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Wer darf über Leben und Tod entscheiden?
Edward hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, seit er wegen eines heftigen Streits nach Thailand ausgewandert ist. Eine schreckliche Nachricht führt ihn zurück in die USA: Sein Vater, ein Wolfsforscher, liegt nach einem Unfall im Koma. Die Chancen auf Genesung sind minimal. Während seine Schwester Cara auf ein Wunder hofft, will Edward den Vater sterben lassen und seine Organe spenden. Wird er von Nächstenliebe oder von Rachegedanken angetrieben? Und wie weit wird Cara gehen, um das Leben ihres Vaters zu erhalten?
Eine herzergreifende Geschichte, die zum Nachdenken anregt - über Wölfe, Menschen und den Wert des Lebens. Der Roman erschien im Original unter dem Titel Lone Wolf.
»Die gefeierte Autorin weiß wie keine andere, ihre Leserinnen und Leser bis ins Innerste aufzuwühlen. Sie besitzt die wunderbare Gabe, uns mit ihren Figuren mitleben und mitlieben zu lassen.« BUCH-MAGAZIN
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Seitenzahl: 612
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Edward hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, seit er wegen eines heftigen Streits nach Thailand ausgewandert ist. Eine schreckliche Nachricht führt ihn zurück in die USA: Sein Vater, ein Wolfsforscher, liegt nach einem Unfall im Koma. Die Chancen auf Genesung sind minimal. Während seine Schwester Cara auf ein Wunder hofft, will Edward den Vater sterben lassen und seine Organe spenden. Wird er von Nächstenliebe oder von Rachegedanken angetrieben? Und wie weit wird Cara gehen, um das Leben ihres Vaters zu erhalten?
JODI PICOULT
Solange du bei uns bist
Übersetzung aus dem amerikanischenEnglisch von Rainer Schumacher
Für Josh, Alex und Matthew Picoult Eure Tante liebt euch. Sehr.
Alle Geschichten drehen sich um Wölfe – zumindest alle, die sich weiterzuerzählen lohnen. Alles andere ist sentimentales Geschwafel … Denken Sie mal darüber nach. Man kann vor Wölfen fliehen, gegen sie kämpfen, sie fangen und sie sogar zähmen. Man kann den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden, oder das mit anderen tun. Und man kann mit den Wölfen heulen, sich in einen Wolf verwandeln und – am besten von allem – zum Leitwolf werden. Das sind die einzigen guten Geschichten, die es gibt.
– Margaret Atwood, Der Blinde Mörder (2000/2009)
Vielleicht hätte ich damals den Tiger nicht befreien sollen.
Bei den anderen Tieren habe ich leichtes Spiel gehabt: bei dem schwerfälligen, aber dankbaren Elefantenpaar, dem wütenden Kapuzineräffchen, das auf meine Füße spuckte, während ich das Schloss aufbrach, und bei den schneeweißen Arabern, deren Atem wie eine unbeantwortete Frage zwischen uns hing. Tieren wird zu wenig Achtung entgegengebracht, vor allem von Zirkusdompteuren. Doch mich verstanden sie, das wusste ich sofort, als sie mich beobachteten, während ich mich im Schatten vor ihren Käfigen bewegte. Deshalb schlugen selbst die lautesten – die Papageien, die gezwungen worden waren, auf einer lächerlichen Wolke von Pudelköpfen zu reiten – auf ihrer Flucht in vollkommenem Einklang mit den Flügeln.
Ich war damals neun Jahre alt, und Wladislaws Fantastisches Zelt der Wunder hatte hier Station gemacht, in New Beresford, New Hampshire. Das allein grenzte schon an ein Wunder, da – nichts und niemand sich je nach Beresford, New Hampshire, verirrte – abgesehen von ein paar einsamen Skiläufern oder Reportern, die sich in Wahlkampfzeiten einen Kaffee in Ham’s General Store genehmigten oder bei Gas’n’Go auf die Toilette gingen. Jedes Kind, das ich kannte, hat versucht, sich durch die Löcher in dem eilends errichteten Zaun zu zwängen, um die Vorstellung zu sehen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Auch ich habe den Zirkus so zum ersten Mal gesehen. Ich hatte mich unter der Tribüne versteckt und schaute mit meinem besten Freund Louis zwischen den Beinen der zahlenden Gäste hindurch.
Unter das Zeltdach waren Sterne gemalt worden. Typisch Stadtmenschen. Sie waren natürlich nicht auf die Idee gekommen, dass sie einfach nur das Dach hätten öffnen müssen, um die echten Sterne zu sehen. Ich wuchs in der freien Natur auf. Denn wenn man lebte, wo ich einst gelebt habe – am Rand des White Mountain National Forest –, dann hat man einfach viel Zeit damit verbracht, im Freien zu zelten und in den Nachthimmel hinaufzuschauen. Wenn man seinen Augen Zeit ließ, sich an das Licht zu gewöhnen, dann sah der Himmel wie das Innere einer Schneekugel aus, die man umgedreht hatte, und man selbst stand mitten in ihr. Diese Zirkusleute haben mir leidgetan, dass sie dafür auf Farbe zurückgreifen mussten.
Ich musste zugeben, dass ich mich zunächst nicht von dem rot besetzten Schwalbenschwanz des Zirkusdirektors und den langen Beinen der Seiltänzerin losreißen konnte. Als sie einen Spagat in der Luft machte und sitzend auf dem Seil landete, hörte ich, wie Louis die Luft ausstieß, die er angehalten hatte. Das Seil hat wirklich Glück, hatte er gesagt.
Dann hatten sie die Tiere rausgebracht, zuerst die Pferde, die wütend mit den Augen rollten. Dann kam der Affe in einem dümmlichen Pagenkostüm. Er kletterte auf den Sattel des Führungspferdes und zeigte den Zuschauern die gefletschten Zähne, während er immer und immer wieder im Kreis ritt. Anschließend folgten die Hunde, die durch Reifen sprangen, die Elefanten, die tanzten, als wären sie in einer andren Zeitzone, und ein kunterbunter Schwarm von Vögeln.
Und dann kam der Tiger.
Natürlich wurde er großartig angekündigt. Was für eine gefährliche Bestie er sei, dass die Zuschauer so etwas bloß nicht daheim versuchen sollten. Der Dompteur, ein Mann mit aufgequollenem, sommersprossigem Gesicht, das an ein Zimtbrötchen erinnerte, stand mitten in der Manege, als die Tür zum Tigerkäfig geöffnet wurde. Der Tiger brüllte, und obwohl ich ein ganzes Stück von ihm entfernt war, konnte ich seinen Atem riechen.
Der Tiger sprang auf ein Metallpodest und schlug mit der Tatze in die Luft. Auf Kommando stellte er sich auf die Hinterbeine und drehte sich im Kreis.
Ich wusste ein, zwei Dinge über Tiger. Wenn man ihn rasiert, sieht man, dass auch die Haut gestreift ist. Jeder Tiger besitzt einen weißen Fleck hinter den Ohren, sodass es so aussieht, als behalte er einen auch dann im Auge, wenn er einem den Rücken zukehrt.
Und: Tiger gehören in die Wildnis und nicht hierher nach Beresford, wo die Menge bei ihrem Anblick kreischte und klatschte.
In diesem Augenblick geschah zweierlei: Zunächst einmal wurde mir klar, dass ich den Zirkus nicht mehr mochte. Zweitens starrte der Tiger mir genau in die Augen, als hätte er sich ausgerechnet mich ausgesucht.
Und ich wusste genau, was er von mir wollte.
Nach der Abendvorstellung gingen die Artisten zum See hinter der Grundschule, um dort zu trinken, Poker zu spielen und zu schwimmen. Und so waren die meisten ihrer Trailer, die hinter dem großen Zelt standen, leer. Es gab natürlich einen Wachmann, einen Berg von Kerl mit kahlgeschorenem Kopf und einem Ring in der Nase, doch der schnarchte lauter, als die Kapelle vorhin gespielt hatte, die leere Wodkaflasche neben sich. Ich kletterte durch den Zaun.
Selbst heute kann ich Ihnen nicht sagen, warum ich es tat. Da war einfach etwas zwischen diesem Tiger und mir, dieses Wissen, dass ich frei war und er nicht. Und dann war da die Tatsache, dass sein ungeregeltes, wildes Leben auf zwei Shows, eine um drei, die andere um sieben, reduziert worden war.
Am meisten Arbeit machte das Schloss des Affenkäfigs. Die meisten anderen konnte ich einfach mit einem Eispickel aufbrechen, den ich aus dem Whiskeyschrank meines Großvaters geklaut hatte. Ich ließ die Tiere rasch und leise heraus und schaute zu, wie sie in der Nacht verschwanden. Sie schienen zu verstehen, dass Diskretion das Gebot der Stunde war, und noch nicht einmal die Papageien gaben einen Laut von sich.
Der Letzte, den ich befreite, war der Tiger. Ich schätzte, dass den anderen Tieren gut fünfzehn Minuten Vorsprung reichen müssten, bevor ich ihnen den großen Räuber auf die Fersen hetzte. Also hockte ich mich vor den Käfig und schaute auf die Uhr. Und dort wartete ich noch immer, als plötzlich die Frau mit Bart vorbeikam.
Sie sah mich sofort. »Sieh an, sieh an«, sagte sie. Hinter dem langen Schnurrbart konnte ich ihren Mund nicht sehen. Aber sie fragte mich nicht, was ich hier machte, und sie vertrieb mich auch nicht. »Pass auf«, sagte sie nur. »Er spritzt.« Sie musste bemerkt haben, dass die anderen Tiere verschwunden waren. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, meine Taten irgendwie zu verbergen, die Käfigtüren standen noch offen. Aber sie starrte mich einfach nur einen Moment lang an und stieg dann die Stufen zu ihrem Trailer hinauf. In der Erwartung, dass sie die Cops rufen würde, hielt ich die Luft an. Doch stattdessen schaltete sie nur das Radio ein. Streichermusik drang aus dem Trailer, und die Frau sang mit tiefer Stimme mit.
Noch nach all dieser Zeit erinnere ich mich deutlich an das Knirschen des Metalls, als ich die Tür des Tigerkäfigs öffnete. Ich weiß noch genau, wie er sich wie eine Hauskatze an mir gerieben hatte, bevor er mit einem Satz über den Zaun sprang. Und ich weiß auch noch, wie ich die Angst in meinem Mund schmeckte, als mir klar wurde, dass man mich gleich erwischen würde.
Aber nichts geschah. Die Frau mit Bart erzählte nie jemandem von mir. Stattdessen gab man den Zirkusarbeitern die Schuld, die die Elefantenkäfige ausmisteten. Außerdem war die Stadt am nächsten Morgen viel zu beschäftigt damit, die entflohenen Tiere einzufangen, als dass es wirklich jemanden gekümmert hätte, wer dafür verantwortlich gewesen war. Die Elefanten fand man badend im Marktbrunnen, nachdem sie eine Statue von Franklin Pierce umgeworfen hatten. Der Affe hatte sich einen Weg in die Vitrine des Diners gesucht und verschlang gerade eine Schokoladentorte, als man ihn fing. Die Hunde wiederum wühlten sich durch die Mülltonnen hinter dem Kino, und die Pferde hatten sich in alle Winde verstreut. Eines galoppierte über die Main Street, ein anderes graste neben den Kühen auf der Weide eines örtlichen Farmers, und wieder ein anderes war über zehn Meilen weit in ein Skigebiet gelaufen, wo es von einem Rettungshubschrauber entdeckt wurde. Von den drei Papageien blieben zwei für immer verschollen, und der dritte hatte sich ein Nest im Glockenturm der Shantuck Congregational Church gebaut.
Der Tiger war zu diesem Zeitpunkt natürlich schon lange über alle Berge gewesen, und das stellte ein Problem dar, denn ein paar herumflatternde Papageien sind eine Sache, eine streunende Raubkatze jedoch etwas völlig anderes. Die Nationalgarde wurde in den White Mountain National Forest geschickt, und drei Tage lang blieben sämtliche Schulen in New Hampshire geschlossen. Louis kam mit dem Fahrrad zu uns und erzählte mir von den Gerüchten, die er gehört hatte. Zuerst habe der Tiger Mr Wolzmans beste Färse gerissen, dann ein Kleinkind und schließlich unseren Schuldirektor.
Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, dass der Tiger etwas fraß. Wenn ich ihn mir vorstellte, dann schlief er den ganzen Tag über hoch in einem Baum und orientierte sich nachts an den Sternen.
Sechs Tage nachdem ich die Zirkustiere befreit hatte, fand ein Soldat mit Namen Hopper McPhee, der erst eine Woche zuvor zur Nationalgarde gekommen war, den Tiger. Die große Raubkatze schwamm im Ammonoosuc River. Ihre Schnauze und die Pranken waren noch blutig von dem Hirsch, den sie kurz zuvor gerissen hatte. Laut Hopper McPhee habe der Tiger sich in der Absicht auf ihn gestürzt, ihn zu töten, und deshalb habe er schießen müssen.
Das wage ich jedoch stark zu bezweifeln. Der Tiger hatte nach seiner Mahlzeit vermutlich eher gedöst, und mit Sicherheit war er nicht hungrig gewesen. Was ich jedoch glaube, ist, dass der Tiger Hopper McPhee angegriffen hatte. Denn wie gesagt, die meisten Menschen bringen Tiere nicht genügend Achtung entgegen, und der Tiger hatte mit Sicherheit verstanden, was los war, als er die Waffe sah.
In diesem Moment hatte er gewusst, dass er den Nachthimmel würde aufgeben müssen.
Dass man ihn wieder einsperren würde.
Und dann hatte dieser Tiger eine Entscheidung getroffen.
Wenn man unter Wölfen lebt, muss man selbst einer sein.
– Nikita Chruschtschow, Sowjetführer, Zitat aus dem Observer, London, 26. September 1971
Wenige Sekunden bevor unser Truck gegen den Baum prallt, erinnere ich mich an das erste Mal, als ich versuchte, ein Leben zu retten.
Ich war dreizehn und gerade wieder zu meinem Vater gezogen. Genauer gesagt hingen meine Kleider wieder in meinem ehemaligen Zimmer. Ich jedoch wohnte in einem Trailer am nördlichen Ende von Redmond’s Trading Post & Dinosaur World. Dort waren die Wolfsrudel meines Vaters untergebracht, zusammen mit Gibbons, Falken, einem übergewichtigen Löwen und einer beweglichen T-Rex-Figur, die immer zur vollen Stunde brüllte. Und da mein Vater dort neunundneunzig Prozent seiner Zeit verbrachte, erwartete er von mir, dass ich ihm folgte.
Ich war der Überzeugung, dass das immer noch besser sei, als bei meiner Mom, Joe und den Wunderzwillingen zu wohnen. Aber der Übergang war nicht ganz so glatt verlaufen, wie ich gehofft hatte. Ich hatte mir vorgestellt, wie mein Dad und ich sonntagmorgens Pfannkuchen backten, Karten spielten oder im Wald spazieren gingen. Und nun ja, mein Dad ging auch tatsächlich im Wald spazieren, allerdings nur in den Gehegen, die er für seine Rudel gebaut hatte, und er war vollauf damit beschäftigt, ein Wolf zu sein. Er wälzte sich im Schlamm mit Sibo und Sobagw, den einfachen Rudelmitgliedern, hielt sich aber von Pekeda fern, dem Beta-Wolf des Rudels. Er fraß sogar vom Kadaver eines Kalbs, die Wölfe links und rechts neben sich, Hände und Mund blutverschmiert, denn mein Dad glaubte, dass er mehr über diese Tiere lernen konnte, wenn er sich dem Rudel anschloss, anstatt es wie andere Biologen aus der Ferne zu beobachten. Zu der Zeit, als ich bei ihm einzog, hatten ihn bereits fünf Rudel als Ehrenmitglied akzeptiert und gestatteten ihm, mit ihnen zu leben, zu fressen und zu jagen. Dass er ein Mensch war, ignorierten sie weitestgehend. Aus diesem Grund hielten ihn einige Leute für ein Genie. Die anderen dagegen hielten ihn jedoch einfach für verrückt.
An dem Tag, da ich meine Mutter und ihre brandneue Familie verließ, empfing mich mein Dad nicht gerade mit offenen Armen. Er war in einem der Gehege bei Mestawe, die gerade zum ersten Mal tragend war, und versuchte, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, damit sie ihn als Kindermädchen für ihre Welpen akzeptierte. Er schlief sogar mit seiner Wolfsfamilie, während ich bis spät in die Nacht durch die Fernsehkanäle zappte. Ich fühlte mich einsam in dem Trailer, doch ich hätte mich noch einsamer gefühlt, wenn ich alleine in dem leeren Haus hätte wohnen müssen.
Im Sommer wimmelt es in den White Mountains nur so von Touristen, die von Santa’s Village nach Story Land und von dort zu Redmond’s Trading Post wanderten. Im März brüllte der dämliche Tyrannosaurus die Uhrzeit jedoch in einen leeren Park hinaus. Die einzigen Leute, die auch außerhalb der Saison hier waren, waren mein Dad, der sich um seine Wölfe kümmerte, und Walter, der meinen Dad vertrat, wenn dieser mal nicht da war. Der Park war wie eine Geisterstadt, und da ich nach der Schule nichts Besseres zu tun hatte, verbrachte auch ich immer mehr Zeit bei den Gehegen. Ich ging nahe genug an den Zaun heran, dass Bedagi, der Wolf des Rudels, der dafür zuständig war, Fremde zu ›prüfen‹, sich an meinen Geruch gewöhnen konnte. Ich schaute zu, wie mein Vater für Mestawe eine Geburtsmulde in ihrer Höhle grub, und gleichzeitig erzählte ich ihm von dem Footballcaptain, den man beim Schummeln erwischt hatte, oder der Oboe-Spielerin im Schulorchester, die seit Neuestem Kaftans trug, weshalb Gerüchte die Runde machten, sie sei schwanger.
Im Gegenzug erzählte mein Vater mir, dass er sich Sorgen um Mestawe machte. Sie sei noch ein sehr junges Weibchen, und Instinkte haben ihre Grenzen. Sie hatte kein Vorbild, das ihr hätte zeigen können, was es bedeutet, eine gute Mutter zu sein. Das hier war ihr erster Wurf. Und manchmal ließ eine Wölfin ihre Welpen einfach im Stich, weil sie es nicht besser wusste.
In der Nacht, als Mestawe ihre Jungen warf, schien alles nach Plan zu laufen. Zur Feier der Geburt öffnete mein Vater eine Flasche Champagner und ließ mich sogar ein Glas trinken. Ich wollte die Welpen sehen, doch mein Vater sagte, es würde noch Wochen dauern, bis sie den Bau verlassen würden. Selbst Mestawe würde eine ganze Woche lang in der Höhle bleiben und alle zwei Stunden die Welpen füttern.
Doch zwei Nächte später rüttelte mein Vater mich wach. »Cara«, sagte er, »du musst mir helfen.«
Ich zog meinen Wintermantel und die Stiefel an und folgte ihm zu dem Gehege, wo Mestawe normalerweise in ihrem Bau lag. Jetzt war sie nicht mehr dort. Sie wanderte umher und versuchte, so weit wie möglich von ihren Babys wegzukommen. »Ich habe alles versucht, um sie wieder zurückzubekommen«, erklärte mein Vater in sachlichem Ton, »aber sie will einfach nicht. Wenn wir die Welpen jetzt nicht retten, dann werden wir keine zweite Chance bekommen.«
Dad kroch in die Höhle und kam mit zwei winzigen, schrumpeligen Ratten heraus. So zumindest sahen die Jungen mit ihren zusammengekniffenen Augen aus. Dann gab er sie mir, und ich steckte sie in meinen Mantel, während Dad die anderen beiden Welpen holte. Einer davon sah schlechter aus als die anderen drei. Er rührte sich nicht mehr, sondern grunzte nur und stieß dann und wann ein kaum hörbares Schnauben aus.
Ich folgte meinem Dad zu einem Werkzeugschuppen hinter dem Trailer. Während ich geschlafen hatte, hatte er sämtliche Werkzeuge in den Schnee hinausgeworfen, der Boden war jetzt mit Heu bedeckt. Eine Decke mit rotem Schottenmuster, die ich aus dem Trailer kannte, lag in einem kleinen Karton. »Leg sie rein«, wies mein Vater mich an, und das tat ich. Dank einer Wärmflasche unter der Decke fühlten die Tiere sich wie an Mutters Bauch. Drei der Welpen krochen sofort zwischen die Falten. Der vierte Welpe jedoch, ein Weibchen, fühlte sich kalt an. Anstatt das Tier neben seine Brüder zu legen, steckte ich es wieder in meinen Mantel und drückte es ans Herz.
Als mein Vater wieder zurückkehrte, brachte er Babyflaschen mit Esbilac mit, einem Muttermilchersatz für Tiere. Er griff nach der kleinen Wölfin in meinen Armen, doch ich wollte sie nicht loslassen. »Ich werde die anderen füttern«, sagte er zu mir. Während ich darum kämpfte, dass mein Welpe nur einen Tropfen trank, saugten die anderen drei die Flaschen im Handumdrehen leer.
Alle zwei Stunden fütterten wir die Welpen, und am nächsten Morgen machte ich mich nicht für die Schule fertig, und mein Vater reagierte darauf, als hätte er nichts anderes von mir erwartet. Es war eine unausgesprochene Tatsache: Was wir hier taten, war weit wichtiger als alles, was ich in einem Klassenzimmer hätte lernen können.
Am dritten Tag gaben wir den Welpen Namen. Mein Vater war der Meinung, dass einheimische Tiere auch die Namen der Einheimischen bekommen sollten. Deshalb trugen alle seine Wölfe Namen aus der Sprache der Abenaki. Nodah, nannten wir den größten Welpen, ein lautstarkes Energiebündel. Der Name bedeutet Höre mich. Kina, Schau her, war der Tollpatsch im Wurf. Immer wieder verfing sie sich in Schnürsenkeln oder blieb unter dem Deckel des Kartons stecken. Und Kita, Hör zu, beobachtete uns ständig.
Ihre kleine Schwester nannte ich Miguen, Feder. Manchmal trank sie genauso gut wie ihre Brüder, und ich glaubte schon, sie sei über den Berg. Doch dann erschlaffte sie in meiner Hand, und ich musste sie reiben und wieder in mein Hemd stecken, um sie warmzuhalten.
Weil ich so gut wie nicht mehr zum Schlafen kam, war ich so müde, dass ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Manchmal schlief ich im Stehen ein, döste ein paar Minuten und schrak dann wieder auf. Und die ganze Zeit über trug ich Miguen mit mir herum, sodass sich meine Arme schon ganz leicht anfühlten, wenn ich sie einmal nicht bei mir hatte. Als ich in der vierten Nacht wieder die Augen öffnete, nachdem ich kurz eingedöst war, schaute mein Vater mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte. »Als du geboren wurdest«, sagte er, »wollte ich dich auch nie wieder loslassen.«
Zwei Stunden später begann Miguen unkontrolliert zu zittern. Ich flehte meinen Vater an, zu einem Tierarzt zu fahren, in ein Krankenhaus oder zu sonst jemandem, der uns helfen konnte. Ich schluchzte so heftig, dass mein Vater schließlich die anderen Welpen in eine Kiste steckte und zu dem alten Truck trug, den er fuhr. Die Kiste stand vorne zwischen uns, und Miguen zitterte unter meinem Mantel. Und ich zitterte auch, allerdings weiß ich nicht, ob daran die Kälte schuld war oder meine Angst vor dem, was kommen musste.
Als wir schließlich auf dem Parkplatz vor der Tierarztpraxis standen, war Miguen tot. Ich merkte es im selben Moment, in dem sie starb. Mit einem Mal wurde sie in meinen Armen so leicht wie eine leere Hülle.
Ich begann zu schreien. Ich konnte die Vorstellung einfach nicht ertragen, dass Miguen so nahe bei mir war und doch tot.
Mein Vater nahm sie mir ab und wickelte sie in sein Flanellhemd. Dann legte er das Bündel auf den Rücksitz, sodass ich sie nicht länger sehen musste. »In der Wildnis«, erklärte er mir, »hätte sie nicht einen Tag lang überlebt. Sie hat es dir zu verdanken, dass sie es überhaupt bis jetzt geschafft hat.«
Wenn mich das aufheitern sollte, so verfehlte es seine Wirkung völlig. Ich brach in lautes Schluchzen aus.
Plötzlich stand die Kiste mit den Welpen auf dem Armaturenbrett, und ich lag in den Armen meines Vaters. Er roch nach Minze und Schnee. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, warum die Gemeinschaft der Wölfe wie eine Droge für meinen Vater war, von der er nicht loskommen konnte. Wenn es, so wie hier, um Leben und Tod ging, konnte es da wirklich von Bedeutung sein, ob die Wäsche pünktlich aus der Reinigung geholt wurde, oder ob man einen Elternabend vergaß?
In der Wildnis, erklärte mir mein Vater, lernt eine Mutterwölfin ihre Lektionen auf die harte Tour. Doch in Gefangenschaft, wo Wölfe nur alle drei, vier Jahre werfen, herrschen andere Regeln. Dann kann man nicht einfach danebenstehen und einen Welpen sterben lassen. »Die Natur weiß, was sie will«, sagte mein Vater. »Aber das macht es für uns nicht leichter.«
Vor dem Trailer meines Vaters steht ein Baum, ein Rotahorn. Wir haben ihn in dem Sommer nach Miguens Tod gepflanzt, an der Stelle, wo wir sie begraben haben. Und ein Rotahorn ist es auch, dem wir uns gerade, vier Jahre später, viel zu schnell nähern, auf den unser Truck, in eben diesem Moment, frontal aufprallt.
Eine Frau kniet neben mir. »Sie ist wach«, sagt sie. Ich habe Regen in den Augen. Ich rieche Rauch, und ich kann meinen Vater nicht sehen.
Dad?, sage ich, kann mich aber nur in meinem Kopf hören.
Mein Herz schlägt am falschen Ort. Ich schaue auf meine Schulter, denn dort spüre ich es.
»Sieht wie eine gebrochene Schulter aus, vielleicht auch ein paar Rippen. Cara? Bist du Cara?«
Woher kennt sie meinen Namen?
»Du hattest einen Unfall«, erzählt mir die Frau. »Wir werden dich jetzt ins Krankenhaus bringen.«
»Mein … Vater …«, bringe ich mühsam hervor. Jedes Wort ist wie ein Stich in meinem Arm.
Ich drehe den Kopf und suche nach ihm. Ich sehe Feuerwehrleute, die einen Schlauch auf das Flammenmeer richten, das einmal der Truck meines Vaters gewesen ist. Der Regen auf meinem Gesicht ist gar kein Regen, sondern der Nebel aus den Feuerwehrschläuchen.
Plötzlich erinnere ich mich wieder, an die zersprungene Windschutzscheibe, daran, wie das Heck des Trucks ausbricht, an den Geruch von Benzin. Und daran, wie ich nach meinem Vater geschrien habe und er nicht geantwortet hat. Ich zittere am ganzen Leib.
»Du bist wirklich tapfer«, sagt die Frau zu mir. »In deinem Zustand deinen Vater aus dem Wagen zu ziehen …«
Ich habe einmal ein Interview mit einer Jugendlichen gesehen, die erzählte, wie sie einen Kühlschrank von ihrem kleinen Cousin gewuchtet hat, der auf ihn gefallen war. Es hatte etwas mit Adrenalin zu tun.
Ein Feuerwehrmann, der mir den Blick versperrt, tritt zur Seite, und ich sehe eine große Gruppe weiterer Sanitäter, die sich alle um meinen Vater drängen, der reglos auf dem Boden liegt.
»Wenn du nicht gewesen wärst«, fügt die Frau hinzu, »dann wäre dein Dad jetzt nicht mehr am Leben.«
Später werde ich mich fragen, ob diese Bemerkung der Auslöser für all das war, was ich später getan habe. Doch im Moment weine ich einfach nur. Denn ich weiß, dass die Worte der Frau nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnten.
Die folgenden Fragen werden mir immer wieder gestellt: Wie kann man so was tun? Wie kann man der Zivilisation und seiner Familie den Rücken kehren, um mit einem Rudel wilder Wölfe in den Wäldern Kanadas zu leben? Wie kann man auf eine heiße Dusche, Kaffee, menschlichen Kontakt, Gespräche und zwei Jahre im Leben seiner Kinder verzichten?
Nun, das Duschen vermisst man nicht, wenn man weiß, dass der Geruch von Seife es dem Rudel erschwert, dich am Geruch zu erkennen.
Kaffee wiederum vermisst man nicht, wenn man auch ohne ständig hellwach ist.
Und menschlichen Kontakt vermisst man nicht, wenn man zwischen den warmen Körpern von zwei tierischen Mitgeschöpfen liegt. Und Gespräche vermisst man nicht mehr, wenn man erst einmal ihre Sprache gelernt hat.
Und man trennt sich auch nicht von seiner Familie, sondern findet eine neue.
Wie Sie sehen, stellt sich nicht die Frage, wie ich in die Wälder haben gehen können, …
… sondern die, wie ich es geschafft habe, wieder zurückzukehren.
Das Gefühl, dass jederzeit jemand aus dem Krankenhaus anrufen könne, hatte mich ständig begleitet, und genau wie ich es mir immer vorgestellt hatte, kommt dieser Anruf mitten in der Nacht. »Ja«, melde ich mich, setze mich auf und vergesse kurz, dass ich inzwischen ein neues Leben habe und einen neuen Mann.
»Wer ist das?«, fragt Joe und rollt sich herum.
Aber sie rufen nicht wegen Luke an. »Ja, ich bin Caras Mutter«, bestätige ich. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Sie war in einen Autounfall verwickelt«, sagt die Krankenschwester, »und sie hat eine schwere Schulterfraktur davongetragen. Sie ist stabil, muss aber operiert werden und …«
Ich bin sofort aus dem Bett und suche im Dunkeln nach meiner Jeans. »Ich bin schon unterwegs«, sage ich.
Mittlerweile hat Joe das Licht angeschaltet und sich aufgesetzt. »Es geht um Cara«, erkläre ich. »Sie hatte einen Unfall.«
Joe fragt mich nicht, warum das Krankenhaus nicht Luke angerufen hat, schließlich hat er im Augenblick das Sorgerecht. Aber vielleicht haben sie ja auch schon versucht, ihn zu erreichen, und er ist irgendwo im Busch. Ich ziehe mir ein Sweatshirt über und versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, um nicht von meinen Gefühlen mitgerissen zu werden. »Elizabeth mag keine Pfannkuchen zum Frühstück, und Jackson muss die Einwilligungserklärung für den Schulausflug abgeben …« Dann erst blicke ich ihn an. »Musst du morgen früh nicht ins Gericht?«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, erwidert Joe in sanftem Ton. »Ich komme mit den Zwillingen, dem Richter und allem anderen schon zurecht. Kümmere du dich erst einmal um Cara.«
Es gibt Augenblicke, da kann ich einfach nicht glauben, was für ein Glück ich mit diesem Mann habe. Manchmal denke ich dann, dass ich das nach all den Jahren mit Luke auch verdient habe. Doch dann wieder – jetzt zum Beispiel – bin ich sicher, dass ich dafür noch immer einen hohen Preis zahle.
Es sind nicht viele Leute in der Notaufnahme, als ich zur Rezeption hinüberrenne. »Cara Warren«, keuche ich. »Sie ist mit dem Krankenwagen eingeliefert worden. Sie ist meine Tochter.«
Meine Stimme klingt ungewöhnlich schrill.
Eine Krankenschwester führt mich durch eine Tür in einen Flur mit Glaskabinen, die mit Vorhängen verhangen sind. Einige der Türen stehen offen. Ich sehe eine alte Frau, die im Krankenhaushemd auf einer Trage sitzt. Einem Mann hat man die Jeans bis zu den Knien aufgeschnitten, sein Knöchel ist geschwollen. Als eine hochschwangere Patientin, die sich ganz auf ihre Atmung konzentriert, im Rollstuhl an uns vorbeigefahren wird, weichen wir rasch aus.
Luke war derjenige, der Cara das Autofahren beigebracht hat. Trotz des Leichtsinns, den er ansonsten an den Tag legt, war er unglaublich kleinlich, als es um die Sicherheit seiner Tochter ging. Anstatt sie schon nach den erforderlichen vierzig Fahrstunden zur Prüfung anzumelden, hat er sie erst nach fünfzig gehen lassen. Und Cara ist eine vorsichtige Fahrerin. Aber warum war sie dann so spät noch unterwegs, obwohl sie doch am nächsten Morgen in die Schule musste? War es überhaupt ihre Schuld? Ist sonst noch jemand verletzt worden?
Schließlich betritt die Krankenschwester eine der Kabinen. Cara liegt auf dem Bett. Sie sieht sehr klein und sehr verängstigt aus. Da ist Blut in ihrem dunklen Haar, auf ihrem Gesicht und auf dem Sweatshirt. Ihr Arm ist mit einem Verband fest am Oberkörper fixiert.
»Mommy«, schluchzt sie. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann sie mich zum letzten Mal so genannt hat.
Sie weint sich die Augen aus, und ich schlinge die Arme um sie. »Alles wird gut«, sage ich.
Cara schaut zu mir auf. Ihre Augen sind rot, und ihre Nase läuft. »Wo ist Dad?«
Diese Worte sollten mir eigentlich nicht wehtun, doch sie tun es. »Ich bin sicher, das Krankenhaus hat ihn angerufen, und …«
Plötzlich kommt eine Assistenzärztin zu uns herein. »Sind Sie Caras Mom? Wir brauchen Ihr schriftliches Einverständnis, bevor wir sie operieren können.« Sie sagt noch mehr – vage höre ich etwas von Schulterblatt und Rotatorenmanschette –, dann hält sie mir ein Klemmbrett hin und zeigt mir, wo ich unterschreiben soll.
»Wo ist Dad?« Diesmal schreit Cara.
Die Ärztin dreht sich zu ihr um. »Wir versorgen ihn, so gut wir können«, sagt sie, und in diesem Augenblick wird mir klar, dass Cara nicht allein im Auto gesessen hat.
»Luke war dabei? Ist er okay?«
»Sind Sie seine Frau?«
»Geschieden.«
»Dann darf ich Ihnen leider keinerlei Auskunft geben. Das ist gesetzlich so geregelt. Aber ja«, räumt sie ein, »auch er ist Patient hier.« Sie schaut mich an und redet so leise, dass Cara sie nicht hören kann. »Wir müssen seine nächsten Angehörigen kontaktieren. Hat er eine Partnerin? Eltern? Gibt es irgendjemanden, den Sie anrufen könnten?«
Luke hat nicht wieder geheiratet, und aufgezogen wurde er von seinen Großeltern, doch die sind schon seit Jahren tot. Könnte er für sich selbst sprechen, würde er mich bitten, im Trading Post anzurufen, um Walter zu bitten, das Rudel zu versorgen.
Aber vielleicht kann er ja nicht mehr für sich selbst sprechen. Vielleicht ist es ja das, was die Ärztin mir nicht sagen kann oder will.
Bevor ich antworten kann, kommen zwei Pfleger herein und ziehen Caras Bett von der Wand. Ich fühle mich wie eine Ertrinkende. Es gibt ganz sicher noch viele Fragen, die ich stellen, so viele Fakten, die ich klären müsste, bevor sie meine Tochter in den Operationssaal schieben, doch ich war noch nie gut unter Druck. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und drücke Caras freie Hand. »Wenn du zurückkommst, wird alles wieder in Ordnung sein«, sage ich ein wenig zu fröhlich. Einen Augenblick später bin ich allein in dem Raum, der sich steril und unglaublich still anfühlt.
Ich suche in meiner Handtasche nach dem Handy und frage mich, wie spät es jetzt wohl in Bangkok ist.
Ein Wolfsrudel ist wie die Mafia. Jeder hat seinen festen Platz, und von jedem wird erwartet, dass er seinen Beitrag für die Familie leistet.
Jeder hat schon mal vom Alpha-Wolf gehört, dem Rudelführer. Das ist der Pate, das Hirn der Bande, ihr Beschützer. Er ist derjenige, der den anderen Wölfen sagt, wo sie hingehen und wann und was sie jagen sollen. Der Alpha-Wolf ist der Entscheidungsträger, der capo di tutti capi, der noch aus zehn Fuß Entfernung eine Veränderung im Herzschlag der Beute wahrnehmen kann. Aber der Alpha-Wolf ist kein wilder Krieger, auch wenn er im Film häufig so dargestellt wird. Als Entscheidungsträger ist er viel zu wertvoll, als dass er sich unnötig in Gefahr begeben würde.
Deshalb steht vor jedem Alpha-Wolf ein Beta-Wolf, ein Vollstrecker. Den Rang des Beta-Wolfs bekleidet ein kühnes, großes Tier, das vollkommen aus Aggression zu bestehen scheint. Er wird Sie niederreißen, bevor Sie auch nur in die Nähe seines Bosses kommen. Und es ist entbehrlich. Wenn es draufgeht, wird das niemanden wirklich kümmern, denn von seiner Art gibt es stets genug.
Dann ist da der Tester-Wolf, der Prüfer. Er ist sehr aufmerksam und vorsichtig und traut niemandem, dem er begegnet. Er hält immer nach Veränderungen Ausschau, nach etwas Neuem, und er wird sich an jeder Ecke auf die Lauer legen, um sicherzustellen, dass der Alpha-Wolf sofort alarmiert wird, sollte etwas passieren. Seine Nervosität ist von außerordentlicher Wichtigkeit für die Sicherheit des Rudels. Und er ist auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Wenn der Verdacht entsteht, dass ein Mitglied des Rudels seine Aufgabe nicht erfüllt, wird der Tester-Wolf eine Situation herbeiführen, in der dieser Wolf sich beweisen muss. Zum Beispiel wird er einen Kampf provozieren, und wenn der andere Wolf ihn nicht zu Boden ringen kann, dann wird er einen Rang herabgestuft.
Diesem Schlichter-Wolf hat man im Laufe der Jahre viele Namen gegeben, von Cinderella-Wolf bis zum Omega-Wolf. Früher hat man geglaubt, er stünde ganz unten in der Hierarchie und diene dem Rudel als Sündenbock für alles. Heute weiß man jedoch, dass der Omega-Wolf eine wesentliche Rolle im Rudel spielt. Wie der kleine, strebsame Anwalt des Mobs, der für lustige Ablenkung sorgt und genau weiß, wie man die anderen starken Persönlichkeiten beruhigt, so wirft sich auch der Omega-Wolf dazwischen, wenn es im Rudel zu Streitigkeiten kommt. Kämpfen zwei Tiere miteinander, springt der Omega zwischen sie, albert herum, und plötzlich beruhigen sich die beiden wütenden Wölfe wieder. Auf diese Weise wird niemand verletzt. Der Omega-Wolf steht also keineswegs am untersten Ende der Hierarchie. Ihm kommt vielmehr die wichtige Rolle eines Schlichters zu. Ohne ihn könnte das Rudel nicht funktionieren, alle würden ständig im Krieg miteinander liegen.
Sie können über die Mafia sagen, was Sie wollen, aber sie funktioniert, weil jedes Mitglied eine klar definierte Rolle hat. Und alles, was die Mafiosi tun, tun sie zum Wohl aller in ihrer Gemeinschaft. Sie sind sogar bereit, füreinander zu sterben.
Und es gibt noch einen Grund, warum man ein Wolfsrudel mit der Mafia vergleichen kann:
Für beide gibt es nichts Wichtigeres als die Familie.
Sie wären überrascht, wie leicht es ist, in einer Stadt mit neun Millionen Einwohnern aufzufallen. Allerdings bin ich auch ein Falang, wie die Thailänder uns ›Bleichgesichter‹ nennen. Das sieht man auch an meiner inoffiziellen Uniform, die mich als Lehrer ausweist – Hemd und Krawatte –, und an meinem blonden Haar, das wie ein Leuchtturm aus einem Meer von Schwarz ragt.
Heute unterrichte ich meine kleine Schülergruppe in englischer Konversation. Sie sollen sich zu zweit zusammentun und eine Unterhaltung zwischen einem Ladenbesitzer und einem Kunden spielen. »Irgendwelche Freiwillige?«, frage ich.
Totenstille.
Thailänder sind von Natur aus eher schüchtern und haben außerdem Angst, das Gesicht zu verlieren, wenn sie eine falsche Antwort geben. Und so ziehen sich die Unterrichtsstunden oft quälend in die Länge. Für gewöhnlich weise ich meine Schüler an, in kleinen Gruppen zusammenzuarbeiten. Dann gehe ich rum und prüfe ihre Fortschritte. Aber an Tagen wie diesem, an denen ich die mündliche Mitarbeit bewerten möchte, ist das Sprechen in der Öffentlichkeit ein unvermeidliches Übel. »Jao«, sage ich zu einem Mann in meiner Klasse. »Du hast eine Tierhandlung und willst Jaidee davon überzeugen, ein Tier zu kaufen.« Ich drehe mich zu einem zweiten Mann um. »Jaidee, du willst dieses Tier nicht kaufen. Nun denn … Lasst mal hören.«
Die beiden stehen auf und starren auf die Blätter in ihren Händen. »Dieser Hund ist empfehlenswert«, beginnt Jao.
»Ich habe schon einen«, erwidert Jaidee.
»Gut gemacht!«, ermutige ich die beiden. »Jao, nenn ihm einen Grund, warum er deinen Hund trotzdem kaufen soll.«
»Dieser Hund lebt«, fügt Jao hinzu.
Jaidee zuckt mit den Schultern. »Nicht jeder will ein Tier, das noch lebt.«
Na ja, man kann nicht jeden Tag Erfolg haben.
Ich sammele die Hausaufgaben meiner Schüler ein, und sie verlassen das Klassenzimmer. Plötzlich sind sie richtig lebhaft und plaudern munter in einer Sprache drauflos, mit der ich nach sechs Jahren immer noch Probleme habe. Apsara, eine Großmutter mit vier Enkeln, gibt mir ihre Hausaufgabe: eine Erörterung. Ich schaue mir den Titel an: ›Esst mehr Vegetarier. Das ist gesund.‹
»Zieh dir das mal rein, Ajarn Edward«, sagt Apsara glücklich. Bevor sie in die Sprachschule kam, hat sie versucht, Englisch mithilfe der Serie Happy Days im Fernsehen zu lernen. Ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass ›Zieh dir das mal rein‹ nicht gerade eine Formulierung ist, die man als ›respektvoll‹ bezeichnen würde.
Ich unterrichte inzwischen seit sechs Jahren Englisch in einer Sprachschule inmitten des größten Einkaufszentrums, das ich je gesehen habe, gut zwanzig Minuten mit dem Taxi von Bangkok entfernt. Dass ich den Job bekommen habe, war reiner Zufall. Nachdem ich mit dem Rucksack durch Thailand gereist bin und mir hier und da ein paar Baht verdient habe, um nicht zu verhungern, bin ich mit achtzehn Jahren als Barkeeper in Patpong gelandet. Die Bar beheimatete eine von Thailands berühmten Ladyboy-Shows, Kathoey auf Thai. Dort habe ich versucht, genug Geld zu verdienen, um die Stadt wieder verlassen zu können. Einer der anderen Barkeeper stammte aus Irland und besserte sein Einkommen auf, indem er Englisch am American Language Institute unterrichtete. Dort würden immer qualifizierte Lehrer gesucht, sagte er. Als ich ihm daraufhin erklärte, dass man mich wohl kaum als ›qualifiziert‹ bezeichnen könne, lachte er. »Du sprichst doch Englisch, oder?«
Inzwischen beträgt mein Gehalt 45000 Baht. Ich habe eine eigene Wohnung, dann und wann ein kurzes Liebesabenteuer mit einem Einheimischen, und abends gehe ich mit anderen Ausländern, die hier leben, an der Nana Plaza einen trinken. Und ich habe viel gelernt. Zum Beispiel darf man hier niemanden auf dem Kopf berühren, denn das ist der höchste Teil des Körpers – im wörtlichen wie auch im spirituellen Sinne. Und in der Hochbahn schlägt man auch nicht die Beine übereinander, denn tut man das, zeigt man seinem Gegenüber die Fußsohle, den körperlich wie spirituell unreinsten Körperteil, das thailändische Äquivalent zu unserem Mittelfinger. Man gibt sich auch nicht die Hand, sondern macht den wai – das heißt, man faltet die Hände wie zum Gebet und berührt mit der Nase die Spitzen der Zeigefinger. Je tiefer man sich dabei verneigt, desto größeren Respekt zeigt man. Ein wai kann ein Gruß, eine Entschuldigung oder ein Ausdruck der Dankbarkeit sein.
Man muss eine Kultur einfach bewundern, in der man mit nur einer einzigen Geste Danke und Es tut mir leid sagen kann.
Jedes Mal, wenn ich es leid bin, hier zu leben, oder wenn ich das Gefühl habe, dass sich einfach nichts verändert, trete ich einen Schritt zurück und erinnere mich daran, dass ich nur als Gast hier bin, dass die Kultur und der Glaube der Thai hier wesentlich länger beheimatet sind als ich, und dass das, was der eine lediglich als andere Meinung betrachtet, für den Nächsten eine Respektlosigkeit darstellt.
Ich wünschte nur, ich hätte schon damals gewusst, was ich heute weiß.
Man kommt nicht wirklich leicht nach Koh Chang. Mit dem Bus sind es dreihundertfünfzehn Kilometer von Bangkok aus, und hat man dann Trat in den östlichen Provinzen erreicht, muss man mit einem Songthaew, einem Bus, zu einer der drei Anlegestellen fahren. Ao Thammachat ist die beste davon. Von dort braucht man nur zwanzig Minuten bis zur Insel. Lam Ngob hingegen ist die schlechteste. Die Fischerboote, die man dort zu Fähren umfunktioniert hat, benötigen mehr als eine Stunde für die Überfahrt.
Es mag Ihnen vielleicht sonderbar erscheinen, dass ich all diese Strapazen auf mich nehme, obwohl ich nur zwei Tage frei habe. Aber die Reise lohnt sich. Manchmal bekomme ich in Bangkok einfach keine Luft mehr, und dann muss ich an einen Ort, wo man nicht Wand an Wand mit anderen lebt. Vermutlich liegt das daran, dass ich in einem Teil von Neuengland aufgewachsen bin, der vom nächsten Einkaufszentrum zwei Stunden entfernt ist.
Nach einer Nacht in einer billigen Pension verbringe ich den Morgen damit, mir einen Weg zum Khlong-Nueng-Wasserfall zu suchen, dem größten der Insel. Ich bin verschwitzt und durstig und stehe kurz davor, aufzugeben, als der größte Fels, den ich je gesehen habe, mir den Weg versperrt. Zähneknirschend versuche ich, über ihn hinwegzuklettern, doch ich rutsche ab und schürfe mir die Knie auf. Dabei habe ich jetzt schon Angst davor, auf der anderen Seite wieder hinunterklettern zu müssen, aber aufgeben will ich auch nicht.
Keuchend komme ich oben an und rutsche auf der anderen Seite einfach hinunter. Dann stehe ich vor dem schönsten Wasserfall, den ich je gesehen habe. Schäumend und funkelnd ergießt er sich in die Schlucht. Ich ziehe mich bis auf die Shorts aus und wate in das klare Wasser, bis es mir bis zur Brust reicht. Ich tauche unter die Gischt. Dann krieche ich wieder heraus, lege mich auf den Rücken und lasse mich von der Sonne trocknen.
Seit ich nach Thailand gekommen bin, habe ich schon Hunderte solcher Augenblicke erlebt. Immer wieder bin ich auf etwas Unglaubliches gestoßen, das ich irgendwem zeigen möchte. Aber wenn man sich einmal dazu entschlossen hat, als Einzelgänger durchs Leben zu gehen, dann hat man dieses Privileg nicht. Also mache ich, was ich die ganzen sechs Jahre über gemacht habe. Ich hole mein Handy heraus und fotografiere den Wasserfall. Unnötig zu erwähnen, dass ich auf diesen Bildern nie selbst zu sehen bin. Und ich weiß nicht, ob ich sie überhaupt je jemandem zeigen werde, denn ich hatte schon Milchflaschen mit einer längeren Haltbarkeit als die meisten meiner Beziehungen. Trotzdem pflege ich dieses digitale Album, das Bilder des ersten Geisterhauses, das ich in Thailand gesehen habe, enthält, aber auch solche von den hölzernen Penissen des Chao-Mae-Tuptim-Schreins und den unheimlichen siamesischen Föten, die im Museum für Forensische Wissenschaften nahe Wat Arun in Formaldehyd eingelegt sind.
Ich halte das Handy in der Hand und sehe mir die Bilder an, als es plötzlich vibriert. Ich schaue auf die Rufnummer. Vielleicht ist das ja ein Freund, der mich auf ein Bier einladen will, oder mein Boss im Institut, der mir sagen will, dass ich für einen anderen Lehrer einspringen muss. Aber natürlich könnte es auch der Flugbegleiter sein, den ich letztes Wochenende in der Blue Ice Bar kennengelernt habe. In jedem Fall kam es mir schon immer irgendwie lustig vor, dass man mitten im Nirgendwo Thailands einwandfreien Empfang hat, während man in den White Mountains New Hampshires mit dem Handy häufig aufgeschmissen ist.
Kein Netz.
»Hallo?« Ich halte mir das Handy ans Ohr.
»Edward«, sagt meine Mutter. »Du musst nach Hause kommen.«
Es dauert ganze vierundzwanzig Stunden, bis ich wieder in den Staaten und mit einem Mietwagen nach Beresford gefahren bin. Man sollte meinen, dass ich währenddessen irgendwann einmal eingeschlafen wäre, doch dafür bin ich viel zu nervös. Erstens bin ich seit sechs Jahren nicht mehr Auto gefahren und muss mich sehr konzentrieren. Zweitens geht mir ständig im Kopf herum, was sie mir bisher erzählt haben – meine Mutter und der Neurochirurg, der die Notoperation bei meinem Vater durchgeführt hat.
Er ist mit dem Truck gegen einen Baum gefahren.
Er und Cara sind außerhalb des Fahrzeuges gefunden worden.
Cara hat sich die Schulter gebrochen.
Mein Vater hat nicht reagiert, und seine rechte Pupille war stark vergrößert. Auch konnte er nicht mehr wirklich selbstständig atmen. Die Sanitäter haben das ein diffuses Schädel-Hirn-Trauma genannt.
Meine Mutter hat mich kurz nach meiner Landung angerufen. Cara hat die OP hinter sich, steht aber noch unter starken Schmerzmitteln und schläft. Die Polizei ist schon da gewesen, um Cara zu befragen, doch meine Mutter hat sie wieder weggeschickt. Sie ist die ganze letzte Nacht im Krankenhaus geblieben. Am Telefon klang ihre Stimme rau und zerfasert.
Ich will nicht lügen, ich habe oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein würde, wieder zurückzukehren. Ich habe mir vorgestellt, dass es eine Party in unserem Haus gibt, dass meine Mom mir meinen Lieblingskuchen (Karotte-Ingwer) backt, und Cara mir eine Skulptur aus Eisstielen mit den Worten ›Bro No. 1‹ baut. Aber natürlich lebt meine Mom nicht mehr in dem Haus, und Cara ist inzwischen viel zu alt, um mit Eisstielen zu basteln.
Und Ihnen ist vermutlich aufgefallen, dass mein Vater nicht Teil dieser Fantasie war.
Nach all der Zeit in der großen Stadt kommt mir Beresford fast wie eine Geisterstadt vor. Natürlich laufen hier Leute rum, aber gleichzeitig gibt es hier so viel unbewohntes Land, dass mir ganz schwindelig wird. Das größte Gebäude hat drei Stockwerke, und von überall kann man die Berge sehen.
Ich parke vor dem Krankenhaus und gehe hinein. Die Jeans und das Sweatshirt, die ich trage, sind für den Winter in Neuengland eigentlich nicht geeignet, aber ich besitze einfach keine richtige Kleidung für dieses Klima mehr. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin am Empfang sieht wie ein Marshmallow aus: dick, weich und gepudert. Ich erkundige mich, in welchem Zimmer Cara Warren liegt, und das hat zwei Gründe: Erstens wird meine Mutter dort sein, und zweitens brauche ich erst einmal eine Minute, bevor ich meinem Vater gegenübertrete.
Cara liegt im vierten Stock, in Zimmer 430. Ich warte, bis die Aufzugtür sich geschlossen hat (wann war ich eigentlich das letzte Mal allein in einem Aufzug?), und atme erst einmal tief durch. Im Flur gehe ich mit gesenktem Kopf an den Krankenschwestern vorbei und öffne schließlich die Tür, an der eine Karte mit Caras Namen steckt.
Dort schläft eine Frau in einem Krankenhausbett.
Sie hat langes, dunkles Haar, einen großen blauen Fleck an der Schläfe und einen Schmetterlingsverband. Ihr Arm ist in etwas Kokonartigem dicht an ihrem Körper fixiert. Ein Fuß guckt unter der Decke hervor, ihre Zehennägel sind lila lackiert.
Das ist nicht mehr meine kleine Schwester. Sie ist einfach nicht mehr klein – Punkt.
Ich bin so sehr damit beschäftigt, sie anzustarren, dass ich meine Mutter in der Ecke zunächst gar nicht bemerke. Sie steht auf und schlägt die Hand vor den Mund. »Edward?«, flüstert sie.
Ich war bereits größer als meine Mutter, als ich ins Ausland ging, aber seitdem bin ich noch gewachsen. Jetzt bin ich groß und stark … wie er.
Mom schließt mich in die Arme. Ein Liebes-Origami. So hat sie das immer genannt, als wir noch klein waren, und dann hat sie die Arme ausgebreitet und darauf gewartet, dass wir hineinliefen. Das Wort ist wie ein Splitter in meiner Seele. Es klingt irgendwie falsch, obwohl ich tue, was Mom erwartet, und ihre Umarmung erwidere. Es ist schon irgendwie komisch, dass meine Mutter immer noch mich hält und nicht umgekehrt, obwohl ich mittlerweile wesentlich größer bin als sie.
Ich komme mir wie Gulliver in Liliput vor, viel zu groß für meine eigenen Erinnerungen. Meine Mutter wischt sich die Tränen aus den Augen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du wirklich hier bist.«
Es ist wohl besser, nicht zu erwähnen, dass ich nicht im Entferntesten auf die Idee gekommen wäre, zurückzukommen, wenn meine Schwester und mein Vater nicht im Krankenhaus liegen würden. »Wie geht es ihr?«, frage ich und nicke Cara zu.
»Sie ist noch ganz benommen von den vielen Schmerzmitteln, die sie bekommen hat«, antwortet meine Mutter. »Nach der Operation hat sie große Schmerzen gehabt.«
»Sie sieht so … so anders aus.«
»Du aber auch.«
Ja, das tun wir wohl alle, denke ich. Meine Mutter hat zum Beispiel Falten im Gesicht, an die ich mich nicht erinnern kann. Was allerdings meinen Vater betrifft … Nun, ich kann mir nur schwer vorstellen, dass er sich überhaupt irgendwie verändert hat.
»Ich denke, ich sollte jetzt auch mal nach Dad sehen«, sage ich.
Meine Mutter greift nach ihrer Tasche, einem Stoffbeutel mit dem Bild zweier asiatisch aussehender Kinder darauf. Ich nehme an, das sind die Zwillinge. Die Vorstellung ist schon irgendwie seltsam, dass ich zwei Geschwister habe, die ich noch nie gesehen habe. »Okay«, sagt sie.
Im Augenblick will ich vor allem eins nicht sein: allein … oder erwachsen. Doch irgendwie lege ich meiner Mutter die Hand auf die Schulter, um sie aufzuhalten. »Du musst mich nicht begleiten«, sage ich zu ihr. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Das sehe ich«, erwidert sie und starrt mich an. Ihre Worte sind so weich, als wären sie aus Watte.
Ich weiß, was sie jetzt denkt. Dass sie mich so vermisst hat. Sie vermisst, mich ins College gebracht zu haben, bei meinem Abschluss dabei gewesen zu sein, bei meinem ersten Job oder bei meiner ersten großen Liebe.
»Cara könnte aufwachen und dich brauchen«, sage ich, um den Schlag ein wenig abzumildern.
Meine Mutter gerät ins Wanken, aber nur kurz. »Du wirst doch wieder zurückkommen, oder?«, fragt sie.
Ich nicke, obwohl es genau das ist, was ich geschworen habe, nie zu tun.
An irgendeinem Punkt in meinem Leben habe ich darüber nachgedacht, Arzt zu werden. Mir hat das Sterile an diesem Beruf gefallen und das Systematische, die Tatsache, dass man ein Problem lösen kann, einfach indem man den Hinweisen nachgeht.
Unglücklicherweise muss man sich als Arzt in Biologie auskennen, und als ich in der Schule mal das Skalpell an einen Schweinefötus ansetzen musste, bin ich sofort in Ohnmacht gefallen.
Die Wahrheit ist, dass ich nicht gerade der geborene Naturwissenschaftler bin. In der Highschool habe ich mich in Büchern verkrochen. Und das war nicht das Schlechteste, denn auf diese Weise habe ich weitergelernt, nachdem ich von Zuhause fortgegangen war. Ich wette, ich habe mehr Klassiker gelesen als die meisten Collegeabsolventen. Aber ich weiß auch all die Sachen, die man nicht in der Schule oder auf dem College lernt. Zum Beispiel, dass man lieber nicht in die Bars an der Patpong Road geht, denn die gehören Kriminellen. Oder dass man nur in einen Massagesalon mit großen Fenstern gehen sollte, durch die man hineinschauen kann, sonst erlebt man ein ›Happy End‹, mit dem man definitiv nicht gerechnet hat. Auch wenn ich keinen Abschluss habe, so bin ich nicht auf den Kopf gefallen.
Doch jetzt, wo ich mit Dr. Saint-Clare im Warteraum für Familienangehörige sitze, komme ich mir unglaublich dumm vor. Ich kann die Informationen, die ich bekomme, einfach nicht verarbeiten.
»Ihr Vater leidet an einem diffusen Schädel-Hirn-Trauma«, erklärt er mir. »Als die Sanitäter ihn hergebracht haben, war seine rechte Pupille stark vergrößert und hat nicht reagiert. Er hatte eine große Platzwunde auf der Stirn und seine linke Seite war gelähmt. Auch das Atmen fiel ihm schwer, sodass die Sanitäter ihn intubieren mussten. Als man mich hinzugezogen hat, habe ich ein zweiseitiges, periorbitales Ödem …«
»Ein periorbi – was?«
»Eine Schwellung«, übersetzt der Chirurg. »Um die Augen herum. Wir haben den Test anhand der Glasgow-Koma-Skala noch einmal wiederholt, den man bereits am Unfallort durchgeführt hatte, und sind dabei auf fünf Punkte gekommen. Anschließend haben wir ihn im CT untersucht und ein Hämatom am Schläfenlappen entdeckt sowie eine subarachnoide und eine intraventriculare Blutung.« Er schaut mir ins Gesicht. »Einfacher ausgedrückt: Wir haben Blut gesehen, und zwar überall um das Gehirn und die Ventrikel herum, und das ist ein eindeutiger Hinweis auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Wir haben ihm Mannitol verabreicht, um den Druck im Cranium zu mildern, und ihn anschließend sofort in den OP gebracht, um das Gerinnsel am Schläfen- und Hirnlappen zu entfernen sowie einen Teil des Gewebes.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich komme nicht mehr ganz mit. »Sie haben einen Teil seines Gehirns entfernt?«
»Wir haben den Druck auf sein Gehirn gemildert, da der ihn ansonsten umgebracht hätte«, korrigiert mich der Arzt. »Die Lobektomie wird zwar einen Teil seiner Erinnerungen beeinflussen, aber nicht alle. Das Sprach- sowie das Persönlichkeitszentrum sind unberührt geblieben.«
Sie haben meinem Vater einen Teil seiner Erinnerungen genommen? Aber welche? Die an seine geliebten Wölfe oder die an uns? Welche würde er wohl vermissen?
»Dann hat es also funktioniert, ja? Die Operation meine ich.«
»Die Pupille Ihres Vaters reagiert wieder, und das Gerinnsel ist entfernt. Allerdings haben die Schwellung und das Hämatom zu einem Gehirnprolaps geführt. Ein Teil des Gehirns hat sich zu einem anderen bewegt und übt so Druck auf den Hirnstamm aus, was dort wiederum zu kleinen Blutungen geführt hat.«
»Ich verstehe nicht …«
»Der Druck im Schädel ist vermindert«, erklärt der Arzt, »aber Ihr Vater ist immer noch nicht aufgewacht. Er reagiert auf keinerlei Stimulation, und er kann auch nicht alleine atmen. Wir haben noch eine CT gemacht und gesehen, dass die Blutungen in der Medulla und der Hirnbrücke im Vergleich zur ersten Untersuchung ein wenig größer geworden sind. Das ist auch der Grund, warum er immer noch nicht bei Bewusstsein ist und weiterhin künstlich beatmet werden muss.«
Ich habe das Gefühl, als würde ich durch Sirup schwimmen und in einer unverständlichen Sprache sprechen. »Aber er wird doch wieder gesund, oder?«, frage ich. Denn das ist die einzige Frage, die zählt.
Der Arzt verschränkt die Hände. »Im Augenblick warten wir erst einmal ab, bis sich der Staub gelegt hat …«
Aber. Da ist ein aber. Ich höre es deutlich.
»Diese Läsionen, die wir gefunden haben, betreffen den Teil des Hirnstamms, der das Bewusstsein und die Atmung kontrolliert. Daher besteht leider durchaus die Möglichkeit, dass er nie mehr ohne Maschinen wird leben können«, erklärt Dr. Saint-Clare offen. »Und vielleicht wacht er auch nie wieder auf.«
Als ich sechzehn Jahre alt war und gerade den Führerschein gemacht hatte, da bin ich auf eine Party gefahren und habe die Zeit aus den Augen verloren. Als ich zurückkam, habe ich ein Stück von Zuhause entfernt geparkt, bin auf Zehenspitzen durchs Gras geschlichen und habe vorsichtig die Tür geöffnet und gehofft, mit meinem Regelverstoß durchzukommen. Doch kaum hatten meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt, da sah ich meinen Vater im Wohnzimmer auf der Couch schlafen, und ich wusste, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Mein Vater hat immer gesagt, dass er draußen in der Wildnis bei den Wölfen nie wirklich schläft. Dort müsse man stets ein sprichwörtliches Auge offen halten, um nicht von einem Angriff überrascht zu werden.
In jedem Fall war er sofort auf den Beinen und baute sich vor mir auf, kaum dass ich die Schwelle überschritten hatte. Er sagte kein Wort, sondern wartete darauf, dass ich mich rechtfertigte.
Ich weiß, sagte ich. Ich habe Hausarrest.
Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. Vor ein paar Hundert Jahren haben Eltern ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen gelassen, sagte er. Und wenn ein Welpe seinen Vater um zwei Uhr morgens stört, dann knurrt er nicht, um den Welpen wieder zu vertreiben, damit er weiterschlafen kann. Stattdessen setzt er sich auf und schaut seinen Sohn aufmerksam an, als wolle er sagen: Was willst du wissen? Wo willst du hin?
Ich war noch immer ein wenig betrunken, und damals habe ich gedacht, dass sei die Art meines Vaters, mir zu sagen, dass er wütend auf mich war. Jetzt frage ich mich jedoch, ob er vielleicht wütend auf sich selbst war, weil er sich eine menschliche Schwäche erlaubt hatte und kein Auge offen gehalten hatte.
»Kann ich ihn sehen?«, frage ich Dr. Saint-Clare.
Ich werde den Flur hinunter auf die Intensivstation geführt. Eine Krankenschwester beugt sich über das Bett und macht irgendwas. »Sie müssen der Sohn von Mr Warren sein«, sagt sie zu mir. »Sie sehen ihm zum Verwechseln ähnlich.«
Doch ich höre sie kaum. Ich starre auf den Patienten.
Mein erster Gedanke ist: Das muss ein furchtbarer Fehler sein. Das ist nicht mein Vater.
Denn dieser geschundene Mann mit dem teilweise rasierten Kopf und dem weißen Verband um den Schädel, der Mann mit dem Schlauch in seinem Hals und der Infusion am Arm …
Dieser Mann mit den Frankensteinnähten an der Schläfe und den schwarz-blauen Flecken um die Augen …
Dieser Mann sieht nicht annähernd so aus wie der, der mein Leben zerstört hat.
Rotkäppchen sollte ausgepeitscht werden.
Dieses kleine Mädchen und seine Großmutter haben im Alleingang so viele Lügen über Wölfe verbreitet, dass sie vergiftet, gefangen und erschossen wurden, bis sie fast ausgerottet waren. Viele Wolfsmythen haben ihren Ursprung im Mittelalter, in Paris, um genau zu sein, wo Kinder von Wölfen verschleppt wurden. Heute geht man jedoch davon aus, dass es sich bei diesen Tieren um Mischlinge gehandelt hat, um Wolfshunde. Ein reinrassiger Wolf hat jedenfalls mehr Angst vor Ihnen als Sie vor ihm. Solange er sich nicht von Ihnen bedroht fühlt, wird er Sie auch nicht angreifen.
Einige Menschen glauben, dass Wölfe alles töten, was ihnen über den Weg läuft.
In Wahrheit töten sie jedoch nur, wenn sie Hunger haben. Selbst wenn sie eine Schafherde angreifen, töten sie nicht einfach jedes Tier. Der Alpha-Wolf bestimmt, welches Schaf erlegt werden soll.
Einige Menschen glauben, dass Wölfe die Hirschpopulation dezimieren.
In Wahrheit erlegen sie jedoch nur eines von zehn Tieren, das sie jagen.
Einige Menschen glauben, dass Wölfe auf Farmen wildern und das Vieh töten.
In Wahrheit geschieht dies jedoch so selten, dass Biologen das noch nicht einmal als Risiko bewerten.
Und einige Menschen glauben, dass Wölfe dem Menschen gefährlich werden können.
In Wirklichkeit lag in den ungefähr zwanzig bekannten und dokumentierten Fällen einer direkten Konfrontation zwischen Mensch und Wolf die Verantwortung dafür beim Menschen, dass die Begegnung gefährlich endete. Und es gibt nicht einen einzigen belegten Fall, in dem ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen getötet hätte.
Angesichts all dessen können Sie sich sicher vorstellen, was ich von den Drei Kleinen Schweinchen halte.
Eingewickelt in meine Jacke und eine Wolldecke sitze ich an einem der Außentische im Trading Post. Es ist niemand hier, denn wir haben Februar, und der Park ist offiziell geschlossen. Aber die berühmteste Attraktion – die mechanischen Dinosaurier, die man sofort sieht, sobald man durchs Tor kommt – ist das ganze Jahr über zu bestaunen. Das hat was mit irgendeinem Fehler in der Verkabelung oder der Steuerungsanlage zu tun. Wenn man den T-Rex abschaltet, dann schaltet man den ganzen Park ab, und das ist natürlich nicht gerade schön für die Restbelegschaft, die sich außerhalb der Saison um die Tiere kümmert. Dann und wann, wenn ich von allem etwas Abstand gewinnen muss, gehe ich in den Teil des Parks, der im Winter nur noch eine Geisterstadt ist, und schaue dem Triceratops dabei zu, wie er pünktlich zur vollen Stunde den großen Plastikkopf bewegt und so den Schnee von letzter Nacht abschüttelt. Nebenan kämpft ein Velociraptor mit dem Tyrannosaurus. Beide stecken bis zu den Oberschenkeln im Schnee. Das ist irgendwie unheimlich. Es ist ein Gefühl, als würde man den Weltuntergang erleben. Und weil es ansonsten so leise ist, wecken die Dinos mit ihrem künstlichen Gebrüll oft die Gibbons, die daraufhin einen schrecklichen Lärm veranstalten.
Und die Gibbons sind auch daran schuld, dass ich meinen Vater erst höre, als er direkt vor mir steht. »Cara? Cara!« Er trägt einen seiner Winteroveralls, einen von denen, die immer vor dem Trailer an einem Ast hängen und nie gewaschen werden, damit die Wölfe ihn am Geruch erkennen. Wie ich sehe, hat er gerade eine Mahlzeit mit dem Rudel geteilt, er hat immer noch ein wenig Blut in dem langen Haar, das sein Gesicht umrahmt. Für gewöhnlich spielt er den Schlichter, er frisst direkt zwischen dem Alpha- und dem Omega-Wolf am Kadaver. Das ist ziemlich verrückt anzusehen. Die Fütterung ist für das Rudel wie ein Gladiatorenkampf. Zunächst einmal nimmt jeder eine festgelegte Position um den Kadaver ein und frisst zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Teil der Beute. Dabei wird viel geknurrt und die Zähne gefletscht – auch von meinem Dad. So beschützt jeder sein Stück vom Kuchen. Früher hat mein Dad das rohe Fleisch gegessen, doch irgendwann hat sein Verdauungssystem dagegen rebelliert, und er hat gekochte Nieren und Leber in seinem Overall versteckt und mitgenommen. Und irgendwie gelingt es ihm immer wieder, sie unauffällig in den Bauch des Kalbs zu stecken, und wenn er dann mit den Wölfen frisst, schöpfen sie keinen Verdacht.