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»Mein Sohn ist anders. Aber er ist kein Mörder.«
Jacob hasst die Farbe Orange. Und er hasst es, wenn sein gewohnter Tagesablauf gestört wird. Routinen sind für ihn lebenswichtig, denn er leidet unter dem Asperger-Syndrom. Doch dann wird seine Erzieherin erschlagen, und Jacob wird des Mordes verdächtigt. Die von seiner Mutter Emma mühsam erkämpfte 'Normalität' bricht zusammen. Alle Beweise sprechen gegen Jacob. Doch Emma nimmt den Kampf auf. Denn es geht darum, ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren - und um die Rechte von Menschen, die anders sind.
Ein hochspannender, bewegender Familienroman von der US-Bestsellerautorin Jodi Picoult. Der Roman erschien im Original unter dem Titel House Rules.
»Sie wollen ein Buch, dessen Bann Sie nicht mehr loslässt? Dann ist In den Augen der anderen ein Muss!« Pittsburgh Tribune
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»Mein Sohn ist anders. Aber er ist kein Mörder.«
Jacob hasst die Farbe Orange. Und er hasst es, wenn sein gewohnter Tagesablauf gestört wird. Routinen sind für ihn lebenswichtig, denn er leidet unter dem Asperger-Syndrom. Doch dann wird seine Erzieherin erschlagen, und Jacob wird des Mordes verdächtigt. Die von seiner Mutter Emma mühsam erkämpfte ›Normalität‹ bricht zusammen. Alle Beweise sprechen gegen Jacob. Doch Emma nimmt den Kampf auf. Denn es geht darum, ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren - und um die Rechte von Menschen, die anders sind.
JODI PICOULT
In den Augen der anderen
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher
Für Nancy Friend Stuart (1949–2008) und David Stuart
Auf den ersten Blick sah sie wie eine Heilige aus. Dorothea Puente vermietete in den Achtzigern Zimmer an Alte und Behinderte in Sacramento, Kalifornien. Doch dann verschwanden ihre Mieter einer nach dem anderen. Sieben Leichen wurden in ihrem Garten gefunden und in den Körpern Spuren von verschreibungspflichtigen Schlafmitteln. Puente wurde des Mordes aus niederen Beweggründen angeklagt. Sie wollte an die Pensionsschecks ihrer Mieter kommen, um damit Schönheitsoperationen und teure Kleidung zu finanzieren. So versuchte sie, das Bild der vornehmen Dame aufrechtzuerhalten, das sie in der feinen Gesellschaft Sacramentos von sich erschaffen hatte. Sie wurde in neun Fällen des Mordes angeklagt und für drei verurteilt.
Im Jahre 1998, während sie zwei aufeinander folgende lebenslange Haftstrafen absaß, begann Puente, mit einem Schriftsteller namens Shane Bugbee zu korrespondieren. Sie schickte ihm Rezepte, die schließlich in einem Buch mit dem Titel Kochen mit einem Serienkiller veröffentlicht wurden.
Halten Sie mich für verrückt, aber ich würde dieses Essen nicht mal mit der Kneifzange anfassen.
Wo ich auch hinschaue, sehe ich Kampfspuren. Die Post liegt auf dem Küchenboden verstreut, die Hocker sind umgestoßen, das Telefon ist aus seiner Halterung gerissen worden, der Akku hängt an den Kabeln heraus. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer findet sich ein einzelner, schwacher Fußabdruck und deutet in Richtung der Leiche meines Sohnes Jacob.
Jacob liegt vor dem Kamin und hat alle viere von sich gestreckt. Seine Schläfen und Hände sind voller Blut. Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt, kann nicht mehr atmen.
Plötzlich setzt er sich auf. »Mom«, sagt Jacob, »du versuchst es ja noch nicht einmal.«
»Das ist nur gespielt«, erinnere ich mich selbst und schaue zu, wie er sich wieder genauso hinlegt wie zuvor – auf den Rücken, die Beine nach links verdreht.
»Äh … Es hat einen Kampf gegeben …«, sage ich.
Jacobs Mund bewegt sich kaum. »Und …?«
»Jemand hat dir auf den Kopf geschlagen.« Ich knie mich hin, wie er es mir schon hundert Mal erklärt hat, und bemerke die schwere Uhr aus Kristallglas, die normalerweise auf dem Kaminsims steht, nun aber unter der Couch liegt. Vorsichtig hebe ich sie auf und sehe das Blut an einer Ecke. Mit dem kleinen Finger berühre ich die Flüssigkeit und lecke daran. »Oh, Jacob, sag mir jetzt nicht, dass du wieder den ganzen Sirup aufgebraucht hast …«
»Mom! Konzentrier dich!«
Ich setze mich auf die Couch und halte die Uhr in den Händen. »Es hat einen Einbruch gegeben, und du hast dich den Einbrechern entgegengestellt.«
Jacob setzt sich auf und seufzt. Die Mischung aus Lebensmittelfarbe und Sirup hat sein dunkles Haar verklebt. Seine Augen leuchten, aber er schaut mir nicht in meine Augen. »Glaubst du wirklich, ich würde zweimal den gleichen Tatort aufbauen?« Er öffnet seine Faust, und ich sehe ein Büschel blonden Haars. Jacobs Vater ist blond … oder zumindest war er das, als er mich vor fünfzehn Jahren mit Jacob und Theo, Jacobs blondem kleinen Bruder, sitzenließ.
»Theo hat dich ermordet?«
»Also wirklich, Mom, ein Kindergartenkind könnte diesen Fall lösen«, tadelt mich Jacob und springt auf. Falsches Blut tropft ihm vom Gesicht, doch er bemerkt es nicht. Ich glaube, wenn er auf einen Tatort fixiert ist, könnte eine Atombombe neben ihm detonieren, und er würde noch nicht einmal mit der Wimper zucken. Er geht zu dem Fußabdruck und deutet darauf. Als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass es sich um den Abdruck eines der Skateboard-Sneaker handelt, für die Theo seit Monaten gespart hat. Ein Teil des in die Sohle gebrannten Firmenlogos – NS – ist deutlich zu erkennen. »In der Küche ist es zu einem Streit gekommen«, erklärt Jacob. »Er endete damit, dass ich zur Selbstverteidigung das Telefon nach Theo geworfen habe. Dann bin ich ins Wohnzimmer geflüchtet, wo Theo mir gezeigt hat, was die Stunde geschlagen hat.«
Ich muss ein wenig lächeln. »Wo hast du den Ausdruck denn her?«
»CrimeBusters, Folge 43.«
»Nun, weißt du … das bedeutet eigentlich, jemandem zu sagen, wie spät es ist, aber nicht, ihn mit einer Uhr zu schlagen.«
Jacob blinzelt mich ausdruckslos an. Er lebt in einer wörtlichen Welt. Das ist eines der Kennzeichen seiner Krankheit. Als wir vor Jahren nach Vermont gezogen sind, hat er mich gefragt, wie es da so sei. »Ziemlich grün«, habe ich geantwortet. »Und Hügel wie Wellen.« Er brach in Tränen aus. »Aber dann ertrinken wir doch, oder?«, hat er damals gesagt.
»Aber was war das Motiv?«, fragt er nun, und wie aufs Stichwort poltert Theo die Treppe herunter.
»Wo steckt der Freak?«, brüllt er.
»Theo, du sollst deinen Bruder nicht …«
»Ich werde aufhören, ihn einen Freak zu nennen, wenn er aufhört, Sachen aus meinem Zimmer zu klauen.« Instinktiv trete ich zwischen Theo und seinen Bruder, obwohl Jacob einen Kopf größer ist als wir beide.
»Ich habe nichts aus deinem Zimmer gestohlen«, wehrt Jacob sich.
»Ach ja? Und was ist mit meinen Sneakern?«
»Die waren in der Abstellkammer«, erklärt Jacob.
»Spasti«, knurrt Theo vor sich hin, und ich sehe ein Funkeln in Jacobs Augen.
»Ich bin kein Spasti«, faucht er und stürzt sich auf seinen Bruder.
Ich halte ihn fest. »Jacob«, ermahne ich ihn, »du darfst dir nichts von Theo nehmen, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu bitten. Und Theo, ich will dieses Wort nie wieder hören, sonst schnappe ich mir deine Sneakers und werfe sie in den Müll. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Ich bin weg«, schnaubt Theo und stapft zur Abstellkammer. Einen Augenblick später höre ich die Tür knallen.
Ich folge Jacob in die Küche und schaue zu, wie er sich in eine Ecke zurückzieht. »Was wir hier haben«, murmelt er übertrieben gedehnt, »ist … ein schwerwiegendes Kommunikationsproblem.« Er hockt sich hin und schlingt die Arme um die Knie.
Wenn er nicht weiß, wie er seine Gefühle in Worte fassen soll, leiht Jacob sich die eines anderen. In diesem Fall stammen sie aus Der Unbeugsame. Wenn Jacob einen Film einmal gesehen hat, erinnert er sich an jede Zeile daraus.
Ich habe viele Eltern von Kindern am unteren Ende der Autismusskala kennengelernt, von Kindern, die das genaue Gegenteil von Jacob mit seinem Asperger-Syndrom sind. Und diese Eltern haben mir immer gesagt, was für ein Glück ich mit meinem gesprächigen Sohn hätte, mit einem Sohn, der schier unglaublich intelligent ist und eine defekte Mikrowelle in nur einer Stunde wieder hinkriegt. Sie glauben, es gebe keine schlimmere Hölle, als einen Sohn zu haben, der ganz in seiner eigenen Welt gefangen ist und nichts, wirklich rein gar nichts von der größeren um sich herum weiß. Aber haben Sie mal einen Sohn, der in seiner eigenen Welt feststeckt und trotzdem Kontakt mit der Welt draußen aufnehmen will – mit einem Sohn, der wie alle anderen sein will, aber nicht weiß, wie das geht.
Ich strecke die Hand aus, um ihn zu trösten, halte mich dann jedoch zurück. Selbst bei der kleinsten Berührung kann Jacob explodieren. Er mag weder Händeschütteln noch Schulterklopfen oder Haareraufen.
»Jacob …«, beginne ich, aber dann erkenne ich, dass er überhaupt nicht schmollt. Er hebt den Telefonhörer hoch, über dem er kauert, damit ich den schwarzen Fleck auf der Seite sehen kann. »Du hast auch einen Fingerabdruck übersehen«, verkündet Jacob fröhlich. »Ich will dich ja nicht beleidigen, aber als Kriminaltechnikerin bist du einfach mies.« Er reißt ein Blatt von der Küchenrolle ab und macht es in der Spüle feucht. »Keine Sorge. Ich werde das Blut wegwischen.«
»Du hast mir gar nicht gesagt, was für ein Motiv Theo gehabt hat, dich zu ermorden.«
»Oh.« Jacob schaut über die Schulter, und ein böses Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Ich hatte seine Sneaker gestohlen.«
Für mich beschreibt der Begriff »Asperger-Syndrom« nicht die Eigenschaften, die Jacob besitzt, sondern die, die er verloren hat. Er war ungefähr zwei Jahre alt, als er zu sprechen begann, keinen Augenkontakt mehr herstellte und andere Menschen mied. Entweder konnte er uns nicht hören, oder er wollte nicht. Eines Tages habe ich ihn beobachtet, wie er neben seinem Spielzeugtruck auf dem Boden saß. Er drehte die Räder, sein Gesicht war nur wenige Zoll von meinem entfernt, und ich dachte: Wo bist du hingegangen?
Ich suchte nach Entschuldigungen für sein Verhalten. Er kauerte sich im Supermarkt natürlich nur deswegen immer im Einkaufswagen zusammen, weil es im Geschäft zu kalt war. Die Wäscheschildchen, die ich immer aus seinen Kleidern herausschneiden musste, waren natürlich nur besonders kratzig. Als er keinen Kontakt zu anderen Kindern im Kindergarten zu bekommen schien, habe ich eine kompromisslose Geburtstagsparty für ihn organisiert, mit Wasserbombenschlacht und Topfschlagen. Dann habe ich plötzlich bemerkt, dass Jacob verschwunden war. Ich war im sechsten Monat schwanger und hysterisch vor Angst. Die anderen Eltern suchten im Hof, auf der Straße und im Haus. Schließlich war ich diejenige, die ihn fand. Er saß im Keller und steckte immer wieder ein und dieselbe Kassette in den Videorekorder und holte sie heraus.
Als seine Krankheit schließlich diagnostiziert wurde, bin ich in Tränen ausgebrochen. Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass das 1995 war. Damals beschränkten sich meine Erfahrungen mit Autismus auf Dustin Hoffman in Rain Man. Dem Psychiater zufolge, den wir als Erstes aufgesucht haben, litt Jacob an einer merklichen Beeinträchtigung seines Sozialverhaltens allerdings ohne die Sprachdefizite, die andere Formen von Autismus kennzeichnen. Erst Jahre später haben wir zum ersten Mal den Begriff »Asperger-Syndrom« gehört – vorher war das auch bei der Diagnostik noch viel zu unbekannt gewesen. Zu dem Zeitpunkt war Henry, mein Ex, schon längst ausgezogen und hatte mich mit Jacob und Theo allein zurückgelassen. Henry war Programmierer. Er arbeitete daheim und konnte es einfach nicht ertragen, wenn Jacob wieder einmal einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam und das aus den nichtigsten Gründen. Mal war das Licht im Badezimmer zu grell, dann störte ihn das Geräusch eines UPS-Wagens in der Einfahrt oder die Zusammensetzung des Müslis zum Frühstück. Zu dieser Zeit war ich fast ausschließlich mit den Therapeuten beschäftigt, die ständig bei uns ein und aus gingen und versuchten, Jacob aus seiner eigenen kleinen Welt zu zerren. »Ich will mein Haus wieder zurück«, sagte Henry eines Tages. »Ich will dich wieder zurück.«
Doch dank der Verhaltens- und Sprachtherapie hatte Jacob wieder begonnen, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Ich sah die Verbesserung, und so blieb mir keine Wahl.
An dem Abend, als Henry ging, saßen Jacob und ich am Küchentisch und spielten ein Spiel. Ich verzog das Gesicht, und er versuchte zu raten, welche Gefühle ich damit ausdrücken wollte. Ich lächelte und weinte gleichzeitig und wartete darauf, dass Jacob mir sagte, ich sei glücklich.
Henry lebt jetzt mit seiner neuen Familie im Silicon Valley. Er arbeitet für Apple, und er spricht nur selten mit den Jungs, obwohl er jeden Monat pflichtbewusst Unterhalt zahlt.
Henry war schon immer gut im Organisieren … und mit Zahlen. Er kann sich einen kompletten Artikel aus der New York Times merken und ihn auswendig zitieren, was in der ersten Zeit, als wir miteinander ausgingen, ja sooo akademisch und sexy auf mich gewirkt hatte. Dabei war es eigentlich nichts anderes als das Verhalten, das auch Jacob mit sechs Jahren zum ersten Mal zeigte, als er das gesamte Fernsehprogramm auswendig konnte, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. Erst Jahre nachdem Henry uns verlassen hatte, habe ich das mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht.
Es wird viel darüber diskutiert, ob man das Asperger-Syndrom dem Autismus zurechnen soll oder nicht, aber um ehrlich zu sein, es ist egal. Es ist eben der Begriff, den wir benutzen, damit Jacob in der Schule das Umfeld bekommt, das er braucht, nicht um zu erklären, wer er ist. Wenn Sie ihm heute begegnen, werden Sie vermutlich als Erstes denken, dass er vergessen hat, das Hemd zu wechseln oder sich die Haare zu kämmen. Wenn Sie mit ihm sprechen wollen, müssen Sie das Gespräch beginnen. Er wird Ihnen nie in die Augen schauen, und wenn Sie mit jemand anderem sprechen, vielleicht nur ganz kurz, werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass er in der Zwischenzeit den Raum verlassen hat.
Samstags gehen Jacob und ich Essen kaufen.
Das ist Teil seines gewohnten Tagesablaufs, soll heißen, wir weichen nur selten davon ab. Alles Neue muss lange im Voraus eingeführt werden, damit er sich entsprechend darauf vorbereiten kann – egal ob es sich dabei um einen Zahnarzttermin handelt, einen Urlaub oder um einen neuen Schüler in seinem Mathematikunterricht.
Ich weiß, dass er seinen »Tatort« bis elf Uhr aufgeräumt haben wird, denn dann öffnet die Frau mit den Probierhäppchen ihren Stand vor dem Supermarkt. Inzwischen kennt sie Jacob, und für gewöhnlich gibt sie ihm zwei Minikuchen, Bruschetta oder was auch immer sie gerade im Angebot hat.
Theo ist noch nicht wieder zurück, also hinterlasse ich ihm eine Nachricht, obwohl er unseren Terminplan genauso gut kennt wie ich. Als ich mir Mantel und Handtasche schnappe, sitzt Jacob bereits hinten im Auto. Ihm gefällt es auf dem Rücksitz, denn da kann er sich ausbreiten. Er hat keinen Führerschein, obwohl wir seit seinem achtzehnten Geburtstag regelmäßig darüber diskutieren, und immerhin sind jetzt schon zwei Jahre vergangen, seit er ihn hätte machen können. Jacob weiß bis ins kleinste Detail, wie eine Verkehrsampel funktioniert, und vermutlich könnte er sie ohne Probleme auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, aber ich bin nicht sicher, dass er sich daran erinnert, wann er fahren darf und wann nicht, wenn plötzlich Fahrzeuge aus verschiedenen Richtungen auf eine Kreuzung zurollen.
»Was hast du noch an Hausaufgaben?«, frage ich, als wir die Ausfahrt runterfahren.
»Nur noch dieses blöde Englisch.«
»Englisch ist nicht blöd«, sage ich.
»Aber mein Englischlehrer.« Er verzieht das Gesicht. »Mr. Franklin hat uns einen Aufsatz über unser Lieblingsthema aufgegeben. Ich wollte über das Mittagessen schreiben, doch er lässt mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er sagt, das Mittagessen sei kein Thema.«
Ich schaue ihn an. »Das ist es auch nicht.«
»Nun«, sagt Jacob, »ein Rhema ist es aber auch nicht, und das sollte er doch wohl wissen.«
Ich verkneife mir ein Lächeln. Je nachdem kann Jacobs wörtliche Interpretation der Dinge entweder sehr lustig oder extrem frustrierend sein. Im Rückspiegel sehe ich, wie er den Daumen auf die Fensterscheibe drückt. »Es ist zu kalt für Fingerabdrücke«, bemerke ich beiläufig – auch das ist etwas, das er mir beigebracht hat.
»Aber weißt du auch warum?«
»Äh …« Ich schaue ihn wieder an. »Beweise lösen sich bei Minustemperaturen auf?«
»In der Kälte ziehen sich die Poren zusammen«, erklärt Jacob, »dadurch werden weniger Schweiß und andere Körperflüssigkeiten abgesondert, und das wiederum verhindert, dass auf Oberflächen wie Glas ein eindeutiger Abdruck zurückbleibt.«
»Das wäre mein zweiter Gedanke gewesen«, scherze ich.
Früher habe ich Jacob »mein kleines Genie« genannt, denn schon als kleines Kind hat er mir die Dinge auf diese Weise erklärt. Ich erinnere mich noch daran, wie er einmal das Türschild eines Arztes vorgelesen hat, als ein Postbote vorbeikam – damals war er vier. Der Kerl hörte gar nicht mehr auf, ihn anzustarren, aber man hört ja auch nicht allzu oft, wie ein Kindergartenkind das Wort »Gastroenterologie« fehlerfrei ausspricht.
Ich fahre auf den Parkplatz, lasse die erste Parklücke aber links liegen, denn daneben parkt ein leuchtend orangefarbener Wagen, und Jacob hasst Orange. Ich merke, wie er die Luft anhält, bis wir an dem Auto vorbei sind. Schließlich steigen wir aus, und Jacob holt einen Einkaufswagen. Dann gehen wir hinein.
Dort, wo normalerweise die Frau mit den Probierhäppchen steht, ist niemand.
»Jacob«, sage ich sofort, »das ist nicht schlimm.«
Er schaut auf seine Uhr. »Es ist Viertel nach elf. Sie kommt um elf und geht um zwölf.«
»Es muss etwas passiert sein.«
»Sie ist am Fuß operiert worden«, ruft ein Angestellter, der in Hörweite Karotten stapelt. »In vier Wochen ist sie wieder da.«
Jacob beginnt, mit der flachen Hand auf sein Bein zu schlagen. Ich schaue mich in dem Laden um und versuche einzuschätzen, ob ich mehr Aufsehen erregen würde, wenn ich ihn hinausschaffe, bevor er einen richtigen Zusammenbruch erleidet, oder ob es mir rechtzeitig gelingen könnte, ihn zu beruhigen. »Weißt du noch, wie Mrs. Pinham drei Wochen nicht in die Schule kommen konnte, weil sie eine Gürtelrose hatte?«, sage ich. »Sie hat dir auch nicht vorher Bescheid geben können. Hier ist das genauso.«
»Aber es ist Viertel nach elf«, sagt Jacob.
»Mrs. Pinham ist wieder gesund geworden, nicht wahr? Und dann war alles wieder wie immer.«
Inzwischen starrt der Karottenmann uns an. Warum sollte er das auch nicht tun? Jacob sieht wie ein vollkommen normaler junger Mann aus, ganz offensichtlich intelligent. Aber wenn sein normaler Tagesablauf durchbrochen wird, fühlt er sich vermutlich so, wie ich mich fühlen würde, wenn ich plötzlich mit einem Bungee-Seil vom Sears Tower springen müsste.
Als ein leises Knurren in Jacobs Kehle aufsteigt, weiß ich, dass es kein Halten mehr gibt. Er weicht vor mir zurück und prallt gegen ein Regal voller Gläser mit eingelegtem Gemüse. Ein paar Gläser fallen zu Boden, und das Klirren bringt das Fass zum Überlaufen. Plötzlich schreit Jacob – ein hohes, kreischendes Geräusch, der Soundtrack meines Lebens. Er bewegt sich blind und schlägt nach mir, als ich nach ihm greife.
Es sind nur dreißig Sekunden, doch dreißig Sekunden können eine Ewigkeit sein, wenn alle Blicke auf einen gerichtet sind und man seinen sechs Fuß großen Sohn zu Boden ringt und ihn mit dem ganzen Gewicht dort festhält, bis er sich wieder beruhigt hat. Ich drücke meine Lippen auf sein Ohr. »I shot the sheriff«, singe ich, »but I didn’t shoot the deputy …«
Schon als kleines Kind hat Bob Marleys Text ihn immer beruhigt. Es gab Zeiten, da habe ich den Song vierundzwanzig Stunden am Stück gespielt, um Jacob ruhigzustellen. Selbst Theo kannte den Text schon als Zweijähriger. Und wirklich löst sich die Spannung in Jacobs Muskeln, und seine Arme erschlaffen. Eine einzelne Träne rinnt aus seinem Augenwinkel. »I shot the sheriff«, flüstert er, »but I swear it was in self-defense …«
Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und zwinge ihn, mir in die Augen zu schauen. »Ist jetzt alles wieder okay?«
Er zögert, als müsse er erst Inventur machen. »Ja.«
Ich setze mich wieder auf und knie in einer Pfütze aus Gurkensaft. Jacob setzt sich ebenfalls und zieht die Knie an die Brust.
Zuschauer haben sich um uns herum versammelt. Neben dem Karottenmann sind da noch der Filialleiter, mehrere Kunden und zwei sommersprossige Zwillingsmädchen. Sie alle starren mit jener seltsamen Mischung aus Entsetzen und Mitleid auf Jacob herab, die uns folgt, wo auch immer wir hingehen. Jacob könnte keiner Fliege was zuleide tun, und das meine ich wörtlich und nicht im übertragenen Sinn. Ich habe gesehen, wie er während einer dreistündigen Fahrt eine Spinne in der Hand gehalten hat, um sie wieder freizulassen, als wir angekommen waren. Aber ein Fremder, der einen großen, muskulösen Mann sieht, der Regale umwirft, geht nun einmal nicht davon aus, dass der arme Kerl einfach nur enttäuscht ist, er hält ihn für gewalttätig.
»Er ist autistisch«, sage ich gereizt. »Haben Sie sonst noch Fragen?«
Ich habe festgestellt, dass Wut in so einer Situation am besten funktioniert. Sie ist wie ein Stromschlag, durch den die Menschen sich von der Katastrophe abwenden. Als wäre nichts geschehen, legen die Kunden wieder Obst in ihre Einkaufswagen und suchen nach Shampoo. Die beiden kleinen Mädchen huschen den Gang mit den Milchprodukten hinunter. Der Karottenmann und der Filialleiter stellen keinen Augenkontakt her, und das kommt mir nur gelegen. Mit ihrer morbiden Neugier komme ich zurecht, es ist ihre Freundlichkeit, die mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt.
Jacob schlurft hinter mir her, während ich den Einkaufswagen an den Regalen vorbeischiebe. Seine Hand zuckt noch immer leicht, aber er reißt sich zusammen.
Ich wünsche mir nichts so sehr für Jacob, als dass es keine Momente wie diese mehr für ihn geben würde.
Und es ist meine größte Angst, dass ich einmal nicht da sein werde, wenn es doch passiert, denn dann werden die Menschen das Schlimmste von ihm denken.
Mein Bruder ist der Grund dafür, dass ich mit insgesamt vierundzwanzig Stichen im Gesicht genäht wurde. Zehn von ihnen haben eine Narbe quer durch meine linke Augenbraue hinterlassen. Das war damals, als Jacob meinen Hochstuhl umgestoßen hat, ich war gerade acht Monate alt. Die anderen vierzehn Stiche befinden sich an meinem Kinn. Weihnachten 2003 habe ich mich so sehr über irgendein dummes Geschenk gefreut, dass ich das Geschenkpapier zerknüllt habe, das Geräusch war der Grund dafür, dass Jacob durchgedreht ist. Ich erzähle Ihnen das nicht wegen meines Bruders, das mache ich wegen meiner Mutter, die Ihnen sagen wird, Jacob sei nicht gewalttätig, doch ich bin der lebende Gegenbeweis.
Ich soll nachsichtig mit Jacob sein, das ist eine der ungeschriebenen Regeln in unserem Haus. Wenn wir also einen Umweg wegen eines Umleitungsschildes machen (wie paradox ist das denn?), nur weil es orange ist und Jacob in den Wahnsinn treibt, dann ist das wichtiger als die Tatsache, dass ich deshalb zehn Minuten zu spät zur Schule komme. Und er darf immer zuerst duschen, denn vor einer Milliarde Jahre, als ich noch ein Baby war, hat Jacob schon als Erster geduscht, und er hasst es, wenn er seine Gewohnheiten ändern muss. Und später, als ich fünfzehn Jahre alt war und einen Termin gemacht hatte, um mir meine Fahrschullizenz ausstellen zu lassen – ein Termin, der nie stattfand, weil Jacob wegen neuer Sneaker einen Anfall bekam –, erwartete man von mir, Verständnis dafür zu haben, dass so was nun einmal vorkommen kann. Das Problem ist nur, dass auch die nächsten drei Male etwas »passierte«, wenn ich meine Mutter zur Führerscheinstelle schleppen wollte. Irgendwann habe ich dann einfach nicht mehr gefragt. Wenn das so weitergeht, fahre ich noch mit dreißig Skateboard.
Einmal, als Jacob und ich noch klein waren, sind wir mit einem Gummiboot auf einem Teich herumgepaddelt, nicht weit von unserem Haus entfernt. Es war mein Job, auf Jacob aufzupassen, obwohl er drei Jahre älter ist als ich und genauso viele Schwimmstunden hatte wie ich. Wir brachten das Boot zum Kentern und schwammen darunter, dort wo die Luft dick und feucht ist. Jacob begann über Dinosaurier zu plappern – damals stand er darauf –, und er wollte einfach nicht aufhören. Er verbrauchte den ganzen Sauerstoff in dem winzigen Raum. Ich versuchte, das Boot wieder umzukippen, doch das Plastik hatte sich irgendwie am Wasser festgesaugt, und das steigerte meine Panik. Zurückblickend hätte ich natürlich einfach unter dem Boot hindurchtauchen können, doch zu dem Zeitpunkt ist mir der Gedanke einfach nicht gekommen. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr atmen konnte. Wenn die Leute mich fragen, wie es ist, mit einem Bruder aufzuwachsen, der unter dem Asperger-Syndrom leidet, dann fällt mir jedes Mal diese Situation ein, obwohl ich den Leuten immer sage, dass ich es eben nicht anders kenne.
Ich bin kein Heiliger. Manchmal tue ich Dinge, die Jacob in den Wahnsinn treiben, und das nur, weil es so verdammt einfach ist. Einmal habe ich zum Beispiel all seine Klamotten im Schrank durcheinandergebracht, und ein anderes Mal habe ich den Verschluss seiner Zahnpastatube versteckt, sodass er sie nach dem Zähneputzen nicht hat wegpacken können. Doch dann tut mir meine Mutter leid, die immer die Hauptlast tragen muss, wenn Jacob einen seiner Anfälle bekommt. Manchmal höre ich sie weinen, wenn sie glaubt, Jacob und ich würden schon schlafen. Dann erinnere ich mich wieder daran, dass auch sie sich dieses Leben nicht ausgesucht hat.
Also mische auch ich mich ein. Ich bin derjenige, der Jacob im wahrsten Sinne des Wortes aus einem Gespräch reißt, wenn er den Leuten mit seinem Übereifer Angst einjagt. Ich bin derjenige, der ihm sagt, er soll aufhören, mit den Armen zu wedeln, wenn er im Bus nervös wird, er sieht dann nämlich wie ein Vollidiot aus. Ich bin derjenige, der zuerst in Jacobs statt in meine eigene Klasse geht, um dem Lehrer zu sagen, dass mein Bruder einen schlechten Morgen hatte, da uns überraschend die Sojamilch ausgegangen ist. Mit anderen Worten, ich verhalte mich wie ein großer Bruder, obwohl ich eigentlich der kleine bin. Und wenn ich dann das Gefühl habe, das sei nicht fair, wenn mein Blut kocht wie Lava, dann gehe ich einfach weg. Und wenn mein Zimmer nicht weit genug entfernt ist, dann schnappe ich mir mein Skateboard und treibe mich irgendwo herum – egal wo, nur nicht an dem Ort, den ich mein Zuhause nenne.
Und das mache ich auch heute Nachmittag, nachdem mein Bruder beschlossen hat, mich als Bösewicht in seinem Krimitheater zu casten. Ich will ehrlich mit Ihnen sein: Was mich aufregt, ist nicht die Tatsache, dass er meine Sneaker genommen und sich Haare aus meiner Bürste gemopst hat (auch wenn das offen gesagt schon so gruselig ist wie Das Schweigen der Lämmer). Erst als ich ihn mit dem Sirup-Blut und der falschen Wunde am Kopf in der Küche gesehen habe und all die Beweise, die auf mich hindeuteten, da bin ich wütend geworden, da ich habe bei mir gedacht: »Ach, was wäre das schön.«
Aber ich darf nicht laut sagen, dass mein Leben ohne Jacob sehr viel leichter wäre. Genau genommen darf ich das noch nicht einmal denken. Das ist auch wieder so eine ungeschriebene Regel der Hausordnung. Also schnappe ich mir meinen Mantel und laufe Richtung Süden, obwohl es draußen eiskalt ist und der Wind mir ins Gesicht schneidet. Kurz halte ich am Skateboard-Parcours an, dem einzigen Ort in dieser dämlichen Stadt, wo die Cops einen noch fahren lassen. Aber im Winter ist das nutzlos, und in Townsend, Vermont, sind das gefühlte neun Monate im Jahr.
Vergangene Nacht hat es heftig geschneit. Ein Typ versucht, mit dem Snowboard das Treppengeländer herunterzufahren, während sein Freund den Trick mit dem Handy aufnimmt. Ich kenne die beiden aus der Schule, aber sie sind nicht in meinen Kursen. Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht gerade der typische Skater. Ich bin in Erweiterungskursen und schreibe gute Noten. Natürlich bin ich deswegen ein Freak in der Skater-Gemeinde. Umgekehrt bin ich das dank meiner Kleidung und dem Skateboard bei den Spitzenschülern auch.
Der Kerl, der das Geländer runterrutscht, fällt auf den Arsch. »Das landet auf YouTube, Mann«, verkündet sein Freund schadenfroh.
Ich gehe weiter durch die Stadt zu der Straße, die sich in Serpentinen windet. Genau in der Mitte liegt ein Lebkuchenhaus – ich glaube, den Stil nennt man viktorianisch. Es ist violett gestrichen und hat einen Turm an der Seite. Ich glaube, der Turm ist der Grund, warum ich das erste Mal stehen geblieben bin – ich meine, wer zum Teufel hat schon einen Turm am Haus … außer Rapunzel natürlich? Aber in dem Turm lebt ein Mädchen von zehn oder elf Jahren, und sie hat einen Bruder, der vielleicht halb so alt ist wie sie. Ihre Mom fährt einen grünen Toyota-Van, und ihr Dad muss so was wie ein Arzt sein, denn ich habe ihn schon zweimal in OP-Kleidung nach Hause kommen sehen.
In letzter Zeit gehe ich oft dorthin. Für gewöhnlich hocke ich mich dann vor das Terrassenfenster, durch das man ins Wohnzimmer schauen kann. Von da kann ich so gut wie alles sehen: den Esszimmertisch, an dem die Kinder ihre Hausaufgaben machen, und die Küche, in der die Mom das Abendessen zubereitet. Manchmal öffnet sie das Fenster einen Spalt, und ich kann fast schmecken, was es zu essen gibt.
An diesem Nachmittag ist jedoch niemand daheim, deshalb werde ich übermütig. Obwohl es noch heller Tag ist und obwohl die ganze Zeit über Autos vorbeifahren, gehe ich hinter das Haus und setze mich auf die Schaukel, auch wenn ich eigentlich schon viel zu alt dafür bin. Dann gehe ich zur Terrasse und drücke auf die Türklinke.
Sie geht auf.
Das sollte ich nicht tun – ich weiß das –, trotzdem gehe ich hinein.
Ich ziehe meine Schuhe aus, denn das gehört sich so. Ich stelle sie auf die Fußmatte und gehe in die Küche. In der Spüle liegen Müslischalen. Ich öffne den Kühlschrank und schaue mir die Tupperdosen an. Da ist noch ein Rest Lasagne.
Ich hole ein Glas Erdnussbutter heraus und rieche daran. Bilde ich mir das nur ein, oder riecht diese Erdnussbutter wirklich besser als das Zeug, das wir daheim haben?
Ich stecke meinen Finger hinein und probiere ein wenig. Dann trage ich das Glas mit klopfendem Herzen zur Arbeitsplatte und danach auch noch ein Glas Gelee von Smucker’s. Ich nehme mir zwei Scheiben Brot von dem Laib auf der Arbeitsplatte und krame in der Schublade herum, bis ich Besteck finde. Dann mache ich mir ein Sandwich, so als würde ich mir immer in dieser Küche Sandwichs machen.
Im Esszimmer setze ich mich auf einen der Stühle, auf dem sonst immer die Mädchen beim Essen sitzen. Ich esse mein Sandwich und stelle mir vor, wie meine Mutter mit einem großen, gebratenen Truthahn aus der Küche kommt. »Hey, Dad«, sage ich laut zu dem leeren Stuhl links von mir und tue so, als hätte ich einen echten Vater und nicht nur einen Samenspender mit schlechtem Gewissen, der uns jeden Monat einen Scheck schickt.
»Wie war’s in der Schule?«, würde er fragen.
»Ich habe hundert Punkte im Bio-Test bekommen.«
»Das ist ja unglaublich. Es würde mich nicht überraschen, wenn du Arzt werden würdest – genau wie ich.«
Ich schüttele den Kopf, um wieder klar zu werden. Entweder sehe ich zu viel fern, oder ich habe so eine Art Goldlöckchen-Komplex.
Jacob hat mir früher abends vorgelesen. Na ja, eigentlich nicht wirklich. Er hat sich selbst vorgelesen, und es war auch weniger ein Lesen als vielmehr die reine Wiedergabe von Auswendiggelerntem, und ich war nur zufälligerweise am gleichen Ort und konnte nicht anders als zuhören. Allerdings hat mir das gefallen. Wenn Jacob redet, dann ist das fast wie Gesang. In einem normalen Gespräch klingt das seltsam, aber bei einem Märchen funktioniert das irgendwie. Als ich so die Geschichte von Goldlöckchen und den drei Bären zum ersten Mal gehört habe, habe ich bei mir gedacht: Was für eine Versagerin. Hätte sie sich schlauer verhalten, sie hätte bleiben können.
Letztes Jahr, als ich auf die Bezirkshighschool gekommen bin, musste ich wieder von vorn anfangen. Dort waren Kids aus anderen Orten, die nichts von mir wussten. Die ersten zwei Wochen habe ich mit diesen beiden Typen rumgehangen: Chad und Andrew. Sie waren in meinem Physikkurs und schienen ziemlich cool zu sein. Außerdem kamen sie aus Swanzey und nicht aus Townsend, weshalb sie meinen Bruder nie getroffen hatten. Wir lachten darüber, dass unser Physiklehrer Hochwasserhosen trug, und wir aßen gemeinsam zu Mittag. Wir planten sogar, am Wochenende gemeinsam ins Kino zu gehen, sobald was Gutes laufen würde. Doch dann tauchte Jacob plötzlich in der Mensa auf, nachdem er einen Mathetest in wahnsinnig kurzer Zeit beendet und sein Lehrer ihn entlassen hatte, und natürlich ging er geradewegs auf mich zu. Ich stellte ihn vor und sagte, er sei in der Oberstufe. Nun, das war mein erster Fehler. Chad und Andrew waren so fasziniert davon, mit einem Oberstufenschüler an einem Tisch zu sitzen, dass sie Jacob Fragen stellten. Sie wollten wissen, in welcher Klasse er sei und ob er in einer Sportmannschaft sei. »Ich bin in der Elften«, sagte Jacob und erklärte dann, dass er Sport nicht möge. »Ich mag Forensik«, fuhr er fort. »Habt ihr je von Dr. Henry Lee gehört?« Dann plapperte er geschlagene zehn Minuten am Stück über den Pathologen aus Connecticut, der an so populären Fällen wie denen von O. J. Simpson, Scott Peterson und Elizabeth Smart gearbeitet hatte. Ich glaube, er hat Chad und Andrew irgendwann während des Tutorials über die Muster von Blutspritzern und ihre Bedeutung abgehängt. Unnötig zu erwähnen, dass die beiden mich am nächsten Tag sofort fallenließen, als es darum ging, sich in Physik Partner für ein Experiment zu suchen.
Ich habe mein Sandwich aufgegessen. Also stehe ich auf und gehe nach oben. Das erste Zimmer gehört dem Jungen. Poster von Dinosauriern zieren die Wände. Das Bettzeug ist voller fluoreszierender Flugsaurier, und auf dem Boden liegt ein ferngesteuerter T-Rex. Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt. Es gab eine Zeit, da war Jacob genauso verrückt nach Dinosauriern, wie er es jetzt nach Kriminaltechnik ist. Ob dieser kleine Junge hier einem wohl auch alles über diesen Saurier erzählen kann, der in Utah gefunden wurde und dessen fünfzehn Zoll lange Krallen aussehen wie aus einem Slasher-Film? Oder dass man 1858 ein fast vollständiges Dinosaurierskelett in New Jersey gefunden hat, einen Hadrosaurier?
Nein, der Junge hier ist nur ein Kind, kein Kind mit Asperger-Syndrom. Das sehe ich sofort, wenn ich nachts durch die Fenster schaue und die Familie beobachte. Ich weiß es, weil die Küche mit ihren in warmen Farben gestrichenen Wänden ein Ort ist, an dem ich bleiben, nicht von dem ich fortlaufen will.
Plötzlich erinnere ich mich an etwas. Wissen Sie noch? Der Tag, an dem Jacob und ich auf dem Teich mit dem Gummiboot gespielt haben? Als ich nicht mehr atmen konnte und das Boot förmlich am Wasser klebte? Irgendwie ist es Jacob gelungen, das Ventil zu öffnen, sodass die Oberflächenspannung nachgelassen hat. Dann hat er seine Arme um meine Brust geschlungen und mich weit genug nach oben gehalten, dass ich wieder nach Luft schnappen konnte. Anschließend hat Jacob mich ans Ufer gezogen und sich zitternd neben mich gesetzt, bis ich die Sprache wiedergefunden habe. Soweit ich mich erinnere, war das das letzte Mal, dass Jacob auf mich aufgepasst hat und nicht umgekehrt.
In dem Schlafzimmer, in dem ich jetzt stehe, füllen Videospiele ein ganzes Regal – größtenteils Wii- und XBox-Titel, aber auch ein paar Nintendo-DS-Spiele. Wir haben keine Spielkonsolen. Wir können sie uns nicht leisten. Der ganze Dreck, den Jacob zum Frühstück schlucken muss – eine Extramahlzeit Pillen, dazu Injektionen und Nahrungsergänzungsmittel – kostet ein Vermögen, und ich weiß, dass Mom manchmal nachts noch freiberuflich als Lektorin arbeitet, um Jess bezahlen zu können, Jacobs Sozialtherapeutin.
Ich höre das Grummeln eines Autos auf der ruhigen Straße, und als ich aus dem Fenster schaue, da sehe ich es: Der grüne Van biegt in die Auffahrt ein. Ich fliege die Treppe hinunter, durch die Küche und zur Tür hinaus. Draußen springe ich in die Büsche und schaue zu, wie der Junge den Van als Erster verlässt. Er trägt eine Eishockeyausrüstung. Dann steigt seine Schwester aus und schließlich steigen auch seine Eltern aus. Sein Vater holt eine große Sporttasche aus dem Kofferraum, und schließlich verschwinden alle im Haus.
Ich gehe die Straße hinunter, weg von dem Lebkuchenhaus. Unter meinem Mantel steckt das Wii-Spiel, das ich mir im letzten Augenblick geschnappt habe, irgendein Super-Mario-Titel. Ich spüre, wie mein Herz darunter schlägt.
Ich kann es nicht spielen, aber das will ich eigentlich auch nicht. Ich habe es nur geklaut, weil ich weiß, dass sie sein Fehlen noch nicht einmal bemerken werden. Wie sollten sie auch, wo sie so viel haben?
Ich mag ja autistisch sein, aber ich kann Ihnen trotzdem nicht sagen, auf welchen Wochentag der zweiunddreißigste Geburtstag Ihrer Mutter fiel. Ich kann keinen Logarithmus im Kopf ausrechnen. Ich kann nicht auf einen Blick sagen, wie viele Grashalme auf einem Flecken Rasen wachsen. Andererseits könnte ich Ihnen alles sagen, was Sie je über Blitze, die Polymerase-Kettenreaktion, berühmte Filmzitate oder Sauropoden der frühen Kreidezeit wissen wollten. Ich habe das Periodensystem auswendig gelernt, ohne es überhaupt versucht zu haben, ich habe mir selbst Mittelägyptisch beigebracht, und ich habe den Computer meines Informatiklehrers repariert. Ich könnte ewig über Details der Fingerabdruckanalyse reden und ob diese Analyse nun Kunst oder Wissenschaft ist. (So ist zum Beispiel die DNA bei eineiigen Zwillingen gleich, das wissen wir aufgrund wissenschaftlicher Analysen, aber die Fingerabdrücke eineiiger Zwillinge unterscheiden sich in den Minutien. Welches Beweismittel würden Sie also als Staatsanwalt vorziehen? Aber ich schweife ab …)
Ich nehme an, diese Talente würden mich bei jeder Cocktail-Party zu einem Hit machen, wenn ich a) trinken würde, was ich nicht tue, oder b) Freunde hätte, die mich einladen würden, mit oder ohne Cocktail. Meine Mutter erklärt es immer so: Stellen Sie sich vor, jemand kommt mit weit aufgerissenen Augen auf Sie zu und erklärt Ihnen das Blutspritzmuster, das von Objekten verursacht wird, die sich zwischen anderthalb und siebeneinhalb Metern pro Sekunde bewegen, und wie diese Muster sich von denen unterscheiden, die durch Schusswunden oder infolge von Explosionen entstehen. Oder schlimmer noch: Stellen Sie sich vor, wie es ist, derjenige zu sein, der dies alles erklärt und dabei nicht erkennt, dass das Opfer dieser Erläuterungen einfach nur weglaufen will.
Bei mir ist zu einer Zeit das Asperger-Syndrom diagnostiziert worden, als es noch nicht die Geisteskrankheit du jour gewesen ist. Heutzutage missbrauchen Eltern diese Diagnose schließlich reihenweise, um zu verschleiern, dass ihre Gören keine Supergenies, sondern in Wahrheit einfach nur asozial sind. In meiner Schule wissen die meisten Kids aber inzwischen, was das Asperger-Syndrom wirklich ist – dank einer Kandidatin bei America’s Next Top Model. So viele Leute haben mir von ihr erzählt, dass sie vermutlich glauben, wir seien verwandt. Was mich betrifft, so versuche ich, das Wort nicht laut auszusprechen. Asperger, meine ich. Klingt das nicht wie ein Filetstück vom Schwein? Oder wie ein gegrillter Esel?
Ich lebe mit meiner Mutter und mit meinem Bruder Theo. Die Tatsache, dass Theo und ich demselben Genpool entstammen, ist verwirrend für mich, denn wir könnten unterschiedlicher nicht sein. Äußerlich sind wir das genaue Gegenteil voneinander. Theos Haar ist fein und so blond, das es schon als silbern durchgehen könnte, meines hingegen dunkel mit der Neigung, zerzaust auszusehen, wenn ich es nicht genau alle drei Wochen schneiden lasse. (In Wahrheit müssen es aber auch deshalb genau drei Wochen sein, weil drei einfach eine gute, sichere Zahl ist, anders als die vier zum Beispiel, und ich kann es nur ertragen, dass jemand mein Haar anfasst, wenn ich das lange genug im Voraus weiß). Theo beschäftigt auch ständig, was andere Leute wohl von mir denken – zum Beispiel dass ich ein seltsames Kind bin, das einem stets zu nahe auf die Pelle rückt und nie den Mund hält. Und Theo hört ständig Rap-Musik, die mir Kopfschmerzen bereitet. Er fährt Skateboard, als wären die Räder an seinen Füßen festgewachsen, und das meine ich als Kompliment, denn ich kann noch nicht einmal gehen und gleichzeitig Kaugummi kauen. Ich nehme an, er muss viel ertragen. Ich rege mich jedes Mal auf, wenn etwas nicht funktioniert oder wenn mein Terminplan sich ändert, und manchmal habe ich einfach keine Kontrolle mehr darüber, was passiert. Dann werde ich zum Hulk, schreie, fluche und schlage auf Dinge ein. Theo habe ich zwar noch nie geschlagen, aber ich habe schon mit Gegenständen nach ihm geworfen und ein paar seiner Sachen kaputt gemacht. Besonders schlimm war es, als ich seine Gitarre zertrümmert habe. Meine Mutter hat sie mich drei Jahre lang in Raten abbezahlen lassen.
Aber Theo ist auch derjenige, der besonders unter meiner Ehrlichkeit zu leiden hat.
BEISPIEL 1
Theo kommt in die Küche. Seine Jeans sitzt so tief, dass man seine Unterwäsche sehen kann. Dazu trägt er ein viel zu großes Sweatshirt und irgendeine seltsame Medaille um den Hals.
Theo: »Was liegt an?«
Ich: »Yo, Homey, offenbar hast du das Memo nicht bekommen, aber wir leben in der Vorstadt und nicht im Ghetto … oder ist heute 2Pac-Imitatorenwettbewerb?«
Ich erkläre meiner Mutter immer wieder, dass wir beide nichts gemein haben, doch sie besteht darauf, dass sich das ändern wird. Ich halte sie für verrückt.
Ich habe keine Freunde. Das Mobbing hat schon im Kindergarten angefangen, als ich meine Brille bekommen habe. Der Lehrer hat daraufhin einen der beliebten Jungs aufgefordert, eine unechte Brille zu tragen, damit ich eine Verbindung zu ihm aufbauen konnte, doch wie sich herausstellte, wollte er nicht darüber diskutieren, ob man den Archäopteryx als Vogel oder Dinosaurier klassifizieren sollte. Unnötig zu erwähnen, dass diese Freundschaft keinen Tag lang dauerte. Inzwischen bin ich daran gewöhnt, dass andere mir sagen, ich solle verschwinden, mich anderswo hinsetzen. Ich werde am Wochenende nie angerufen. Ich sehe einfach die sozialen Zaunpfähle nicht, mit denen andere winken.
Wenn jemand in der Klasse zu mir sagt, »Oh Mann, ist es wirklich schon ein Uhr?«, dann schaue ich auf meine Uhr und erwidere, ja, es sei schon eins, obwohl der andere vermutlich nur auf eine höfliche Art hat verschwinden wollen.
Ich verstehe einfach nicht, warum die Leute nicht sagen, was sie meinen. Es ist wie bei Immigranten, die zwar die Sprache ihrer neuen Heimat lernen, aber Idiome nicht verstehen. (Mal ernsthaft … Wie soll jemand, der unserer Sprache nicht wirklich mächtig ist, verstehen, dass es nicht um Gemälde oder Fotos geht, wenn man sagt, »jemanden ins Bild setzen«?) Wenn ich mich in einer sozialen Situation befinde – sei es in der Schule, beim Thanksgiving-Essen oder in der Schlange vor der Kinokasse –, dann komme ich mir vor, als wäre ich nach Litauen umgezogen, ohne Litauisch gelernt zu haben.
Wenn jemand mich fragt, was ich am Wochenende vorhabe, kann ich zum Beispiel nicht so spontan antworten wie Theo. Ich weiß nicht, wann ich den Leuten zu viel Informationen gebe, und so verlasse ich mich auf die Worte eines anderen, anstatt kleinschrittig meine Pläne für das Wochenende zu erklären. Ich setze meine beste Robert-de-Niro-Stimme aus Taxi Driver auf und erwidere: »Redest du mit mir, Mann?«
Dabei sind es wohlgemerkt nicht nur andere Kids, die ich missverstehe. Einmal ist zum Beispiel mein Biolehrer unerwartet aus der Klasse gerufen worden, wobei er den Raum mit den Worten verließ: »Dass sich mir ja keiner rührt, solange ich weg bin. Wagt es noch nicht einmal zu atmen.« Die normalen Kids ignorierten diese Bemerkung einfach, lediglich ein paar Streber beugten sich über ihre Bücher. Und ich? Ich saß wie eine Statue da, und meine Lunge hat gebrannt, bis ich kurz davorstand, das Bewusstsein zu verlieren.
Einmal hatte ich aber auch eine Freundin. Ihr Name war Alexa, und sie ist im siebten Schuljahr weggezogen. Danach habe ich beschlossen, meine Schulzeit als anthropologische Studie zu betrachten. Ich habe versucht, ein Interesse an Themen zu kultivieren, über die andere Kids reden. Aber das war schrecklich langweilig.
BEISPIEL 2
Mädchen: »Hey, Jacob, ist das nicht der coolste MP3-Player der Welt?«
Ich: »Vermutlich von chinesischen Kindern zusammengesetzt.«
Mädchen: »Möchtest du einen Schluck von meinem Slush?«
Ich: »Wenn man seine Getränke teilt, kann man Drüsenfieber bekommen … übrigens auch vom Küssen.«
Mädchen: »Ich setze mich dann mal woanders hin …«
Kann man mir wirklich vorwerfen, den Gesprächen mit Gleichaltrigen ein wenig mehr Gehalt zu verleihen, indem ich über Themen rede wie Dr. Henry Lees Meinung zum Mord an Laci Peterson? Irgendwann habe ich diese Art von Konversation ganz aufgegeben. Den Überblick darüber zu behalten, wer gerade mit wem geht, war genauso schwer für mich wie die Balzrituale der Steinzeitjäger Papua-Neuguineas zu verstehen. Meine Mutter behauptet manchmal, ich würde es ja noch nicht einmal versuchen. Ich erwidere dann, ich würde es sogar ständig versuchen, nur weise man mich stets zurück. Eigentlich bin ich aber noch nicht einmal traurig darüber. Warum sollte ich mich auch mit Kids anfreunden, die zu Leuten wie mir gemein sind?
Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich nicht ausstehen kann:
1. Das Geräusch von Papier, das zerknüllt wird. Ich kann Ihnen nicht sagen warum, aber ich habe dann immer das Gefühl, als würde irgendjemand das Gleiche mit meinen Organen machen.
2. Zu viel Lärm oder blinkende Lichter.
3. Wenn ein Plan geändert wird.
4. Wenn ich CrimeBusters verpasse, das dank des Wunders Privatfernsehen jeden Tag um halb fünf auf USA Network läuft. Obwohl ich alle 114 Folgen auswendig kenne, ist es so wichtig für mich, es täglich zu sehen, wie das Insulin für einen Diabetiker. Ich plane meinen gesamten Tag danach, und wenn ich meine tägliche Dosis nicht bekomme, werde ich nervös.
5. Wenn meine Mutter meine Kleider wegräumt. Ich ordne sie nach den Regenbogenfarben, und die einzelnen Farben dürfen einander nicht berühren. Meine Mutter gibt ihr Bestes, aber das letzte Mal hat sie Indigo komplett vergessen.
6. Wenn jemand sich einen Bissen von meinem Essen nimmt. Ich muss dann erst einmal das Stück abschneiden, das mit dem fremden Speichel in Kontakt gekommen ist, bevor ich weiteressen kann.
7. Offenes Haar. Davon werde ich verrückt, weshalb mein Haar auch so kurz ist wie beim Militär.
8. Wenn mich jemand berührt, den ich nicht kenne.
9. Speisen mit einer Membran, wie Vanillepudding, oder Essen, das im Mund explodiert, wie Erbsen.
10. Gerade Zahlen.
11. Wenn Leute mich zurückgeblieben nennen, das bin ich nämlich nicht.
12. Die Farbe Orange. Orange bedeutet Gefahr, und im Englischen reimt sich nichts darauf, was mich misstrauisch macht. (Theo will dann immer wissen, warum ich silberne Dinge o.k. finde, aber auf diese Diskussion lasse ich mich gar nicht erst ein.)
Ich habe einen Großteil meiner achtzehn Jahre damit verbracht zu lernen, in einer Welt zu existieren, die gelegentlich orange, chaotisch und zu laut ist. In den Pausen zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden zum Beispiel. Dann trage ich Kopfhörer. Früher habe ich dieses großartige Teil getragen, mit dem ich aussah wie ein Fluglotse, aber Theo hat gesagt, alle hätten sich über mich lustig gemacht, wenn sie mich so im Flur gesehen hätten. Irgendwann hat meine Mutter mich dann davon überzeugt, Knopfohrhörer zu tragen. In die Cafeteria gehe ich nur selten, a) weil dort niemand bei mir sitzen will und b) weil all die Gespräche, die dort hin und her gehen, sich wie Messer auf meiner Haut anfühlen. Stattdessen hänge ich im Lehrerzimmer rum, wo man mich nicht anstarrt, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen, wenn ich erwähne, dass Pythagoras die nach ihm benannte Formel gar nicht entdeckt hat – in Wahrheit haben die Babylonier schon damit gerechnet, als Pythagoras noch nicht einmal ein Funkeln in den Augen seiner griechischen Eltern gewesen ist. Wenn es einmal wirklich schlimm wird, hilft Druck – zum Beispiel unter einem Haufen Wäsche oder unter einer mit Bleigewichten beschwerten Decke –, denn das Gefühl beruhigt mich. Einer meiner Therapeuten, ein Skinner-Fan, hat mich zu Songs von Bob Marley entspannen lassen. Wenn ich mich aufrege, wiederhole ich Worte immer und immer wieder und spreche mit ausdrucksloser Stimme. Dann schließe ich die Augen und frage mich selbst: »Was würde Dr. Henry Lee jetzt tun?«
Aber ich komme nicht in Schwierigkeiten, denn es gibt Regeln, die dafür sorgen, dass ich bei Verstand bleibe. Regeln bedeuten, dass ein Tag genau so abläuft, wie ich es vorausgesagt habe. Ich tue, was man mir sagt. Ich wünschte nur, andere würden sich auch daran halten.
Und wir haben auch Regeln in unserem Haus:
1. Räum dein eigenes Zeug auf.
2. Sag stets die Wahrheit.
3. Putz dir zweimal am Tag die Zähne.
4. Komm nicht zu spät zur Schule.
5. Pass auf deinen Bruder auf – er ist der einzige, den du hast.
Den Großteil dieser Regeln halte ich ganz automatisch ein … na ja, mit Ausnahme des Zähneputzens, das hasse ich, und des Aufpassens auf Theo. Sagen wir einfach, meine Interpretation der Regel Nr. 5 stimmt nicht immer mit Theos überein. Nehmen wir zum Beispiel den heutigen Tag. Ich habe ihm eine Hauptrolle in meinem Tatort gegeben, und er war außer sich vor Wut. Ich hatte ihn als Übeltäter besetzt … Ist ihm eigentlich klar, wie schmeichelhaft das ist?
Mein Psychiater, Dr. Moon Morano, bittet mich oft, Situationen, die ein Gefühl von Beklemmung bei mir erzeugen, auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten.
BEISPIEL 3
Ich: »Meine Mom ist zur Bank gegangen. Sie hat gesagt, in fünfzehn Minuten sei sie wieder da, und als es dann siebzehn Minuten wurden, bin ich in Panik geraten. Und als ich sie dann angerufen habe, ist sie nicht ans Handy gegangen, und ich war sicher, dass sie irgendwo tot im Graben liegt.«
Dr. Moon: »Auf einer Skala von 1 bis 10, wie hast du dich da gefühlt?«
Ich: »Neun.«
[Anmerkung: Es war eigentlich eine 10, aber das ist eine gerade Zahl, und hätte ich das laut ausgesprochen, hätte ich die Skala gesprengt.]
Dr. Moon: »Kannst du dir eine Lösung vorstellen, die besser funktioniert hätte, als direkt den Notruf anzurufen?«
Ich (in meiner besten Cher-Stimme aus Mondsüchtig): »Reiß dich doch mal zusammen!«
Ich bewerte auch meine Tage, obwohl Dr. Moon das bis jetzt nicht von mir verlangt hat. Hohe Zahlen bezeichnen gute Tage, niedrige schlechte. Und der heutige Tag ist eine Eins dank des Streits mit Theo und dem Fehlen der Frau mit den Leckereien im Supermarkt. (Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich einen Algorithmus entwickelt habe, um vorherzusagen, was sie mir anbieten wird, und vielleicht hätte ich mich nicht so aufgeregt, wenn es der erste Samstag im Monat gewesen wäre, an dem sie nur Vegetarisches im Angebot hat. Aber heute war Nachtisch-Tag, verdammt!) Seit wir wieder zu Hause sind, habe ich mein Zimmer nicht mehr verlassen. Ich habe mich unter meinem Laken vergraben, auf dem eine schwere Decke liegt. Auf meinem iPod läuft I Shot the Sheriff in einer Dauerschleife, und ich höre mir dieses eine Lied bis 16:30 Uhr an. Dann kommt CrimeBusters und ich muss ins Wohnzimmer runter, denn da steht der Fernseher.
Die heutige Folge ist Nummer 82, eine meiner Top Five. Es geht um einen Fall, bei dem eine der Kriminaltechnikerinnen, Rhianna, nicht zur Arbeit kommt. Wie sich herausstellt, hat ein Mann, der um seine kürzlich verstorbene Frau trauert, sie als Geisel genommen. Rhianna hinterlässt Spuren für den Rest des Teams, um sie zu ihrem Versteck zu führen.
Natürlich löse ich das Rätsel lange vor dem Rest des Teams.
Der Grund, warum ich diese Folge so sehr mag, ist der, dass sie einen Fehler gemacht haben. Rhianna wird von ihrem Entführer zu einem Diner geschleppt und hinterlässt einen Kassenbon ihrer Lieblingsboutique unter ihrem leer gegessenen Teller. Ihre Kollegen finden ihn und müssen nun beweisen, dass er wirklich von ihr stammt. Sie untersuchen ihn auf Fingerabdrücke und benutzen anschließend ein Nachweisreagenz und schließlich Ninhydrin. Dabei setzt man in Wirklichkeit zuerst Ninhydrin ein, das mit Aminosäuren reagiert, und erst dann ein Nachweisreagenz, das mit Fetten reagiert. Macht man es umgekehrt, wie in dieser Folge, dann ruiniert das Reagenz die Oberfläche für das Ninhydrin. Als ich diesen Fehler entdeckt habe, habe ich sofort an die Produzenten von CrimeBusters geschrieben. Sie haben mir einen Brief geschickt und ein offizielles Fan-T-Shirt. Das T-Shirt passt mir nicht mehr, aber ich bewahre es noch immer in der Schublade auf.
Nachdem ich die Folge gesehen habe, verbessert mein Tag sich nachhaltig von 1 auf 3.
»Hey«, sagt meine Mutter und steckt den Kopf zur Wohnzimmertür herein. »Wie kommst du zurecht?«
»Gut«, erwidere ich.
Sie setzt sich neben mich auf die Couch. Unsere Beine berühren sich. Mom ist der einzige Mensch, den ich so nahe an mich heranlasse. Wäre es jemand anderes, ich wäre schon weggerückt. »So, Jacob«, sagt sie, »ich möchte dich nur darauf hinweisen, dass du einen Tag ohne Probierhäppchen überlebt hast.«
An Tagen wie diesen bin ich wirklich froh, dass ich Leuten nie in die Augen schaue. Würde ich das tun, Mom wäre sicherlich vor Scham im Boden versunken, hätte sie die Verachtung in meinem Blick gesehen. Natürlich habe ich überlebt. Aber um welchen Preis?
»Auf diese Weise haben wir wieder mal etwas gelernt«, erklärt meine Mutter und tätschelt mir die Hand. »Ich wollte das nur erwähnt haben.«
»Offen gesagt, meine Liebe«, murmele ich vor mich hin, »das ist mir scheißegal.«
Meine Mutter seufzt. »Um sechs gibt es Abendessen, Rhett«, sagt sie, obwohl es immer um sechs Abendessen gibt und ich Jacob heiße.
Die Medien haben immer wieder posthum bei berühmten Persönlichkeiten das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Hier ein paar Beispiele:
1. Wolfgang Amadeus Mozart
2. Albert Einstein
3. Andy Warhol
4. Jane Austen
5. Thomas Jefferson
Ich bin mir allerdings zu 99 Prozent sicher, dass keiner von ihnen je einen Zusammenbruch in einem Supermarkt hatte und dabei ein ganzes Regal mit eingelegtem Gemüse zertrümmert hat.
Das Abendessen erweist sich als schmerzvolle Angelegenheit. Meine Mutter scheint fest entschlossen, ein Gespräch zu beginnen, obwohl weder Theo noch ich darauf eingehen. Sie hat wieder ein ganzes Paket Briefe von der Burlington Free Press bekommen. Sie liest sie uns beim Abendessen laut vor, und wir machen politisch inkorrekte Bemerkungen dazu, wie sie meine Mutter in ihrer Kolumne niemals veröffentlichen würde.
BEISPIEL 4
Liebe Tante Em,
meine Schwiegermutter besteht darauf, jedes Mal, wenn mein Mann und ich bei ihr zu Besuch sind, Roastbeef zu kochen, obwohl sie ganz genau weiß, dass ich schon mein ganzes Leben lang Vegetarierin bin. Was soll ich tun, wenn das wieder passiert?
Vor Wut kochend in South Royalton
Liebe Vor-Wut-Kochend,
rümpfen Sie einfach verächtlich die Nase, und hauen Sie ab.
Manchmal sind die Briefe, die sie bekommt, auch wirklich traurig, zum Beispiel der von der Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde und nicht weiß, wie sie es ihren Kindern sagen soll. Oder von der Mom, die an Brustkrebs stirbt und einen Brief an ihre kleine Tochter verfasst hat. Der Brief soll ihr vorgelesen werden, sobald sie älter ist. Darin steht, wie sehr sie sich gewünscht hätte, bei der Abschlussfeier ihrer Tochter an der Highschool dabei zu sein, bei ihrer Hochzeit und bei der Geburt ihres ersten Kindes.
Die meisten Briefe und Fragen stammen jedoch von irgendwelchen Idioten, die eine falsche Entscheidung getroffen haben.
Wie bekomme ich meinen Mann wieder zurück, nachdem mir klar geworden ist, dass ich ihn nicht hätte betrügen sollen? Wie wäre es, wenn Sie versuchen, treu zu sein, Lady?
Wie gewinnt man einen Freund am besten zurück, den man mit einer gemeinen Bemerkung verletzt hat? Da hätten Sie wohl am besten gar nicht erst den Mund aufgemacht. Ich schwöre, manchmal kann ich einfach nicht glauben, dass meine Mutter dafür bezahlt wird, das Offensichtliche auszusprechen.
Am heutigen Abend hält sie einen Brief von einer Teenagerin hoch. Das sehe ich sofort, denn die Tinte ist lila und über dem I in »Liebe Tante Em« ist ein Herzchen anstelle des Punkts.
»›Liebe Tante Em‹«, liest meine Mutter vor, und wie immer stelle ich mir bei der Anrede eine alte Dame mit Dutt vor, aber nicht meine Mutter, »›ich mag einen Jungen, der schon eine Freundin hat, und ich weiß, dass er mich auch mögen tut …‹« Lieber Gott im Himmel! Lernt man heute denn überhaupt nicht mehr, sich vernünftig auszudrücken?
»Nein«, beantworte ich meine Frage selbst, »blöd geboren und nichts dazugelernt.«
Theo schaut von seinem Teller auf und grunzt verächtlich in Richtung Grapefruitsaft.
»›Und ich weiß, dass er mich mag, weil …‹«, liest meine Mutter weiter, »›… er mit mir nach der Schule nach Hause geht, und wir reden auch stundenlang am Telefon, und gestern habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten und ihn geküsst, und er hat mich zurückgeküsst …‹« Oh bitte, erkläre dem Mädchen doch einer, dass man Sätze statt mit »und« auch mit einem Komma voneinander trennen kann. Plötzlich runzelt meine Mutter die Stirn, dann liest sie weiter.
»›Und er sagt, wir können zwar nicht miteinander gehen, aber wir könnten Freunde sein und die Vorzüge dieser Freundschaft genießen. Meinen Sie, ich sollte Ja sagen? Mit freundlichen Grüßen, Burlington Buddy.‹« Meine Mutter schaut mich an. »Genießt man die Vorzüge einer Freundschaft nicht immer?«
Ich schaue ausdruckslos drein.
»Theo?«, fragt sie.
»Das ist eine Redewendung«, grummelt er.
»Und was genau bedeutet diese Redewendung?«
Theos Gesicht läuft knallrot an. »Google mal.«
»Sag es mir doch einfach.«
»Das heißt, ein Junge und ein Mädchen haben Spaß miteinander, ohne zusammen zu sein, okay?«
Meine Mutter denkt darüber nach. »Du meinst Spaß wie in … Sex?«
»Unter anderem.«
»Und was passiert dann?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Theo. »Irgendwann ignorieren sie sich dann einfach wieder, nehme ich an.«
Meiner Mutter klappt die Kinnlade herunter. »Das ist das Erniedrigendste, was ich je gehört habe. Dieses arme Mädchen sollte dem Kerl nicht nur in den Hintern treten, sondern ihm alle vier Autoreifen zerstechen, und …« Plötzlich wandert ihr Blick zu Theo. »Du hast doch bis jetzt kein Mädchen so behandelt, oder?«
Theo verdreht die Augen. »Kannst du nicht einfach wie andere Mütter sein und mich fragen, ob ich Gras rauche?«
»Rauchst du Gras?«, fragt sie.
»Nein!«
»Hast du eine Freundin, deren Vorzüge du genießt?«
Theo steht auf und schiebt in derselben Bewegung den Stuhl nach hinten. »Ja, Tausende. Sie stehen Schlange vor der Tür. Hast du das etwa nicht bemerkt?« Er wirft seinen Teller in die Spüle und läuft nach oben.
Meine Mutter greift nach dem Stift, den sie sich in den Pferdeschwanz gesteckt hat (sie trägt immer einen Pferdeschwanz, denn sie weiß, wie sehr ich offenes Haar hasse, das bis auf die Schulter fällt). Dann kritzelt sie eine Antwort. »Jacob«, sagt sie, »sei bitte so süß, und räum den Tisch für mich ab, ja?«
Und da geht sie, meine Mutter, Heldin der Verwirrten, Retterin der Unterbelichteten, um Buchstabe für Buchstabe die Welt zu retten. Ich frage mich, was all die ergebenen Leser wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass ihre Tante Em einen Sohn hat, der als Soziopath durchgeht, und einen , der sozial überhaupt nicht funktioniert.
Ich würde auch gerne die Vorzüge einer Freundschaft genießen, auch wenn ich das meiner Mutter gegenüber nie zugeben würde.
Ich hätte gerne einen Freund – Punkt.
Letztes Jahr hat meine Mutter mir zum Geburtstag ein unglaubliches Geschenk gekauft: ein Radio mit Polizeifunk. Es empfängt Frequenzen, die andere Radios nicht empfangen können – eine davon im UKW-Bereich oberhalb der üblichen Radiofrequenzen und wird von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst benutzt. Ich weiß lange bevor sie eintreffen, dass die Highway Patrol ihre Streufahrzeuge losgeschickt hat, und ich bekomme spezielle Wetterwarnungen, wenn ein Nordoster im Anrücken ist. Meistens höre ich mir aber den Polizeifunk und die Notrufe an, denn selbst in einem so kleinen Ort wie Townsend gibt es dann und wann ein Verbrechen.