der Fall sein? Der Bürgermeister hat gestern den Ausnahmezustand verhängt.«

»Finn spricht von nur neunzehn Fällen in der Stadt«, kontere ich.

Rodney sieht mich mit einer Mischung aus Unverständnis und Mitleid an, als hätte ich ihm gerade verraten, dass ich noch an den Nikolaus glaube. »Du kannst eine von meinen Klopapierrollen haben«, sagt er.

Erst jetzt fällt mein Blick auf das, was hinter ihm ist. Sechs verschiedene Schattierungen von Gold sind auf die Wände gerollt. »Welche gefällt dir?«, fragt er.

Ich zeige auf einen Streifen in der Mitte. »Echt?«, sagt er mit zusammengekniffenen Augen.

»Wofür ist das?«

»Eine Ausstellung mittelalterlicher Schriften. Privatverkauf.«

»Dann die hier.« Ich deute mit dem Kinn auf den Streifen daneben. Der genauso aussieht. »Komm doch mit zu Sant Am­broeus«, bitte ich ihn. Es ist das Café in der obersten Etage von Sotheby’s, und dort gibt es auch ein Prosciutto-Mozzarella-Sandwich, das helfen könnte, Evas Miene aus meinem Gedächtnis zu tilgen.

»Kann nicht. Ich bin heute auf Popcorndiät.«

Im Pausenraum gibt es kostenlos Popcorn aus der Mikrowelle, und an Tagen, an denen viel los ist, ersetzt dies das Mittagessen. »Ich bin geliefert, Rodney«, höre ich mich sagen.

Er legt mir seine Hände auf die Schultern, dreht mich herum und schiebt mich vor die gegenüberliegende Wand, wo ein Spiegelpaneel von der letzten Installation zurückgeblieben ist. »Was siehst du?«

Ich betrachte meine Haare, die für meinen Geschmack schon immer viel zu rot gewesen sind, und meine Augen, stahlblau. Von meinem Lippenstift ist kaum noch was zu sehen. Meine Haut ist von geisterhaftem Winterweiß. Und auf dem Kragen meiner Bluse sitzt ein komischer Fleck. »Ich sehe jemanden, der sich seine Beförderung abschminken kann.«

»Komisch«, entgegnet Rodney, »denn ich sehe jemanden, der morgen in den Urlaub fahren wird und sich einen Scheiß um Kitomi Ito oder Eva St. Clerck oder Sotheby’s kümmern sollte. Denk an tropische Drinks und Doktorspiele mit deinem Liebsten im Paradies …«

»Echte Doktoren tun das nicht …«

»… und Schnorcheln mit Gilatieren …«

»Meerechsen.«

»Was auch immer.« Rodney drückt mich von hinten, und unsere Blicke treffen sich im Spiegel. »Bis du in zwei Wochen wieder hier sein wirst, Diana, werden alle schon beim nächsten Skandal sein.« Er grinst mich an. »Jetzt geh dir Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor fünfzig kaufen, und hau ab von hier.«

Ich muss lachen, als Rodney zur Farbrolle greift und gelassen sämtliche Goldstreifen mit dem Farbton überdeckt, den ich ausgewählt habe. Er hat mir mal erzählt, dass die Farbe an den Wänden in einem Auktionshaus dreißig Zentimeter dick sein kann, weil sie ständig überstrichen werden.

Während ich hinter mir die Tür schließe, frage ich mich, welche Farbe dieser Raum anfangs hatte und ob sich hier überhaupt noch jemand daran erinnert.

Um nach Hastings-on-Hudson zu kommen, einen Vorort im Norden, steigt man am Grand Central in die Metro-North. Also fahre ich an diesem Tag zum zweiten Mal in die Innenstadt.

Doch diesmal verweile ich in der Haupthalle des Gebäudes, stelle mich direkt unter das Stück vom Himmel, das ich mit meinem Vater gemalt habe, und lasse den Blick über den umgekehrten Tierkreis und die verschämt über das Himmelsgewölbe verteilten Sterne wandern. Den Kopf in den Nacken gelegt, starre ich so lange hinauf, bis mir schwindelig wird und ich fast wieder die Stimme meines Vaters hören kann.

Vier Jahre sind nun seit seinem Tod vergangen, und um mir Mut für den Besuch bei meiner Mutter zu machen, muss ich vorher einfach hierherkommen, als würde die Erinnerung an ihn mir schützende Immunität verleihen.

Warum ich sie besuchen werde, weiß ich selbst nicht so genau. Gebeten hat sie mich jedenfalls nicht darum. Und es gehört auch nicht zu meinen üblichen Gepflogenheiten. Ich war seit drei Monaten nicht mehr bei ihr.

Vielleicht ist das aber der Grund, warum ich es nun tue.

The Greens ist eine Einrichtung für betreutes Wohnen, und dass sie zu Fuß vom Bahnhof Hastings-on-Hudson zu erreichen ist, war einer der Gründe, warum ich mich dafür entschied, als meine Mutter nach jahrelanger Funkstille plötzlich wieder auftauchte. Und dies natürlich nicht, um mütterliche Wärme zu verströmen. Sie war ein Problem, das gelöst werden musste.

Das Backsteingebäude fügt sich perfekt in eine Gemeinde ein, die aussieht, als hätte man sie direkt aus New England importiert. Bäume säumen die Straße, und nebenan befindet sich eine Bibliothek. Ein sich weitender Kreis aus Pflastersteinen beginnt an der Eingangstür. Doch erst wenn man durch die verschlossene Tür eingelassen wurde und die farblich kodierten Flure und die Fotos an den Apartmenttüren der Bewohner sieht, wird einem klar, dass man sich in einer Einrichtung für Demenzpatienten befindet.

Ich melde mich an und gehe an einer Frau vorbei, die in ein lichtdurchflutetes Atelier, gefüllt mit Farben aller Art, Ton und Werkzeugen, schlurft. Soweit ich weiß, hat meine Mutter sich hier nie eingebracht.

Man unternimmt hier eine Menge, um es den Bewohnern einfacher zu machen. Gelb leuchtende Türrahmen signalisieren den Bewohnern, wo sie eintreten dürfen, Räume für die Mitarbeiter oder zur Lagerung hingegen fügen sich in die Wände ein und sind mit Wandbildern oder Bücherregalen oder Pflanzen bemalt. Da alle Apartmenttüren sich gleichen, schmückt jede ein großes Foto, das für die Person, die hier wohnt, von Bedeutung ist: ein Familienmitglied, ein besonderer Ort, ein geliebtes Haustier. Im Fall meiner Mutter ist es eine ihrer berühmtesten Fotografien – ein Geflüchteter, der mit dem Floß aus Kuba kam und den schlaffen Körper seines dehydrierten Sohns in den Armen hält. Es ist grotesk und trostlos, und das Bild macht den Schmerz greifbar. In anderen Worten, genau die Art von Fotografie, für die Hannah O’Toole bekannt war.

Die Tür zum Sicherheitsbereich lässt sich von beiden Seiten nur mit einem Code öffnen. (Um das Eingabefeld auf der Innenseite schart sich immer ein kleines Grüppchen von Bewohnern, die versuchen, einem über die Schulter zu gucken, um die Ziffern und womöglich auch den Weg in die Freiheit zu erspähen.) Die Zimmer selbst sind nicht verschlossen. Als ich das Zimmer meiner Mutter betrete, ist dort alles sauber und ordentlich. Der Fernseher läuft – der Fernseher läuft immer –, und man sieht eine Gameshow. Meine Mutter sitzt auf der Couch, die Hände im Schoß, als warte sie darauf, gleich zum Tanz aufgefordert zu werden.

Sie ist jünger als die meisten der Bewohner hier. Den einen Streifen Weiß in ihren schwarzen Haaren hatte sie bereits, als ich klein war. Sehr viel verändert hat sie sich seitdem nicht, abgesehen von der Ruhe, die sie umgibt. Meine Mutter war immer in Bewegung – redete angeregt und gestenreich, wandte sich der nächsten Frage zu, stellte das Objektiv einer Kamera ein und hatte es eilig, von uns weg in irgendeinen Winkel der Erde zu kommen, um eine Revolution oder eine Naturkatastrophe festzuhalten.

Hinter ihr befindet sich die von einer Schutzwand umhegte Veranda, ein weiterer Grund, weshalb ich mich für The Greens entschieden habe. Ich stellte mir vor, dass eine Frau, die einen Großteil ihres Lebens im Freien verbracht hat, unter dem Eingesperrtsein in einer Einrichtung für Demenzkranke leiden würde. Die abgeschirmte Veranda war sicher, weil es keinen Ausgang gab, aber sie erlaubte einen Ausblick. Auch wenn es nur auf einen Streifen Rasen und dahinter einen Parkplatz war.

Meine Mutter hier unterzubringen, kostet einen Haufen Geld. Als sie in Begleitung zweier Polizeibeamter, die sie aufgefunden hatten, während sie mit einem Bademantel bekleidet durch den Central Park lief, auf meiner Schwelle stand, hatte ich nicht mal gewusst, dass sie wieder in der Stadt war. Meine Adresse hatten sie in ihrer Brieftasche gefunden, abgerissen vom Umschlag einer alten Weihnachtskarte. Kennen Sie diese Frau, Ma'am?, hatte mich einer der Beamten gefragt.

Natürlich erkannte ich sie. Aber von kennen konnte keine Rede sein.

Als feststand, dass meine Mutter dement war, hatte Finn mich gefragt, was ich tun würde. Nichts, erklärte ich ihm. Schließlich hatte sie sich kaum um mich gekümmert, als ich klein war, wieso also sollte ich mich jetzt um sie kümmern? Den Ausdruck auf seinem Gesicht, als ihm womöglich bewusst wurde, dass Liebe für mich ein Quidproquo war, werde ich nie vergessen. Und ich wollte ihn an Finn auch nie wieder sehen, aber ich kannte meine Grenzen und verfügte nicht über die Reserven, Pflegerin von jemandem im Anfangsstadium von Alzheimer zu werden. Dennoch kam ich meiner Sorgfaltspflicht nach, sprach mit ihrem Neurologen und besorgte mir Infomaterial von verschiedenen Einrichtungen. The Greens war darunter die beste, aber auch teuer. Am Ende löste ich die Wohnung meiner Mutter auf, Sotheby’s versteigerte die Fotos an ihren Wänden, und am Ende verfügte ich über genügend Mittel, um ihre neue Unterkunft bezahlen zu können.

Dabei entging mir nicht die Ironie, dass ausgerechnet der Elternteil, den ich wahnsinnig vermisste, nicht mehr auf dieser Welt war, wohingegen der Elternteil, der mir eigentlich gleichgültig war, auf lange Sicht untrennbar an mich gebunden sein würde.

Jetzt setze ich ein Lächeln auf und nehme Platz neben meiner Mutter auf der Couch. Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft ich auf Besuch kam, seit sie hier ist, aber die Anweisungen des Personals habe ich verinnerlicht: Tun Sie so, als würde sie Sie kennen, denn selbst wenn sie sich nicht erinnert, wird sie den sozialen Stimuli folgen und Sie wie eine Freundin behandeln. Als sie mich bei meinem ersten Besuch fragte, wer ich sei, und ich darauf antwortete Deine Tochter, hatte sie das derart aufgewühlt, dass sie davongeschossen, über einen Stuhl gestürzt war und sich die Stirn aufgeschlagen hatte.

»Und wer gewinnt beim Glücksrad?«, frage ich.

Ihr Blick huscht zu mir. In ihren Augen blitzt Verwirrung auf, wie ein stotterndes Kontrolllicht, dann fängt sie sich. »Die Dame in der rosa Bluse«, sagt meine Mutter. Ihre Brauen ziehen sich zusammen, als versuche sie, mich einzuordnen. »Bist du …«

»Beim letzten Mal, als ich hier war, war es draußen warm«, falle ich ihr ins Wort, um ihr einen Anhaltspunkt zu bieten, dass ich nicht zum ersten Mal hier bin. »Auch heute ist es ziemlich warm. Sollen wir die Schiebetür öffnen?«

Sie nickt, und ich gehe zu der Tür, die nach draußen führt. Sie ist nicht verriegelt. »Du solltest den Riegel immer vorschieben«, erinnere ich sie. Dass sie wegläuft, brauche ich nicht zu befürchten – aber es macht mich dennoch nervös, wenn die Schiebetür unverschlossen ist.

»Gehen wir irgendwohin?«, fragt sie, als eine frische Brise ins Wohnzimmer weht.

»Heute nicht. Aber ich trete morgen eine Reise an. Zu den Galapagosinseln.«

»Ich war dort«, entgegnet meine Mutter erfreut, als sie diesen Erinnerungsfaden zu fassen bekommt. »Dort gibt es eine Schildkröte. Lonesome George. Er ist der Letzte einer ganzen Spezies. Stell dir vor, von allem auf der Welt das letzte Wesen zu sein.«

Der Kloß im Hals kommt unerwartet. »Er ist gestorben«, sage ich.

Meine Mutter neigt den Kopf zur Seite. »Wer?«

»Lonesome George.«

»Wer ist George?«, fragt sie, und ihre Augen werden zu Schlitzen. »Wer bist du?«

Und dieser Satz verletzt mich.

Ich weiß nicht, warum es derart wehtut, wenn meine Mutter mich jetzt vergisst, wo sie mich doch nie wirklich gekannt hat.

Als Finn vom Krankenhaus nach Hause kommt, liege ich bereits zugedeckt im Bett, angetan mit meinem liebsten Flanellhemd und einer Jogginghose, den Laptop auf den Knien. Nach dem heutigen Tag bin ich einfach platt. Finn setzt sich neben mich und lehnt sich am Kopfteil an. Seine blonden Haare sind nass, was nur bedeuten kann, dass er sich geduscht hat, bevor er sich vom NewYork-Presbyterian-Krankenhaus, wo er als Assistenzarzt der Chirurgie arbeitet, auf den Heimweg machte. Er schielt auf den Bildschirm, dann auf den leeren Eiscremebecher neben mir. »Wow«, sagt er. »Jenseits von Afrika … und Butter-Pecan? Schwere Geschütze.«

Ich lehne mich mit dem Kopf an seine Schulter. »Ich hatte den beschissensten Tag.«

»Nein, den hatte ich«, kontert Finn.

»Ich habe ein Gemälde verloren«, berichte ich.

»Ich habe eine Patientin verloren.«

Ich stöhne. »Du hast gewonnen. Du gewinnst immer. Keiner stirbt an einem Kunst-Notfall.«

»Nein, ich meine, mir ist eine Patientin abhandengekommen. Eine ältere Frau mit LBD lief davon, bevor ich sie zu ihrer Gallenblasen-OP abholen konnte.«

»Lila Blumendessous?«

Die Lachfältchen um Finns Mund vertiefen sich. »Lewy-Body-Demenz.«

Da muss ich natürlich an meine Mutter denken.

»Hast du sie wiedergefunden?«

»Der Sicherheitsdienst. Sie hielt sich auf der Entbindungs­station auf.«

Ich frage mich, was sie veranlasst haben mag, ausgerechnet dorthin zu gehen – ein innerer GPS-Irrtum oder der Drachenschwanz einer Erinnerung, die schon so hoch in den Wolken ist, dass man sie kaum noch sehen kann.

»Dann habe ich gewonnen«, befinde ich und gebe ihm eine Zusammenfassung meines Treffens mit Kitomi Ito.

»Also«, erwidert Finn, »im großen Ganzen gesehen ist das nicht wirklich eine Katastrophe. Du kannst nach wie vor befördert werden, wenn sie sich doch noch entschließt zu verkaufen.«

Was ich an Finn am meisten liebe – na gut, eins der Dinge, die ich an Finn am meisten liebe –, ist sein Verständnis dafür, dass ich, was meine Zukunft betrifft, einen genauen Plan habe. Genauso wie er einen für seine Zukunft hat. Am wichtigsten ist aber, dass mein und sein Plan sich überlappen: erfolgreiche Berufslaufbahn, dann zwei Kinder, schließlich ein restauriertes Farmhaus im Hinterland. Ein Audi TT. Ein reinrassiger English Springer Spaniel, aber auch noch eine Promenadenmischung aus dem Tierheim. Ein halbes Jahr im Ausland. Ein ausreichend gefülltes Bankkonto, sodass wir uns keine Gedanken machen müssen, wenn wir Winterreifen benötigen oder ein neues Dach bezahlen müssen. Eine Position im Vorstand eines Obdachlosen­heims oder Krankenhauses oder einer Krebsstiftung, die uns erlaubt, auf irgendeine Weise dazu beizutragen, dass die Welt ein besserer Ort wird. Eine Leistung, die für immer mit meinem Namen verbunden ist.

(Ich war davon ausgegangen, dies durch Kitomi Itos Auktion zu erreichen.)

Wenn die Ehe ein Joch zu dem Zweck ist, dass zwei Menschen sich im Tandem bewegen, dann waren meine Eltern Ochsen, die jeder in eine andere Richtung zogen, mit mir mittendrin. Ich habe nie verstanden, wie man mit jemandem vor den Trau­altar treten kann, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass jeder eine andere Zukunft vor Augen hat. Mein Vater träumte von einer Familie, für ihn war Kunst ein Mittel, für mich zu sorgen. Meine Mutter träumte von der Kunst, für sie war die Familie nur Ablenkung. Mir geht es um die Liebe. Aber auch keine noch so verzehrende Leidenschaft schafft es, eine derartige Lücke zu überbrücken.

Das Leben meldet sich, wenn man es am wenigsten erwartet, aber das bedeutet nicht, dass man keinen Plan in der Hosen­tasche haben kann. Und was das betrifft, haben Finn und ich Pläne, wo ein Großteil unserer Freunde sich noch immer an teuren Abschlüssen abarbeitet oder nach links schielt oder herausfindet, was Spaß machen könnte. Aber wir teilen nicht nur den gleichen allgemeinen Zeitplan für unser Leben, wir haben auch die gleichen Träume, als würden wir in dieselbe Wunschkiste greifen: Lauf einen Marathon. Lerne einen guten Cabernet von einem schlechten zu unterscheiden. Guck dir die zweihundertfünfzig besten Filme an. Melde dich als freiwilliger Helfer zum Iditarod. Wandere eine Strecke des Appalachian Trails. Schau dir die Tulpenfelder der Niederlande an. Lerne surfen. Fahr zu den Nordlichtern. Geh mit fünfzig in den Ruhestand. Besichtige sämtliche Sehenswürdigkeiten des UNESCO-Weltkulturerbes.

Wir beginnen mit den Galapagosinseln. Für zwei Millennials aus New York ist das eine verdammt teure Reise, allein der Preis für die Flüge ist schon exorbitant. Aber wir haben vier Jahre darauf gespart, und dank eines Angebots, das ich online entdeckt habe, ist es uns gelungen, etwas zu finden, das unserem Budget entspricht – wir haben einen festen Standort auf einer Insel anstatt des sehr viel teureren Inselhoppings.

Und irgendwo an einem Lavasandstrand wird Finn auf ein Knie sinken, und ich werde im Ozean seiner Augen versinken und mein Jawort zu diesem Startschuss für den Rest unseres Lebens geben.

Trotz meines Lebensplans, von dem ich bisher nicht abgewichen bin, trete ich auf der Stelle und warte auf den nächsten Meilenstein. Ich habe einen Job, aber keine Beförderung. Ich habe einen Freund, aber keine Familie. Es ist wie bei Finns Video­spielen, wenn er den nächsten Level nicht erreicht. Ich habe es mir ausgemalt, ich habe es kundgetan, ich habe versucht, es ins Universum zu posaunen. Finn hat recht. Ich werde nicht zulassen, dass mich ein kleiner Schluckauf wie Kitomis Wankelmütigkeit aus der Bahn wirft.

Uns aus der Bahn wirft.

Finn küsst mich auf den Scheitel. »Es tut mir leid, dass du dein Gemälde verloren hast.«

»Tut mir leid, dass dir deine Patientin verlustig gegangen ist.«

Er hat lässig seine Finger mit meinen verschränkt. »Sie hat gehustet«, murmelt er.

»Ich dachte, sie sei wegen der Gallenblase da gewesen.«

»War sie auch. Aber sie hustete. Alle konnten es hören. Und ich …« Er blickt mich beschämt an. »Ich hatte Angst.«

Ich drücke Finns Hand. »Du dachtest an Covid?«

»Ja.« Er schüttelt den Kopf. »Anstatt also in ihr Zimmer zu gehen, habe ich erst nach zwei anderen Patienten gesehen. Und da wird sie vermutlich des Wartens überdrüssig geworden sein … und ist abgehauen.« Er zieht eine Grimasse. »Sie hatte einen Raucherhusten und eine kranke Gallenblase, die entfernt werden muss, aber anstatt an ihre Gesundheit zu denken, denke ich an meine.«

»Das darfst du dir doch nicht zum Vorwurf machen.«

»Darf ich nicht? Ich habe einen Eid geschworen. Es ist, als wäre ich ein Feuerwehrmann, der vor der Hitze des brennenden Gebäudes kneift.«

»Ich dachte, es seien nur neunzehn Fälle in der Stadt.«

»Dem war auch so«, betont Finn. »Aber mein Oberarzt hat uns in Angst und Schrecken versetzt und darauf vorbereitet, dass ab Montag die gesamte Intensivstation an ihre Grenzen stoßen wird. Ich habe eine Stunde lang überlegt, wie man die persönliche Schutzausrüstung anlegt.«

»Gott sei Dank fahren wir in Urlaub«, entgegne ich. »Ich habe das Gefühl, wir brauchen beide eine Pause.«

Finn sagt darauf nichts.

»Ich kann’s gar nicht erwarten, bis wir am Strand sind und sich das alles unendlich weit weg anfühlt.«

Schweigen.

»Finn«, sage ich.

Er rückt ab, damit er mir in die Augen sehen kann, und sagt: »Du solltest trotzdem fahren, Diana.«

Finn liegt in unruhigem Schlaf neben mir, als ich mitten in der Nacht mit Kopfschmerzen aufwache. Nachdem ich eine Ta­blette genommen habe, schleiche ich mich ins Wohnzimmer und klappe meinen Laptop auf. Finns Oberarzt im Krankenhaus hat unmissverständlich klargemacht, dass weder Urlaubs- noch freie Tage genommen werden sollten, da man alle verfügbaren Kräfte benötigen werde.

Nicht, dass ich ihm nicht glaube, aber ich habe die leeren Bahnhöfe vor Augen. Die Stadt wirkt so ruhig, und man hat nicht den Eindruck, dass sie voll kranker Menschen ist.

Mein Blick springt von einer Schlagzeile zur nächsten: De Blasio erklärt den Ausnahmezustand.

Der Bürgermeister rechnet innerhalb der nächsten Woche mit tausend Fällen in der Stadt New York.

Die NBA und die NHL haben ihre Spiele abgesagt.

Die Met ist für sämtlichen Besucherverkehr geschlossen.

Draußen dämmert der Morgen am Horizont. Ich höre das Rumpeln eines Autos. Allem Anschein nach ein ganz normaler Samstag in der Stadt. Außer dass wir uns offensichtlich im Auge des Sturms befinden.

In meiner Kindheit begleiteten mein Vater und ich einmal meine Mutter zu Fotoaufnahmen in eine unter Dürre leidende Gegend im Mittleren Westen und gerieten dort in einen Tornado. Der Himmel hatte sich gelb verfärbt wie ein alter Blut­erguss, und wir suchten Zuflucht im Keller unserer Pension zwischen den Kisten, die mit Weihnachtsdekoration und Tischtücher beschriftet waren. Meine Mutter war mit ihrer Kamera im Erdgeschoss geblieben. Als das wütende Heulen des Windes sich legte und sie nach draußen ging, folgte ich ihr. Es schien sie nicht zu überraschen, mich dort zu sehen.

Es war vollkommen still – keine Menschen, keine Autos und seltsamerweise auch kein Vogel und kein Insekt. Es war, als würden wir unter einer Glocke stehen.

Ist es vorbei?, fragte ich.

Ja, sagte sie. Und nein.

Dass Finn hinter mir steht, merke ich erst, als ich seine Hände auf meinen Schultern spüre. »Es ist besser so«, sagt er.

»Dass ich allein in den Urlaub fahre?«

»Dass du an einem sicheren Ort bist und ich mir keine Sorgen um dich machen muss«, sagt Finn. »Ich weiß ja nicht, was ich mir womöglich im Krankenhaus einfange und dann mit nach Hause bringe. Ich weiß nicht mal, ob ich vom Krankenhaus nach Hause komme.«

»Alle sagen, in zwei Wochen sei alles vorbei.« Alle, überlege ich. Die Nachrichtensprecher, die nachplappern, was die Pressesprecherin dem Präsidenten nachplappert.

»Ja, ich weiß. Aber mein Oberarzt ist da ganz anderer Meinung.«

Mir kommt die Subway-Station in den Sinn. Der Times Square ohne Touristen. Man erwartet von mir nicht, dass ich Lysol horte oder mir einen Vorrat an FFP2-Masken zulege. Natürlich kenne ich die Zahlen aus Frankreich und Italien, aber diese Todesopfer waren alles ältere Menschen. Ich habe absolut nichts gegen Sicherheitsvorkehrungen, aber ich weiß auch, dass ich jung und gesund bin. Man weiß nicht, was man glauben soll. Wem man glauben soll.

Wenn die Pandemie schon von Manhattan weit weg zu sein scheint, wird sie vermutlich auf einem Archipel inmitten des Pazifischen Ozeans gar keine Rolle spielen.

»Was ist, wenn dir das Toilettenpapier ausgeht?«, wende ich ein.

Ich höre das Lächeln in seiner Stimme. »Darüber machst du dir Sorgen?« Er drückt meine Schultern. »Ich verspreche dir, dass ich ein paar Rollen aus dem Krankenhaus stehlen werde, sollten die Leute sich in den Läden darum schlagen.«

Es fühlt sich falsch an, absolut falsch, die Reise ohne Finn zu machen, aber nicht weniger falsch wäre es, als Ersatz einen Freund oder eine Freundin mitzunehmen – wobei mir niemand einfallen würde, der sich einfach so von heute auf morgen zwei Wochen Urlaub nehmen könnte. Aber langsam nimmt die Umsetzbarkeit des Vorschlags Gestalt an. Ich habe meinen Urlaub bereits angemeldet. Ich weiß, dass wir auf Finns Flüge eine Rückerstattung bekommen können, doch im Kleingedruckten unseres wunderbaren Übernachtungsangebots heißt es, dass es dafür dergleichen nicht gibt. Und so rede ich mir ein, dass es dumm wäre, die so teuer bezahlte Unterkunft nicht zu nutzen, zumal mein Kopf bei der Vorstellung, am Montag zur Arbeit anzutreten, noch heftiger pocht. Ich denke an Rodneys Worte und ans Schnorcheln mit den Meerechsen.

»Ich werde dir Fotos schicken«, gelobe ich. »So viele, dass du einen besseren Datentarif brauchen wirst.«

Finn beugt sich über mich, bis ich seine Lippen an meiner Halsbeuge spüre. »Sieh zu, dass du Spaß für uns beide hast«, sagt er.

Plötzlich packt mich eine Angst so heftig, dass ich aufspringe und mich in Finns Arme werfe. »Du wirst hier sein, wenn ich zurückkomme«, konstatiere ich, weil mir der Gedanke, dieser Satz könnte wie eine Frage klingen, unerträglich ist.

»Diana«, sagt er lächelnd. »Selbst wenn du es versuchen würdest, du könntest mich nicht loswerden.«

Wie ich auf die Galapagosinseln gekommen bin, ist mir schleierhaft.

Was vermutlich dem Beruhigungsmittel geschuldet ist, das ich einnahm, sobald ich im Flugzeug saß. Ich weiß noch, dass ich gepackt und in letzter Minute die Reiseführer aus meinem Bordgepäck genommen und in meinen Koffer gesteckt habe. Erinnere mich, mehrmals überprüft zu haben, ob ich auch meinen Pass dabeihabe. Finn wurde ins Krankenhaus gerufen, auch das weiß ich noch, und dass er mir einen Abschiedskuss gegeben und »Victoria Falls« gesagt hat.

»Du hast schon jetzt meinen Namen vergessen«, scherzte ich.

»Nein, das ist die nächste Sehenswürdigkeit auf der UNESCO-Welterbeliste. Nur dass ich dann nach Simbabwe reise und du hierbleibst. Was nur fair ist.«

»Abgemacht«, versprach ich, weil ich wusste, er würde mich niemals zurücklassen.

Danach bleiben nur noch Kleinigkeiten: das verrückte Gewusel am Flughafen, als wäre Ferienzeit und nicht ein ganz normales Wochenende im März; die Flasche Wasser, die ich kaufe und während des Flugs trinke, sowie das People-Magazin, in das ich keinen Blick werfe; der Ruck beim Aufsetzen der Reifen, der mich aus meinem Traum voller Fakten reißt, die ich mir über mein Ziel angelesen habe. Träge stolpere ich durch den mir nicht vertrauten Flughafen von Guayaquil, wo ich vor meinem Anschlussflug auf die Galapagosinseln eine Nacht auf dem ecuado­rianischen Festland verbringe.

Von der Landung weiß ich nur noch zwei Dinge: dass die Fluglinie mein Gepäck verloren hat und jemand meine Temperatur misst, bevor sie mich nach Ecuador reinlassen.

Mein Spanisch reicht nicht aus, um zu erklären, dass mein Flug auf die Inseln am frühen nächsten Morgen geht, aber das dürfte öfter vorkommen. Ich fülle am Gepäckschalter ein Formular aus, aber in Anbetracht der vielen Menschen, die dasselbe tun, hege ich keine große Hoffnung auf eine rechtzeitige Wiedervereinigung mit meinem Gepäck. Wehmütig denke ich an die darin eingepackten Reiseführer. Na ja, was soll’s. Ich werde mir selbst von allem ein Bild machen, ich brauche nichts mehr darüber zu lesen. Alles Wesentliche habe ich in meinem Rucksack – Zahnpasta und Zahnbürste, Ladegerät fürs Telefon und einen Badeanzug, den ich genau für diese Eventualität eingepackt habe. Ich werde am Morgen zurück zum Flughafen kommen und nach Baltra vor der Galapagosinsel Santa Cruz fliegen und dann einen Bus zur Fähre auf die Insel Isabela nehmen, auf der ich anschließend zwei Wochen bleiben werde.

Nachdem ich geduscht und meine Haare geflochten habe, versuche ich, über das miese WLAN des Hotels eine FaceTime-Verbindung zu Finn herzustellen. Er geht nicht dran, aber ein paar Minuten später klingelt mein Telefon. Als sein Gesicht auf dem Display auftaucht, ist es hinter einem Schild verborgen, und er trägt eine OP-Maske. »Du hast es geschafft«, sagt er.

»Habe ich. Aber mein Koffer hatte Pech.«

»O Mann. Du meinst, ich habe nicht nur auf einen Urlaub im Paradies verzichtet … sondern auch auf einen Urlaub, in dem du nackt herumläufst?«

Ich lächele. »Hoffentlich kommt es nicht so weit.« Plötzlich fühle ich mich erschöpft und sehr allein. »Ich vermisse dich.«

Das Geräusch einer Krankenwagensirene schwillt im Lautsprecher an. Finns Blick schwenkt nach rechts. »Ich muss los.«

»Siehst du es schon?«, frage ich. »Das Virus?«

Er sieht mich an, und hinter dem Plexiglasschild erkenne ich die Ränder unter seinen müden Augen. Es ist zehn Uhr abends. Während ich im Flugzeug geschlafen habe, hat Finn das Krankenhaus seit zwölf Stunden nicht mehr verlassen, wie mir klar wird. »Ich sehe nichts anderes mehr«, sagt er, und die Verbindung bricht ab.

Am nächsten Tag startet mein Flug nach Santa Cruz problemlos. Aber dann liegt zwischen mir und der Fähre zu meinem Endziel ein Seelöwe.

Er rekelt sich im Sonnenschein auf dem Landesteg, ein Muskelprotz von einem Faulpelz mit zuckenden Barthaaren. Ich gehe mit meiner Kamera auf ihn zu, um Finn ein Foto von ihm zu schicken, aber sobald ich in seine Nähe komme, richtet er Kopf und Schultern auf und fixiert mich mit seinen Augen.

Ich renne los und mache einen Satz über seinen Schwanz, als er aufschreit und losbrüllt, sodass ich fast mein Telefon fallen lasse.

Mit Herzklopfen erreiche ich das Boot. Überzeugt, dass die Bestie mir auf den Fersen ist, werfe ich einen Blick über die Schulter, aber der Seelöwe liegt wieder unbeweglich wie ein träger Hund auf den ausgebleichten Planken.

Es gibt täglich nur zwei Fährverbindungen zur Insel Isabela, und ich hätte auf der Nachmittagsfähre mit mehr Leuten gerechnet. Tatsächlich setzen außer mir nur noch zwei Passagiere über. In gebrochenem Spanisch frage ich den Mann, der mir an Bord hilft, ob ich auch auf dem richtigen Boot bin, was er mit entschiedenem Nicken beantwortet. Ich nehme draußen Platz. Und plötzlich sind wir auf See, und die Insel Santa Cruz wird immer kleiner.

Das Galapagosarchipel besteht aus einer Ansammlung von Inseln, die man wie eine Handvoll Edelsteine auf Samt ins Meer geworfen hat. So muss die Welt ausgesehen haben, als sie noch neugeboren war – Berge, zu jung, um sanfte Hänge zu bilden, Nebelschwaden in den Tälern, Vulkane, die sich schartig in den Himmel bohren, manche noch immer aktiv. Während die einen im türkisfarbenen Wasser zu dösen scheinen, sind andere von heftiger Brandung umgeben. Es gibt bewohnte Inseln wie Isabela, auf anderen findet man eine bizarre Sammlung von Geschöpfen, die nur hier heimisch sind.

Während der zweistündigen Bootsfahrt durch kabbelige See werde ich von Gischt besprüht und richtig durchgerüttelt. Einer der Passagiere, er ist im Collegealter und offenbar Rucksacktourist, wird beängstigend grün im Gesicht. Das Mädchen mit der glatten braunen Haut, das als dritter Passagier mitfährt, scheint eine Einheimische zu sein. Älter als zwölf oder dreizehn dürfte sie nicht sein, und sie hat eine Schuluniform an: ein Polohemd und eine schwarze Hose. Trotz der Hitze trägt sie darüber ein langärmeliges Sweatshirt mit einem Schulwappen über dem Herzen. Sie lässt die Schultern hängen und hält eine Reisetasche in den Armen, die Augen sind gerötet. Alles an ihr signalisiert: Lasst mich in Ruhe.

Ich richte meinen Blick auf den Horizont und kämpfe gegen den Brechreiz an. Im Geiste verfasse ich eine Nachricht an Finn: Erinnerst Du Dich an die Überfahrt von Bar Harbor nach Nova Scotia zur Hochzeit Deines Zimmergenossen, wo allen schlecht wurde an Bord?

Wie sich herausstellt, kommt man mit der Fähre gar nicht bis zum Hafen von Isabela. Sie hält am Ankerplatz, und dann teilen der Rucksacktourist, das Mädchen und ich uns für das letzte Stück ein Wassertaxi, die kurze Strecke nach Puerto Villamil. Ich bin in den Anblick des zuckrigen Sandstrands mit Palmen versunken, als der Rucksacktourist neben mir begeistert auflacht. »O Mann!«, sagt er, packt mich am Ärmel und zeigt auf etwas. Neben dem Boot schwimmt ein winziger Pinguin.

Beim Näherkommen löst sich die Landmasse in sinnlich erfahrbare Details auf: heiße Windböen und johlende Pelikane; ein Mann, der auf eine Kokospalme klettert und die Nüsse einem Jungen zuwirft; eine mit ihrem gelben Dinosaurierauge blinzelnde Meerechse. Als wir auf den Pier zumanövrieren, sage ich mir, dass es keinen größeren Unterschied zu New York geben könnte. Tropische Zeitlosigkeit, träge Abgeschiedenheit. Dies scheint ein Ort zu sein, an dem noch nie jemand von einer Pandemie gehört hat.

Aber dann entdecke ich die Horde Menschen, die darauf wartet, sich die Dienste des Wassertaxis zu sichern. Sie haben das sonnengebräunte Aussehen von Touristen, die sich im Geiste bereits wieder auf ihr Zuhause einstellen, sie schubsen und übertönen einander. Ein Mann streckt unserem Fahrer fuchtelnd eine Faust voll Bargeld entgegen, und dieser ist sichtlich überwältigt. »Was ist da los?«, frage ich.

»La isla está cerrando«, sagt er.

Cerrando, überlege ich und durchforste meinen begrenzten Spanischwortschatz.

»Ich verstehe nicht«, erwidere ich.

Das junge Mädchen schweigt und starrt auf den Steg. Der Rucksacktourist sieht erst mich und dann die Menschenmenge an. Er spricht Spanisch mit unserem Taxifahrer, der darauf mit einem für mich unverständlichen Wortschwall antwortet.

»Die Insel schließt«, sagt er.

Wie kann eine Insel schließen?

»Sie machen die Insel für zwei Wochen dicht«, ergänzt der junge Mann. »Wegen des Virus.« Dabei nickt er Richtung Steg und die wartenden Leute darauf. »Sie versuchen alle, zurück nach Santa Cruz zu gelangen.«

Das Mädchen schließt die Augen, als wolle sie keinen von ihnen sehen.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese vielen Menschen auf die kleine Fähre passen sollen. Der Taxifahrer stellt auf Spanisch eine Frage.

»Er möchte wissen, ob wir zurückfahren wollen«, sagt der junge Mann und schielt Richtung Fähre, die noch vor Anker liegt. »Das ist das letzte Boot von der Insel.«

Ich mag es nicht, wenn Pläne sich ändern.

Ich denke an Finn, der mir riet, New York zu verlassen. Denke an das bereits bezahlte Zimmer, das fußläufig entfernt von diesem Hafen wartet. Wenn die Insel für zwei Wochen dichtmacht, scheint man davon auszugehen, dass man bis dahin das Virus unter Kontrolle haben wird. Ich könnte nun die beiden Wochen damit zubringen, mit diesem wütenden Mob um einen Platz im Flugzeug zurück nach New York zu kämpfen, und mich dann in unserer Wohnung vergraben, während Finn arbeitet.

Der junge Mann antwortet dem Fahrer auf Spanisch und wendet sich dann an mich. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie wahrscheinlich mit umkehren möchten.«

»Warum?«

Achselzuckend erwidert er: »Weil Sie wie jemand aussehen, für den Sicherheit Priorität hat.«

Das tut irgendwie weh. Nur weil es eine kleine Abweichung gibt, bedeutet das nicht gleich, dass ich mich nicht anpassen kann. »Nun, da täuschen Sie sich. Ich bleibe.«

Der Rucksacktourist zieht die Augenbrauen hoch. »Echt jetzt. Shit«, sagt er mit neidischer Bewunderung.

»Und was werden Sie machen?«, frage ich den jungen Mann.

»Umkehren«, sagt er. »Ich bin schon eine Woche auf den Gala­pagosinseln unterwegs.«

»Ich noch nicht«, entgegne ich, als bräuchte ich eine Ausrede.

»Wie Sie wollen«, sagt er.

Zwei Minuten später steigen das Mädchen und ich aus dem Wassertaxi und betreten die Insel Isabela. Wir müssen gegen den Strom der auf ihre Abreise erpichten Urlauber ankämpfen, die drängelnd auf das kleine Boot zusteuern. Ich lächle dem Mädchen zaghaft zu, aber sie reagiert nicht. Nach einer Weile wird mir bewusst, dass sie nicht mehr an meiner Seite ist. Ich sehe mich um und entdecke sie auf einer Holzbank am Steg, wo sie sich, die Reisetasche neben sich, Tränen aus dem Gesicht wischt.

In dem Moment legt das Wassertaxi ab.

Und plötzlich wird mir klar, dass ich, bemüht, cooler zu wirken, als ich tatsächlich bin, aus eigenem Antrieb gerade auf der Insel gestrandet bin.

Eigentlich bin ich nie wirklich allein gereist. In meiner Kindheit habe ich meinen Vater zu den Orten begleitet, an denen er Kunstwerke restauriert hat – in den Museen von Los Angeles, Florenz, Fontainebleau. Während meiner Collegejahre verbrachten meine Zimmergenossinnen und ich die Frühlingsferien auf den Bahamas. In einem Sommer habe ich Freunde besucht, die in Kanada arbeiteten. Mit Eva bin ich nach Los Angeles und Seattle geflogen, um potenzielle Kunden zu umgarnen und Kunstwerke für die Auktion zu taxieren. Mit Finn besuchte ich den Acadia National Park, verbrachte ein langes Wochenende in Miami und begleitete ihn zu einer Hochzeit nach Colorado. Ich habe Frauen kennengelernt, die unbedingt ganz allein in die entferntesten Gegenden der Erde reisen wollten, als wäre kämpferische Selbstgenügsamkeit sogar noch besser für Instagram-Posts geeignet als ausländische Sehenswürdigkeiten. Aber so bin ich nicht gestrickt. Ich habe gern jemanden an meiner Seite, der Erinnerungen mit mir teilt. Es tut mir gut zu wissen, dass ich zu Finn nur sagen muss: Weißt du noch, damals am Cadillac Mountain … und mir den Rest des Satzes sparen kann.

Du bist auf einer Abenteuerreise, sage ich mir.

Schließlich hat meine Mutter das mühelos geschafft, und zwar an Orten, die weitaus weniger zivilisiert waren.

Als ich mich noch mal zum Pier umdrehe, ist das Mädchen verschwunden.

Ich hänge mir meinen Reiserucksack über die Schulter und laufe in den Ort hinein, dessen kleine Häuser sich wie Puzzleteile aneinanderfügen: Ziegelwände mit Strohdach, ein leuchtend rosa verputztes Haus, ein mit Holz überdachter Durchgang mit einem BAR/RESTAURANT-Schild darüber. Jedes Haus ist anders, ihre einzige Gemeinsamkeit sind die fest verschlossenen Türen.

La isla está cerrando.

Nur die sich über die Staubstraße windenden Landechsen zeugen von Leben auf der Insel. Ich komme an einer farmacia, einem Laden und einigen hostales vorbei. Da dies die einzige Straße ist, dürfte ich unweigerlich irgendwann auf mein Hotel stoßen.

Ich gehe weiter, bis ich den Jungen sehe, den ich vom Boot aus die Kokosnüsse habe auffangen sehen. »Hola« spreche ich ihn lächelnd an. Ich deute fragend auf die Straße in beide Richtungen. »Casa del Cielo …?«

Leichtfüßig landet der Mann, der auf der Kokospalme war, hinter mir auf der Erde. »Casa del Cielo«, wiederholt er. »El hotel no está lejos, pero no están abiertos.«

Ich lächele ihn an und sage Gracias, obwohl ich keine Ahnung habe, was er gesagt hat. Und ich frage mich, was ich mir dabei gedacht habe, in ein Land zu kommen, dessen Sprache ich nicht spreche.

Oh. Richtig. Ich dachte ja, dass Finn mitkommt, und der spricht sie.

Mit einem höflichen Winken setze ich meinen Weg in der von ihm gezeigten Richtung fort. Keine hundert Meter weiter sehe ich ein ausgebleichtes Holzschild mit dem eingeritzten Namen des Hotels.

Ich erreiche den Eingang, als gerade jemand herauskommt. Es ist eine alte Frau mit einem von Falten gezeichneten Gesicht, in dem lebhafte schwarze Augen funkeln. Sie ruft jemandem zu, der sich noch im Hotel befindet und auf Spanisch antwortet. Auf ihrem Baumwollkleid ist über der linken Brust das Hotellogo zu sehen. Nachdem sie mich angelächelt hat, verschwindet sie seitlich ums Gebäude.

Gleich darauf taucht eine weitere Frau auf – jünger, mit langem Haar, das ihr wie ein Seil über den Rücken hängt. Sie hält einen Schlüsselbund und beginnt die Tür hinter sich abzuschließen.

Was mir bei einem Hotel merkwürdig vorkommt.

»Discúlpame«, sage ich. »Ist das Casa del Cielo?«

Sie reckt den Hals, wie um aufs Dach zu blicken, und nickt. »Estamos cerrados«, sagt sie und sieht mich an. »Geschlossen«, ergänzt sie.

Ich sehe sie ungläubig an. Vielleicht hat das etwas mit der ­Siesta zu tun, vielleicht schließen alle Geschäfte auf der Insel um – ich werfe einen Blick auf meine Uhr – … 16.30.

Sie zieht kurz kräftig an der Tür und wendet sich dann zum Gehen. Panisch laufe ich ihr hinterher und fordere sie auf zu warten. Sie dreht sich um, und ich krame aus meiner Trage­tasche die ausgedruckte Buchungsbestätigung des Hotels, Beweis meiner beiden im Voraus bezahlten Wochen.

Sie nimmt mir das Stück Papier aus der Hand und überfliegt es. Dann folgt ein Wortschwall auf Spanisch, wovon ich nur ein Wort verstehe: Coronavirus.

»Wann werden Sie wieder öffnen?«, frage ich.

Sie zieht die Schultern hoch, die Universalgeste für Keine Ahnung,tut mir leid.

Sie steigt aufs Fahrrad, radelt davon und lässt mich vor einem heruntergekommenen Hotel zurück, das mir im Voraus Geld für ein Zimmer abgeknöpft hat, das man mir jetzt vorenthält, in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche, auf einer Insel, auf der ich nun für zwei Wochen mit kaum mehr als einer Zahnbürste gestrandet bin.

Ich umrunde das Hotel, dessen Rückseite an den Ozean grenzt. Meeresleguane wuseln davon, als ich mich auf eine Lavazunge setze und mein Telefon heraushole, um Finn anzurufen.

Aber ich bekomme kein Signal.

Frustriert vergrabe ich den Kopf in den Händen.

So zu reisen, bin ich nicht gewohnt. Ich habe Hotelreservierungen und Reiseführer und ein Flugmeilenkonto. Ich vergewissere mich dreimal, ob ich meinen Führerschein und meinen Reisepass dabeihabe. Ich bin organisiert. Beim Gedanken, planlos durch eine Stadt zu streifen, um in einem x-beliebigen Hotel nach einem freien Zimmer zu fragen, wird mir übel.

Meine Mutter war mal in Sri Lanka und hat Wasserbüffel am Strand fotografiert, als ein Tsunami kam. Die Elefanten, erzählte sie, rannten Richtung Hügel, bevor wir überhaupt realisierten, was da auf uns zukam. Wenn alles sich in dieselbe Richtung bewegt, schloss sie, gibt es üblicherweise einen Grund dafür.

Als mich eine Hand an der Schulter berührt, zucke ich zusammen. Die alte Frau, die aus dem Hotel gekommen war, steht nun hinter mir. Als sie mich zahnlos anlächelt, ziehen sich ihre Lippen in ihren Mund zurück. »Ven conmigo«, sagt sie, und als ich mich nicht rühre, streckt sie mir ihre knochige Hand entgegen und zieht mich hoch.

Sie hält mich fest wie ein Kleinkind und zieht mich weiter über die sandige Straße von Puerto Villamil. Mir ist klar, dass es unklug ist, sich von einer Fremden mitziehen zu lassen. Aber einer­seits passt sie nicht ins Profil einer Serienkillerin – und was bleibt mir auch anderes übrig? Benommen folge ich ihr vorbei an verrammelten Geschäften und geschlossenen Restaurants und Bars, die dann von kleinen hübschen Behausungen abgelöst werden. Einige sind schicker als andere und verstecken sich hinter niedrigen Mauern mit Toren. Vor anderen stehen rostige Fahrräder. Einige haben Hofeinfahrten aus zerstoßenen Muscheln.

Die Frau biegt ab zu einem kleinen Haus. Es ist ein quadratischer, hellgelb gestrichener Betonbau. Um die Pfosten der kleinen Holzveranda winden sich üppig blühende Ranken. Doch anstatt die Stufen hinaufzusteigen, führt sie mich hinters Haus, das zum Wasser hin abfällt. Es gibt einen Hof mit einem Metalltisch und einer aus Seilen geknüpften Hängematte, mehrere Topfpflanzen und einen Durchbruch in der kniehohen Mauer, hinter der sofort der Strand anfängt und Wellen tuschelnd ans Ufer schlagen.

Als ich mich umdrehe, ist die alte Frau bereits durch eine Schiebetür aus Glas eingetreten und winkt mich heran. Ich betrete ein winziges Apartment, das sowohl bewohnt als auch unbewohnt wirkt. Es gibt Mobiliar: eine abgewetzte, hässliche braun karierte Couch und einen Beistelltisch aus Treibholz sowie mehrere Flickenteppiche. Außerdem einen wackeligen Tisch, groß genug für zwei Leute, in dessen Mitte eine bleiche Muschelschale einen Stapel Papierservietten beschwert, einen Kühlschrank, einen Ofen und einen Herd. Aber in den Regalen stehen keine Bücher oder Lebensmittel, und an den Wänden hängen keine Bilder.

»Sie«, sagt sie, und das Englische kommt ihr scharf über die Lippen, »bleiben.«

Ich bin machtlos gegen die Tränen. »Danke«, sage ich. »Ich kann Sie bezahlen. Dolares.«

Sie zuckt mit den Schultern, als wäre es für sie absolut normal, einer gestrandeten Reisenden ein Zuhause anzubieten, ohne dass dabei Geld eine Rolle spielt. Vielleicht handhabt man das auf Isabela so. Sie lächelt und klopft sich auf die Brust. ­»Abuela«, sagt sie.

Ich erwidere das Lächeln. »Diana«, stelle ich mich vor.

Das Apartment wirft Rätsel auf. Es gibt ein schmales Jugendbett, und ich mache mich auf die Suche nach Laken und finde sie im Wäscheschrank. Vergraben unter den Handtüchern entdecke ich drei T-Shirts, weich und ausgebleicht vom vielen Waschen – eins mit einer mir unbekannten Flagge darauf, ein weiteres mit einer schwarzen Katze und ein drittes mit einem Firmenlogo über der Brust. Dasselbe Logo sehe ich auch auf einer Schachtel mit übergroßen Werbepostkarten – mehrere Hundert davon. Der Schriftzug G2 TOURS ist eingebettet in Fotos von einem Vulkan, einer Schildkröte, einem felsigen Strand und einem Blaufußtölpel mit Knopfaugen. In einem verschrammten Schrank im Schlafzimmer finde ich ein Paar Flipflops, allerdings zu groß für mich, sowie eine Tauchermaske und einen Schnorchel. Im Badezimmer liegen in einer Schublade eine halbe Tube Zahnpasta sowie eine Flasche Ibuprofen. Im Kühlschrank entdecke ich ein paar Gewürze – Senf, Tabasco –, aber nichts Essbares.