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Schöpfen Sie mit dem Erzähler das Potenzial Ihres Romans aus. Die Erzählperspektive ist eins der mächtigsten Werkzeuge des Romanautors. Der Erzähler ist die Basis der Perspektive. Erst wenn Sie ihn kennen, können Sie die Möglichkeiten der Perspektive ausschöpfen und optimieren, Fallen ausweichen und Knackpunkte lösen. Erst dann schöpfen Sie das Potenzial Ihres Romans aus. Es ist der Erzähler, der zu Ihren Lesern spricht. Der Erzähler verkauft Ihren Roman.
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Seitenzahl: 255
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Stephan Waldscheidt
Der Erzähler
Verführer, Tourguide, Entertainer und Basis der Erzählperspektive
(Meisterkurs Romane schreiben)
INHALT
Ich weiß da eine Geschichte
Nennt mich ... Erzähler
Was der Erzähler leisten kann und leisten sollte
Der Erzähler und sein Autor
Der Erzähler als Persönlichkeit
Der Erzähler – sichtbar oder unsichtbar?
Der Erzähler – objektiv oder subjektiv?
Der Erzähler – zuverlässig oder unzuverlässig?
So finden Sie den Erzähler für Ihren Roman
So vermeiden Sie Fehler mit Ihrem Erzähler
Dank
Über Waldscheidt
Impressum
Ich weiß da eine Geschichte
In Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis gibt es jemanden, der eine tolle Stimme hat und toll erzählen kann, jemand, der seine Zuhörer fesselt, weil er etwas Besonderes zu erzählen hat oder weil seine Art, zu erzählen, in den Bann schlägt. Jemand mit Ausstrahlung, jemand Kluges, Weises, jemand mit Lebenserfahrung, mit Witz, mit diesem bestimmten Glimmen in den Augen, eine Märchentante, ein Anekdotenonkel, eine Spannungscousine oder ein Erlebnisvetter. Vielleicht sind ja Sie selbst dieser Mensch.
Der Erzähler in meiner Familie hieß Max. Max war der Onkel meines Vaters und er hatte mit einigen Patentanmeldungen genug Geld verdient, um auf den Tag seines fünfzigsten Geburtstags seine Stelle zu kündigen und fortan als Privatier durch die Welt zu reisen. Max hatte die Wärme eines Elmar Gunsch in der Stimme, einen Vollbart, der seinen Berichten von exotischen Völkern und fremden Ländern Authentizität und Gravitas verlieh, und eine Art, uns Kinder in seine Geschichten miteinzubeziehen: mit Worten natürlich, aber auch mit Blicken, mit unerwarteten Knüffen und Umarmungen.
An einem dieser Sommerabende, unsere Familie im Garten um den Grill versammelt und Max zurück von einem Abenteuer und schon mit einem Bein im nächsten, an einem solchen Abend wurde mir bewusst, was die Geschichten von Großonkel Max so glaubhaft machte und so unwiderstehlich: Max interessierte sich für uns Kinder, aber nie so sehr wie für seine Geschichten; Max liebte das Erzählen, aber sein Herz schlug noch mehr für das Erzählte. Max vereinte Glaubwürdigkeit und Leidenschaft, Klugheit und Witz, er besaß einen Blick für das Erzählenswerte und keine Scheu vor Übertreibungen, Ausschmückungen oder, wenn sie der Geschichte dienten, unverschämten Lügen. Max ahmte die Stimmen der Protagonisten seiner Geschichte nach, kehrte ihr Innerstes nach außen, interpretierte mal weise oder ironisch, mal ließ er die Ereignisse für sich sprechen.
Max war eitel, stellte sich aber stets hinter seine Geschichten und die Menschen darin, nie davor. Er verstellte uns nie den Blick auf die Story, sondern er führte unsere Blicke zu den Passagen seiner Erzählung, die ihm am Herzen lagen – und die als Geschichte besonders gut funktionierten. Max wusste, was ankam, er war ein Erzählhandwerker, der doch wie ein Künstler rüberkam. Alles sah so einfach aus bei ihm, so selbstverständlich.
Schade, dass ich ihn nur erfunden habe.
Haben Sie mir die Geschichte von Max geglaubt? Wahrscheinlich. Weil sie sich so gut anhörte, weil Sie sie glauben wollten. Weil es eine wahre Geschichte ist, obwohl sie in der realen Welt nie passiert ist. Weil das hier ein Ratgeber ist, kein Roman. Vielleicht auch, weil ich sie auf eine Weise erzählt habe, die Ihnen Max vor Augen führte. Weil er Sie an einen Max oder eine Maxine in Ihrem eigenen Leben oder Ihrer eigenen Phantasie erinnerte. Weil Sie sich jemanden wie Max wünschen, in anderen Romanen, vor allem aber in Ihren eigenen: den perfekten Erzähler. Oder weil Sie sich wünschen, selbst wie Max zu sein.
Darum sind Sie hier in diesem Buch: Weil Sie Ihre eigenen Versionen von Max erschaffen möchten und selbst gerne etwas mehr wie Max wären. Weil Sie seine Tricks und seine Kniffe kennenlernen und durchschauen möchten. Weil Sie das Erzählen – vor allem, aber nicht nur in seiner schriftlichen Form – so sehr lieben, dass Sie sich ganz ohne die direkte Reaktion und eben auch ohne die Belohnung eines zuhörenden Publikums vor Ihre Geschichte, Ihren Roman setzen, Stunde um Stunde, Woche um Woche. Sie wollen wissen, wie Sie die Augen von Lesern zum Funkeln bringen, wie Sie sie in Ihren Bann – genauer: den Bann Ihrer Geschichte – schlagen können und wie Sie sie darin festhalten, noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite.
Einerseits haben Sie es schwerer als Max. Wo Max gestikulieren kann, haben Sie nur Wörter. Wo Max mit seiner tiefen Stimme punktet, haben Sie nur Wörter. Wo Max mit einem Augenzwinkern das Gesagte negieren kann, haben Sie nur Wörter. Wo Max sein Charisma ausspielen kann, sein Auftreten, seine entspannte und dennoch bestimmte Haltung, da haben Sie nur Wörter.
Andererseits haben Sie es sehr viel einfacher als Max. Sie brauchen sich keine Gedanken um Ihre Kleidung zu machen oder darüber, dass Sie heiser werden könnten. Vielleicht finden Sie sich nicht sonderlich attraktiv, womöglich linkisch, vielleicht könnte dieses so gut sichtbare Muttermal Ihre Zuhörer ablenken. Das alles braucht Sie nicht zu kümmern. Auch nicht, dass Sie sich vor dem Auftritt nicht rasiert haben, Gesicht oder Beine, oder dass Sie vergesslich sind, unsicher, panisch. Vor allem aber: Anders als Max können Sie überarbeiten, können Ihre Wörter gründlich wählen, an Ihren Sätzen feilen, Ihre Sprachbilder optimieren, Seite für Seite polieren, Inhalte ändern und wieder ändern und wieder, Charaktere umbenennen oder rausschmeißen, Recherchiertes einfügen und aktualisieren, die Suche nach dem exakt passenden Detail auf morgen verschieben und und und.
Insgesamt sieht Max neben Ihnen ziemlich alt aus. Und Max’ Story neben Ihrem Roman wie ein löchriger Frotteeschlafanzug neben einem Ballkleid von Dior oder wie eine Draisine neben einer Harley.
Zumindest bald. Zuvor lesen Sie noch diesen Ratgeber. Könnte helfen.
Wir werden sehen, dass der Erzähler den Unterschied machen kann, ob die Leser Ihren Roman spannend oder langweilig finden, ihn kaufen, verschlingen, weiterempfehlen.
Was macht einen überzeugenden Erzähler aus? Was unterscheidet ihn vom Autor? Was sollte er alles leisten und welcher Tricks und Kniffe bedient er sich, um sein Publikum, seine Leser zu fesseln, zu bewegen, zu überraschen und ihnen das Lesevergnügen ihres Lebens zu bereiten?
Welche Arten von Erzählern gibt es und was zeichnet sie aus? Ist der Erzähler sichtbar oder unsichtbar? Subjektiv oder objektiv? Zuverlässig oder unzuverlässig? Und wie finden Sie den richtigen für Ihren Roman? Das Suchen und Finden von Antworten auf diese und weitere essenzielle Fragen werden spannend.
Wie nun kommt Ihr so sorgsam ausgewählter und aufgebauter Erzähler zu Ihren Lesern? Über seine Stimme. In Ihrem Roman ist sie das Einzige und damit alles, was Ihr Leser mit Ihrem Erzähler verbindet. Die Bedeutung der Stimme für Ihren Roman ist entsprechend immens und betrifft jeden Aspekt vom Plot und der Dramaturgie über das Thema und die Charaktere bis hin zu Fragen von Spannung und anderen Emotionen, von Beschreibungen und Dialogen, von Sprache und Stil. Doch auch Charaktere und natürlich der Autor haben Stimmen. Auch darüber gibt es viel Aufregendes zu erfahren, mit großer Bedeutung für Ihren Roman. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden ... Und zwar in meinem Buch »Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter«.
Über den Erzähler werden Sie sehr viel erfahren, vieles davon neu oder in einen neuen Zusammenhang gebracht. Wie nebenbei legen wir damit die Basis für die Erzählperspektive. Ein Thema, das rockt.
Das Wissen über den Erzähler brauchen Sie, um die Feinheiten der Erzählperspektiven zu verstehen und zu meistern und sie in Ihren Roman optimal einzusetzen.
Eine freundliche Warnung vorweg: Mit diesem Buch stoßen wir gemeinsam in große Tiefen des Romanhandwerks vor. Beim Thema Erzähler geht es oft um Nuancen. Das heißt, manches wird Ihnen wie Haarspalterei vorkommen von einem, wie es hier in Baden heißt, Dipfele-Schisser wie Waldscheidt. Sie müssen nicht mit mir in jeden Meeresgraben tauchen und auch nicht jedes Haar mit mir spalten, um einen besseren Roman zu schreiben. Und schon gar nicht einer Meinung mit mir sein. Wichtig ist, dass Sie sich mit dem Thema auseinandersetzen und Ihren eigenen Weg finden. Allein damit lassen Sie schon 95 % aller anderen RomanautorInnen hinter sich.
Sie werden bereits vieles richtig machen, wenn es um die Erzähler Ihres Romans geht. Dieses Buch will Sie dabei unterstützen, dieses Richtige zu erkennen und in einen Zusammenhang zu stellen, mit dem Sie besser arbeiten können. Es geht darum, mehr Ordnung in Ihre Vorgehensweise zu bringen und Ihnen den Erzähler als Instrument zu veranschaulichen, damit Sie ihn zielgerichteter und präziser einsetzen und steuern. Vor allem sollen Sie sein Potenzial erkennen und damit das Potenzial Ihres Romans tiefer ausschöpfen. Zahlreiche Beispiele illustrieren das.
In der Geschichte, den Charakteren, dem Thema Ihres Romans steckt eine solche Fülle von guten Ideen, von Schönheit, Kraft, Magie. Es wäre mehr als schade, wenn Sie all das wegen einer Vernachlässigung des Erzählers brachliegen ließen.
Das Thema Erzähler ist anspruchsvoll. Wir begeben uns in Regionen, die so noch nie von einem Praxisratgeber betreten wurden. Die meisten dieser Regionen sind nicht schwarz-weiß und bieten Ihnen kein klares Tu-dies-lass-Das. Wenn Sie bereit sind, sehr genau hinzuhören, selber zu denken und das hier Gezeigte für die persönliche Roman-Arbeit weiterzuentwickeln, werden Sie reichlich Verwertbares für Ihr Hirn und Ihren Roman entdecken. Und am Ende eine bessere Autorin, ein besserer Autor sein. Versprochen.
Lassen Sie sich von der Fülle der aufgeführten Aspekte des Erzählers nicht schrecken. Jeder Aspekt ist schlicht ein weiteres Instrument für Sie, das Sie nutzen können, manchmal sollten, niemals müssen.[Fußnote 1]
In vielen Fällen reicht es schon, hier und da ein wenig zu drehen, um einen sehr viel stärkeren Roman zu schreiben – und auf das Schreiben kommt es an. Reichlich Schreiberfahrung und ausreichend Wissen geben Ihnen das nötige Selbstvertrauen und machen einen souveränen Erzähler aus Ihnen. Damit Sie das Beste aus Ihrer Stimme und der Erzählperspektive herausholen.
Ich freue mich auf Ihre (noch besser erzählten) Romane.
Ihr Stephan Waldscheidt
Hinweis für Roman- und Schreibanfänger
Das Buch nennt sich aus gutem Grund »Meisterkurs«. Dennoch können auch Roman-Anfänger von ihm profitieren. Seien Sie sich jedoch gerade als weniger erfahrene Autorin oder Autor im Klaren darüber, dass wir viele Knackpunkte beim Schreiben ansprechen werden, denen Sie noch nie begegnet sind und deren Bedeutung Sie daher kaum abschätzen können. Das ist, als würde ich als Flachlandtiroler vor meinem ersten Aufstieg über 3-Bein-Logik, Affenindex und BelayMaster lesen. Sie werden in jedem Fall Nützliches übers Bergsteigen lernen, selbst wenn Sie noch nicht wissen, was am Steilhang auf Sie zukommt.
Die Themen hier sind so essenziell, dass ich es für sinnvoll halte, wenn Autorinnen und Autoren jeden Reifegrads sich damit befassen. Immer wieder.
Hinweis für Erzählwissenschaftler
Dieser Ratgeber wurde von einem Praktiker für Praktiker geschrieben. Daher ignoriere ich erzähltheoretische Definitionen und Haarspaltereien weitgehend und konzentriere mich auf die für Romanautorinnen und Romanautoren nützlichen und anwendbaren Aspekte.
Hinweis für mich
Gerade weil wir hier gemeinsam Neuland betreten, bin ich Ihnen für Hinweise, Anregungen, Ideen zu den Themen dieses Buchs dankbar: [email protected]
Nennt mich ... Erzähler
Jedes Wort, das der Leser Ihres Romans liest, kommt vom Erzähler. Der Erzähler ist Instanz und Filter in einem. Er ist die Schnittstelle zu Ihrer Leserschaft. Damit ist er oder sie Ihre wichtigste Kreation beim Schreiben eines Romans, noch vor den Hauptfiguren (sofern sie nicht selbst die Erzähler sind). Ohne Erzähler hätten Sie keinen Roman, die Seiten blieben leer.
Keine Entscheidung, die Sie bei Ihrem Roman treffen, hat unmittelbarere Auswirkungen als die über Erzähler und Erzählperspektive. Dabei geht es um viel mehr als um die Frage, ob man lieber »sie sagte« oder »ich sagte« schreibt, es geht um viel mehr als um die Konsistenz des Point-of-View (POV) oder um ein Vermeiden von Head Hopping[Fußnote 2]. Mit der Wahl des Erzählers und der Perspektive entscheiden Sie sich auch dafür, mit welchen Absichten und mit welcher Stimme Ihr Roman zu seinen Lesern spricht.
Wie heißt es so schön in der Musik? It’s the singer, not the song. Auch wenn es viele Gegenbeispiele gibt, ist die Erkenntnis darin nicht von der Hand zu weisen. Stimmt, der Song ist wichtig und ebenso wichtig ist der Inhalt des Romans. Doch ein begnadeter Sänger, ein herausragender Erzähler kann aus seinem Werk so viel mehr machen.
Vielleicht liegt darin sogar ein Teil des Geheimnisses von Bucherfolgen und -misserfolgen desselben Autors. Womöglich war der Erzähler des erfolglosen Buchs der Falsche oder nicht gut genug.
Sehen Sie sich als den Komponisten und Produzenten Ihres Romans und Ihren Erzähler als den Interpreten. Ob Sie Adeles »Skyfall« von Megan Marie Hart intonieren, von Kylie Minogue piepsen oder von Tupac Shakur rappen lassen, macht einen Unterschied. Wen Sie Ihren Roman auf welche Weise erzählen lassen, entscheidet über sein Wohl oder Wehe.
So wichtig die Stimme ist – mit all ihren Aspekten wie etwa dem Ton, dem Sprechtempo, dem Rhythmus, dem Vokabular –, sie ist nicht alles. Der Erzähler verfügt über eine Beobachtungsgabe nach außen und nach innen, er kann mehr oder weniger zuverlässig, mehr oder weniger objektiv, für den Leser mehr oder weniger sichtbar sein. Und er oder sie verfügt über einen großen Werkzeugkasten voller Tricks und Kniffe.
Die Literatur zum kreativen Schreiben behandelt, wenn überhaupt, nur die üblichen Erzählperspektiven und gibt Tipps, welche davon die Schreibenden für ihre Romane verwenden sollten. Damit scheint das Thema abgehakt. Die zentrale Figur, das eigentliche Machtmittel für den Autor bleibt meist unerwähnt: die Erzählerin oder der Erzähler. Das ist mehr als schade, das ist eine vertane Chance und eine sträfliche Vernachlässigung, die mit suboptimalen Texten und erfolglosen Büchern nicht unter vier Schubladen voll bestraft wird.
Übrigens ...
Die Perspektive sagt, aus wessen Sicht die Ereignisse des Romans geschildert werden. Mit dem Erzähler betrachten wir in diesem Buch hingegen direkt die narrative Instanz, gehen darauf ein, wer erzählt, aus welchen Motiven und Zielen heraus das geschieht und was das für Ihren Roman bedeutet. Und wie Sie Ihren Erzähler finden, ausbauen, einsetzen.
Mit Erzählperspektiven wie der auktorialen (allwissenden) Perspektive oder etwa der Ich-Form als einer der personalen Perspektiven befasst sich mein Buch »Erzählperspektiven« (erscheint 2020) ausführlich und detailliert.
Wie wir gesehen haben, ist der Erzähler nicht mit dem Autor identisch. Das heißt, Sie als Autorin oder Autor können Ihren Erzähler als ein weiteres Instrument in Ihrem Schreibhandwerksorchester benutzen. Ein Instrument, das mindestens so vielseitig ist wie ein Konzertflügel und lauter poltern kann als ein Satz Kesselpauken.
Betrachten wir einige klassische Anfänge von Geschichten.
Ilsebill salzte nach.
(Günter Grass, »Der Butt«, Luchterhand 1977)
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
(Franz Kafka, »Die Verwandlung«, Verlag der Weißen Bücher 1915)
Entweder mache ich mir Sorgen oder was zu essen.
(Ildikó von Kürthy, »Blaue Wunder«, Rowohlt 2005)
In der Mottengasse elf, oben unter dem Dach hinter dem siebten Balken in dem Haus, wo der alte Eisenbahnsignalvorsteher Herr Gleisenagel wohnt, steht eine sehr geheimnisvolle Kiste.
(Janosch, »Lari Fari Mogelzahn«, Beltz 1998)
In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. Kreischend verbissen sich die Böen in den alten Mauern.
So klingen Hexen, wenn sie brennen, dachte Vera, oder Kinder, wenn sie sich die Finger klemmen.
(Dörte Hansen, »Altes Land«, Penguin 2016)
Noch berühmter, aber eben hier nur Übersetzungen, sind diese Anfänge:
Nennt mich Ismael.
(Herman Melville, »Moby Dick«, englisches Original von 1951)
Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, dass ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet haben wollten.
(Charles Dickens, »Eine Geschichte aus zwei Städten«, Insel 1987, engl. Original von 1859)
Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.
(Vladimir Nabokov, »Lolita«, Rowohlt 1959, 2007)
Er war ein alter Mann und er fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit vierundachtzig Tagen hatte er keinen Fisch gefangen.
(Ernest Hemingway, »Der alte Mann und das Meer«, Rowohlt 1952)
In all diesen Beispielen gibt der Erzähler dem Leser des Romans mehr mit als nur den Inhalt des Geschriebenen, selbst in scheinbar »stimmenlosen« Anfängen wie bei Hemingway oder Grass. Erst im Vergleich der so unterschiedlichen Texte erkennt man, dass es einen stimmlosen Erzähler nicht gibt. Auch die Wortwahl definiert ihn und diese Wahl meint eben nicht nur die Entscheidung zwischen Synonymen. Sondern die Auswahl dessen, was er überhaupt schildert, bei Grass etwa die Idee, dem Leser als Erstes eine Frau beim Nachsalzen zu präsentieren.
Der Erzähler ist die eigentliche, die wahre Hauptfigur Ihres Romans – selbst wenn er nur eine Nebenrolle spielt wie Nick in »Der große Gatsby« oder gar nicht darin vorkommt. Denn das, was beim Leser ankommt, wurde vom Erzähler schon interpretiert und kuratiert. Das geschieht mal ganz offen, etwa bei auktorialen Erzählern oder bei personalen (auch: figurengebundenen) Erzählern mit einer Stimme, die sich nicht versteckt. Oder es geschieht klammheimlich, wenn der Erzähler scheinbar hinter der Geschichte verschwindet. Wie oben in dem Beispiel aus »Der Butt«. Dabei verschwindet der Erzähler nicht, der Leser soll das nur glauben. Dieser Trick gaukelt Objektivität vor, wo in Wahrheit Subjektivität herrscht. Jedes Wort ist eine subjektive Entscheidung des Erzählers – für dieses Wort, das er allen anderen vorzieht, die an der Stelle ebenfalls hätten stehen können.
Der Erzähler ist das Erste, was Ihr Leser vom eigentlichen Roman wahrnimmt (nach Cover mit Klappentext/Blurbs und Titel). Genauer gesagt: seine (oder ihre) Stimme. Ja, der Inhalt Ihrer ersten Sätze ist wichtig. Doch die Stimme, die diesen Inhalt überbringt, ist ebenso bedeutsam.
Eine starke Stimme, die den Leser sofort überzeugt, die ihn in den Roman einlädt und ihn seinen Unglauben ablegen lässt (»Ich weiß, es ist nur eine Geschichte, aber für die Dauer des Buchs tue ich so, als würde ich sie glauben.«), eine solche Stimme kann eine inhaltlich wenig bemerkenswerte erste Seite zu etwas Besonderem erheben. Zu etwas, was den Leser einfängt und ihn, falls noch nicht geschehen, zum Käufer Ihres Buchs werden lässt.
Es gibt dazu keine Alternative. Weil es den stimmlosen Erzähler nicht gibt.
Was es gibt, sind extrem sprachunempfindliche Leser. Doch auf diese sollten Sie sich nicht verlassen und sie nicht unterstützen. Weil sie langfristig das Ende der Literatur bedeuten.
Der Erzähler kann identisch mit einem Protagonisten sein (personaler Erzähler), er kann auch außerhalb der Geschichte stehen (auktorialer Erzähler). Oder er kann in den Hintergrund verschwinden, indem er sich unsichtbar macht.
Übrigens ...
Sowohl in der Erzähltheorie als auch in Büchern zum kreativen Schreiben werden die Begriffe auktorialer und personaler Erzähler nicht einheitlich verwendet. Ich gebrauche sämtliche Begriffe möglichst praxisbezogen, also so, dass Sie als Autor die Ausführungen leicht nachvollziehen und gut damit arbeiten können.
Erzähler heißt auf Englisch narrator. Das Creative Writing verwendet daneben das Wort persona (eigentlich »Rolle« sowohl im sozialen Kontext als auch im Schauspiel). Dieses Wort verdeutlicht besser, dass ein Roman mehrere Erzähler haben kann, dass also der Autor in mehrere Rollen schlüpft, um die Geschichte zu erzählen.
Persona meint zugleich das »lyrische Ich« und grenzt damit den Erzähler vom Autor ab, gerade (aber nicht nur) wenn er in der Ich-Form schreibt. (Das »lyrische Ich« ist ein in der Literaturwissenschaft umstrittener Begriff. Was uns hier nicht zu kümmern braucht, weil wir Praktiker sind.) Für einen Roman könnten wir einen Erzähler das »prosaische Ich«oder das »narrative Ich« nennen.
Übrigens ...
Der Einfachheit halber schreibe ich meistens »der Erzähler«. Diese Bezeichnung verwende ich als Platzhalter für Erzähler jedweden Geschlechts, aber ebenso für Erzähler eines Romans oder, bei multiplen Erzählern, dem Erzähler des jeweiligen Erzählstrangs.
So weit, so gut. Der Erzähler ... erzählt. Aber was meinen wir beim Schreiben eines Romans überhaupt mit Erzählen?
Im Roman selbst steht – im Kleinen – das Erzählen (die Narration oder das Telling) dem szenischen Schreiben (das Zeigen oder Showing) gegenüber. Dieses Erzählen ist ein Behaupten. Und sieht beispielsweise so aus:
Vor dem befestigten Lager lag ein langer Strand, der um die Bucht herum bis zum Mangrovensumpf führte. Auf der anderen Seite der Bucht machte der Strand einer felsigen Landzunge Platz, die einen schönen, natürlichen Hafen bildete. Unmittelbar vor dem Lager lag die Philipus unterstellte Bireme auf dem Sand. Der oberste Zimmermann hatte dem alten Kriegsschiff viele Monate Arbeit gewidmet. Er und seine Männer hatten angefaultes Holz ersetzt, das Schiff geteert und den Mast, die Spieren und die Takelage erneuert. Nahe dem Bug waren zu beiden Seiten kunstvoll Augen aufgemalt worden.
Anders die szenische Darstellung. Darin werden die Ereignisse dem Leser vor Augen geführt, ihm gezeigt und damit bewiesen:
Als Philipus bei dem kleinen Wachturm eintraf, betrat er die Wachstube im Untergeschoss und sah drei seiner Marineinfanteristen auf Bänken sitzen. Sie aßen Brot mit getrocknetem Fisch und unterhielten sich dabei in leisem Tonfall. Als sie ihn erblickten, standen sie auf und salutierten.
»Rührt euch, Männer.« Philipus lächelte. »Wer hat das Kriegsschiff gemeldet?«
»Ich, Herr«, sagte einer der Marineinfanteristen.
»Gut, Horio, dann geh voran.«
Der Marinesoldat legte das Brot auf seinen Teller, durchquerte den Raum und stieg die Treppe zur Aussichtsplattform hinauf.
(Simon Scarrow, »Die Legion«, Heyne 2012)
Beides, Narration und Szene, wird dem Leser – im Großen – von einem Erzähler nahegebracht. Hier im Beispiel könnte das ein auktorialer Erzähler sein, der sowohl den Schauplatz beschreibt als auch die Szene darstellt. Dieser Erzähler zeichnet für jedes einzelne Wort des Romans verantwortlich. (Haben wir es mit mehreren Erzählern zu tun, teilen sie sich diese Arbeit auf.) Am Ende bleibt kein Wort übrig, das nicht durch den Erzähler hindurchgegangen wäre: Der Erzähler ist wie eine Produktionsmaschine, der Roman ihr Endprodukt.
Übrigens ...
Auch Sachbücher haben Erzähler: Etwa dieses, wo ich (oder mein prosaisches Ich) Sie dann und wann direkt anspreche. Autor und Erzähler respektive prosaisches Ich sind einander bei Sachbüchern häufig näher als bei Romanen.
Erzählen besteht im Wesentlichen aus zwei Aspekten: Was wird erzählt und wie wird es erzählt? Zur Frage nach dem Wie gehört die Frage, wer die Geschichte erzählt. Zur Frage nach dem Wer gehört wiederum die Frage, mit welcher Stimme der Erzähler die Geschichte erzählt.
Das Was ist die Story, die Ereignisse selbst samt Thema und aller Charaktere, das Wie ist auf der einen Seite der Plot und auf der anderen der Erzähler samt Erzählperspektive (POV).
Den Erzähler kennzeichnen – vor allem, aber nicht nur diese – drei Aspekte: Neben seiner Stimme sind das seine Persönlichkeit und der Erzähltypus (sichtbar/unsichtbar, objektiv/subjektiv, zuverlässig/unzuverlässig).
Jeder dieser Aspekte kann eine unterschiedlich große Rolle spielen, jeder beeinflusst die anderen. Das reicht vom Typus des unsichtbaren Erzählers, der jeden der Aspekte verbirgt, bis hin zu einem unzuverlässigen personalen Erzähler, der mit einer sehr eigenen Stimme spricht und täuscht, um sein Ziel zu erreichen.
Die Erzähltypen und die Persönlichkeit des Erzählers sehen wir uns weiter unten im Detail an. Mehr zur Stimme finden Sie im Buch »Die Stimme: Leser verzaubern mit den Stimmen von Autor, Erzähler und Charakter«.
Erzählen ist Teamwork. Der Erzähler braucht ein Gegenüber, das seine Worte aufnimmt und daraus eine Geschichte kreiert. Ohne einen Leser gibt es keinen Roman. In seiner reinsten Form ist dieser eine Leser, der Erstleser, der Autor selbst.
Um die Geschichte zu vollenden, wandelt der Leser das Gelesene in eine eigene Stimme in seinem Kopf um. Aus diesem Grund sind Bücher so viel persönlicher als Filme oder sogenannte Hörbücher: weil sie mehr Eigenleistung, mehr Eigenes des Lesers fordern. Der Leser erzählt sich die Geschichte selbst, ja, er muss es sogar tun.
Der Leser wird zum unverzichtbaren Mitschöpfer, zum Mitautor des Romans.
Was die Verlage Ihnen als Autor nicht verraten
Nicht Sie sind es, der das Manuskript an den Verlag verkauft, in vielen Fällen ist es nicht mal der Hammerplot Ihres Romans oder seine unvergesslichen Charaktere – das Verkaufstalent ist der von Ihnen geschaffene Erzähler. Viele Lektoren oder Agenten sind sich dessen nicht bewusst. Sie schieben die Gründe für Ge- oder Missfallen auf ihr Bauchgefühl. Tatsächlich war es der Erzähler oder seine Stimme, die in der Agentur oder im Verlag ein so warmes Gefühl auslösten.
Übrigens ...
Mit der Maxime »Show, don’t tell« (»Zeige, statt nur zu erzählen«) hat der Erzähler Ihres Romans oder eines Handlungs- oder Erzählstrangs nicht direkt zu tun. Er ist fürs Zeigen ebenso verantwortlich wie fürs Erzählen. Er kann dem Leser also sowohl etwas zeigen, etwa eine Szene oder einen Dialog, als auch etwas – im engeren Sinn – erzählen, zum Beispiel Informationen über den Schauplatz geben oder Gefühle eines Charakters beschreiben.
Bevor wir uns ansehen, was der Erzähler kann und können sollte, dürfte Ihnen seine Bedeutung für Ihren Roman deutlich geworden sein: Sie sollten Ihren Roman – Ihr Baby! – nicht von irgendwem erzählen lassen. Oder würden Sie Ihre (menschlichen) Kinder jedem Dahergelaufenen anvertrauen?
Der Erzähler ist derjenige, aus dessen Sicht der Roman geschildert wird. Seine Perspektive – die Erzählperspektive – ist die, aus der der Leser den Roman liest. Sie führt seinen Blick und zeigt ihm, was der Erzähler auf welche Weise sieht oder was er dem Leser präsentieren will.
Eine hilfreiche Unterscheidung ist die in personale und auktoriale Erzähler. Der personale Erzähler gehört zum Personal des Romans, während der auktoriale Erzähler von einer Position außerhalb des Romans erzählt. Berichten mehrere Erzähler in einem Roman, nennt man das multiperspektivisches Erzählen.
Die wichtigsten personalen Erzählperspektiven sind die erstpersonale oder Ich-Perspektive, die drittpersonale Perspektive (er, sie, es) und, schon sehr viel seltener, die zweitpersonale oder Du-Perspektive. Ebenfalls weit verbreitet ist multiperspektivisches (personales) Erzählen.
Der auktoriale Erzähler kann allwissend sein oder lediglich über eingeschränktes Wissen verfügen.
Der auf das Wissen einer Romanfigur beschränkte und unsichtbare auktoriale Erzähler entspricht dem drittpersonalen Erzähler. Da dieser auktoriale Erzähler jedoch weder über mehr verwertbares Wissen als der drittpersonale Erzähler verfügt noch überhaupt als Erzähler sichtbar wird, können Sie nicht direkt mit ihm arbeiten. Mir erscheint es daher einfacher und praktikabler, diesen Erzähler als personalen Erzähler zu betrachten.
Letztlich kommt es für Sie darauf an, mit welcher Lesart Sie am besten arbeiten können. Fällt es Ihnen leichter, inspiriert es Sie mehr, wenn Sie sich einen von außen auf die Geschichte blickenden Erzähler vorstellen? Oder wenn Sie sich in den Kopf einer Figur begeben und schreiben, als erzählte diese Figur den Roman in der dritten Person Einzahl?
Der einmal gewählten Perspektive sollten Sie, den Erfordernissen des Romans entsprechend, treu bleiben.
Den Erzählperspektiven im Detail widmen wir uns in einem eigenen Buch. Dieses hier legt die Grundlagen dafür.
Was der Erzähler leisten kann und leisten sollte
Für Ihren Roman ist der Erzähler das perfekte Schweizer Taschenmesser, das von der Klinge über die Schere bis hin zur Lupe und einer Angelschnur alles hat, was der Benutzer braucht.
Der Erzähler übersetzt die reinen Fakten seiner Geschichte in eine Sprache, die ihr ebenso gerecht wird wie dem Leser.
Ein guter Erzähler verschmilzt die Sprache mit der Story, durch ihn wird aus Wörtern eine Geschichte und aus einer Geschichte Literatur.
Der Erzähler ist das Bindeglied zwischen Geschichte und Leser.
Erledigt der Erzähler Ihres Romans seine Aufgabe, werden die Leser nicht lange das Gefühl haben, dass sie eine Geschichte erzählt bekommen – sie werden sie erleben.
Der Erzähler kann die wichtigen von den unwichtigen Details unterscheiden und setzt damit Prioritäten. Wichtig heißt zweckorientiert: Welches Detail sorgt dafür, das Thema deutlicher zu machen? Welches Detail sorgt für mehr Dramatik und Spannung? Welches Detail macht den Schauplatz lebendig? Welches Detail vertieft den Charakter, der es entdeckt und beschreibt? Welches Detail bringt die Handlung voran?
Das Beste für Sie: Der Erzähler nimmt Ihnen die Arbeit ab. Nachdem Sie sich die Mühe gemacht haben, einen Erzähler zu finden und zu erfinden, schreibt er Ihren Roman für Sie.
Das ist nur ganz leicht übertrieben.
Sobald Sie dem Erzähler eine Persönlichkeit gegeben haben, wird es für Sie sehr viel einfacher, wie Sie schreiben, etwa welche Details Sie herausgreifen und welche Sprachebene (Umgangssprache, Hochsprache usw.) und welchen Ton (ironisch, mitfühlend usw.) Sie verwenden.
Sobald Sie wissen, wie sichtbar Ihr Erzähler sein soll, wissen Sie, wie deutlich er aus den Sätzen hervorscheinen muss. Sobald Ihnen klar ist, wie objektiv der Erzähler berichtet, werden Sie Ihre Sprache und Ihre Beobachtungen dem besser anpassen können. Sobald Sie festgelegt haben, wie zuverlässig Ihr Erzähler die Ereignisse schildert, werden Sie Möglichkeiten entdecken, den Roman spannender zu gestalten. Und das sind nur einige Beispiele!
Der Erzähler schlägt eine Schneise in den Wörter-Dschungel – und in dieser Schneise können Sie Ihren Roman klar erzählen und voranbringen. Damit sowohl Sie als auch Ihre Leser vor lauter Wald die Bäume sehen.
Was sollte ein guter Erzähler noch können? Bei der Suche nach einer Antwort wurde ich in einem Roman von China Miéville fündig. Darin heißt es:
Es entsetzte sie, welche panische Furcht der Brucolac in ihr weckte. Es war, als wäre seine Stimme exakt auf ihre Ängste abgestimmt.
(China Miéville, »The Scar«, Del Rey 2002, eigene Übersetzung)
Genau das ist das Ziel, das Sie mit Ihrem Erzähler anstreben: Seine Stimme sollte den Emotionen Ihrer Leserschaft angepasst sein, beides sollte auf derselben Frequenz schwingen. Nur dann versetzt Ihr Erzähler die Gefühle der Leser in Schwingungen.
Der Erzähler ist für den Roman das, was der Regisseur für einen Spielfilm ist. Er legt fest, was auf welche Weise gezeigt wird. Er trägt die Verantwortung für das Gelingen der Story.
Sie als Autor sind der Produzent. Sie bestimmen, wer Regie führt und geben eine Richtung vor.
Im Folgenden sehen wir uns einige Funktionen des Erzählers an. Das soll keine erschöpfende Übersicht sein, und noch weniger sollten Sie es auswendig lernen. Jede der Funktionen möchte Ihnen als Inspirationsquelle dienen, dafür, was die Erzähler in Ihren nächsten Romanen alles leisten könnten. Wenn Sie sie lassen.
Ein Erzähler kann und sollte mehrere der genannten Funktionen erfüllen. Sie alle sind miteinander verbunden und beeinflussen einander.
Wenn Sie einen Erzähler erschaffen, sollten Sie sich bewusst machen, was ein Erzähler für den Leser zunächst und vor allem ist: eine Vertrauensperson. Die Grundlagen des Vertrauens legen Sie, bevor der Leser das erste Wort von Ihnen liest. Allein die Erzählsituation – der Leser nimmt ein Buch von Ihnen in die Hand, um es zu lesen – bedeutet einen Vertrauensvorschuss für Sie. Das ist gut, nimmt Sie aber in die Verantwortung.
Der Leser legt seine Zeit, seine Aufmerksamkeit und nicht zuletzt sein Geld in Ihre Hände, die Hände eines Fremden. Dafür erwartet er einen angemessenen Gegenwert. Sein Maßstab hierfür: Inwiefern bekommt er von dem Buch, was er sich davon verspricht?