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Musik ist die Sprache der Erinnerung, in guten wie in schlechten Zeiten.
Zoe Baxter wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Sie und ihr Mann Max tun alles, um endlich eine Familie zu gründen. Vergeblich. Als ihre Ehe zerbricht, findet Zoe Trost in der Musik - und in einer neuen Liebe.
Mit der Psychologin Vanessa will sie noch einmal von vorne beginnen. Sie träumt von einem gemeinsamen Kind mit ihr. Doch Max ist fest entschlossen, dieses Familienglück zu verhindern. Er sucht Rat bei einer radikalen christlichen Gemeinde, die seit Jahren gegen Homosexualität kämpft ...
Ein fesselnder Roman von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult, der der Frage nachgeht, was eine Familie wirklich ausmacht. Der Roman erschien im Original unter dem Titel Sing You Home.
»Von der ersten bis zur letzten Seite eine mitreißende Lektüre.« USA TODAY
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Zoe Baxter wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Sie und ihr Mann Max tun alles, um endlich eine Familie zu gründen. Vergeblich. Als ihre Ehe zerbricht, findet Zoe Trost in der Musik - und in einer neuen Liebe.
Mit der Psychologin Vanessa will sie noch einmal von vorne beginnen. Sie träumt von einem gemeinsamen Kind mit ihr. Doch Max ist fest entschlossen, dieses Familienglück zu verhindern. Er sucht Rat bei einer radikalen christlichen Gemeinde, die seit Jahren gegen Homosexualität kämpft …
JODI PICOULT
Ein Lied für meine Tochter
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher
Für Ellen Wilber: Deine Musik hat mein Leben bereichert; deine Freundschaft bedeutet mir und meiner Familie so viel. Ich weiß nicht mehr genau, wer von uns Thelma ist und wer Louise, aber ich glaube, das ist auch egal, solange wir nur gemeinsam unterwegs sind. Und für Kyle van Leer: Von dem Moment an, als du während eines Sturms geboren worden bist, wusste ich, dass du einmalig bist. Ich glaube, ich könnte gar nicht stolzer auf dich sein, selbst wenn ich es versuchen würde – nicht nur auf das, was du geworden bist, sondern auch auf den Menschen, der du schon immer warst. Irgendwie weiß ich, dass es euch beiden nichts ausmachen wird, gemeinsam in ein und derselben Widmung erwähnt zu werden.
Die Musik, die dieses Buch begleitet und die auf der Homepage von Jodi Picoult (www.jodipicoult.com/sing-you-home-lyrics.html) angehört werden kann, ist geschaffen worden, um der Figur Zoe für den Leser eine echte Stimme zu verleihen. Es gibt keine ›richtige‹ oder ›falsche‹ Art, die Musik mit dem Roman zu mischen, doch als Ellen Wilber und ich die Songs geschrieben haben, haben wir jeden Titel einem bestimmten Kapitel zugeordnet. Zwischen den Kapiteln haben wir die Titel eingefügt, sodass deutlich wird, welches Lied wir mit welchem Kapitel in Verbindung gebracht haben, nur für den Fall, dass Sie nachvollziehen wollen, was Zoe im jeweiligen Moment denkt und fühlt. Viel Spaß!
Kein Mann hat das naturgegebene Recht, mit Gewalt gegen die gleichen Rechte anderer vorzugehen, und das ist es, wovon das Gesetz ihn abhalten soll. Thomas Jefferson
An einem sonnigen, aber kühlen Samstag im September, als ich sieben Jahre alt war, habe ich zusehen müssen, wie mein Vater tot umfiel. Ich spielte mit meiner Lieblingspuppe auf der Steinmauer neben unserer Einfahrt, und er mähte den Rasen. Gerade hatte er noch gemäht, und in der nächsten Minute lag er mit dem Gesicht nach unten im Gras, während der Rasenmäher langsam den Hang hinter dem Haus hinunterfuhr.
Ich glaubte zunächst, er würde schlafen oder ein Spiel spielen. Doch als ich mich neben ihn auf den Rasen hockte, waren seine Augen offen. Feuchtes, frisch geschnittenes Gras klebte an seiner Stirn.
Ich erinnere mich nicht daran, nach meiner Mutter gerufen zu haben, doch das habe ich wohl getan.
Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, dann sehe ich das alles in Zeitlupe. Den Rasenmäher, der allein über das Gras fährt. Die Milchtüte in der Hand meiner Mutter, als sie herausgerannt kam, und die sie auf der geteerten Einfahrt fallen ließ. Und das Geräusch, als meine Mutter in den Telefonhörer schrie, um dem Notarzt unsere Adresse mitzuteilen.
Meine Mutter brachte mich zu einer Nachbarin, während sie ins Krankenhaus fuhr. Die Nachbarin war eine alte Frau, die nach Urin stank. Sie gab mir Pfefferminztäfelchen, die so alt waren, dass der Schokoladenüberzug am Rand schon weiß war. Als ihr Telefon klingelte, lief ich in den Garten und kroch hinter eine Hecke. Dort vergrub ich meine Puppe im Laub und ging weg.
Meiner Mutter ist nie aufgefallen, dass sie weg war, genauso wenig wie die Abwesenheit meines Vaters zu ihr durchzudringen schien. Sie hat nie geweint. Beim Begräbnis meines Vaters stand sie da wie gelähmt. Anschließend saß sie mir gegenüber am Küchentisch, wo ich später manchmal noch für meinen Vater mit deckte, und wir aßen uns durch alle möglichen Speisen, die uns die Nachbarn und Kollegen meines Vaters gebracht hatten, weil sie so davon ablenken wollten, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Wenn ein scheinbar kerngesunder Mann von zweiundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt stirbt, dann wird die trauernde Familie plötzlich behandelt, als leide sie unter einer ansteckenden Seuche. Als könne man sich ihr Unglück einfangen, wenn man ihr zu nahe kommt.
Sechs Monate nach dem Tod meines Vaters nahm meine Mutter, beherrscht wie zuvor, seine Anzüge und Hemden aus dem gemeinsamen Schrank und brachte sie zur Wohlfahrt. Sie besorgte sich alte Kartons im Schnapsladen und packte seine anderen Sachen hinein: die Biografie, die er gerade gelesen hatte und die noch immer auf dem Nachttisch lag, seine Pfeife und seine Münzsammlung. Doch seine Videosammlung von Abbott und Costello ließ sie, wo sie war, obwohl sie meinem Vater einmal gesagt hatte, sie habe nie verstanden, was so lustig daran sein solle.
Schließlich trug meine Mutter die Kartons auf den Speicher, wo Hitze und Staub herrschten. Als sie zum dritten Mal hinaufgegangen war, kam sie nicht sofort wieder zurück. Stattdessen war Musik von oben zu hören. Ein dummes, ausgelassenes Lied plärrte aus einem alten Kassettenrekorder. Ich konnte den Text zwar nicht ganz verstehen, aber er hatte irgendetwas mit einem Hexendoktor zu tun, der jemandem erklärte, wie er das Herz eines Mädchens gewinnen konnte.
Ooo eee ooo ah ah, ting tang, walla walla, bing bang, hörte ich. Ich merkte, wie ich lachen musste, und da ich in letzter Zeit nicht allzu viel gelacht hatte, machte ich mich auf zur Quelle.
Als ich auf den Speicher kam, sah ich meine Mutter weinen. »Diese Aufnahme«, sagte sie, »hat ihn immer so glücklich gemacht.«
Ich wusste, dass es besser war, sie nicht nach dem Grund für ihre Tränen zu fragen. Stattdessen rollte ich mich neben ihr zusammen und lauschte dem Song, der es meiner Mutter endlich ermöglicht hatte zu weinen.
Jedes Leben hat einen Soundtrack.
Es gibt eine Melodie, die mich an den Sommer erinnert, als ich mich mit Baby-Öl einschmierte, um eine gleichmäßige Bräune zu bekommen. Ein anderes Lied wiederum erinnert mich daran, wie ich mit meinem Vater sonntagmorgens immer die New York Times kaufte. Und wieder ein anderer Song ruft mir ins Gedächtnis zurück, wie ich mir mit einem falschen Ausweis Zutritt zu einem Nachtclub verschaffte, um dort Flaschendrehen mit einem Jungen zu spielen, der aus dem Mund nach Tomatensuppe roch.
Wenn Sie mich fragen, dann ist Musik die Sprache der Erinnerung.
Wanda, die diensthabende Pflegerin im Pflegeheim Shady Acres, stellt mir einen Besucherausweis aus, obwohl ich schon seit über einem Jahr regelmäßig hierherkomme, um mit verschiedenen Bewohnern zu arbeiten. »Wie geht es ihm heute?«, frage ich.
»Wie immer«, antwortet Wanda. »Er hängt am Kronleuchter und unterhält die Massen mit Stepptanz und Schattenspiel.«
Ich grinse. Mr. Docker leidet unter Demenz im Endstadium. Seit zwölf Monaten bin ich jetzt seine Musiktherapeutin, und ich habe erst zweimal zu ihm durchdringen können. Meist sitzt er einfach nur auf seinem Bett oder in seinem Rollstuhl und starrt durch mich hindurch, ohne dass ich ihm eine Reaktion entlocken könnte.
Wenn ich den Leuten sage, dass ich als Musiktherapeutin arbeite, dann glauben sie, ich würde für die Patienten im Krankenhaus auf der Gitarre spielen. Sie halten mich für eine Künstlerin. In Wirklichkeit ist mein Job jedoch dem eines Physiotherapeuten deutlich ähnlicher als dem eines Musikers, statt Gymnastikgeräten setze ich Musik ein. Und wenn ich den Leuten das erkläre, dann halten sie es meist für esoterischen Mist.
In Wahrheit hat mein Beruf jedoch eine fundierte wissenschaftliche Basis. Bei Hirnscans ist deutlich zu sehen, wie Musik die Aktivität im Frontallappen fördert und Erinnerungen auslöst. Plötzlich sieht man einen Ort, eine Person oder ein Ereignis aus seiner Vergangenheit. Manchmal – und auch das kann man auf einem Monitor deutlich sehen – sind diese Erinnerungen auch sehr lebendig. Aus diesem Grund können Schlaganfallpatienten sich oftmals zuerst an Liedtexte erinnern, bevor sie ihr Sprachvermögen zurückerlangen, und Alzheimerpatienten erinnern sich an Lieder aus ihrer Jugend.
Und das ist auch der Grund, warum ich Mr. Docker noch nicht aufgegeben habe.
»Danke für die Vorwarnung«, sage ich zu Wanda und nehme meine Tasche, meine Gitarre und meine Djembé.
»Stellen Sie das wieder hin«, beharrt Wanda. »Sie sollen doch nicht so schwer tragen.«
»Dann sollte ich mich wohl beeilen«, erwidere ich und berühre meinen Bauch. Ich bin in der achtundzwanzigsten Woche und schon ziemlich rund – und ich lüge, dass sich die Balken biegen. Ich habe viel zu lange für dieses Baby gekämpft, als dass ich irgendeinen Teil der Schwangerschaft als Last empfinden könnte. Ich winke Wanda zu und gehe den Flur hinunter, um mit der heutigen Sitzung zu beginnen.
Für gewöhnlich kommen meine Patienten im Heim zu Gruppensitzungen zusammen, doch Mr. Docker ist ein spezieller Fall. Mr. Docker ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines Fortune-500-Unternehmens, und jetzt lebt er in diesem äußerst eleganten Heim. Seine Tochter, Mim, hat mich einmal in der Woche für Einzelsitzungen engagiert. Mr. Docker ist fast achtzig, hat eine weiße Löwenmähne und knochige Hände, mit denen er früher einmal ziemlich gut Jazz auf dem Klavier gespielt hat.
Es ist nun schon zwei Monate her, seit Mr. Docker meine Gegenwart das letzte Mal bewusst wahrgenommen hat. Ich spielte auf der Gitarre, und er schlug zweimal mit der Faust auf die Lehne seines Rollstuhls. Ich bin nicht sicher, ob er mitmachen oder mir zu verstehen geben wollte, dass ich aufhören sollte, in jedem Fall war er im Takt.
Ich klopfe und öffne die Tür. »Mr. Docker?«, sage ich. »Ich bin’s. Zoe. Zoe Baxter. Haben Sie Lust auf ein wenig Musik?«
Irgendein Pfleger hat ihn in einen Sessel gesetzt, von wo aus er aus dem Fenster schauen kann. Oder vielleicht schaut er auch nur ins Nichts, fokussiert ist sein Blick jedenfalls nicht. Seine verkrampften Hände liegen wie Hummerscheren in seinem Schoß.
»Dann wollen wir mal!«, sage ich in lebhaftem Ton und suche mir einen Weg um das Bett, den Fernseher und den Tisch mit dem unberührten Frühstück herum. »Und? Was sollen wir heute singen?« Ich warte kurz, obwohl ich nicht mit einer Antwort rechne. »You Are My Sunshine?«, frage ich. »Oder lieber den Tennessee Waltz?« Ich versuche, meine Gitarre in dem winzigen Bereich neben dem Bett auszupacken, der für mein Instrument und meine Schwangerschaft einfach nicht genügend Raum bietet. Unbeholfen platziere ich die Gitarre auf meinem Bauch und spiele ein paar Akkorde. Dann kommt mir eine Idee, und ich stelle sie wieder beiseite.
Ich krame in meiner Tasche nach einer Maraca. Für genau solche Gelegenheiten wie diese hier habe ich immer alle möglichen Kleininstrumente dabei. Sanft drücke ich Mr. Docker die Maraca in die Hand. »Nur für den Fall, dass Sie mitmachen wollen.« Dann beginne ich, leise zu singen: »Take me out to the ball game; take me out with the …«
Das Ende lasse ich offen. Wir alle haben automatisch das Verlangen, einen Satz zu vollenden, den wir kennen, und deshalb hoffe ich, dass Mr. Docker crowd murmeln wird, das letzte Wort der Strophe. Ich schaue ihn an, doch die Maraca in seiner Hand bleibt stumm.
»Buy me some peanuts and Cracker Jack; I don’t care if I never get back.«
Ich singe weiter und stelle mich vor ihn. »Let me root, root, root, root for the home team; if they don’t win, it’s a shame. For it’s one, two, three …«
Plötzlich fliegt Mr. Dockers Hand hoch, und die Maraca trifft mich am Mund. Ich schmecke Blut. Ich bin so überrascht, dass ich zurücktaumele, und mir treten die Tränen in die Augen. Ich drücke den Ärmel auf die Platzwunde an meiner Lippe und versuche zu verbergen, dass er mich verletzt hat. »Habe ich Sie irgendwie verärgert?«
Mr. Docker antwortet mir nicht.
Die Maraca ist auf seinem Bett gelandet. »Ich werde jetzt hinter Sie greifen und mir das Instrument nehmen«, sage ich vorsichtig, und als ich das tue, schlägt er abermals nach mir. Diesmal stolpere ich, pralle gegen den Tisch und werfe das Frühstückstablett herunter.
»Was ist denn hier los?«, schreit Wanda und platzt zur Tür herein. Sie schaut von mir zu dem Chaos auf dem Boden und dann zu Mr. Docker.
»Wir sind okay«, beruhige ich sie. »Alles in Ordnung.«
Wanda wirft einen besorgten Blick auf meinen Bauch. »Sind Sie sicher?«
Ich nicke, und sie verlässt den Raum wieder. Diesmal setze ich mich vorsichtig auf die Heizung am Fenster. »Mr. Docker?«, frage ich in sanftem Ton. »Stimmt etwas nicht?«
Als er sich zu mir umdreht, schimmern Tränen in seinen Augen. Er ist vollkommen klar. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, von den typischen Krankenhausvorhängen zu dem Erste-Hilfe-Kasten im Regal hinter dem Bett und dem Plastikkrug voll Wasser auf dem Nachttisch. »Alles«, antwortet er knapp.
Ich denke über diesen Mann nach, über den die wichtigsten Wirtschaftszeitungen des Landes einst regelmäßig berichteten. Diesen Mann, der über Tausende von Angestellten geherrscht und seine Tage in einem luxuriös ausgestatteten Eckbüro verbracht hat, mit Plüschteppich und Ledersessel. Einen Augenblick lang will ich mich dafür entschuldigen, seinen blockierten Geist mit Musik befreit zu haben.
Denn es gibt Dinge, die wohl jeder gern vergisst.
Die Puppe, die ich am Todestag meines Vaters im Garten unserer Nachbarin vergraben habe, hieß Sweet Cindy. Ich hatte sie mir ein Jahr zuvor zu Weihnachten gewünscht, angefixt von den Werbespots während der sonntäglichen Zeichentrickfilme. Sweet Cindy konnte essen und trinken, pinkeln und einem sagen, dass sie einen liebt. »Kann sie auch einen Vergaser reparieren?«, hatte mein Vater gescherzt, als ich ihm meinen Wunschzettel zeigte. »Und das Badezimmer putzen?«
Ich war bekannt dafür, Puppen schlecht zu behandeln. Meinen Barbies hatte ich mit einer Nagelschere das Haar abgeschnitten, und Ken hatte ich geköpft – allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass das die Folge eines Fahrradunfalls war. Er saß in meinem Lenkradkorb. Doch Sweet Cindy habe ich behandelt, als wäre sie mein Baby. Jede Nacht habe ich sie in eine Puppenwiege neben meinem Bett gelegt, und täglich habe ich sie gebadet und in einem Puppenkinderwagen die Einfahrt rauf und runter geschoben.
An dem Tag, an dem mein Vater gestorben ist, wollte er eine Fahrradtour machen. Das Wetter war wunderschön. Ich hatte gerade gelernt, ohne Stützräder zu fahren. Aber ich habe meinem Vater gesagt, dass ich mit Cindy spielen wollte und wir ja vielleicht später fahren könnten. »Klingt nach einem Plan, Zoe«, hatte er gesagt und begonnen, den Rasen zu mähen. Natürlich hat es ein Später nie gegeben.
Hätte ich Sweet Cindy doch nie zu Weihnachten bekommen.
Hätte ich doch Ja gesagt, als mein Vater mich gefragt hat.
Hätte ich ihn doch im Auge behalten, anstatt mit meiner Puppe zu spielen.
In meiner Vorstellung gab es tausend Möglichkeiten, wie ich mich anders verhalten und meinen Vater hätte retten können. Und deshalb sage ich mir seitdem immer wieder, dass ich die dumme Puppe eigentlich nie haben wollte und dass sie am Tod meines Vaters schuld war.
Als es nach dem Tod meines Vaters zum ersten Mal schneite, habe ich Sweet Cindy im Traum auf meinem Bett sitzen sehen. Krähen hatten ihr die blauen Augen ausgehackt, und sie zitterte.
Am nächsten Tag holte ich mir einen Spaten aus der Garage und ging zum Garten unserer Nachbarin, wo ich Cindy vergraben hatte. Ich grub Schnee und Mulch entlang der halben Hecke um, doch die Puppe war verschwunden. Vielleicht hatte ja ein Hund sie ausgegraben … oder ein kleines Mädchen, das mehr mit ihr anzufangen wusste.
Ich weiß, dass es nicht gerade klug ist, wenn eine vierzigjährige Frau einen Zusammenhang herstellt zwischen einem dummen Akt der Trauer und vier erfolglosen künstlichen Befruchtungen, zwei Fehlgeburten und Fruchtbarkeitsstörungen, die, hätte sie jeder, eine ganze Zivilisation auslöschen würden – aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich mich gefragt habe, ob das Schicksal mich auf diese Art für meine kindliche Tat hat bestrafen wollen.
Vielleicht hätte ich schon längst ein echtes Kind, wenn ich das erste Baby, das ich je geliebt habe, nicht so erbarmungslos sich selbst überlassen hätte.
Als meine Sitzung mit Mr. Docker beendet ist, kommt seine Tochter Mim. Sie war auf einer Versammlung des Hausfrauenbunds und hat sich extra beeilt. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind?«, fragt sie und mustert mich zum hundertsten Mal von Kopf bis Fuß.
»Ja, ich bin mir sogar ganz sicher«, versichere ich ihr. Allerdings nehme ich an, dass Mims Sorge nicht mir, sondern der Möglichkeit gilt, dass ich sie verklagen könnte.
Sie kramt in ihrer Handtasche und holt eine Handvoll Bargeld heraus. »Hier«, sagt sie.
»Aber Sie haben mich für diesen Monat doch schon bezahlt …«
»Betrachten Sie das als Bonus«, sagt sie. »Ich bin sicher, Sie haben eine Menge Ausgaben mit dem Baby und so.«
Das ist Schweigegeld – ich weiß –, aber sie hat recht. Allerdings haben die Ausgaben für mein Baby weniger mit Kindersitzen oder Wickelkommoden zu tun als vielmehr mit Hormonspritzen. Nach fünf künstlichen Befruchtungen – sowohl mit frischem als auch mit gefrorenem Sperma – haben wir unsere gesamten Ersparnisse aufgebraucht, und unsere Kreditkarten sind am Anschlag. Deshalb nehme ich das Geld und stecke es in die Hosentasche. »Danke«, sage ich und schaue Mim in die Augen. »Was Ihr Vater getan hat … Ich weiß, Sie sehen das nicht so, aber das war ein großer Fortschritt für ihn. Er hat Kontakt zu mir aufgenommen.«
»Ja, und zwar genau am Kinn«, murmelt Wanda, die sich ebenfalls im Raum befindet.
»Er hat Kontakt zu mir aufgenommen«, korrigiere ich sie. »Vielleicht nicht auf sozial akzeptierte Art, aber trotzdem … Eine Minute lang ist die Musik zu ihm durchgedrungen. Eine Minute lang war er hier.«
Ich sehe, dass Mim mir das nicht abkauft, aber das ist schon okay. Ich bin bereits von einem autistischen Kind gebissen worden, habe neben einem kleinen Mädchen geweint, das an einem Hirntumor gestorben ist, und ich habe im Takt zu den Schreien eines Kindes musiziert, das zu über achtzig Prozent verbrannt war. Dieser Job … Ich weiß, dass ich ihn gut mache, auch wenn es mir manchmal wehtut.
»Ich sollte jetzt besser gehen«, sage ich und schnappe mir meinen Gitarrenkasten.
Wanda schaut noch nicht einmal von der Akte auf, in die sie gerade etwas einträgt. »Dann bis nächste Woche.«
»Genau genommen sehen wir uns schon in zwei Stunden auf der Babyparty.«
»Was denn für eine Babyparty?«
Ich grinse. »Die, von der ich eigentlich nichts wissen sollte.«
Wanda seufzt. »Falls Ihre Mutter fragt … Ich habe nichts gesagt.«
»Keine Angst. Ich werde mich angemessen überrascht zeigen.«
Mim streckt die Hand nach meinem dicken Bauch aus. »Darf ich?« Ich nicke. Ich weiß, dass viele Schwangere es als Eindringen in ihre Privatsphäre betrachten, wenn Fremde sie berühren oder ihnen unerwünschte Ratschläge geben wollen, doch mir macht das nicht das Geringste aus. Ich verspüre ja selbst ständig den Wunsch, über das Kind in meinem Bauch zu streichen, diesen unwiderlegbaren Beweis, dass es diesmal endlich klappen wird.
»Es ist ein Junge«, verkündet Mim.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ich ein Mädchen unter dem Herzen trage. Ich träume in Pink, und wenn ich aufwache, denke ich an Märchen. »Wir werden sehen«, erwidere ich.
Ich habe es schon immer als Ironie des Schicksals empfunden, dass eine Frau, die Schwierigkeiten hat, schwanger zu werden, eine In-vitro-Fertilisation mit der Einnahme von Antibabypillen beginnt. Das dient dazu, aus einem unregelmäßigen einen regelmäßigen Zyklus zu machen, um sich anschließend von einer wahren Flut von Medikamenten überrollen zu lassen: Max hat mir drei Ampullen FSH und hMG – Follistim und Repronex – jeweils zweimal am Tag injiziert, ein Mann, der früher schon beim Anblick einer Nadel in Ohnmacht gefallen ist und der mir inzwischen, nach fünf Jahren, mit der einen Hand eine Spritze gibt, während er sich mit der anderen eine Tasse Kaffee einschenkt. Sechs Tage nach Beginn der Injektionen wurden meine Eierstöcke mittels eines intravaginalen Ultraschalls gemessen, und der Estradiol-Spiegel in meinem Blut wurde bestimmt. Dann folgte Antagon, ein neues Medikament, das dazu dient, die Eizellen im Eierstock zurückzuhalten, bis sie reif sind. Drei Tage später folgten dann ein weiterer Ultraschall und noch eine Blutprobe. Die Follistim- und Repronexdosen wurden zurückgefahren – ich bekam nur noch morgens und abends je eine Ampulle –, und schließlich ging es zwei Tage später noch einmal zum Ultraschall und zur Blutabnahme.
Einer meiner Follikel maß einundzwanzig Millimeter, einer zwanzig Millimeter und einer neunzehn Millimeter.
Um exakt 20.30 Uhr injizierte mir Max zehntausend Einheiten hCG, und genau sechsunddreißig Stunden später wurden mir die Eizellen entnommen.
Dann wurden die Eizellen mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion befruchtet, kurz ICSI genannt. Drei Tage später hielt Max meine Hand, während wir auf einem Computermonitor zuschauten, wie der Embryo mit einem Vaginalkatheder in die Gebärmutter gepflanzt wurde. Die Gebärmutterwand sah aus wie Seegras in der Strömung. Dann schoss ein weißer Funke, ein kleiner Stern, aus der Nadel und fiel zwischen zwei Gräser. Und zur Feier der potenziellen Schwangerschaft bekam ich einen Schuss Progesteron in den Hintern.
Wenn man sich dann vorstellt, dass einige Menschen nur Liebe machen müssen, um ein Baby zu bekommen …
Meine Mutter sitzt am Computer, als ich in ihr Haus komme, und ergänzt ihr kürzlich angelegtes Facebook-Profil. DARA WEEKS, besagt ihr Status, WÜNSCHT SICH, IHRE TOCHTER WÜRDE IHRE FREUNDIN SEIN WOLLEN. »Ich rede nicht mit dir«, verkündet sie schnippisch, »aber dein Mann hat angerufen.«
»Max?«
»Hast du noch einen anderen?«
»Was wollte er denn?«
Sie zuckt mit den Schultern. Ohne weiter auf sie zu achten, gehe ich zum Telefon in der Küche und wähle Max’ Handynummer. »Warum ist dein Handy nicht an?«, will Max wissen, kaum dass er abgehoben hat.
»Ja, Liebling«, erwidere ich, »ich liebe dich auch.«
Im Hintergrund höre ich einen Rasenmäher. Max hat eine Landschaftsgärtnerei. Im Sommer ist er mit Rasenmähen beschäftigt, im Herbst mit Laubfegen und im Winter mit Schneeräumen. Und was machst du in der Schlammsaison?, habe ich ihn bei unserer ersten Verabredung gefragt.
Mich im Dreck rumwälzen, hat er geantwortet und gelächelt.
»Ich habe gehört, dass du verletzt worden bist«, sagt er.
»Peinliche Nachrichten verbreiten sich schnell. Wer hat dich überhaupt angerufen?«
»Ich denke nur … Ich meine, wir haben so hart dafür gearbeitet, dass wir jetzt da sind, wo wir sind.« Max stolpert über die Worte, aber ich weiß, was er mir damit sagen will.
»Du hast doch gehört, was Dr. Gelman gesagt hat«, entgegne ich. »Wir sind auf der Zielgeraden.«
Es ist schon irgendwie komisch, dass nach all den Jahren des Versuchens ausgerechnet ich diejenige bin, die jetzt so entspannt ist, und nicht Max. Es gab Zeiten, da war ich so abergläubisch, dass ich von zwanzig rückwärts gezählt habe, bevor ich aus dem Bett gestiegen bin, oder ich habe eine Woche lang ein Glücksmieder getragen, um sicherzustellen, dass ein bestimmter Embryo sich auch wirklich einnisten würde. Aber so weit wie jetzt habe ich es noch nie geschafft. Meine Knöchel sind wunderbar geschwollen, mir tun alle Knochen weh, und ich kann meine Zehen in der Dusche nicht mehr sehen. Ich war noch nie so schwanger, dass irgendjemand eine Babyparty für mich hätte planen können.
»Ich weiß, dass wir das Geld brauchen, Zoe, aber wenn deine Patienten derart gewalttätig sind …«
»Max. Mr. Docker ist neunundneunzig Prozent der Zeit katatonisch, und meine Brandopfer liegen für gewöhnlich im Koma. Ehrlich, das war nur Zufall. Mir könnte genauso gut etwas zustoßen, wenn ich die Straße überquere.«
»Dann überquere keine Straßen«, sagt Max. »Wann kommst du nach Hause?«
Ich bin sicher, er weiß von der Babyparty, aber ich spiele mit. »Ich muss mir noch einen neuen Patienten ansehen«, scherze ich. »Mike Tyson.«
»Sehr lustig. Schau mal, wir können jetzt nicht sprechen …«
»Du hast mich angerufen.«
»Aber nur, weil ich gedacht habe, du hättest eine Dummheit …«
»Max«, falle ich ihm ins Wort. »Lassen wir das. Lassen wir das einfach.« Jahrelang haben Paare mit Kindern Max und mir erzählt, wie viel Glück wir hätten, dass wir in unserer Beziehung den Luxus genießen könnten, dass alles sich nur um uns dreht und dass wir uns nicht ständig darüber den Kopf zerbrechen müssten, wer das Abendessen kocht und wer die Kleinen zur Kindertagesstätte fährt. Doch jegliche Romantik verfliegt schnell, wenn sich das Gespräch beim Abendessen nur um Estradiol-Spiegel und Termine in der Klinik dreht. Es ist nicht so, als würde Max irgendetwas falsch machen. Er massiert mir die Füße und versichert mir immer wieder, wie schön ich doch sei, obwohl ich schrecklich aufgequollen bin. Doch wenn ich mich in letzter Zeit an ihn schmiege, dann habe ich das Gefühl, als käme ich nicht mehr nahe genug an ihn heran. Es ist, als wäre er irgendwo anders. Immer wieder sage ich mir, ich bilde mir das nur ein. Bei ihm sind es die Nerven und bei mir die Hormone. Ich wünschte nur, ich müsste mir nicht ständig Entschuldigungen ausdenken.
Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, ich hätte eine Freundin, der ich mich anvertrauen kann. Jemanden, der einfach nur nickt und all die richtigen Dinge sagt, wenn ich mich über meinen Mann beschwere. Doch all meine Freundschaften haben sich in Wohlgefallen aufgelöst, nachdem Max und ich unser ganzes Leben dem Kampf gegen die Unfruchtbarkeit gewidmet hatten. Einige Kontakte habe ich von mir aus beendet, weil ich meine Freundinnen einfach nicht mehr über die ersten Worte ihres Babys reden hören wollte oder darüber, wie es ist, wenn man nach Hause kommt und überall Stofftiere und Matchboxautos liegen – Details einer Art zu leben, die ich nie kennengelernt habe. Andere Freundschaften hatten sich einfach in Nichts aufgelöst, denn Max war inzwischen der einzige Mensch, der Verständnis dafür hatte, was es hieß, sich einer künstlichen Befruchtung zu unterziehen. Wir hatten uns selbst isoliert, weil wir das einzige Paar in unserem Freundeskreis waren, das noch keine Kinder hatte. Wir hatten uns selbst isoliert, weil es sonst zu sehr schmerzte.
Max legt auf. Meine Mutter hat jedes einzelne Wort verfolgt. »Ist zwischen euch alles okay?«, fragt sie.
»Ich dachte, du wärest wütend auf mich.«
»Bin ich auch.«
»Weshalb hast du dann gelauscht?«
»Es ist kein Lauschen, wenn du mit meinem Apparat in meiner Küche telefonierst. Was ist denn los mit Max?«
»Nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Meine Mutter setzt einen besorgten Gesichtsausdruck auf. »Setzen wir uns mal, und betrachten wir dieses Gefühl gemeinsam.«
Ich rolle mit den Augen. »Funktioniert das bei deinen Kunden wirklich?«
»Du wärst überrascht. Die meisten Menschen kennen die Antworten auf ihre Probleme nämlich bereits. Man muss sie ihnen nur entlocken.«
Im Laufe der letzten vier Monate hat meine Mutter sich neu erfunden. Jetzt ist sie die Eigentümerin und einzige Angestellte der Mama-weiß-es-besser-Lebensberatung. Dieser Beruf ist die direkte Fortsetzung ihrer früheren Inkarnationen als Reiki-Trainerin, Stand-up-Comedian und – während eines besonders unangenehmen Sommers in meiner Pubertät – Handelsvertreterin für ihre eigene Erfindung, dem von ihr so getauften ›Bananensack‹, einer pinkfarbenen Neoprenhülle, die man über die Frucht stülpt, damit sie nicht so schnell braun wird. Unglücklicherweise hatten die Kunden diese Innovation der Frischhaltekultur allzu oft als Sexspielzeug betrachtet. Im Vergleich dazu war ihr Dasein als Lebensberaterin geradezu harmlos.
»Als ich mit dir schwanger war«, sagt meine Mutter, »haben dein Vater und ich uns so oft gestritten, dass ich ihn eines Tages sogar verlassen habe.«
Ich starre sie an. Wie ist es möglich, dass ich in den vierzig Jahren meines Lebens nie davon gehört habe? »Ernsthaft?«
Sie nickt. »Ich habe meine Sachen gepackt, ihm gesagt, dass ich ihn verlassen würde, und bin gegangen.«
»Und wohin?«
»Bis zum Ende unserer Einfahrt«, antwortet meine Mutter. »Ich war im neunten Monat. Weiter konnte ich nicht watscheln, ohne das Gefühl zu haben, dass meine Gebärmutter gleich rausfällt.«
Ich zucke unwillkürlich zusammen. »Musst du das so plastisch beschreiben?«
»Wie soll ich es denn sonst beschreiben, Zoe? Fötenwohnzimmer?«
»Und was ist dann passiert?«
»Die Sonne ging unter, und dein Vater kam heraus, um mir eine Jacke zu bringen. Wir haben ein paar Minuten dagesessen, und schließlich sind wir wieder reingegangen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und dann bist du geboren worden, und über was auch immer wir uns gestritten haben, es zählte nicht mehr. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Die Vergangenheit ist nur ein Sprungbrett für die Zukunft.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Hast du wieder am Glasreiniger geschnüffelt?«
»Nein, das ist mein neues Motto. Schau mal.« Die Finger meiner Mutter fliegen über die Tastatur. Der beste Rat, den sie mir je gegeben hat, war der, einen Schreibmaschinenkurs zu machen. Dabei hatte ich mich wie wild dagegen gewehrt. Der Kurs fand im Voc-Tech-Flügel meiner Highschool statt, und von den anderen Kids war keines in meinen Kursen für Hochbegabte. Diese Kinder rauchten vor der Schule, trugen viel zu dick Make-up auf und hörten Heavy Metal. Willst du über andere urteilen oder tippen lernen?, hatte meine Mutter mich gefragt. Zu guter Letzt war ich eines von drei Mädchen, die eine blaue Schleife von der Lehrerin bekamen, weil sie fünfundsiebzig Worte in der Minute tippen konnten. Heutzutage tippe ich natürlich nicht mehr auf einer Schreibmaschine, sondern auf einer Computertastatur, doch jedes Mal, wenn ich einen Patientenbericht schreibe, danke ich meiner Mutter stumm dafür, dass sie sich damals durchgesetzt hat.
Meine Mutter ruft ihre Facebook-Seite auf, und unter einem Bild von ihr steht tatsächlich dieser kitschige Spruch. »Hättest du meine Freundschaftsanfrage angenommen, wüsstest du, dass das mein neues Motto ist.«
»Willst du mir jetzt wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass ich mich nicht an die Facebook-Etikette gehalten habe?«, frage ich.
»Ich weiß nur, dass ich dich neun Monate lang unter dem Herzen getragen habe. Ich habe dich gefüttert, dich gekleidet und deine Collegeausbildung bezahlt. Da darf man als Gegenleistung ja wohl einen simplen Klick bei Facebook erwarten.«
»Du bist meine Mutter. Du musst nicht meine Freundin sein.«
Sie deutet auf meinen Bauch. »Hoffentlich bricht sie dir genauso das Herz wie du mir.«
»Wieso bist du überhaupt bei Facebook?«
»Weil das gut fürs Geschäft ist.«
Meine Mutter hat drei Kunden, von denen ich weiß, und keinen von ihnen scheint es zu stören, dass meine Mutter weder eine akademische noch sonst eine Ausbildung hat, die sie als Motivationstrainerin qualifizieren würde. Bei der einen Kundin handelt es sich um eine Hausfrau und Mutter, die gerne wieder ins Arbeitsleben zurückkehren würde, jedoch über keine anderen Qualifikationen verfügt als Sandwichschmieren und das korrekte Trennen von Koch- und Buntwäsche. Der zweite Kunde ist ein sechsundzwanzigjähriger Kerl, der vor Kurzem seine leibliche Mutter gefunden, aber Angst hat, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Und der Letzte ist ein ehemaliger Alkoholiker, der es einfach schön findet, sich regelmäßig mit jemandem zu treffen. Das vermittelt ihm ein Gefühl von Stabilität in seinem Leben.
»Eine Lebensberaterin muss immer auf dem Laufenden sein. Sie muss hip sein«, verkündet meine Mutter.
»Als du hip warst, hat es das Wort ›hip‹ noch gar nicht gegeben. Weißt du, was ich glaube, worum es hier geht? Letzten Sonntag haben wir ja diesen Film im Kino gesehen …«
»Der hat mir nicht gefallen. Im Buch war das Ende besser.«
»Nein, das meine ich nicht. Das Mädchen am Kartenschalter hat dich gefragt, ob du eine Seniorenermäßigung haben willst, und du hast den ganzen Abend keinen Ton mehr gesagt.«
Sie steht auf. »Verdammt noch mal, sehe ich etwa wie eine Seniorin aus? Ich färbe mir das Haar mit religiösem Eifer. Ich habe eine Epiliermaschine, und ich gucke längst nicht mehr Brian Williams, sondern Jon Stewart.«
Das muss ich ihr lassen: Sie sieht wirklich deutlich besser aus als die meisten anderen Mütter von Leuten in meinem Alter, die ich kenne. Sie hat das gleiche glatte braune Haar und die gleichen grünen Augen wie ich. Und sie hat diesen flippigen, vielseitigen Stil, der einen unwillkürlich zweimal hinschauen lässt, und man fragt sich, ob sie ihr Outfit wirklich sorgfältig zusammengestellt oder einfach nur in den Tiefen ihres Schranks gekramt hat. »Mom«, sage ich, »du bist die jüngste Fünfundsechzigjährige, die ich kenne. Du brauchst kein Facebook, um das zu beweisen.«
Es erstaunt mich, dass jemand – irgendjemand – meine Mutter dafür bezahlt, ihn zu beraten. Ich meine, schließlich versuche ich als ihre Tochter genau dem zu entgehen. Aber meine Mutter ist sich sicher, dass ihre Kunden es schätzen, dass auch sie einen großen Verlust verarbeiten musste. Das verleihe ihr Glaubwürdigkeit, sagt sie. Die große Mehrheit der Lebensberater seien doch auch nichts weiter als gute Zuhörer, die vielleicht einem Zauderer einen Tritt in den Hintern geben könnten, sonst nichts. Und mal ganz ehrlich, wer hätte genau dafür schon bessere Voraussetzungen als eine Mutter.
Ich schaue meiner Mutter über die Schulter. »Glaubst du nicht, dass du mich auf deiner Seite erwähnen solltest?«, frage ich. »Wenn ich schon deine Hauptqualifikation für den Job bin?«
»Stell dir doch nur einmal vor, wie lächerlich es wäre, deinen Namen zu nennen, ohne dass es einen Link zu deinem Profil gibt. Aber«, sie seufzt, »so einen Link kann man ja nur erstellen, wenn der Betreffende eine Freundschaftsanfrage auch annimmt …«
»Oh, um Himmels willen.« Ich beuge mich vor und tippe zwischen den Fingern meiner Mutter hindurch und drücke das Baby gegen ihren Rücken. Ich logge mich in mein Profil ein. Im Livefeed laufen die Gedanken und Berichte von Leuten, mit denen ich auf die Highschool gegangen bin, von anderen Musiktherapeuten und von ehemaligen Professoren. Unter anderem schreibt dort Darci, meine Zimmergenossin auf dem College, mit der ich schon seit Monaten nicht gesprochen habe. Ich sollte sie mal anrufen, denke ich bei mir, obwohl ich weiß, dass ich das nicht tun werde. Sie hat Zwillinge, die gerade in den Vorschulkindergarten gekommen sind. Ihre lächelnden Gesichter zieren ihr Profil.
Ich nehme die Freundschaftsanfrage meiner Mutter an, auch wenn sich das wie ein neuer Tiefpunkt im Social Networking anfühlt. »So«, sage ich. »Bist du jetzt glücklich?«
»Sehr. So weiß ich wenigstens, dass ich die neuesten Bilder von meinem Enkelkind zu sehen bekomme, wenn ich mich einlogge.«
»Anstatt die eine Meile zu meinem Haus zu fahren, um sie dir persönlich anzusehen?«
»Hier geht es ums Prinzip, Zoe«, erklärt meine Mutter. »Ich bin nur froh, dass du endlich von deinem hohen Ross heruntergekommen bist.«
»Keine Pferde«, sage ich. »Ich bin einfach nicht in der Stimmung für einen Streit vor meiner Babyparty.«
Meine Mutter öffnet den Mund, um etwas darauf zu erwidern, macht ihn aber wieder zu. Eine halbe Sekunde lang denkt sie darüber nach, die Fassade aufrechtzuerhalten, doch sie gibt rasch auf. »Wer hat dir davon erzählt?«
»Offenbar habe ich in der Schwangerschaft so eine Art siebten Sinn entwickelt«, erwidere ich.
Meine Mutter denkt darüber nach. Sie ist beeindruckt. »Wirklich?«
Ich gehe in ihre Küche, um den Kühlschrank zu plündern, und finde drei Portionen Hummus, einen Beutel Karotten und verschiedene undefinierbare Klumpen in Tupperdosen. »Manchmal wache ich morgens auf und weiß einfach, dass Max Cap’n Crunch zum Frühstück haben will. Oder ich höre das Telefon klingeln und weiß, noch bevor ich abhebe, dass du das bist.«
»Als ich mit dir schwanger war, habe ich voraussagen können, ob es regnet oder nicht«, sagt meine Mutter. »Und meine Vorhersagen waren genauer als die des Wettermanns auf ABC.«
Ich stecke meinen Finger in den Hummus. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hat das ganze Schlafzimmer wie eine Auberginen-Parmagiana gerochen … du weißt schon … wie die guten, die es bei Bolonisi gibt.«
»Dort findet auch die Babyparty statt!« Erstaunt schnappt meine Mutter nach Luft. »Wann hat das angefangen?«
»Ungefähr zu der Zeit, als ich eine Quittung vom Copy Shop für die Einladungen in Max’ Jackentasche gefunden habe.«
Meine Mutter braucht einen Augenblick, dann muss sie lachen. »Und ich hatte schon die Kreuzfahrt geplant, die ich von dem Lottogewinn buchen wollte, weil du mir die Zahlen nennen konntest.«
»Tut mir leid, dass ich dich so enttäuschen muss.«
Meine Mutter streicht mir mit der Hand über den Bauch. »Zoe«, sagt sie, »selbst wenn du wolltest, könntest du mich nicht enttäuschen.«
Einige Hirnforscher glauben, die menschliche Reaktion auf Musik beweise, dass wir mehr sind als nur Fleisch und Blut, dass wir eine Seele haben. Dabei argumentieren sie wie folgt:
Sämtliche Reaktionen auf externe Stimuli lassen sich auf evolutionäre Grundprinzipien zurückführen. So zieht man instinktiv die Hand vor Feuer zurück, um physischen Schaden zu vermeiden, und vor einer wichtigen Rede dreht sich einem der Magen um, weil Adrenalin durch die Adern schießt und eine physiologische Fluchtreaktion hervorruft. Aber die Art, wie die Menschen auf Musik reagieren, ergibt im evolutionären Kontext keinen Sinn. Das Stampfen im Takt, das Verlangen mitzusingen oder aufzuspringen und zu tanzen, all das ist für das Überleben absolut unnötig. Aus diesem Grund betrachten viele Wissenschaftler unsere Reaktion auf Musik als Beweis dafür, dass wir in unserem Verhalten eben nicht nur von biologisch-physiologischen Prozessen bestimmt sind. Denn wenn die Seele berührt wird, setzt das vor allem voraus, dass man auch eine Seele hat.
Es finden Spiele statt: Schätze Zoes Bauchumfang, lustiges Handtaschenraten (da wäre ja sicher auch niemand drauf gekommen, dass meine Mutter eine unbezahlte Stromrechnung mit sich herumschleppt …), ein Babysockenmemory und zu guter Letzt ein ganz besonders ekeliges Spiel. In Windeln wird geschmolzene Schokolade herumgereicht, und die Gäste müssen erraten, um welche Marke es sich handelt.
Obwohl ich eigentlich nicht auf solche Sachen stehe, mache ich alles mit. Meine Teilzeitbuchhalterin, Alexa, hat das alles organisiert und sich auch die Mühe gemacht, die Gäste aufzutreiben: meine Mutter, meine Cousine Isobel, Wanda aus dem Shady-Acres-Pflegeheim, eine Krankenschwester von der Station für Verbrennungen, auf der ich arbeite, und eine Schulpsychologin namens Vanessa, die mich Anfang des Jahres kontaktiert hat, damit ich einen zutiefst autistischen Neuntklässler musiktherapeutisch behandele.
Es ist irgendwie deprimierend, dass diese Frauen, die man bestenfalls als Bekannte bezeichnen kann, jetzt als meine besten Freundinnen herhalten müssen. Aber ich muss zugeben, wenn ich nicht grad arbeite, dann bin ich mit Max zusammen. Und Max würde sich lieber von einem seiner eigenen Rasenmäher überfahren lassen, als Schokoladenkaka in einer Windel zu identifizieren. Allein aus diesem Grund ist er schon der einzige Freund, um den ich wirklich etwas gebe.
Ich schaue zu, wie Wanda in die Windel starrt. »Snickers?«, rät sie falsch.
Dann bekommt Vanessa die Windel. Vanessa ist groß und hat kurzes platinblondes Haar und stechende blaue Augen. Als ich das erste Mal im College war, hat sie mich sofort in ihr Büro gebeten und mir einen leidenschaftlichen Vortrag darüber gehalten, dass es sich bei den SAT-Tests ja wohl offensichtlich um eine Verschwörung der College-Verwaltung handeln müsse, die auf diese Weise wahrscheinlich die Weltherrschaft übernehmen wolle, für die man auch noch achtzig Dollar pro Person bezahlen müsse. Oder, hatte sie gefragt, nachdem sie kurz Luft geholt hatte, was meinen Sie dazu?
Ich bin nur die neue Musiktherapeutin, erwiderte ich.
Vanessa blinzelte mich an, schaute auf ihren Kalender und blätterte eine Seite zurück. Oh, sagte sie, richtig, der Vertreter von Kaplan hat sich erst für morgen angemeldet.
Vanessa schaut noch nicht einmal in die Windel. »Also für mich sieht das wie Mounds aus«, erklärt sie trocken. »Zwei davon, um genau zu sein.«
Ich breche in lautes Lachen aus, aber offenbar bin ich die Einzige, die Vanessas Scherz verstanden hat. Alexa wirkt untröstlich, weil niemand ihre Partyspiele ernst nimmt. Dann mischt meine Mutter sich ein und nimmt Vanessa die Windel ab. »Wie wäre es mit einer Runde ›Ein Name für das Baby‹?«, schlägt sie vor.
Ich spüre ein Zwicken in der Seite und reibe mit der Hand darüber.
Meine Mutter liest einen Text vor, den Alexa aus dem Internet ausgedruckt hat. »Ein Babylöwe ist ein …?«
Meine Cousine reißt die Hand hoch. »Ein Kätzchen!«, ruft sie.
»Stimmt! Ein Babyfisch ist …?«
»Kaviar?«, rät Vanessa.
»Ein Fischstäbchen«, scherzt Wanda.
»Haha«, sagt Isobel.
»Ich sage euch, ich habe das mal bei ›Wer wird Millionär‹? gesehen …«
Plötzlich habe ich einen derart heftigen Krampf, dass es mir den Atem verschlägt.
»Zoe?« Die Stimme meiner Mutter klingt wie aus weiter Ferne. Ich rappele mich mühsam auf.
Ich bin erst in der achtundzwanzigsten Woche, denke ich. Das ist zu früh.
Wieder erfasst mich ein Krampf. Als ich gegen meine Mutter falle, spüre ich einen warmen Wasserfall zwischen meinen Beinen. »Meine Fruchtblase«, flüstere ich. »Ich glaube, sie ist gerade geplatzt.«
Doch als ich nach unten schaue, stehe ich in einer Blutlache.
Letzte Nacht haben Max und ich zum ersten Mal über Babynamen gesprochen.
»Johanna«, flüsterte ich, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte.
»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss«, sagte er, »aber ich bin es nur.«
Im Dunkeln konnte ich ihn lächeln sehen. Max ist die Art Mann, von der ich nie gedacht hätte, dass er sich zu mir hingezogen fühlen könnte: groß, breitschultrig, ein Surfer mit wildem blondem Haar und einem Lächeln, bei dem Kassiererinnen im Supermarkt das Wechselgeld fallen lassen und Hausfrauen den Hals recken, wenn sie an unserer Einfahrt vorbeifahren. Ich dagegen habe zwar schon immer als ungewöhnlich klug gegolten, aber ein Hingucker war ich nie. Ich bin das typische Mädchen von nebenan, das Mauerblümchen, an dessen Aussehen sich nie jemand erinnern kann. Als Max zum ersten Mal mit mir gesprochen hat – das war auf der Hochzeit seines Bruders, wo ich in der Band gesungen habe, weil die eigentliche Sängerin einen Nierenstein hatte –, da habe ich unwillkürlich über die Schulter nach hinten geschaut, weil ich sicher war, er meine jemand anderen. Jahre später hat er mir gestanden, dass es nie leicht für ihn war, ein Mädchen anzusprechen, doch meine Stimme sei wie eine Droge für ihn gewesen. Ihr Klang sei ihm ins Blut gegangen und habe ihm den Mut verliehen, in der Pause zu mir zu kommen.
Er hatte nie gedacht, dass eine Frau mit einem Abschluss in Musikwissenschaften etwas mit einem College-Abbrecher/Surfer zu tun haben wollte, der gerade verzweifelt versuchte, eine eigene Gärtnerei aufzubauen.
Vergangene Nacht hat er sanft die Hand auf unser Baby gelegt und gesagt: »Ich dachte immer, es brächte Unglück, wenn man über das Baby spricht.«
Und so war es auch … oder zumindest war das bei mir jedes Mal so gewesen. Aber jetzt standen wir kurz vor der Ziellinie. Es war so real. Was konnte da noch schiefgehen? »Nun ja«, habe ich erwidert, »ich habe meine Meinung geändert.«
»Okay … Dann also Elspeth«, sagte Max. »So heißt meine Lieblingstante.«
»Bitte, sag mir, dass du das erfunden hast …«
Er lachte. »Ich habe auch noch eine Tante, die Ermintrude heißt …«
»Hannah«, konterte ich. »Stella. Sage.«
»Sage? Salbei? Das ist ein Gewürz«, erwiderte Max.
»Ja, aber ein nettes Gewürz.«
Max beugte sich über meinen Bauch und legte das Ohr darauf. »Fragen wir sie doch mal, wie sie genannt werden will«, schlug er vor. »Ich denke … Warte … Ja, das war laut und deutlich.« Er schaute mich an, seine Wange ruhte noch immer auf unserem Baby. »Bertha«, verkündete er.
Wie zur Bestätigung versetzte mir unser Mädchen in diesem Moment einen Tritt, und ich war fest davon überzeugt, dass sie in Ordnung war und dass es doch kein Unglück brachte, über ein ungeborenes Kind zu reden.
Mein Innerstes wird nach außen gekehrt. Ich stürze durch einen Tunnel besetzt mit tausend Klingen. Ich habe noch nie solche Schmerzen empfunden. Es ist ein Gefühl, als würde meine Haut von innen heraus aufgeschnitten.
»Alles wird gut«, sagt Max und hält meine Hand so fest, als würden wir Armdrücken. Ich frage mich, wann er gekommen ist. Ich frage mich, warum er mich belügt.
Sein Gesicht ist so weiß wie der Mitternachtsmond, und obwohl er nur wenige Zoll von mir entfernt steht, kann ich ihn kaum sehen. Stattdessen sehe ich ein Gewimmel von Ärzten und Krankenschwestern in dem winzigen Entbindungszimmer. Man hat mir intravenös einen Zugang gelegt, und um meinen Bauch ist ein Band geschnallt, das mit einem Monitor verbunden ist.
»Ich … Ich bin erst in der achtundzwanzigsten Woche«, keuche ich.
»Das wissen wir, Süße«, sagt eine Krankenschwester und dreht sich zu ihren Kollegen um. »Ich habe keine Anzeige auf dem Monitor …«
»Versuchen Sie es noch einmal …«
Ich packe die Krankenschwester am Ärmel. »Ist sie … Ist sie noch zu klein?«
»Zoe«, sagt die Krankenschwester, »wir tun, was wir können.« Sie dreht an einem Knopf am Monitor und rückt das Band um meinen Bauch zurecht. »Ich sehe immer noch keinen Puls …«
»Was?« Mühsam versuche ich, mich aufzusetzen, doch Max hält mich zurück. »Warum nicht?«
»Holen Sie das Ultraschallgerät«, ruft Dr. Gelman, und einen Augenblick später wird der Apparat hereingerollt. Kaltes Gel wird auf meinem Bauch verteilt, und ich werde von einem weiteren Krampf gepackt. Die Ärztin weiß die Bilder auf dem Ultraschallmonitor zu deuten. »Da ist der Kopf«, sagt sie ruhig. »Und da das Herz.«
Ich schaue verzweifelt hin, kann aber nur sich bewegende graue und schwarze Körner erkennen. »Was sehen Sie?«
»Zoe, ich möchte, dass Sie sich mal kurz entspannen«, sagt Dr. Gelman.
Also beiße ich mir auf die Lippe. Das Blut pocht in meinen Ohren. Eine Minute vergeht und dann noch eine. Bis auf das Piepen der Maschine ist es in dem Raum vollkommen still.
Und dann spricht Dr. Gelman aus, was ich schon die ganze Zeit über gewusst habe: »Ich sehe keinen Herzschlag, Zoe.« Sie schaut mir in die Augen. »Ich fürchte, Ihr Baby ist tot.«
Ein Geräusch zerreißt die Stille, ich muss Max’ Hand loslassen, damit ich mir die Ohren zuhalten kann. Es klingt wie eine vorbeifliegende Kugel, wie Nägel auf einer Schiefertafel, wie gebrochene Versprechen. Es ist ein Ton, wie ich ihn noch nie gehört habe, ein Ton geboren aus purem Schmerz, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass er aus meiner Kehle kommt.
Folgendes habe ich für die Entbindung in eine Tasche gepackt:
Ein Nachthemd mit winzigen blauen Blumen darauf. Dabei trage ich schon seit meinem zwölften Lebensjahr keine Nachthemden mehr.
Drei Sets Schwangerschaftsunterwäsche.
Kleider zum Wechseln.
Eine kleine Geschenkpackung Körperlotion mit Kakaobutter und eine spezielle Seife für junge Mütter, die mir die Mutter eines vor Kurzem entlassenen Brandopfers geschenkt hat.
Ein unglaublich weiches Plüschschwein, das Max und ich während meiner ersten Schwangerschaft vor Jahren gekauft haben, vor der Fehlgeburt, als wir noch zur Hoffnung fähig waren.
Und meinen iPod, vollgepackt mit Musik. So viel Musik. Als ich in Berklee mein Grundstudium in Musiktherapie absolvierte, arbeitete ich mit einem Professor zusammen, der als Erster die Wirkung von Musiktherapie während einer Entbindung untersucht hat. Zwar gab es schon vorher Studien, die den Einfluss von Musik auf die Atmung und damit auf das autonome Nervensystem festgestellt hatten, aber es hatte noch keine Studie gegeben, die die unterstützende Wirkung von selbst gewählter Musik für die Lamaze-Atemtechnik betrachtet hatte. Die Ausgangsthese lautete: Frauen, die sich unterschiedliche Musik während unterschiedlicher Phasen der Entbindung anhören, können mithilfe dieser Musik richtig atmen. Sie bleiben entspannt und reduzieren so die von den Wehen herrührenden Schmerzen.
Mit neunzehn Jahren fand ich es schier unglaublich faszinierend, mit jemandem zusammenzuarbeiten, dessen Forschungsergebnisse die Grundlage für eine inzwischen weit verbreitete Praxis bei Entbindungen ist. Damals war ich mir nicht im Klaren darüber gewesen, dass es noch einundzwanzig Jahre dauern würde, bis ich diese Theorie selbst in die Praxis würde umsetzen können.
Weil Musik so wichtig für mich ist, hatte ich mir die Stücke mit großer Sorgfalt ausgesucht. Zu Anfang wollte ich bei Brahms entspannen, und für die Zeit, in der die Wehen stärker werden würden und ich mich auf meine Atmung konzentrieren musste, hatte ich temporeiche Musik mit ausgeprägtem Rhythmus gewählt: Beethovens Mondscheinsonate. Und gegen Ende, wenn die Schmerzen am stärksten waren, wollte ich unterschiedliche Stücke hören, allesamt Werke, mit denen ich glückliche Erinnerungen aus meiner Kindheit verband, von REO Speedwagon und Madonna bis hin zu Wagners Walkürenritt, dessen wütender Takt das widerspiegelte, was zu diesem Zeitpunkt in meinem Körper vor sich gehen würde.
Ich glaube von ganzem Herzen daran, dass Musik den körperlichen Schmerz während der Geburt lindern kann.
Ich weiß nur nicht, ob das auch bei Trauer funktioniert.
Noch während ich das Kind auf die Welt bringe, denke ich, dass ich mich eines Tages nicht mehr daran erinnern werde. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich Dr. Gelman über submuköse Fasern reden höre, die sie vor der Furchtbarkeitsbehandlung hatte entfernen wollen – eine Operation, die ich abgelehnt habe, weil ich möglichst schnell schwanger werden wollte –, Fasern, die riesig geworden sind. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie sie mir erklärt, dass die Plazenta sich wegen dieser Fasern von der Gebärmutter losgerissen hat. Ich werde nicht mehr spüren, wie sie mich untersucht und sagt, dass mein Muttermund sich schon sechs Zentimeter geöffnet hat. Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie Max meinen iPod in die Dockingstation steckt und Beethoven den Raum erfüllt. Ich werde nicht mehr sehen, wie die Krankenschwestern sich wie in Zeitlupe bewegen, so vollkommen anders als die fröhlich aufgeregte Atmosphäre, die ich in den Geburtssoaps im Fernsehen gesehen habe.
Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Fruchtblase platzt oder wie Blut das Laken durchtränkt, auf dem ich liege. Ich werde mich nicht mehr an den traurigen Blick des Anästhesisten erinnern, der mir sein Beileid ausspricht, bevor er mich auf die Seite dreht und mir eine Epiduralanästhesie setzt.
Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Beine plötzlich taub werden und ich mir denke, dass das wenigstens ein Anfang ist. Jetzt müssen sie nur noch den Rest betäuben.
Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich nach einer besonders heftigen Wehe die Augen öffne und Max’ Gesicht sehe. Es ist genauso verzerrt und voller Tränen wie meins.
Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich Max sage, er soll Beethoven abstellen. Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich die Dockingstation einfach vom Tisch fege, als er nicht schnell genug reagiert.
Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie still es anschließend ist.
Irgendjemand wird mir erzählen müssen, wie das Baby zwischen meinen Beinen herausrutscht und Dr. Gelman mir sagt, es sei ein Junge.
Aber das kann nicht sein, werde ich denken, obwohl ich mich nicht erinnern kann. Bertha sollte doch ein Mädchen werden. Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich mich hinterher frage, worin die Ärzte sich sonst noch geirrt haben.
Ich werde mich nicht daran erinnern, wie die Krankenschwestern ihn in eine Decke wickeln und ihm eine winzige, gehäkelte Kappe aufsetzen.
Ich werde mich nicht daran erinnern, wie ich ihn in den Armen halte: seinen Kopf, der kaum größer ist als eine Pflaume, und sein blaues Gesicht, die perfekte Nase, die niedliche Schnute, die weiche Haut und die Brust, die so zerbrechlich ist wie die eines Vogels und die sich nicht bewegt. Er passt in meine Hand und wiegt fast nichts.
Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich bis zu diesem Augenblick einfach nicht daran geglaubt habe, dass er wirklich tot ist.
Im Traum reise ich einen Monat zurück. Max und ich liegen kurz nach Mitternacht im Bett. Bist du wach?, frage ich.
Ja. Ich denke nach.
Worüber?
Er schüttelt den Kopf. Nichts.
Du hast dir Sorgen gemacht, sage ich.
Nein. Ich habe nur über Olivenöl nachgedacht, sagt er ernst.
Über Olivenöl?
Ja. Woraus wird das gemacht?
Soll das eine Scherzfrage sein?, erwidere ich. Aus Oliven natürlich.
Und Sonnenblumenöl? Woraus wird das gemacht?
Aus Sonnenblumenkernen.
So, sagt Max, und was ist mit Babyöl?
Einen Augenblick lang schweigen wir beide. Dann brechen wir in lautes Lachen aus. Wir müssen so lachen, dass mir die Tränen in die Augen treten. Ich greife im Dunkeln nach Max’ Hand, finde sie aber nicht.
Als ich aufwache, sind die Jalousien heruntergelassen, doch die Tür steht auf. Zuerst weiß ich nicht, wo ich bin. Im Flur herrscht Lärm, und ich sehe eine Familie – Großeltern, Kinder, Teenager –, die lachend an meiner Tür vorbeizieht. Sie haben Ballons dabei.
Ich beginne zu weinen.
Max sitzt neben mir auf dem Bett. Unbeholfen nimmt er mich in den Arm. Er ist nicht gerade eine geborene Florence Nightingale. Einmal hatten wir Weihnachten beide die Grippe. Wenn ich mich nicht gerade selbst erbrochen habe, bin ich ins Badezimmer gegangen und habe ihm kalte Kompressen gemacht. »Zoe«, murmelt er. »Wie fühlst du dich?«
»Wie glaubst du wohl?« Ich bin eine Hexe. Wut brennt in mir. Sie füllt den Raum in mir, in dem vor Kurzem noch mein Baby lebte.
»Ich will ihn sehen.«
Max erstarrt. »Ich, äh …«
»Ruf die Krankenschwester.« Die Stimme meiner Mutter kommt aus der Zimmerecke. Ihre Augen sind rot und geschwollen. »Du hast gehört, was sie will.«
Max nickt, steht auf und verlässt den Raum. Meine Mutter nimmt mich in den Arm. »Das ist nicht fair«, sage ich unter Tränen.
»Ich weiß, Zoe.« Sie streichelt mir übers Haar, und ich drücke mich an sie, so wie ich es mit vier Jahren gemacht habe, als man mich wegen meiner Sommersprossen ausgelacht hat, oder mit fünfzehn, als man mir zum ersten Mal das Herz gebrochen hat. Mir wird klar, dass ich mein eigenes Kind nie auf diese Art werde trösten können, und ich weine noch mehr.
Eine Krankenschwester betritt den Raum, gefolgt von Max. »Hier«, sagt er und gibt mir ein Foto von unserem Sohn. Es sieht so aus, als hätte man ihn schlafend in einer Wiege fotografiert. Seine Hände sind neben dem Kopf zu winzigen Fäusten geballt, und er hat ein kleines Grübchen am Kinn.
Unter dem Foto befinden sich ein Hand- sowie ein Fußabdruck, viel zu klein, um real zu sein.
»Mrs. Baxter«, sagt die Krankenschwester leise. »Es tut mir leid.«
»Warum flüstern Sie?«, frage ich. »Warum flüstert ihr alle? Wo zum Teufel ist mein Baby?«
Als hätte ich ihn heraufbeschworen, kommt eine weitere Krankenschwester mit meinem Sohn auf dem Arm herein. Er ist jetzt angezogen; die Kleider sind ihm viel zu groß. Ich strecke die Arme nach ihm aus.
Einen einzigen Tag lang habe ich einmal auf einer Intensivstation für Babys gearbeitet. Ich habe Gitarre für die Frühchen gespielt und ihnen im Rahmen der Entwicklungsförderung vorgesungen. Denn bei Babys, die Musiktherapie erhalten, erhöht sich die Sauerstoffaufnahme und der Puls ist niedriger, und einige Studien belegen sogar, dass Frühchen unter dem Einfluss von Musiktherapie täglich doppelt so viel an Gewicht zulegen wie normal. Ich hatte gerade einer Mutter und ihrem Baby ein Wiegenlied auf Spanisch vorgesungen, als eine Sozialarbeiterin hereinkam und mich um meine Hilfe bat.
»Das Rodriguez-Baby ist heute Morgen gestorben«, sagte sie zu mir. »Die Familie wartet gerade auf ihre Lieblingskrankenschwester … für das letzte Bad.«
»Das letzte Bad?«
»Das hilft manchmal«, erklärte die Sozialarbeiterin. »Das Problem ist nur, die Familie ist ziemlich groß, und ich denke, sie könnten da drin ein wenig Hilfe brauchen.«
Als ich das Privatzimmer betrat, wo die Familie wartete, wusste ich, was die Sozialarbeiterin gemeint hatte. Die Mutter saß auf einem Schaukelstuhl und hielt das tote Kind in den Armen. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Der Vater stand neben ihr. Tanten, Onkel und Großeltern waren vollkommen still im krassen Gegensatz zu den Nichten und Neffen, die kreischend um das Bett herumjagten.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Zoe. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig spiele?« Ich deutete auf die Gitarre, die ich mir über den Rücken gehängt hatte.
Als die Mutter mir nicht antwortete, kniete ich mich vor ihren Stuhl. »Ihre Tochter war sehr schön«, sagte ich.
Sie antwortete mir darauf ebenfalls nicht, und auch sonst niemand. Also nahm ich meine Gitarre und begann zu singen. Es war das gleiche spanische Wiegenlied, das ich auch wenige Minuten zuvor gesungen hatte:
Duérmete, mi niño Duérmete, mi sol Duérmete, pedazo De mi corazón.
Einen Augenblick lang hörten die Kinder auf, im Kreis zu laufen. Die Erwachsenen im Raum starrten mich an. Plötzlich war ich im Fokus, im Zentrum aller Energie und nicht mehr das arme Kind. Kaum war die Krankenschwester da und zog das Baby für sein letztes Bad aus, schlüpfte ich aus dem Zimmer, ging zur Krankenhausverwaltung und kündigte.
Ich hatte schon Dutzende Male an den Betten von sterbenden Kindern gespielt, und ich hatte es stets als Privileg betrachtet, ihnen den Übergang von dieser in die nächste Welt mit einer schönen Melodie zu erleichtern. Doch das hier war etwas anderes gewesen. Ich konnte einfach nicht den Orpheus für ein totes Baby spielen, nicht während Max und ich so verzweifelt versuchten, schwanger zu werden.
Mein eigener Sohn fühlt sich vollkommen kalt an. Ich lege ihn auf dem Krankenhausbett zwischen meine Beine und öffne den blauen Pyjama, den ihm eine Schwester angezogen hat. Dann lege ich meine Hand auf seinen Torso, spüre aber keinen Puls.
»Duérmete, mi niño«, flüstere ich.
»Würden Sie ihn gerne eine Weile hier behalten?«, fragt die Krankenschwester, die ihn gebracht hat.
Ich schaue sie an. »Darf ich das?«
»Sie können ihn so lange behalten, wie Sie wollen«, antwortet sie. »Aber …« Sie führt den Gedanken nicht zu Ende.
»Wo ist er?«, frage ich.
»Wie bitte?«
»Ich meine, wo ist er, wenn er nicht hier ist?« Ich schaue die Krankenschwester an. »In der Leichenhalle?«
»Nein. Er ist bei uns.«
Sie lügt mich an. Ich weiß, dass sie mich anlügt. Hätte er wie die anderen Babys in einer Krankenhauswiege gelegen, dann wäre er nicht so kalt. »Ich will das sehen.«
»Ich fürchte, wir können nicht …«
»Machen Sie schon«, fordert meine Mutter in befehlsgewohntem Ton. »Wenn Sie das sehen muss, dann lassen Sie sie es sehen.«
Die beiden Krankenschwestern schauen einander an. Dann geht eine von ihnen raus und holt einen Rollstuhl. Sie helfen mir aus dem Bett und in den Stuhl. Und die ganze Zeit über halte ich mein Baby in den Armen.
Max fährt mich den Flur hinunter. Hinter einer Tür höre ich eine Frau, die in den Wehen stöhnt. Max schiebt mich schneller.
»Mrs. Baxter würde gerne sehen, wo ihr Sohn war«, sagt die Krankenschwester zu einer Kollegin hinter einem Schreibtisch, als wäre das eine ganze normale Bitte. Sie führt mich am Stationszimmer vorbei zu einer Reihe von Regalen voller in Plastik eingeschweißter Schläuche, frischer Decken und Windeln. Daneben steht ein kleiner Kühlschrank aus rostfreiem Stahl, nicht viel anders als der, den ich im Studentenwohnheim gehabt habe.
Die Krankenschwester öffnet die Kühlschranktür. Zuerst verstehe ich nicht, doch dann schaue ich hinein und sehe die kahlen weißen Wände und den einzelnen Regalboden.
Ich drücke mein Baby an mich, aber er ist so winzig, dass ich kaum spüren kann, ob ich ihn richtig halte. Ich könnte genauso gut einen Beutel mit Federn in den Armen halten, einen Atemzug, einen Wunsch. Instinktiv stehe ich auf. Ich weiß nur, dass ich den Kühlschrank nicht länger anschauen kann … und plötzlich kann ich nicht mehr atmen, und die Welt beginnt sich zu drehen, und meine Brust fühlt sich an, als würde sie in einem Schraubstock zerquetscht. Bevor ich zu Boden stürze, kann ich nur an eines denken: Ich werde meinen Sohn nicht fallen lassen. Eine gute Mutter lässt ihr Kind nicht los.
»Was Sie mir mitteilen wollen«, antworte ich Dr. Gelman, meiner Gynäkologin, »ist, dass ich eine tickende Zeitbombe bin.«
Nachdem ich in Ohnmacht gefallen war, hatte man mich wieder aufgeweckt, den Ärzten die Symptome geschildert und mich auf Heparin gesetzt. Bei einer Computertomografie wurde ein Blutgerinnsel diagnostiziert, das in meine Lunge gewandert war, eine Embolie. Jetzt sagen mir meine Ärzte, die Blutuntersuchung habe ergeben, dass das immer wieder passieren könne.
»Nicht notwendigerweise«, sagt Dr. Gelman. »Jetzt, wo wir das Problem kennen, können wir Ihnen Cumarin geben. Das kann man behandeln, Zoe.«
Ich habe ein wenig Angst, mich zu bewegen. Ich will nicht, dass das Gerinnsel plötzlich in mein Gehirn wandert und dort ein Aneurysma verursacht. Dr. Gelman versichert mir jedoch, die Heparin-Spritzen würden das effektiv verhindern.
Ein Teil von mir – der Teil, der sich anfühlt, als hätte ich einen Stein verschluckt – ist enttäuscht darüber.
»Wie kommt es, dass Sie das nie untersucht haben?«, fragt Max. »Sie haben doch auch alles andere untersucht.«