Umwege des Lebens - Jodi Picoult - E-Book
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Umwege des Lebens E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Was wäre, wenn wir in entscheidenden Momenten des Lebens eine andere Wahl getroffen hätten?

Dawn Edelstein hatte sich einst bei Ausgrabungen in Ägypten in einen Kollegen verliebt, mit dem sie alte Grabtexte entschlüsselte. Bis ein Telefonanruf ihr Leben komplett umkrempelte. Fünfzehn Jahre später ist Dawn verheiratet, hat eine Tochter im Teenager-Alter und arbeitet in Boston als Sterbebegleiterin. Als sie einen Flugzeugabsturz überlebt, drängt sich ihr die Frage auf, ob das gute Leben, das sie hat, noch viel besser hätte sein können. Auf der Suche nach der Antwort kehrt sie nach Ägypten zu dem Mann zurück, den sie einst leidenschaftlich liebte.

»Umwege des Lebens«, der beeindruckende neue Roman von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult, setzt sich mit den großen Fragen auseinander, die uns in der Lebensmitte beschäftigen: Was ist uns wichtig, mit wem wollen wir leben und wie sterben? Und ist es möglich – und akzeptabel, Entscheidungen zu revidieren und einen anderen Weg einzuschlagen?

»Jodi Picoult ist eine geborene Erzählerin, die niemanden unberührt lässt.« Boston Globe

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Seitenzahl: 728

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Zu diesem Buch

Dawn Edelstein hatte sich einst bei Ausgrabungen in Ägypten in einen Kollegen verliebt, mit dem sie alte Grabtexte entschlüsselte. Bis ein Telefonanruf ihr Leben komplett umkrempelte. Fünfzehn Jahre später ist Dawn verheiratet, hat eine Tochter im Teenager-Alter und arbeitet in Boston als Sterbebegleiterin. Als sie einen Flugzeugabsturz überlebt, drängt sich ihr die Frage auf, ob das gute Leben, das sie hat, noch viel besser hätte sein können. Auf der Suche nach der Antwort kehrt sie nach Ägypten zu dem Mann zurück, den sie einst leidenschaftlich liebte.

»Umwege des Lebens«, der beeindruckende neue Roman von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult, setzt sich mit den großen Fragen auseinander, die uns in der Lebensmitte beschäftigen: Was ist uns wichtig, mit wem wollen wir leben und wie sterben? Und ist es möglich – und akzeptabel, Entscheidungen zu revidieren und einen anderen Weg einzuschlagen?

»Jodi Picoult ist eine geborene Erzählerin, die niemanden unberührt lässt.« Boston Globe

Zur Autorin

JODI PICOULT, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie mehr als zwanzig Romane, von denen viele auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Auch ihr neuester Roman »Umwege des Lebens« hat sofort den ersten Platz erobert. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa mit dem renommierten New England Book Award. Picoult lebt mit ihrem Mann und zahlreichen Tieren in Hanover, New Hampshire.

JODI PICOULT

Umwege des Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Book of Two Ways bei Ballentine Books, a division of Penguin Random House, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 der Originalausgabe by Jodi Picoult

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Cover: www.buerosued.de

This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Penguin Random House, a division of Random House LLC.

Redaktion: Gerhard Seidl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26243-3V003

www.cbertelsmann.de

FÜR FRANKIE RAMOSWillkommen in der Familie (und bei meinen endlosen medizinischen Recherchefragen)!UND FÜR KYLE FERREIRA VAN LEERDer das Zweiwegebuch als Erster erwähnt und mich auf die Idee zu diesem Buch gebracht hat.

Sterben wäre ein ungeheuer großes Abenteuer.

J. M. BARRIE, Peter Pan

Prolog

In meinem Kalender finden sich viele Tote.

Als der Alarm meines Telefons losgeht, angle ich es aus der Tasche meiner Cargohose. Wegen der Zeitverschiebung hätte ich daran denken sollen, die Erinnerungsfunktion auszuschalten. Ich bin noch schläfrig, aber ich klicke auf das Datum und lese die Namen: Iris Vale. Eun Ae Kim. Alan Rosenfeldt. Marlon Jensen.

Ich schließe die Augen und mache das, was ich jeden Tag in diesem Moment tue: Ich denke an sie.

Iris, die zum Vögelchen zusammengeschrumpft war, als sie starb, hatte früher mal aus Liebe zu dem Mann, der eine Bank ausraubte, einen Fluchtwagen gefahren. Eun Ae war Ärztin in Korea gewesen, hatte ihren Beruf aber in den Vereinigten Staaten nicht ausüben können. Alan hatte mir stolz die Urne gezeigt, die er für die Asche seiner sterblichen Überreste gekauft hatte, und scherzhaft gemeint: Getestet habe ich sie noch nicht. Marlon hatte in seinem Haus sämtliche Toiletten erneuert, neue Böden gelegt und die Dachrinnen gesäubert, außerdem die für seine beiden Kinder gekauften Geschenke für ihre Abschlussprüfungen versteckt. War mit seiner zwölfjährigen Tochter in den Ballsaal eines Hotels gegangen und tanzte dort Walzer mit ihr, filmte alles mit seinem Mobiltelefon, sodass es am Tag ihrer Hochzeit ein Video geben würde, das sie beim Tanzen mit ihrem Vater zeigt.

Sie waren einmal meine Klienten. Jetzt bewahre ich sie als meine Geschichten auf.

In meiner Sitzreihe schlafen alle. Ich stecke das Telefon wieder ein und klettere dann vorsichtig über die Frau zu meiner Rechten, ohne sie zu stören – Passagieryoga –, um die Toilette im hinteren Teil des Flugzeugs aufzusuchen. Dort putze ich mir die Nase und schaue in den Spiegel. In meinem Alter hält dieser Blick noch Überraschungen bereit, weil ich noch immer damit rechne, eine jüngere Frau als die zu sehen, die mir zublinzelt. Wie die Knickfalten einer vertrauten Landkarte streben fächerförmige Linien weg von meinen Augenwinkeln. Würde ich den Zopf über meiner linken Schulter lösen, könnte man bei dieser schrecklichen Neonbeleuchtung die ersten grauen Strähnen in meinen Haaren entdecken. Wie jede vernünftige Frau um die vierzig, die einen Langstreckenflug vor sich hat, trage ich bequeme Cargohosen. Ich nehme mir ein paar Papiertücher und öffne die Tür in der Absicht, an meinen Platz zurückzukehren, aber im kleinen Bordküchenbereich drängeln sich die Flugbegleiter. Sie sind in einem einzigen Stirnrunzeln vereint.

Als ich auftauche, unterbrechen sie ihre Unterredung. »Würden Sie bitte zu Ihrem Platz zurückkehren, Ma’am«, werde ich aufgefordert.

Mir fällt auf, dass ihr Job sich gar nicht so sehr von meinem unterscheidet. In einem Flugzeug ist man nicht mehr an dem Ort, von dem man aufgebrochen ist, aber auch noch nicht dort, wohin die Reise geht. Man ist dazwischen gefangen. Eine Flugbegleiterin hilft dabei, diesen Übergang angenehm zu gestalten. Als Sterbebegleiterin tue ich dasselbe, nur dass die Reise vom Leben in den Tod führt und man am Ende nicht mit zweihundert anderen Reisenden aussteigt. Man geht allein.

Ich klettere wieder über die schlafende Frau auf dem Gangplatz und schnalle mich gerade an, als die grelle Deckenbeleuchtung anspringt und Leben in die Kabine kommt.

»Meine Damen und Herren«, verkündet eine Stimme, »wir sind eben vom Kapitän darüber informiert worden, dass wir eine geplante Notlandung durchführen werden. Bitte hören Sie auf die Anweisungen der Flugbegleiter und befolgen Sie diese.«

Ich erstarre. Geplante Notlandung. Das Oxymoron setzt sich hartnäckig fest.

Eine Schockwelle erfasst die Kabine und entlädt sich geräuschvoll, aber ohne Kreischen, ohne laute Schreie. Selbst das Baby hinter mir, das während der ersten beiden Flugstunden geschrien hatte, ist still. »Wir stürzen ab«, flüstert die Frau auf dem Gangplatz. »Oh mein Gott, wir stürzen ab.«

Sie liegt bestimmt falsch, schließlich gab es nicht mal Turbulenzen. Alles war ganz normal gewesen. Aber dann positionieren sich die Flugbegleiter in den Gängen und vollführen ein merkwürdiges Stakkato-Ballett von sicherheitsdienlichen Gesten, während über Lautsprecher die Anweisungen vorgetragen werden. Schnallen Sie sich an. Nehmen Sie die Klemmhaltung ein, sobald Sie dazu aufgefordert werden. Wenn das Flugzeug zum Stillstand gekommen ist, hören Sie die Aufforderung: Lösen Sie die Anschnallgurte. Steigen Sie aus. Lassen Sie alles zurück.

Lassen Sie alles zurück.

Für eine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Tod verdient, habe ich mir über meinen eigenen nicht viele Gedanken gemacht.

Ich habe gehört, dass sich im Angesicht des Todes das eigene Leben vor einem abspult.

Aber ich habe nicht Brian vor Augen, meinen Ehemann, dessen Pullover die Spuren unvermeidlichen Kreidestaubs der altmodischen Tafeln seines Physiklabors trägt. Und auch nicht Meret als kleines Mädchen, das mich bittet, unter dem Bett nachzusehen, ob sich dort Ungeheuer eingenistet haben. Meine Mutter sehe ich ebenso wenig, weder so wie am Ende noch wie früher, als Kieran und ich jung waren.

Stattdessen sehe ich ihn.

So deutlich, als wäre erst ein Tag vergangen, habe ich Wyatt mit weiß blitzenden Zähnen mitten in der ägyptischen Wüste vor Augen, wo ihm die Sonne auf den Hut brennt und der ständige Wind ihm den Sand als Schmutzstreifen um den Hals legt. Ein Mann, der fünfzehn Jahre lang nicht mehr Teil meines Lebens war. Ein Ort, den ich verlassen habe.

Eine nie beendete Dissertation.

Im Glauben der alten Ägypter musste man erst in der Gerichtshalle für unschuldig erklärt werden, bevor man ins Jenseits gelangte. Ihre Herzen wurden gegen die Feder der Maat aufgewogen, der Göttin der Wahrheit.

Ich bin mir nicht sicher, ob mein Herz bestehen wird.

Die Frau zu meiner Rechten betet leise auf Spanisch. Ich krame mein Telefon heraus, überlege, es einzuschalten und eine Nachricht zu schicken, obwohl ich weiß, dass es kein Signal gibt, aber es ist mir nicht möglich, den Knopf meiner Hosentasche zu öffnen. Eine Hand umfängt die meine und drückt sie.

Ich senke den Blick auf unsere Fäuste, so fest zusammengepresst, dass ihnen kein Geheimnis entweichen könnte.

Klemmhaltung, rufen die Flugbegleiter. Klemmhaltung!

Während wir vom Himmel fallen, frage ich mich, wer sich wohl an mich erinnern wird.

Sehr viel später sollte ich erfahren, dass die Flugbegleiter bei einem Flugzeugabsturz dem Notfallpersonal am Boden mitteilen, wie viele Seelen sich an Bord befinden. Seelen, nicht Menschen. Als wüssten sie, dass unsere Körper ohnehin nur für kurze Zeit auf der Durchreise sind.

Ich erfuhr auch, dass einer der Treibstofffilter sich während des Flugs zugesetzt hatte. Und dass den Piloten, als nach fünfundvierzig Minuten Flug die Alarmleuchte für den zugesetzten Treibstofffilter zum zweiten Mal aufleuchtete und alle ihre Versuche, ihn freizubekommen, ergebnislos blieben, bewusst wurde, dass sie eine Evakuierung zu Land vornehmen mussten. Man sagte mir, dass das Flugzeug kurz vor dem Flughafen Raleigh-Durham auf dem Fußballfeld einer Privatschule runterkam. Dort kollidierte eine Tragfläche mit der Tribüne, das Flugzeug kippte, rollte weiter und brach auseinander.

Sehr viel später erreichte mich die Information, dass sich die Reihe hinter mir vom Boden gelöst hatte und die drei Sitze mit der Familie und dem Baby aus dem Flugzeug hinausgeschleudert worden waren, was zum sofortigen Tod führte. Man berichtete mir von den sechs anderen, die zermalmt wurden, als das Metall nachgab, und von der Flugbegleiterin, die nie aus ihrem Koma erwachte. Ich las die Namen der Passagiere in den letzten zehn Reihen, die es nicht geschafft hatten, das Flugzeug zu verlassen, bevor der geborstene Treibstofftank explodierte.

Ich erfuhr, dass ich eine von sechsunddreißig Personen war, die sich selbst von der Absturzstelle entfernen konnten.

Benommen verlasse ich den Untersuchungsraum des Krankenhauses, in das man uns gebracht hatte. Im Flur spricht eine uniformierte Frau mit einem Mann, dessen Arm bandagiert wurde. Sie gehört zum Notfallteam der Fluglinie, das sich darum zu kümmern hat, dass wir ärztlich untersucht werden, frische Kleidung und Essen bekommen, und aufgeregte Familienmitglieder für uns einfliegt.

»Ms. Edelstein?«, spricht sie mich an, und mir wird blinzelnd bewusst, dass sie mich meint.

Vor einer Ewigkeit bin ich Dawn McDowell gewesen. Unter diesem Namen hatte ich veröffentlicht. Aber in meinem Pass und meinem Führerschein steht Edelstein. Wie bei Brian.

Sie hält eine Liste der Überlebenden des Absturzes in der Hand.

Macht neben meinem Namen ein Häkchen. »Wurden Sie schon von einem Arzt untersucht?«

»Noch nicht.« Ich schiele aufs Untersuchungszimmer.

»Okay. Sie werden sicherlich einige Fragen haben …?«

Das ist eine Untertreibung.

Warum bin ich am Leben und andere sind es nicht?

Warum habe ich diesen speziellen Flug gebucht?

Was wäre, wenn ich es nicht zum Check-in geschafft und den Flug verpasst hätte?

Wenn ich Tausende andere Entscheidungen getroffen hätte, die mich von diesem Absturz ferngehalten hätten?

Dabei muss ich an Brian und seine Theorie des Multiversums denken. Irgendwo in einer parallelen Zeitachse gibt es ein anderes Ich bei meiner eigenen Beerdigung.

Gleichzeitig denke ich – wieder und immer – an Wyatt.

Ich muss hier raus.

Mir ist nicht bewusst, dass ich das laut ausgesprochen habe, bis die Angestellte der Fluglinie darauf eingeht.

»Wenn wir die Bescheinigung des Arztes haben, steht es Ihnen frei zu gehen. Kommt jemand, um Sie abzuholen, oder sollen wir für Sie einen Flug buchen?«

Uns, den Glücklichen, hat man gesagt, dass wir ein Flugticket egal wohin bekommen können – zu unserem Ziel, zurück zu unserem Abflugort oder, falls nötig, auch anderswohin. Meinen Ehemann habe ich bereits angerufen. Brian hat angeboten, mich abzuholen, aber ich habe das abgelehnt. Ohne einen Grund zu nennen.

Ich räuspere mich. »Ich muss einen Flug buchen«, sage ich.

»Aber sicher.« Die Frau nickt. »Und wohin müssen Sie?«

Boston, überlege ich. Nach Hause. Aber aufgrund ihrer speziellen Fragestellung – müssen anstatt wollen – setzt sich mir ein anderes Ziel in den Kopf.

Ich mache den Mund auf und antworte.

LAND / ÄGYPTEN

Ich habe diese Lieder der alten Gräber gehört,

In denen davon gesprochen wird, das Irdische aufzuwerten und die Nekropole herabzumindern.

Aber warum so vorgehen gegen das Land der Ewigkeit,

Einem gerechten und rechtschaffenen Ort ohne Furcht?

Chaos wird die verruchte Tat bringen!

Keiner dort fürchtet den anderen.

In diesem Land ohne jeden Gegner

Ruhen alle unsere Familien

Seit Anbeginn der Zeit.

Jene, die noch nach Millionen und Abermillionen Jahren geboren werden,

Alle sollen dorthin gehen!

Aus dem Grab von Neferhotepnach der Übersetzung von Colleen und John Darnell

Meine Mutter, deren Leben und Sterben von Aberglauben begleitet wurden, verlangte vor jeder Reise von uns gemeinsam aufzusagen: Wir gehen nirgendwohin. Damit sollte der Teufel ausgetrickst werden. Ich kann nicht behaupten, dass ich an so etwas glaube, aber dann wiederum habe ich es nicht gesagt, als ich von zu Hause aufbrach, und man sieht ja, was es mir eingebracht hat.

Kairo im August fühlt sich an, als würde ich beim Verlassen des Flughafens die Oberfläche der Sonne betreten. Auch spät in der Nacht schneidet die Hitze wie ein Messer in die Haut und brandet einem in erdrückenden Wellen entgegen. Schon spüre ich, wie mir der Schweiß über den Rücken rinnt – darauf war ich nicht eingestellt. Um mich herum passieren andere Menschen: Eine zerknautschte, benommene Touristengruppe wird in einen Minivan gescheucht; ein Teenager schleift sein mit Klebeband gesichertes Gepäck vom Rollwagen zum Bordstein; eine Frau sichert ihr im Luftzug flatterndes Kopftuch.

Plötzlich bin ich umringt von Männern. »Taxi?«, schreien sie. »Sie brauchen Taxi?«

Die Tatsache, dass ich aus dem Westen bin, lässt sich nicht verbergen, ich signalisiere es von den roten Haaren bis zur Cargohose und den Sneakers. Ich nicke und nehme zu einem von ihnen Blickkontakt auf, einem Fahrer mit kräftigem Schnauzbart im langärmeligen gestreiften Hemd. Die anderen Fahrer ziehen sich zurück wie Möwen auf der Suche nach anderen Brotkrumen.

»Haben Sie Koffer?«

Ich schüttele den Kopf. Alles, was ich bei mir habe, ist die kleine Tasche, die ich über der Schulter trage.

»Amerikanerin?«, fragt der Mann, und ich nicke. Ein breites weißes Grinsen zerteilt sein Gesicht. »Willkommen in Alaska!«

Dass auch nach fünfzehn Jahren dieser lahme Scherz für Touristen noch immer eine Bank zu sein scheint, überrascht mich. Ich nehme auf dem Rücksitz seines Wagens Platz. »Bringen Sie mich zum Ramses-Bahnhof«, sage ich. »Wie lang dauert das?«

»Fünfzehn Minuten Inschallah.«

»Shukran«, erwidere ich. Danke. Ich bin erstaunt, wie rasch mir Arabisch wieder über die Lippen kommt. Irgendwo im Gehirn muss es einen Ort geben, der Informationen speichert, die man nie wieder zu benötigen glaubte, wie etwa den Songtext von »MacArthur Park«, oder wie man Matrizen vervielfältigt oder – in meinem Fall – alles Ägyptologische. Als Meret klein war, prägte sie das Wort lasterday, was vor fünf Minuten oder auch vor fünf Jahren bedeuten konnte – und genau dort befinde ich mich jetzt. Als befände ich mich wieder in dem Moment, der zurückblieb, als ich dieses Land verließ. Als hätte er all die Jahre darauf gewartet, dass ich zurückkomme.

Bei offenem Fenster spüre ich bereits, wie sich der Staub auf mich legt. In Ägypten ist alles voller Sand – die Schuhe, die Haut, die Luft, die man atmet. Selbst im Essen nistet er sich ein. Die Zähne der Mumien sind davon abgeschliffen.

Obwohl Nacht ist, zeigt Kairo sich voller Leben mit all seinen Widersprüchen. Auf der Autobahn teilen die Autos sich den Platz mit Eselskarren.

Metzgereien, wo das Fleisch draußen hängt, schmiegen sich an Souvenirläden. Ein aufgemotztes Muscle-Car rast vorbei und lässt einen Fetzen pulsierender Rap-Musik zurück, die sich mit dem aus dem Lautsprecher hallenden Salat Al-Isha mischt, dem nächtlichen muslimischen Gebetsruf. Wir fahren am Nil mit seinem zugemüllten Ufer entlang. Endlich taucht der Ramses-Bahnhof auf. »Fünfzig Pfund«, verlangt der Fahrer.

In Ägypten gibt es keine festgelegten Tarife, der Fahrer sagt einem, wie viel die Fahrt seiner Meinung nach wert ist. Ich gebe ihm vierzig Pfund als Gegenangebot und steige aus dem Wagen. Auch er steigt aus und brüllt mich auf Arabisch an. »Shukran«, beruhige ich ihn. »Shukran.« Obwohl eine solche Szene ganz alltäglich ist und keinen interessiert, rast mein Puls, als ich auf den Bahnhof zugehe.

Nach Mittelägypten zu gelangen ist für jemanden aus dem Westen nicht einfach. Man geht nicht davon aus, dass Touristen den Zug nehmen, also warte ich lieber, bis der Schaffner mich entdeckt, und stelle mich dann dumm. Da der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hat, ist es zu spät, also zuckt er mit den Schultern und lässt mich zahlen. Stunden später, als ich an meinem Ziel in al-Minya aussteige, bin ich die einzige Weiße auf dem Bahnhof. Eigentlich bin ich fast die Einzige auf dem Bahnhof.

Ankommen sollte ich um 2.45 Uhr, aber der Zug hatte Verspätung und inzwischen ist es bereits nach vier Uhr morgens. Ich fühle mich, als wäre ich vierundzwanzig Stunden lang durchgefahren. Der einzige Taxifahrer am Bahnhof von al-Minya ist in ein Spiel auf seinem Mobiltelefon vertieft, als ich an seine Scheibe klopfe. Er mustert mich in meiner ganzen zerknautschen Schwerfälligkeit. »Sabah el-khier«, sage ich. Guten Morgen.

»Sabah el-noor«, erwidert er.

Ich nenne ihm mein Ziel, das etwa eine Fahrtstunde weit entfernt ist. Er nimmt die östliche Wüstenstraße, die aus al-Minya hinausführt. Ich blicke starr aus dem Fenster und zähle die Gebels und Wadis – Hügel und Täler – die sich am Horizont im Dunkel abzeichnen. An den Kontrollposten, bemannt von Jungs, denen noch kein Bart wächst und die alte zerschrammte Maschinengewehre aus den Sechzigern in den Händen halten, wickle ich mir meinen Schal um den Kopf und stelle mich schlafend.

Der Fahrer wirft immer wieder verstohlene Blicke in den Rückspiegel. Vermutlich wundert er sich, was eine Amerikanerin im Herzen Ägyptens, in das sich sonst keine Touristenströme verirren, in seinem Taxi zu suchen hat. Ich male mir aus, was ich ihm sagen würde, wenn ich den Mut oder die sprachlichen Möglichkeiten dazu hätte.

Eine der Fragen, die ich meinen Klienten stelle, lautet: Was ist nicht zu Ende gebracht worden? Gibt es noch etwas, was unerledigt geblieben ist, aber noch erledigt werden muss, bevor man aus diesem Leben scheidet? Ich habe schon alle möglichen Antworten darauf bekommen: vom Richten der klemmenden Haustür bis zum Baden im Roten Meer; von der Veröffentlichung einer Biografie bis zum Pokerspiel mit einem Freund, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Für mich ist es das hier. Dieser Staub, diese aufreibende Fahrt, dieser knochenbleiche Landstrich.

In einem früheren Leben hatte ich vorgehabt, Ägyptologin zu werden. Ich verliebte mich in diese Kultur, als wir in der vierten Klasse das Alte Ägypten durchnahmen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich ganz oben auf dem Klettergerüst im Wind stand und mir vorstellte, auf einer Feluke den Nil zu überqueren. Meinen Ausstellungskatalog mit dem Titel Tut: Schätze des goldenen Pharao, den meine Mutter in einem Antiquariat entdeckt hatte, hütete ich wie einen Schatz. Auf der Highschool belegte ich Französisch und Deutsch, weil ich wusste, dass ich diese Sprachen benötigen würde, um Forschungsarbeiten zu übersetzen. Ich bewarb mich an Colleges, die Ägyptologieprogramme anboten, und studierte als Stipendiatin an der Universität Chicago.

Was ich über das Alte Ägypten gelernt habe, lässt sich im Wesentlichen auf zwei Dinge herunterbrechen. Zum einen die Historie – Ägypten wurde von zweiunddreißig Pharaonendynastien regiert, aufgeteilt auf drei Zeitphasen: das Alte Reich, das Mittlere Reich und das Neue Reich. Die erste Dynastie begann mit König Narmer, dem Pharao, der Ober- und Unterägypten um 3100 vor unserer Zeitrechnung vereinte. Das Alte Reich ist für seine Pyramiden bekannt, die als Grabmale der König erbaut worden waren. Um 2150 vor unserer Zeit brach dann ein Bürgerkrieg aus. Es gab zweiundvierzig selbstständige Territorien – oder Gaue – jedes von einem Gaufürsten regiert. Während dieser Zeit kämpfte jeder Nomarch, wie die Gaufürsten auch genannt wurden, für seinen eigenen Gau. Es gab Allianzen, aber der Pharao im Norden regierte kein vereinigtes Ägypten, vielmehr erinnerten die Zustände an ein ägyptisches Game of Thrones. Das Mittlere Reich begann, als ein König namens Mentuhotep II. um 2010 vor unserer Zeit Unter- und Oberägypten wiedervereinte. Es hielt, bis die Hyksos von Norden her eindrangen und eine Periode mit Herrschern aus fremden Ländern folgte. Erst als König Ahmose die Hyksos besiegte, kam es zu einer Wiedervereinigung Ägyptens im Neuen Reich ab 1550.

Das zweite wichtige Thema ist die altägyptische Religion. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf den Sonnengott Re – der, als die Sonne, täglich in einem langen Boot, der Sonnenbarke, über den Himmel gezogen wurde – und Osiris, den Gott des Jenseits. Da Osiris zugleich der tote Sonnengott war, sind sie zusammengenommen die beiden Seiten einer Medaille. Für die alten Ägypter war das kein logisches Problem, denn Osiris und Re waren einfach zwei Seiten derselben Entität, wie die christliche Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist. Nacht für Nacht besuchte Re Osiris und vereinigte sich mit dessen totem Körper, der ihm die Kraft gab, am nächsten Tag die Sonne wiederauferstehen zu lassen. Das ägyptische Modell des Jenseits imitierte diesen Zyklus: Die Seele des Verstorbenen wurde täglich wiedergeboren wie Re und vereinigte sich jede Nacht mit dem Leichnam.

Unsere Kenntnisse über das Alte Ägypten verdanken wir hauptsächlich seinen Gräbern, die uns zeigen, welch gewaltige Anstrengungen unternommen wurden, sich auf das Sterben und das, was danach kam, vorzubereiten. Selbst Menschen mit geringen ägyptologischen Kenntnissen haben vom Totenbuch gehört – oder wie es im Alten Ägypten hieß: Das Buch vom Heraustreten in das Tageslicht. Es ist eine Sammlung von Zaubersprüchen aus dem Neuen Reich, die den Verstorbenen helfen sollten, seinen oder ihren Weg ins Jenseits zu gehen – die aber aus früheren, weniger bekannten Grabtexten hervorgegangen sind. Am Anfang standen die Pyramidentexte des Alten Reichs: Zaubersprüche, um böse Kreaturen abzuwehren, Worte, die der Sohn des toten Königs bei den Bestattungsritualen sprach, und Anweisungen für den Verstorbenen, damit dieser die nächste Welt erreichte. Im Mittleren Reich wurden Grabtexte auf die Särge von Adeligen und anderen Bürgern gemalt, darunter auch Zaubersprüche zur Wiederherstellung von Familienbanden, weil der Tod uns von Menschen, die wir lieben, trennen kann; Beschwörungsformeln, die dem Verstorbenen halfen, mit Re in seiner Sonnenbarke zu reisen, um Apep – das als Schlange dargestellte Chaos – zu besiegen, der versuchte, das Wasser unter der Barke aufzusaugen; sowie Sprüche, die dem Verstorbenen halfen, jede Nacht wieder eins mit Osiris zu werden.

Zu diesen Sargtexten gehört auch das Zweiwegebuch, die erste bekannte Landkarte des Jenseits. Man fand diese nur in einigen Särgen Mittelägyptens des Mittleren Reichs, für gewöhnlich aufgemalt am Sargboden. Sie zeigt die zwei Wege, die sich durch Osiris’ Totenreich schlängeln: eine Landroute in Schwarz und eine Wasserroute in Blau, getrennt von einem See des Feuers. Folgt man der Karte, ist das, als hätte man die Wahl, die Fähre zu nehmen oder außen herumzufahren – beide Wege enden am selben Ort: dem Opfergefilde, wo die Verstorbenen mit Osiris in Ewigkeit tafeln können. Doch die Sache hat einen Haken – einige der Pfade führen ins Nichts. Auf anderen gelangt man zu Dämonen oder Feuerkreisen. Eingebettet in den Text findet sich die Zauberkunst, die man braucht, um an den Torwächtern vorbeizukommen.

Der erste Abschnitt, den ich aus dem Zweiwegebuch übersetzt habe, war Zauberspruch 1130: Was jeden betrifft, der diesen Spruch kennt, er wird sein wie Re im Osten des Himmels und wie Osiris im Innern der Unterwelt. Denn er wird zum feurigen Hofstaat hinabsteigen. Nicht werden Flammen gegen ihn sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Neheh Djet. Für die alten Ägypter verlief die Zeit anders. Sie konnte linear oder ewig sein wie Osiris. Oder zyklisch mit täglichen Reinkarnationen wie Re. Das schloss sich nicht gegenseitig aus. Um einen guten Tod zu bekommen, war beides erforderlich. Das Grab war das verbindende Gewebe, der magische Akku, der den Saft für das ewige Leben bereitstellte. Die meisten Ägyptologen studierten Darstellungen und Hieroglyphen in einem Vakuum, aber als junge Akademikerin galt mein Augenmerk ihrer Platzierung im Sarg und dem Zweiwegebuch auf dem Boden desselben. Was wäre, wenn die Mumie darin den Zauber wie einen Schlüssel aktivieren sollte?

Die veröffentlichten Versionen des Zweiwegebuchs stammen fast ausschließlich aus den Särgen von Gaufürsten aus der Nekropole von Deir el-Bersche, einer weitläufigen Ansammlung von aus dem Felsen gehauenen Gräbern der Gaufürsten, eine Stadt der Toten. Vor fünfzehn Jahren arbeitete ich als Doktorandin in diesen Gräbern auf der Suche nach Beweisen für meine These.

Was wurde noch nicht zu Ende gebracht?

Als der Fahrer nach Süden abbiegt, um mich zurück nach Deir el-Bersche zu bringen, wage ich wieder einen Blick aus dem Fenster und werde in den Bann der Schönheit des über der Wüste gähnenden Himmels gezogen. Seine blauen, pinken und orangefarbenen Streifen sind die Vorboten des Tages. Ein Stern zwinkert mir kurz zu, bevor er von der Sonne verschluckt wird.

Sirius. Meine Ankunft in Ägypten fällt zusammen mit dem Aufgang von Sothis.

Dank der Tallage Ägyptens kann man hier wie nirgendwo anders die Sterne beobachten, und die alten Ägypter verfolgten den Aufgang von Sternenkonstellationen in ihrem Sonnenkalender. Alle zehn Tage tauchte bei Tagesanbruch im Osten eine neue Konstellation auf, nachdem sie siebzig Tage lang verschwunden gewesen war. Der wichtigste dieser Sterne war Sirius – den sie Sothis oder Sopdet nannten. Der Aufgang von Sothis stand für Wiedergeburt, weil er in der Jahreszeit am Himmel erschien, wenn der Nil über die Ufer trat und fruchtbaren Schlamm zur Düngung der Nutzpflanzen ablagerte. Um das zu feiern, reisten die alten Ägypter zu Festen und hinterließen an den Orten, die sie besuchten, oftmals Graffiti. Aber hauptsächlich betranken sie sich und hatten Sex – jedes Mal, wenn der Nil das Land überschwemmte, ging es zu wie auf dem Coachella-Festival.

Wyatt erzählte mir einmal, dass die alten Ägypter sich auf diesen Festivals mit Absicht bis zum Erbrechen betranken, um auf diese Weise die Nilflut zu imitieren. Die Ägypter, meinte er, wussten zu leben.

Ich richte den Blick wieder gen Himmel und suche Sothis. Und wie die alten Ägypter sehe ich ihn als Zeichen.

Deir el-Bersche liegt etwa in Ägyptens Mitte in Höhe der Stadt Mallawi am Ostufer des Nils. Wegen der Schäden aufgrund früherer Erdbeben und aktueller Plünderungen bekommt nur Zutritt, wer über eine Genehmigung der Regierung verfügt.

Ich mustere die Landschaft, bis ich die vertrauten aus dem Felsen gehauenen Gräber sehe. Dutzende kleiner Metalltüren sind in den gestreiften Kalkstein eingelassen, als wäre ein Hotel in die Wände des Wadis gemeißelt. Ein Hotel des Todes. Ich kann genau erkennen, wo ich die drei Grabungssaisons im Grab von Djehutihotep II., dem Gaufürsten des Hare-Gaus, verbrachte. Darunter, überdeckt von einem Gerüst, befindet sich das neueste Grab. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann dort keine Aktivitäten erkennen.

Das sind nicht die einzigen Neuerungen in Bersche. Moderne Friedhöfe, die es 2003 noch nicht gab, breiten sich ein wenig südlich der Nekropole aus. Neben einer Moschee steht nun eine hell gestrichene Kirche für koptische Christen. An den Nilufern bewegen sich die ägyptischen Bauern entlang schmaler Pfade zwischen ihren Feldern oder heben die platten Fächer der Dattelpalmen auf Eselskarren. Und dann stehen wir unvermittelt vor dem Grabungsgebäude. Ich bezahle den Fahrer und werde, kaum verlasse ich das Taxi, von einer Sandwolke begrüßt.

Auch das Gebäude hat sich verändert.

Erbaut hatte es der britische Architekt Gerald Hay-Smythe 1908 in Anlehnung an die mittelalterlichen koptischen Klöster aus Lehmziegeln. Noch vor meinem ersten Aufenthalt hier als Doktorandin war die Veranda zusammengebrochen, und keiner hatte es geschafft, sie zu reparieren. Aber jetzt sehe ich, dass die Veranda neu aufgebaut wurde.

Es stehen keine Fahrzeuge davor, und die über dem Gebäude liegende Stille lässt darauf schließen, dass es leer ist. An einem Beet wilder Zwiebeln und einem rostigen Fahrrad vorbei gelange ich in den äußeren Hof. Dort hängen Laken, Hemden und Dschallabijas, die langen kaftanartigen Gewänder, wie die Einheimischen sie tragen, auf sich überkreuzenden Wäscheleinen. Schon vor fünfzehn Jahren pflegte die ägyptische Familie, die sich um das Grabungsgebäude und die dort wohnenden Ägyptologen kümmerte, unsere Wäsche so aufzuhängen. Unser gesamtes Bettzeug duftete nach Sonnenlicht.

»Hallo?«, rufe ich. Es gibt keine Tür, an der man klopfen könnte, nur einen offenen Durchgang. Zögernd gehe ich weiter und erschrecke eine Katze. Sie miaut und rettet sich mit einem Satz auf einen bröckeligen Sims, von dem aus sie schmaläugig ihr Urteil über mich fällt, bevor sie im offenen Fenster verschwindet.

Ich durchmesse den langen Korridor, der die Unterkünfte der einheimischen Hausleute von denen des Archäologenteams trennt. Eine feine Sandschicht bedeckt den Boden, die Wände – einfach alles. »Ist jemand zu Hause?«, rufe ich, aber ich höre nur knisternde Swingmusik aus einem Lautsprecher im Inneren des Gebäudes. Ich blicke in ein Zimmer ohne Tür und sehe einen Stapel alter Doppelmatratzen mit den an Disney orientierten Gesichtern von Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen. Ein Stück weiter befindet sich der Eingang zum Magazin – der Lagerraum, in den wir alle unsere Funde zur späteren Begutachtung bringen. Ich fühle mich magisch angezogen und betrachte dann im trüben Licht die ordentlich etikettierten Pappschachteln, die sich in den Regalen stapeln. Weil ich mir sicher bin, beobachtet zu werden, wirbele ich herum. Auf dem Klapptisch liegt eine Mumie, die sich bereits lange vor meiner Zeit in diesem Raum befand und hier wohl auch noch liegen wird, wenn ich schon längst wieder weg bin. »George«, murmele ich, wie wir ihn vor fünfzehn Jahren alle angesprochen haben. »Schön, dich wiederzusehen.«

Ein Stück weiter den Flur entlang liegt das Badezimmer mit Dusche und Toilette. Ich benutze es und streiche über das zerfaserte Schild, das noch immer auf der Rückseite der Toilettentür klebt: WASNICHTHINUNTERGESPÜLTWERDENDARF: ALLES, WASGELBIST, TOILETTENPAPIER, DEINEHOFFNUNGENUNDTRÄUME.

»Min hunak«, höre ich eine Stimme. Wer ist da?

Man hat mich tatsächlich mit heruntergelassener Hose erwischt. Ich springe auf, wasche mir die Hände und verlasse schnell das Badezimmer, um die Situation zu erklären, werde stattdessen aber mit einer Erinnerung konfrontiert.

Als wäre es gestern gewesen, sehe ich diesen Mann mit seiner wettergegerbten braunen Haut, wie er mir mit sanften Händen einen Teller mit frischem Salat vorsetzt. Er ist alterslos, erstarrt in der Zeit, derselbe Hausmeister, der sich um dieses Gebäude gekümmert hat, als ich noch Doktorandin war. »Hasib?«, frage ich.

Er reißt die Augen auf und wechselt ins Englische, als er meinen Akzent hört. »Hasib war mein Vater.«

Ich blinzele. »Dann sind Sie … Harbi?«

Harbi war damals ein Junge gewesen, wenngleich einer unserer besten Arbeiter. Nichts war ihm zu viel, worum Professor Dumphries ihn bat – vom Aufstellen von Gerüsten, damit wir die Hieroglyphen ganz oben an einer Kammerwand studieren konnten, bis zu stundenlangem Verharren in der sengenden Sonne mit einem schräg gehaltenen Spiegel, um das Licht einzufangen, damit wir die Felsbildkunst genau kopieren konnten.

Er betrachtet mich aus schmalen Augen. »Dawn?«

»Sie erinnern sich an mich?« Wenn Harbi das tut, wird er hier nicht der Einzige sein.

»Natürlich. Sie haben mir Superman mitgebracht.«

Jedes Mal, wenn ich über Heathrow flog, habe ich für Harbi ein Buch und einen Cadbury-Riegel für Hasib mitgenommen. »Diesmal komme ich mit leeren Händen«, gestehe ich. »Ist Ihr Vater noch immer hier?«

Er schüttelt den Kopf. »Er ist gestorben.«

Meine muslimischen Klienten konnten mit der Sprache des Todes immer besser umgehen als meine christlichen, für die der Übergang eher mit Angst behaftet ist. »Das tut mir sehr leid«, sage ich zu ihm. »Ich habe viele sehr gute Erinnerungen an ihn.«

Harbi lächelt. »Genauso wie ich«, sagt er. »Nun kümmern mein Sohn und ich uns um das Grabungsgebäude.« Er runzelt die Stirn. »Mudir hat mir nicht gesagt, dass Sie kommen.«

Als ich ihn Mudir, die Bezeichnung für den Leiter der Grabung, sagen höre, denke ich sofort an Dumphries, der als Vorsitzender des Ägyptologieprogramms von Yale diesen Titel trug. Aber natürlich gibt es jetzt einen neuen Direktor. Wyatt.

»Ich habe mich erst ganz kurzfristig dazu entschlossen«, weiche ich aus. »Wo sind denn alle?«

»Es ist Freitag«, erwidert Harbi achselzuckend. Der Freitag war immer unser freier Tag gewesen, an dem wir Ausflüge zu anderen Grabungsstellen machten. »Sie sind in Sohag und haben dort übernachtet.«

Sohag ist eine weitere von Yale geleitete archäologische Mission und liegt dreieinhalb Stunden weiter südlich. »Wann werden sie zurück sein?«

»Gegen Mittag, Inschallah.«

»Wäre es in Ordnung, wenn ich warte?«, frage ich.

»Aber ja doch«, sagt Harbi. »Aber Sie sind bestimmt hungrig, Doctora.«

Ich spüre, wie ich rot werde. »Oh«, korrigiere ich ihn, »ich bin keine Doctora.« Es ist nur natürlich, dass Harbi davon ausgeht, ein Besucher müsse genauso wie alle anderen aus Yale promoviert sein, und dass das Mädchen, das hier drei Grabungssaisons als Doktorandin gearbeitet hat, inzwischen seine Dissertation abgeschlossen haben würde.

Harbis Blick ruht erwartungsvoll auf mir. Als nichts mehr von mir kommt, geht er weiter. »Aber hungrig werden Sie dennoch sein«, befindet er.

Mir fällt auf, dass er hinkt, und ich frage mich, was passiert sein mag: ob er am Grabungsort gestürzt ist, ob seine Verletzung ihm Schmerzen bereitet. Aber persönliche Fragen kann ich nicht stellen, nicht, wenn ich selbst nicht bereit für sie bin.

»Großen Hunger habe ich keinen«, sage ich. »Machen Sie sich keine Mühe …«

Harbi ignoriert mich und führt mich in den größten Raum des Grabungshauses, der gleichermaßen Arbeitsplatz und Speisesaal ist. »Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause.« Er lässt mich allein und schlurft mit seinen Gummisandalen, die über den Fliesenboden schrammen, in die winzige Küche. Unter der Kuppel aus Lehmziegeln steht noch immer derselbe zerkratzte, fleckige Tisch, an dem wir alle unsere Mahlzeiten eingenommen haben. Was mir aber den Atem raubt, ist das, was anders ist. Verschwunden sind die gerollten Mylarfolien und wackeligen Stapel von Aktenmappen und Papieren. Stattdessen stehen Computer auf den wie Puzzleteile auf der anderen Seite des Raums verteilten Schreibtischen – Kabel schlängeln und umwinden sich wie Meeresungeheuer und streben abenteuerlich verdrahtet mit Überspannungsschutz einer Wandsteckdose zu. Es gibt Tablets, die gerade aufgeladen werden, und zwei beeindruckende Digitalkameras. An der hinteren Wand hängt als riesiger Ausdruck die komplette Inschrift der Szene mit dem Transport des Kolosses im Grab von Djehutihotep – genau die, an der ich während meiner gesamten letzten Saison mit Wyatt gearbeitet habe. Ich sehe die sorgfältigen Zeichnungen, die ich eigenhändig auf Mylar gemacht habe, nun in Tinte reproduziert und mit Wyatts Übersetzung am Rand versehen. Wenn es eines Beweises bedurfte, dass ich einmal hier gewesen war und etwas Wertvolles geleistet habe – dann hatte ich ihn hier vor Augen.

Als ich gerade durch die Terrassentüren nach draußen in den Innenhof gehen will, kommt Harbi, einen Stapel Teller balancierend, wieder zurück. »Setzen Sie sich doch«, bedrängt er mich, und ich nehme meinen alten Platz am Tisch ein.

Er hat eine Schüssel Salat für mich hergerichtet – gehackte Tomaten, Koriander und Gurken – Weichkäse und Aish Shamsi, Brot, dessen Teig vor dem Backen in der Sonne gegangen ist. Erst als ich zu essen anfange und nicht mehr aufhöre, wird mir bewusst, wie ausgehungert ich bin. Harbi beobachtet mich lächelnd. »Nicht hungrig«, sagt er.

»Doch ein wenig«, gebe ich zu und ergänze dann grinsend: »Sehr.«

Zum Nachtisch serviert er Basbousa – eine Mischung aus Kokosnuss und Honig und grob vermahlenem Gries. Danach sinke ich in meinen Stuhl zurück. »Ich glaube, die nächsten drei Tage werde ich keinen Bissen runterbringen.«

»Dann bleiben Sie also«, meint Harbi darauf.

Das geht nicht. Ich habe schließlich ein Leben auf einem anderen Kontinent, eine Familie, die sich Sorgen um mich macht. Aber wieder hier zu sein, als wäre es mir gelungen, einfach die Uhr zurückzudrehen, hat etwas derart Irreales, dass ich das Gefühl habe, mir alles einfach nur einzubilden. Wie in einem wunderschönen Traum, in dem man weiß, dass man träumt, aus dem man aber nicht aufwachen möchte.

Erst nachdem Harbi wieder in die Küche zurückkehrt, wird mir klar, dass er keine Frage gestellt, sondern eine Vermutung ausgesprochen hat. Dass er mir diese Entscheidung bereits abgenommen hat.

Und ich ihm nicht widersprochen habe.

Meine Mutter pflegte zu sagen, dass blaue Augen Unglück bringen, weil sie erlaubten, alles zu sehen, was eine blauäugige Person dachte, aber als ich Wyatt Armstrong kennenlernte, beherzigte ich diese Warnung nicht. 2001 war ich neu auf die Yale gekommen, eine Studentin im Aufbaustudium mit fünfzig Dollar auf dem Sparkonto und einem möblierten Zimmer. Ich war seit drei Tagen in der Stadt, und soweit ich das beurteilen konnte, gab es in New Haven nur ein Wetter: kalten, peitschenden Regen. Es war der Abend vor Semesterbeginn und ich auf dem Heimweg von der Sterling-Bibliothek, als es zu schütten anfing. In meiner Verzweiflung, die mitgeschleppten Bücher zu schützen – darunter mehrere wuchtige Folianten von Adriaan de Bucks Transkriptionen der Sargtexte –, ging ich durch die erste offene Tür, die ich entdeckte.

Toad’s Place brummte und das sogar an einem Mittwochabend. Das Publikum war eine Mischung aus Yale-Studenten und Studentinnen der Quinnipiac University, die mit dem Bus herkamen und die York Street in High Heels auf und ab staksten und Miniröcke trugen, die kaum den Hintern bedeckten. Die Plätze am Tresen hatten sich Studenten unterer Semester mit gefälschten Personalausweisen gesichert, die sie wie FBI-Dienstmarken zückten. Irgendwo im Hintergrund malträtierte eine Metal-Band ihre Instrumente und übertönte die hitzigen Rufe der Mädchen, die zwei Jungs bei ihrem Saufwettkampf anfeuerten.

Der Boden unter meinen Sneakers war klebrig, und der ganze Raum roch nach Budweiser und Gras. Ich schielte auf den Regenvorhang hinter mir und setzte nach einiger Überlegung, welches der beiden Übel das Schlimmere war, meinen Weg in den hinteren Teil der Kneipe fort. Ich kletterte auf einen Hocker, legte meinen Bücherstapel auf den Tresen und bemühte mich, unsichtbar zu bleiben.

Natürlich fiel er mir auf. Die Ärmel seines Hemds waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und das goldblonde Haar fiel ihm in die Augen, als er nach dem Schnapsglas griff, den Inhalt hinunterkippte und das leere Glas dann kopfüber auf den ramponierten Tresen knallte. Seine Entourage brach in Jubelschreie aus: Mark! Mark! Mark! Aber er lächelte nicht, hob die Arme nicht zur Siegespose, tröstete aber auch nicht den Verlierer. Achselzuckend akzeptierte er das Ergebnis als vorhersehbar und selbstverständlich.

Arschloch.

Auch an der University of Chicago gab es Studenten, die ihren Studienplatz dort ihrer privilegierten Herkunft verdankten, aber in Yale schienen sie die Norm und nicht die Ausnahme zu sein. Ich war zwar noch nicht lange hier, aber die wenigen Studenten, die ich bisher kennengelernt hatte, schienen direkt den Seiten des Lifestyle-Magazins Town & Country entstiegen zu sein. Meine Mitbewohnerin, zu der mich ein Zettel auf dem Schwarzen Brett geführt hatte, kam aus dem Hudson Valley und war begeisterte Dressurreiterin.

Plötzlich blickte der Typ auf und fixierte mich mit seinen blauen Augen. Ich musste an das Innerste eines Gletschers denken und auch an trockenes Eis, das sich nicht mehr von nackter Haut lösen lässt, wenn man es berührt.

Er öffnete den Mund stieß einen langen, tiefen Rülpser aus.

Angewidert wandte ich mich ab, als die Kellnerin eine Serviette vor mir platzierte. »Was kann ich dir bringen?«, fragte sie.

Was Alkoholisches erlaubte mein Budget nicht, aber ich konnte auch nicht den Regen abwarten, ohne etwas zu bestellen. »Mineralwasser?«

»Sie bekommt einen Hendrick’s ohne Eis. Mit einem Zitronentwist.« Der Typ hatte sich stillschweigend, ohne dass ich es mitbekommen hatte, neben mich gesetzt.

Als Erstes überraschte mich sein Akzent – britisch. Als Zweites seine unglaubliche Arroganz. »Nein danke.«

»Der geht auf mich«, sagte er. »Und ich bin normalerweise ziemlich gut darin, zu erraten, welches Getränk typisch für jemanden ist.« Dabei nickte er in Richtung eines allein tanzenden Mädchens im paillettenbestickten Bustier. »Alkoholfreie Margarita oder, Gott bewahre, ein gespritzter Rosé.« Dann deutete er auf zwei Männer in abgestimmter Motorradfahrerkluft. »Fireball Whisky.« Dann zeigte er auf mich. »Martini. Oder liege ich falsch?«

Tatsächlich bevorzugte ich Gin, aber lieber wäre ich gestorben, als ihm gegenüber zuzugeben, dass er das Richtige bestellt hatte.

»Mein Fehler: Mach ihr einen mit drei Blauschimmeloliven!«, rief er der Kellnerin zu und wandte sich dann wieder an mich. »Du magst es schmackhaft, nicht wahr.« Ein Grinsen umspielte seine Lippen. »Vielleicht bist du aber auch geschmacklos.«

Jetzt reichte es mir. Selbst wenn Regen und Wind sich inzwischen zum Hurrikan gesteigert haben sollten, wäre mir das immer noch willkommener, als hier neben diesem selbstgefälligen Idioten zu sitzen. Ich wollte schon nach meinem Bücherstapel greifen, aber da zog er den obersten Folianten herunter, schlug ihn auf und überflog die Hieroglyphen.

»Ägyptologie. Das habe ich nicht kommen sehen.« Er gab mir das Buch zurück. »Bist du ein antikes Artefakt von kultureller Bedeutung?«, murmelte er und rückte dabei noch ein wenig näher. »Ich grab dich nämlich an.«

Ich sah ihn perplex an. »Hat dieser Satz schon jemals funktioniert?«

»Mal ja, mal nein«, entgegnete er. »Ich hab aber noch einen in petto. Stell dir vor, ich bin ein Verfechter des Kulturrelativismus und du nimmst die Missionarsstellung ein, was sagst du dazu?«

»Ich bin froh, dass du’s mit Geschichte hast, denn du bist so was von gestern.« Ich nahm einen großen Schluck vom Martini und sprang vom Barhocker. »Danke für den Drink.«

»Warte.« Er berührte mich am Arm. »Lass mich ganz neu anfangen, ernsthaft. Ich bin Wyatt.«

»Lügner.«

»Wie bitte?«

»Deine Freunde nennen dich Mark.«

»Ach, das ist ein Spitzname, eine Abkürzung für Marquess of Atherton.«

»Du bist ein Marquess?«

»Nein, bin ich nicht.« Er zögerte. »Mein Vater ist der Marquess. Ich bin bloß ein Earl.« Er hob sein Glas an meins und stieß gegen den Rand. »Durch und durch englisch in einer Linie bis zu William dem Eroberer, in ständiger Inzucht, wie ich befürchte.« Dabei lächelte er mich an, ein echtes Lächeln, als wollte er mich in einen Scherz miteinbeziehen. Plötzlich begriff ich, wie er zu einem derart überheblichen Arschloch hatte werden können. Es hatte nichts mit seinem Earl-Sein zu tun. Es war sein Lächeln – breit und fast entschuldigend –, das offenbar jeden auf Anhieb für ihn einnahm.

»Also«, begann er. »Du bist …?«

Ich stellte mein Glas auf den Tresen. »Schon weg«, antwortete ich.

Am nächsten Morgen war ich die Erste in dem kleinen Seminarraum, in den Ian Dumphries, der Leiter des ägyptologischen Instituts in Yale, alle Doktoranden dieses Jahrgangs für den Start ins akademische Jahr eingeladen hatte. Kennengelernt hatte ich ihn bereits bei meinem Bewerbungsgespräch für das Doktorandenprogramm. Anders als viele andere Ägyptologen konzentrierte er sich nicht nur auf Einzelaspekte des Studienfachs wie etwa Lehmziegelarchitektur oder die Schlacht von Kadesch oder ägyptische Grammatik. Die Themen, zu denen er veröffentlichte, waren breit gefächert: das Zweiwegebuch, Archäologe des Mittleren Reichs, Geschichte der ägyptischen Religion und gelegentlich widmete er sich auch einem demotischen Ostrakon, wie man die in verkürzter Kursivschrift beschrifteten Tonscherben nennt. Für die Thematik, die ich in meiner Dissertation behandeln wollte, wünschte ich mir einen aufgeschlossenen Mentor. Dumphries war ein brillanter Kopf, den ich jedoch als einschüchternd empfunden hatte, deshalb überraschte es mich, von ihm namentlich begrüßt zu werden. »McDowell«, sagte er. »Willkommen in Yale.«

Allerdings war der Hauptgrund, weshalb ich an diese Universität gekommen war, die Aussicht, in Deir el-Bersche arbeiten zu können. In den 1890er-Jahren war diese Nekropole die Domäne eines britischen Ägyptologen gewesen, Percy E. Newberry, der gemeinsam mit Howard Carter arbeitete (der später dank Tutanchamun Berühmtheit erlangte.) Die Aufsicht darüber hatte vor 1998, als Yale unter Professor Dumphries die Konzession bekam, häufig gewechselt.

Fünf weitere Doktoranden traten ein, die sich als ganze Gruppe angeregt unterhielten. Es gab im gesamten Institut von Yale nur sieben von uns, was ein weiteres überzeugendes Argument für meine Wahl war. Sie nahmen am Seminartisch Platz und setzten ihr vertrautes Geplauder fort. Ich war die einzige neue Doktorandin in diesem Jahr.

»Schön zu sehen, dass Sie alle den Sommer gut überstanden haben«, sagte Dumphries. »Ich würde Sie gern mit unserem neuesten Opfer bekannt machen, Dawn McDowell. Wir haben sie von Chicago abgeworben. Ich schlage vor, Sie stellen sich ihr alle kurz vor und erzählen ihr, was Sie hierhergeführt hat.«

Neugierig sog ich auf, an welchen Universitäten sie studiert und welche Themen sie für ihre Dissertationen gewählt hatten. Als der letzte Student gerade zum Ende kam, wurde die Tür aufgerissen. Wyatt Armstrong trat ein, in einer Hand eine Schachtel Dunkin’-Donuts-Kaffee und in der anderen Munchkins balancierend. »Entschuldigung für die Verspätung. Es ist eine lange, schmutzige Geschichte mit einem Betonmischer, einem kreischenden Kind und einem Komodowaran, aber anstatt euch alle damit zu langweilen, habe ich Versöhnungsgebäck und mittelprächtigen Kaffee mitgebracht.«

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich ihn, die Chancen abwägend, fassungslos anstarrte. Wie war es möglich, dass ich mir an einer Universität mit siebeneinhalbtausend Doktoranden ausgerechnet das winzige Institut ausgesucht hatte, wo ich auf die eine Person treffen würde, der ich nie wieder begegnen wollte?

Ich fragte mich, wie Dumphries, zugeknöpft und steif, wie er war, reagieren würde, aber er schüttelte nur den Kopf und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Setzen Sie sich, Wyatt«, sagte er in dem Tonfall, den entnervte Eltern einem Kind gegenüber anschlagen, das sie zwar in den Wahnsinn treibt, dem aber insgeheim doch ihre Liebe gehört. »Sie kommen gerade rechtzeitig, um Ms. McDowell zu sagen, wer Sie sind und warum ich Sie hier dulde.«

Wyatt nahm auf dem freien Stuhl neben meinem Platz. Sollte er überrascht sein, mich hier anzutreffen, zeigte er es nicht. »Tja, hallo Olive«, sagte er gedehnt.

»Ich heiße Dawn.«

Er zog eine Braue hoch. »Tatsächlich«, murmelte er. »Ich habe Ägyptologie in Cambridge studiert und bin vor drei Jahren hergekommen. Als erklärter Linguistik-Freak habe ich sämtliche Grundkurse betreut, in denen es um Hieroglyphen, Hieratik und Demotike geht. Der Titel meiner Doktorarbeit lautet ›Rituelle Sprache und eingestreute Sprachmuster in Sargtexten‹. Ich habe sechs Monate gebraucht, um diesen geilen Titel zu finden, also bitte nicht klauen.«

»Die Sargtexte?«, wiederholte ich.

»Dawn hat vor, das Zweiwegebuch zu studieren«, warf Dumphries ein.

Wyatt warf mir einen bohrenden Blick zu. »Dann werden wir zwei ja viele Berührungspunkte haben.«

»Ich bin keine Philologin«, stellte ich klar. »Ich versuche nur, eine Lücke in der Forschung zu füllen.« Zur Erklärung wandte ich mich an die anderen Doktoranden. »Pierre Lacau hat den Text aus dem Zweiwegebuch in Kairo zwischen 1904 und 1906 veröffentlicht, aber man hat die wenigsten Sargtexte tatsächlich Särgen zugeordnet.« Die Worte kamen mir jetzt, da ich mich für mein Lieblingsthema warmlief, schneller über die Lippen. »Mir geht es um die Ikonografie. Man kann sich nicht einfach nur die Karte des Zweiwegebuchs ansehen, ohne an den Sarg als einen Mikrokosmos des Universums zu denken. Stellt euch die Vorderseite des Sargs als den östlichen Horizont vor. Die Rückseite ist der westliche Horizont. Der Boden ist die Unterwelt mit ihrer Karte. Der Deckel ist Nut, die Himmelsgöttin. Wird man also in den Sarg gelegt, ist dies, als würde man in ihren Leib zurückkehren – wiedergeboren werden aus dem Sarg ins Jenseitige. Die Mumie füllt den Raum zwischen Himmel und Erde.«

Dumphries nickte. »Also wird es in Wyatts Doktorarbeit um eine Neuübersetzung des Zweiwegebuchs gehen. Und Dawns Doktorarbeit wird zum ersten Mal all die illustrierten Darstellungen des Zweiwegebuchs zusammenführen.«

Einer der anderen Studenten meinte grinsend: »Ihr solltet es als Set publizieren.«

»Schön, dass Sie das ansprechen«, sagte Dumphries. »Dawn ist zu bescheiden, selbst darüber zu sprechen, aber sie hat bereits ein Kapitel ihrer Dissertation im Journal of the American Research Center in Egypt veröffentlicht.«

Ich errötete. Es kam so gut wie nie vor, dass eine studentische Arbeit von einer Fachzeitschrift für Ägyptologie veröffentlicht wurde, und mir war klar, dass dies mit ein Grund dafür war, warum Yale mich haben wollte. Und ich war sehr stolz darauf. »Der Titel lautete ›Erst der Leichnam vervollständigt den Sarg‹«, ergänzte ich.

Als ich die Hitze von Wyatts Blick spürte, drehte ich mich um. »Der Aufsatz war von dir?«, staunte er.

»Du hast ihn gelesen?«

Er bewegte ruckartig den Kopf, ein angespanntes Nicken. Er schielte auf Dumphries – der so voll des Lobes für mich war – und sah seine Stellung als Lieblingsschüler plötzlich weniger gesichert. In diesem Moment verschloss sich etwas in Wyatt Armstrong, er zog sich hinter einen Panzer zurück.

Während des folgenden Monats gelang es Wyatt und mir ganz hervorragend, einander aus dem Weg zu gehen, es sei denn, wir waren zum Miteinander gezwungen, wie das jeweils am Montag und am Mittwoch um 9.15 Uhr der Fall war, wenn wir beide sechzehn Studenten in Dumphries’ Kurs »Götter des Alten Ägypten« betreuten. Aber selbst dann saßen wir auf entgegengesetzten Seiten des Seminartisches. Im Oktober wurde uns dann mitgeteilt, dass wir Dumphries und den Kurs zu einer Exkursion ins Boston Museum of Fine Arts begleiten würden, wo es eine neue Ausstellung zum Zweiwegebuch gab.

Bisher kannte ich die Karte vom Jenseits nur aus Büchern. Und deshalb würde auch nichts meine Begeisterung, einer tatsächlichen Darstellung des Zweiwegebuchs so nahe zu kommen, trüben. Nicht mal Wyatt.

Am Tag der Exkursion stand Dumphries vor einem Kursraum im Museum und klickte durch eine Reihe von Aufnahmen der Ausgrabungsstätte Deir el-Bersche. »Stellen Sie sich vor, es ist 1915«, begann er, »und Sie sind ein Ägyptologe, der in einer Nekropole des Mittleren Reichs einen zehn Meter tiefen Schacht unter einem Haufen Gestein entdeckt. Sie haben das Geröll beseitigt und sind eben zum ersten Mal in die Grabkammer 10 A gekrochen. Sie warten, bis Ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, und was sehen Sie? Einen Sarg, auf dem eine geköpfte Mumie sitzt.«

Ein Student vor mir schüttelte den Kopf. »Dieser verdammte Indiana-Jones-Scheiß.«

Wyatt, der neben mir stand, prustete los.

»Grabkammer 10 A gehörte einem Gaufürsten namens Djehutinacht und seiner Ehefrau, ebenfalls Djehutinacht genannt.«

Wyatt beugte sich mir zu. »Muss ein ziemliches Chaos beim Sortieren der Post gegeben haben«, murmelte er.

»Sie lebten etwa zweitausend Jahre vor unserer Zeit im Mittleren Reich und regierten eine der Provinzen von Oberägypten. Irgendwann in den viertausend Jahren zwischen ihrem Tod und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert brachen Grabräuber in die Grabkammer ein, stahlen das Gold und das Geschmeide und alles, was sonst von Wert war, und warfen die kopflose Mumie in die Ecke. Dann entfachten sie ein Feuer in der Grabkammer, um keine Spuren zu hinterlassen. Aber ein Teil des Materials überstand das Feuer und wurde von Ägyptologen Harvards 1921 hierher ins Museum von Boston gebracht. Jetzt wird es zum ersten Mal ausgestellt.«

Ich starrte auf das Dia auf der Leinwand: der in zerfranstes Leinen gewickelte Kopf der Mumie, braun von altem Harz. Die Augenbrauen über den leicht gewölbten Augenhöhlen waren mit der Hand aufgemalt. Die Mundwinkel zeigten nach unten, als wäre die Mumie ein wenig enttäuscht.

Ein Student meldete sich. »Wo ist der Rest von ihm?«

»In Ägypten«, erwiderte Dumphries. »Aber ist es denn der Rest von ihm? Oder von ihr? Ist es nicht erstaunlich, dass wir viertausend Jahre Zeit hatten, das herauszufinden, aber noch immer nicht alle Antworten kennen?« Er wechselte zum nächsten Dia. »Bei der Entwicklung der Sargtexte und des Zweiwegebuchs ging es um mehr als Geschmacksveränderungen hinsichtlich des Grabschmucks, denn immer mehr Menschen hatten nun Zugang zu einem seligen Nachleben. Da sich Särge im Mittleren Reich verbreiteten, konnten die Zaubersprüche, die man früher auf kostbaren Papyrus schrieb, nun auf das Holz des Sargs gemalt werden.«

Er klickte weiter, und man sah das vertraute Bild des Zweiwegebuchs mit seinen sich schlängelnden blauen und schwarzen Linien und dem roten See des Feuers, der sie daran hinderte, sich zu überschneiden.

Foto © 2020, Museum of Fine Arts, Boston

»Das Zweiwegebuch ist eine weitere Bestätigung für die Einheit von Re und Osiris«, erläuterte Dumphries. »Hauptzweck von Res Reise durch die Unterwelt ist die Vereinigung mit dem Leichnam des Osiris. Re muss auf den Wegen durch die Unterwelt reisen, um zu Osiris zu gelangen. Um das ewige Leben zu erhalten, muss der Dahingeschiedene sowohl Re als auch Osiris werden.«

Er zog mit dem Finger die welligen Linien des projizierten Bildes nach. »Bedenken Sie, dass im Zweiwegebuch nicht wirklich zwei Wege erwähnt werden. Nur … Wege. Die schwarze und die blaue Straße sind nicht wirklich benannt, aber wir können uns darunter eine Land- und eine Wasserroute in das Jenseits vorstellen, die beide zum selben Ergebnis führen.«

Dumphries blickte sich um und mir wurde klar, dass ich gemeint war. »McDowell«, sagte er. »Erzählen Sie uns, was gemäß dem Zweiwegebuch der Schlüssel zur Wiederauferstehung war.«

»Wissen«, sagte ich und richtete mich auf. »Das ist auch der Grund, warum die Texte ihren Platz im Sarg hatten. Es sind Zaubersprüche für den Hingeschiedenen, die er braucht, um sämtliche Hindernisse auf seinem Weg zum Schrein des Osiris zu überwinden.«

»Genau. Und offen gestanden, wer kann schon auf Wissen verzichten, um die Herausforderungen dieser Welt … oder der nächsten zu überleben?« An die Studenten gewandt sagte er: »Noch Fragen?«

Ein Student meldete sich. »Ist das wichtig für die Zwischenprüfung?«

Dumphries überging ihn mit einem verächtlichen Blick. »Der Nächste?«

»Musste man sehr reich sein, um sich das Zweiwegebuch in den Sarg malen zu lassen?«, wollte ein anderer Student wissen.

»Alles, was wir in Bersche gefunden haben, stammte von Adeligen aus dem Hare-Gau, aber ein guter Tod hing nicht vom wirtschaftlichen Status ab. Jeder Ägypter konnte zu einem Ach werden – einer verwandelten Seele.«

Eine Studentin fragte: »Wie steht es mit den Geschlechtern? Bekamen auch Frauen die Karte?«

»Ja«, sagte Dumphries, »man hat sie auch in den Gräbern von adeligen Frauen gefunden.«

Wyatt verschränkte die Arme. »Es gibt Ägyptologen, die behaupten, dass Frauen männliche Charakteristika annehmen mussten, um zu Osiris werden zu können, vergleichbar einer Pharaonin, die den rituellen falschen Bart des Königs trägt.«

»Das bezweifele ich«, wandte ich ein. »Das Wort Leiche ist im Altägyptischen bereits feminin. Und es gibt den Sarg einer Frau aus dem Mittleren Reich, in dem alle Pronomen der Zaubersprüche für die Verstorbene von männlich nach weiblich abgeändert wurden.«

Wyatt und ich starrten einander kämpferisch an, während Dumphries den Projektor ausschaltete. »Wenn Mami und Papi ihren Streit beendet haben«, warf er trocken ein, »werden wir euch im Museum von der Leine lassen. Armstrong, McDowell, ich übergebe euch den Stab.«

Während Dumphries mit dem Kurator des Museums aufbrach, um sich die Objekte aus Bersche anzusehen, die nicht ausgestellt waren, scheuchten Wyatt und ich die Studenten durch das Museum. Er hatte die Leitung inne, außerdem war er versierter als ich darin, über Hieroglyphen zu dozieren. Und ich musste zugeben, dass er das sehr gut machte.

Wyatt scharte die Studenten in einem Halbkreis um den Eingang zur neuen Ausstellung. Sie hielten einen Stapel mit den von den Särgen kopierten Hieroglyphen in der Hand, vor denen wir nun gleich stehen würden. Die Mädchen und auch einige der Jungs starrten Wyatt an, als hätte er gerade den Kosmos erschaffen. Mir war bekannt, dass es Studentinnen und Studenten gab, die sich für Dumphries Kurse wegen seines britischen wissenschaftlichen Assistenten einschrieben, der, wenn man dem Klatsch Glauben schenken konnte, offenbar Harrison Ford und die Wiederkunft des Herrn in einer Person war.

»Wir neigen zu einer Schwarz-Weiß-Sicht auf die Bildung im Alten Ägypten – entweder man konnte lesen oder nicht. Doch tatsächlich gab es im Altertum ein Kontinuum. Als Priester oder Bürokrat lernte man die Hieroglyphen. Wurde man zum Schreiber ausgebildet, lernte man die hieratische Schrift – die kursive Form der Hieroglyphen – für den Alltagsgebrauch in Verträgen und Testamenten und Urkunden in den Dörfern. Aber wer sich im öffentlichen Raum bewegte, verstand die grundlegenden Symbole, wie wir ein Stoppschild aufgrund seiner Form erkennen, auch ohne die Buchstaben darauf lesen zu können. Ihr alle werdet hoffentlich das Lektüreniveau eines Bürokraten erlangen. Lasst uns also damit anfangen.«

Die Entwicklung unseres Alphabets haben wir den alten Ägyptern zu verdanken. Reisende aus dem semitischen Kulturkreis, die aus dem jetzigen Israel nach Ägypten kamen, kannten kein Schreibsystem. Als sie sahen, dass die Ägypter ihre Namen auf Felsen schrieben, wollten sie es ihnen gleichtun. Sie griffen sich die Hieroglyphen heraus, die für Gebräuchliches standen – Wasser, ein Auge, einen Stierkopf –, und benutzten diese, um damit die Anfangsbuchstaben jener Worte in ihrer eigenen Sprache zu gestalten.

Wyatt betrat den Ausstellungsraum und blieb vor dem Schaukasten mit der äußeren Tafel von Djehutinachts Sarg stehen. Ich überflog die auf das alte Zedernholz gemalten Hieroglyphenspalten und suchte nach dem Namen des Besitzers.

Der Ibis stand für Djehuti – der altägyptische Name des Gottes Thot. Die Wellenlinie stand für Wasser, den Buchstaben n. Der Ast darunter war khet. Der Kreis mit den horizontalen Linien war ch – eine Wiederholung der Laute für den Ast – und der Brotlaib war t. Das Übersetzen von Hieroglyphen erfolgt in zwei Schritten. Zuerst werden die Laute der Hieroglyphen in einer Schrift wiedergegeben, die alphabetische Zeichen verwendet. Die Transliteration war also ḏḥwty-nḫt–

»Djehutinachts Sarg«, verkündete Wyatt. »Was müssen wir als Erstes herausfinden?«

»Zu welcher Seite die Gesichter der Zeichen ausgerichtet sind«, meldete sich ein Mädchen zu Wort. »Weil man zu den Gesichtern hin liest.«

»Richtig. In diesem Fall zeigt der Vogelkopf nach links und das bedeutet …?« Er sah das Mädchen an.

»Wir lesen die Spalten des Texts von links nach rechts.«

»Ganz genau. Einer der Gründe, weshalb es so lange gedauert hat, die Hieroglyphen zu entziffern, ist nämlich der, dass sie nicht rein phonetisch oder rein ideografisch sind. Es ist eine Mischung davon mit einem zusätzlich eingefügten Zeichentypus, der für weitere Verwirrung sorgt – einem Determinativ. Determinative sind wie Hinweise, die einem Informationen zu den Bedeutungen der Worte in ihrem Umfeld geben.«

Die Studenten rückten näher heran und betrachteten die Bilder auf der Außenseite von Djehutinachts Sarg. Sie waren von einem grünlichen Blau, manche davon hoben sich kräftig vor einem eierschalenfarbenen Streifen ab, andere waren so blass, dass man sie kaum von der Holzmaserung unterscheiden konnte. »Wer findet ein Ideogramm?«, fragte Wyatt.

Ein Student neben ihm zeigte auf die schmale Hundefigur, die auf einem Sockel hockte. »Der Schakal.«

»Sehr gut. Der Schakal ist der Gott Anubis oder Inpu, wie er im Altägyptischen genannt wurde. Die Hieroglyphe schreibt seinen Namen. Aber was kommt vorneweg?«

Er unterstrich mit seiner Fingerspitze eine Reihe von Zeichen auf der Scheibe.

Es war eine der allerersten Hierglyphen-Kombinationen, die ich je gelernt hatte, weil sie so oft vorkam.

»Hotep di nisu«, las Wyatt vor. »Eine Opfergabe des Königs zugunsten von …?«

»Anubis«, sagte der junge Mann, der auf den Schakal zeigte. »Der Gott der Einbalsamierung.«

»Richtig. Er ist ziemlich wichtig für die Mumien«, meinte Wyatt und grinste. »Und Väter. Was noch? Was bedeuten diese vier zusammengebundenen Töpfe?«

»Dass sich darin die Opfergaben befinden?«, schlug einer vor.

»Nein, denn es ist kein Ideogramm«, widersprach eine Studentin. »Es ist eine phonetische Hieroglyphe. Das Bild der zusammengebundenen Töpfe schreibt das Wort khenet. Das hat nichts mit Töpfen zu tun. Es ist nichts weiter als eine Schummelei, drei Buchstaben des Alphabets zu schreiben: khn-n-t.«

Wyatts Augenbrauen schossen nach oben. »Gut gemacht.«

Die Wangen des Mädchens liefen rot an. »Das von Ihnen zu hören bedeutet mir so viel!«

»Ach du lieber Himmel«, sagte ich vor mich hin.

Als er eine weitere Transliterationsübung begann, fiel mein Blick auf ein Modell, das man in Grabkammer 10 A zusammen mit den Särgen der Djehutinachts gefunden hatte. Zwei holzgeschnitzte Weber knieten vor einem Webstuhl. Die Frauen vor ihnen spannen Flachs. Unglaublich, dass nach viertausend Jahren die Flachsfäden und der Webstuhl noch intakt waren, genauso wie sie es wohl an dem Tag gewesen waren, an dem man sie mit den anderen Modellen, dem Geschirr und den Uschebti-Statuetten in die Grabkammer gestellt hatte.

»Zeit für eine Schnitzeljagd«, verkündete Wyatt, während er eine Liste der Objekte austeilte. »Sucht euch einen Partner oder eine Partnerin, ihr arbeitet in Zweierteams. »Die Antworten findet ihr irgendwo in dieser Ausstellung. Das erste Paar, das mit den Fotos auf dem Mobiltelefon zurückkommt, bekommt zehn Punkte für die nächste Hausaufgabe gutgeschrieben. Und los!« Als sich die Studenten verteilten, meinte er an mich gewandt: »War ich auch mal so dumm?«

»Willst du darauf wirklich eine Antwort hören?«, entgegnete ich.

Wyatt wanderte zu den Särgen der Djehutinachts. »Nein«, sagte er. »Aber sieh dir das an.«

Wir standen beide hypnotisiert vor dem Zweiwegebuch im Sarginneren von Gaufürst Djehutinacht. Da war das rote Rechteck der Tür zum Horizont. Die blaue Wasser- und die schwarze Landroute durch die Unterwelt. Die blutrote Linie zwischen den beiden, ein Feuersee. Nachdem ich dies so viele Jahre lang anhand von Abbildungen und Zeichnungen studiert hatte, kam ich mir nun vor, als wäre ich am Heiligen Gral angelangt, wenngleich verschlossen hinter einem Glasschaukasten.

»Ich frage mich, wer wohl als Erster erkannt hat, dass es sich um eine Landkarte handelt«, murmelte Wyatt.

»Na ja, der Sarg war nicht leer. Es liegt auf der Hand, dass der Verstorbene sich erheben und auf einen der beiden Pfade begeben sollte, um zum Opfergefilde zu gelangen.«

»Ich möchte ja deine Theorie nicht zerpflücken«, sagte Wyatt, »aber dieses Zweiwegebuch befand sich an der Wand von Djehutinachts Sarg. Was deine Aussage gewissermaßen widerlegt.«

Ich rückte von ihm ab und starrte auf die üppig bemalte Zederntafel der Vorderseite im Inneren des äußeren Sargs. Es gab eine Scheintür, durch die der