ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch - Stephan Waldscheidt - E-Book

ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch E-Book

Stephan Waldscheidt

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Jeder hat seine ganz eigene Version derselben Geschichte. ERZÄHLPERSPEKTIVEN. Das neue Standardwerk zu Erzählperspektiven im Roman. Kein anderes Buch widmet sich diesem Thema in dieser Breite und Tiefe. Die Wahl einer Erzählperspektive beeinflusst Ihren kompletten Roman und jedes einzelne Wort darin. Die Erzählperspektive ist eins der wirkmächtigsten Instrumente in Ihrem Schreiborchester. Sie ist zu essenziell, um vernachlässigt zu werden, bietet zu viel Potenzial zur Verbesserung und Optimierung Ihres Romans, um nebenbei abgehandelt zu werden, erleichtert Ihnen das Schreiben und Überarbeiten zu sehr, um ignoriert zu werden. INHALT Nähe und Distanz mit der Erzählperspektive Auktoriales Erzählen (allwissender Erzähler) Personales Erzählen (ich, du, er/sie, wir, man) Multiperspektivisches Erzählen + Sonderteil "Das Durchbrechen der vierten Wand" + Sonderteil "Die Rahmen-Erzählung" + Sonderteil "Der Erzählstrang des Antagonisten" + Analyse der Erzählperspektive in einem Ausschnitt aus "Harry Potter" + Der Tyrion-Lannister-Effekt + Analyse der Perspektive in Romanen von Stephen King, Jeffery Deaver, Dean Koontz Für Anfänger geeignet, für Fortgeschrittene und Profis perfekt IN DIESEM BUCH ERFAHREN SIE ... ✔ alles über die gängigen und die exotischeren Perspektiven ✔ wie Sie mit der Perspektive Nähe und Distanz zu Ihren Figuren regeln ✔ welche Vor- und Nachteile die einzelnen Perspektiven bieten ✔ wie Sie die perfekte Perspektive für Ihren Roman finden ✔ wie Sie die Erzählperspektive einsetzen, steuern, optimieren ✔ welche Fehler Sie wie vermeiden oder lösen ✔ wie Sie dank der richtigen und richtig eingesetzten Perspektive einen Roman schreiben, den Ihre Leser lieben Mit zahlreichen Praxistipps und Beispielen aus allen Genres

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Seitenzahl: 670

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Stephan Waldscheidt

Erzählperspektiven:

Auktorial, personal, multiperspektivisch

(Meisterkurs Romane schreiben)

Inhalt

Inhalt

Intro: Perspektiven

Schön, dass Sie hier sind

Die Perspektive macht den Roman

Perspektivpower

Das kann Perspektive

Vorteile klarer und konsistenter Perspektiven

Vertiefen und festigen der Erzählperspektive

Lassen Sie sich von Filmtechnik inspirieren

Nähe und Distanz

Wie nahe holen Sie die Leser heran?

So stellen Sie Nähe oder Distanz her

Mehr Nähe durch Spannung? Mehr Spannung durch Nähe?

Distanz oder Nähahaha – mit Humor

Das Aufreißen der Seiten

Ein Hoch auf die Distanz

Vargas, Grisham, Filme, Games

Objektives Erzählen

Auktoriales Erzählen

Allwissender Erzähler und olympische Perspektive

Auktorial oder personal? Der Fall »Harry Potter«

Sichtbarkeit

Risiken, Chancen, Lösungen

Wann auktorial erzählen?

Personales Erzählen

Romane aus Sicht

der Mitwirkenden

Personale Perspektiven im Überblick

Verbreitete personale Erzählperspektiven

Seltene personale Erzählperspektiven

Theoretisch vorstellbare personale Erzählperspektiven

Wann personal und aus den üblichen Perspektiven heraus erzählen?

Der Protagonist als personaler Erzähler …

… oder besser nicht

Sichtbarkeit, Objektivität, Zuverlässigkeit

Die Ich-Perspektive

»Nennt mich Ismael«

Risiken, Chancen, Lösungen

Wann im personalen Ich erzählen?

Ich-Perspektive für Kenner: Dean Koontz, »Trauma«

Personales Erzählen in der dritten Person Einzahl

Vom Gummiband zwischen Erzähler und POV-Charakter

Erzählen im Du

Ja, du bist gemeint. Oder Sie. Oder ihr.

Risiken, Chancen, Lösungen

Erzählen im Kollektiv

Die Wir-Perspektive

Keine Perspektive?!

Das tut man nicht, Schatz!

Multiperspektivisches Erzählen

Die vielen Seiten einer Geschichte

Risiken, Chancen, Lösungen

Wann multiperspektivisch erzählen?

Mit Erzählsträngen arbeiten

Auswahl von Erzähler und Perspektive

Erzählstränge gestalten

Auswahl des POV-Charakters für eine bestimmte Szene

Erzählstränge addieren

Erzählstränge verbinden

Ein oder mehrere Ich-Erzähler

Der Erzählstrang des Antagonisten

Fallbei(spie)le: Wie Bestseller-Autoren am Schurken-POV scheitern

Die Rahmenerzählung

Hirnhopsen

Guck mal, wer da denkt: Head Hopping

Die Perspektive für Ihren Roman

Empfehlungen zur Perspektivwahl

Dank, gebührend

Der Waldscheidt

Impressum

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schriftzeit.de/news

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Intro: Perspektiven

Schön, dass Sie hier sind

Die Wahl einer Erzählperspektive beeinflusst Ihren kompletten Roman und jedes einzelne Wort darin. Sie können nicht denselben Roman aus unterschiedlichen Perspektiven schreiben, nicht dieselbe Geschichte erzählen, nicht denselben Plot verwenden. Selbst Ihre Charaktere erscheinen anders, können mal Schurke sein, mal Held, im Recht oder im Unrecht, stark oder schwach, je nach der gewählten Perspektive.

Sprich: Die Erzählperspektive ist verdammt wichtig und eins der wirkmächtigsten Instrumente in Ihrem Schreiborchester. Sie ist zu essenziell, um vernachlässigt zu werden, bietet zu viel Potenzial zur Verbesserung und Optimierung Ihres Romans, um nebenbei abgehandelt zu werden, erleichtert Ihnen das Schreiben und Überarbeiten zu sehr, um ignoriert zu werden. Daher gehen wir in die Vollen und ans Eingemachte. Schnallen Sie sich an.

Wir legen los mit den Grundlagen und dem Potenzial der Erzählperspektive (Teil 1). Dort sehen wir uns eine zentrale Aufgabe der Perspektive an: das Schaffen einer vom Autor festgelegten Nähe oder Distanz zwischen Lesern und Charakteren, Story, Themen. In Teil 2 befassen wir uns mit der auktorialen Perspektive und ihrem, meist allwissenden und sichtbaren, Erzähler. Teil 3 behandelt die personalen Perspektiven von der Ich-Form über das Erzählen im »du« und der dritten Person Singular bis hin zu Exoten wie Erzähler, die als »wir« oder »man« schreiben. In Teil 4 gehen wir auf Romane ein, die aus der Sicht mehrerer Erzähler geschildert werden. Außerdem untersuchen wir dort Rahmenerzählungen, Hirnhopsen und die Perspektive des Antagonisten. Wir schließen im Teil 5 mit einem Fazit und grundsätzlichen Empfehlungen zur Wahl der Perspektive. Die Sie dann sehr viel qualifizierter und zweckgerichteter treffen können. Freuen Sie sich schon mal darauf.

Der sechste und wichtigste und zugleich der anspruchsvollste Teil steht nicht im Buch: In Teil 6 schreiben und überarbeiten Sie Ihren Roman und setzen das neu gewonnene Wissen inspiriert und praktisch ein und um. Es ist der schönste Teil. Es ist der Teil, der Ihren Roman auf eine neue Stufe heben wird. Was wetten wir?

Sie dürfen die Entscheidung für eine Perspektive nicht auf die Wahl eines Personalpronomens reduzieren und sie anschließend vergessen oder übergehen. So viel mehr steckt darin. Selbst wenn Sie annehmen, Sie hätten in Ihrem Roman die Möglichkeiten der Perspektive ausgereizt, werden Sie staunen, was alles noch geht – wenn Sie die ideale Perspektive dafür finden, sie adäquat umsetzen und pointiert optimieren. Erst dann kann auch Ihr Roman sein Potenzial entfalten.

Wenngleich sich das nach mehr Aufwand anhört, werden Sie merken, dass die Anpassung und Optimierung der Perspektive vieles beim Planen und Schreiben erheblich vereinfacht und Ihnen einige Überarbeitungsdurchgänge erspart – ebenso wie so manche Absage von Agenten und Verlagen. Weniger Arbeit und dafür mehr Erfolg? Klingt nach einem Deal, wie Sie ihn selbst am Black Friday nirgendwo sonst bekommen.

Dazu sehen wir uns eine Vielzahl anschaulicher Beispiele aus Romanen aller Genres an und bedienen uns bei Filmen und TV-Serien. Apropos: So nützlich der Blick auf Filme für Schreiben eines Romans auch häufig ist – die Perspektive im Roman gibt Ihnen etliche, dem Medium Buch ureigene, Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand. Dieser Ratgeber zeigt Ihnen, was Sie mit Erzählperspektiven literarisch und schreibhandwerklich alles anstellen können – eine Schatztruhe für Ihre Inspiration.

Übrigens …

Dieses Intro ist der einzige Teil des Buchs, in dem wenig direkt verwert- und umsetzbares Wissen oder Ideenausgangsmaterial steckt. Textmarker? Brauchen Sie keinen. Die Maxime lautet: Alles, was es nicht wert ist, von Ihnen, seinen Lesern, angestrichen zu werden, ist es nicht wert, ins Buch zu kommen. Aber falls Sie’s gerne bunt hätten, nur zu. (Hervorhebungen durch Fettsatz verschaffen einen schnellen Überblick, erleichtern die Orientierung und helfen beim Finden und Wiederfinden wichtiger Textstellen.)

Wenn Sie der Ansicht sind, aus Ihnen werde nie ein toller Autor, nie eine klasse Autorin, und Ihr Roman nie fertig oder nie gut, wird Sie »Erzählperspektiven« eines Besseren belehren. Sie schaffen das, mit dem fähigen Autor ebenso wie mit den hervorragenden Romanen. Ich freue mich, dass ich Sie dabei unterstützen darf.

Und wenn eine der vielen Perspektivideen hier perfekt für Ihren Roman ist? Dann dürfen Sie sie ebenso bedenken- wie hemmungslos klauen. All you can eat write, bedienen Sie sich!

Die Perspektive macht den Roman

Sie kennen die gängigen Perspektiven: Da erzählt jemand in der Ich-Form oder in der dritten Person Singular. Vielleicht weiß der Erzähler alles, womöglich sieht er nur so weit wie der Protagonist.

Es ist wie im Leben: Jeder hat seine ganz eigene Version derselben Geschichte. Die Versionen können so weit voneinander abweichen, dass ein Außenstehender sie nicht mal mehr als die gleiche Geschichte erkennen würde. Logisch, dass die Perspektive tatsächlich auch einen Roman erst zu diesem einen Roman macht: dem Roman des jeweiligen Erzählers, der aus seiner ganz eigenen Perspektive berichtet.

Die Wahl der Perspektive für Ihren Roman oder für einen Handlungsstrang treffen Sie vermutlich intuitiv. Das ist nicht unbedingt falsch. Aber damit ist es auch nicht automatisch richtig – so gut wie nie ist es optimal. Das Beste für Ihren Roman und Ihre Leser holen Sie dann heraus, wenn Sie exakt wissen, was für jede Perspektive spricht, wie Sie sie auswählen und auf welche Weise Sie sie bestmöglich einsetzen.

Denn die Erzählperspektive gehört zu den Aspekten beim Schreiben Ihres Romans, die alles andere beeinflussen. Jeden Satz schreiben und erzählen Sie aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus, ja, selbst die Auswahl einzelner Wörter wird von der Perspektive beeinflusst, wenn nicht sogar geregelt und geprägt. Damit reiht sie sich ein in Aspekte wie den Erzähler und seine Stimme, die nie isoliert wirken. Wir betrachten die Perspektive dennoch für sich, um klarer zu sehen.

Umgekehrt unterstützt und inspiriert Sie eine prägnante und konsistente Perspektive bei den meisten Romanbausteinen wie Plot und Charaktere, Spannung und Suspense, Emotionen und Identifikation, Beschreibungen und Setting, Sprache und Stil. Mehr noch: Das Schreiben aus der passenden und passend umgesetzten Erzählperspektive fällt Ihnen leichter, weil Sie exakter wissen, was Ihr Protagonist sehen, fühlen, beschreiben würde. Je tiefer Sie als Autor in der Perspektive drin sind, desto relevanter wird das, was Sie schreiben, desto klarer entstehen Bilder im Kopf Ihrer Leser, desto intensiver lassen Sie die Leser fühlen. Sie schreiben schneller, Sie schreiben besser, Sie schreiben präziser, Sie schreiben weniger Überflüssiges und haben selbst sehr viel mehr Spaß an Ihrer Geschichte, Ihren Figuren, Ihren Themen.[Fußnote 1]

Die Erzählperspektive ist eine Vereinbarung, die Sie als Autor mit Ihren Lesern treffen: Die Leser und Sie tun so, als würde der Roman nicht von Ihnen, der Autorin oder dem Autor, erzählt, sondern von einer Ihrer Schöpfungen: dem Erzähler[Fußnote 2].

So viel zur Theorie. Was wir uns in diesem Buch ganz praktisch ansehen werden, ist die Erzählperspektive als Standpunkt, den der Erzähler einnimmt. Im mehrdeutigen Wort Standpunkt schwingt neben der Perspektive passenderweise auch die Haltung des Erzählers mit. Die Erzählperspektive gibt an, aus welchem Blick- und, allgemeiner, aus welchem Wahrnehmungswinkel der Erzähler die Geschichte betrachtet, in welchem Emotionswinkel er sie spürt, aus welchem Intuitionswinkel er sich ihr annähert. Mit der Erzählperspektive lenkt und filtert der Erzähler die Wahrnehmung und die Gefühle der Leser. Sie sehen, das mit der enormen Bedeutung der Perspektive für Ihren Roman ist eher noch untertrieben.

Der vielen von Ihnen vertrauten Nomenklatur aus der amerikanischen Creative-Writing-Literatur folgend verwende ich für Erzählperspektive synonym den Begriff Point-of-View oder kurz POV.[Fußnote 3]

Übrigens …

Der Ausdruck »Perspektive« ist insofern missverständlich, als er (scheinbar) nur die visuellen Eindrücke meint. Besser passt da die in der Erzähltheorie verwendete Bezeichnung Fokalisierung. Da wir hier aber alles Praktiker sind, bleiben wir bei den im kreativen Schreiben gängigen Begriffen und vermeiden eine babylonische Sprachverwirrung.

Stellen Sie sich den Erzähler wie den Regisseur in einem Fernsehstudio vor. Bei einer Live-Übertragung eines Konzerts bestimmt er, welche Kamera welchen Standort (beim Schlagzeug) und welche Perspektive (über die Schulter des Schlagzeugers) einnimmt. Er legt fest, welche der Kameraeinstellungen dem Zuschauer gezeigt wird (beim Einzählen die Sticks des Drummers, beim Einsetzen der Leadgitarre eine Großaufnahme der Finger des Gitarristen). Anschließend lässt er herauszoomen, um den Bühnenauftritt der Sängerin zu zeigen, und begleitet sie mit dem Kameraauge zum Mikrofon, wo sie eine Faust in die Höhe reckt, dann der Schwenk ins Publikum, das die Sängerin kreischend begrüßt.

Sie als Autor lenken diesen Erzähler-Regisseur.

Dasselbe Konzert könnte ein anderer Erzähler völlig anders zeigen. Etwa bei der Sängerin in der Garderobe beginnen und sie mit einer Handkamera durch die Eingeweide der Halle hinauf zur Bühne begleiten, während die einsetzende Musik im Hintergrund läuft und die Sängerin, aus einem Interview im Off, ihre nachdenklichen Eindrücke vor dem Auftritt schildert. Dasselbe Konzert – und doch ein ganz anderer Film.

An diesem Beispiel erkennen Sie, wie mächtig und zugleich wichtig die gewählte Perspektive ist. In der ersten Konzert-Übertragung liegt der Fokus auf der Musik, in der zweiten auf den Gefühlen der Sängerin. Beim Zuschauer entstehen so ganz unterschiedliche Eindrücke und Emotionen.

Je nachdem, was Sie als Autor mit Ihrer Story oder Ihrem Roman erreichen wollen, wählen Sie die Erzählperspektiven aus. Entscheidend ist die Frage, wie nahe Sie die Leser an Ihre Erzähler, Protagonisten, Handlungen und Themen heranholen möchten oder ob Distanz Ihren Zwecken mehr entgegenkommt.

Die andere entscheidende Frage ist die, ob Ihr Erzähler im Roman mitspielt und damit Teil Ihres Ensembles ist, also des Romanpersonals. Diese Perspektiven nennen wir personale Perspektiven.

Betrachtet und schildert Ihr Erzähler den Roman als Außenstehender, spielt er in der Geschichte folglich keine Rolle, sprechen wir von einem auktorialen Erzähler.

Falls ein Roman aus mehreren (in der Regel personalen) Perspektiven erzählt wird, reden wir vom multiperspektivischen Erzählen.

Mit der richtigen Perspektive verstärken Sie die Wirkungen des Erzählten, mit der falschen jedoch arbeiten Sie gegen sich selbst – und letztlich gegen Ihre Leser. Darum sollten Sie sich vor dem Schreiben klar werden, welche Geschichte und welche Art Geschichte Sie erzählen und was Sie damit bei den Lesern erreichen wollen.

Eine erste Hilfestellung bei dieser Frage ist das Genre, in dem Sie Ihren Roman ansiedeln, denn es sagt grob, was die Leser von Ihrem Roman erwarten. In einem Thriller etwa suchen die Leser nach Spannung und Suspense, nach überraschenden Wendungen und raffinierten Plänen. Also wählen Sie die Perspektiven so aus, dass Sie damit die Spannung und Suspense, den Wendungsreichtum und die Raffinesse Ihres Plots herausstellen. Das kann zum Beispiel bedeuten, die Perspektive des Antagonisten einzunehmen, um den Lesern das Perfide an seinen Fallen und Täuschungen zu zeigen.

In einem Roman mit Lokalkolorit mag das Erzählen aus der Perspektive einer alten Dorfhistorikerin sinnvoll sein, weil diese Dame die überlieferten Geschichtchen und Anekdoten, die Gerüchte und Mythen, den Klatsch und den Tratsch kennt und die Geschehnisse im Roman mithilfe dieses Insiderwissens interpretiert.

Übrigens …

Klatsch ist eine Form der Unterhaltung, bei der Informationen über nicht anwesende Personen ausgetauscht werden, mit Vorliebe Dinge, die man in ihrem Beisein gerade nicht sagen würde. Dies unterscheidet ihn vom Tratsch, der ein eher zielloses Schwatzen und Erzählen meint.

Was macht eine gelungene, eine die Leser begeisternde Erzählperspektive aus? Ein großartiger und auf das zu Berichtende maßgeschneiderter Erzähler[Fußnote 4] hat eine klare Vorstellung von Themen, Charakteren und Plot. Er oder sie wählt seine Perspektive(n) danach aus, Themen, Charakteren und Plot bestmöglich zu dienen und ihre Stärken herauszustreichen. Die Geschichte erzählt er auf konsistente und stets kontrollierte Weise mit einer packenden und eine klare Haltung verkörpernden Erzählstimme[Fußnote 5].

Klingt schwierig? Keine Sorge. Was wir hier plakativ zusammengefasst sehen, ist der unerreichbare Idealfall. Dem Sie sich so weit annähern, wie Sie das hinkriegen – nach Lektüre dieses Ratgebers (noch) besser, versprochen. In jedem Fall gut genug, um einen mitreißenden Roman zu schreiben.

Übrigens …

Beim Beschäftigen mit der Erzählperspektive kommen Sie nicht umhin, Ihre Protagonisten und POV-Charaktere (abermals) näher unter die Lupe zu nehmen. Sehen Sie die Arbeit mit Perspektiven und Figuren als einen sich gegenseitig befruchtenden Prozess. Je mehr Sie sich mit der Erzählperspektive befassen, desto mehr Impulse erhalten Sie für die Ausformung und Optimierung Ihrer Charaktere – und umgekehrt.

Perspektive, Leute! Ich dachte lange Zeit, dass viele Autoren damit ein Problem hätten, weil sie nicht verstehen, warum man wann wie damit umgeht. Das Problem, fürchte ich, liegt tiefer.

Vielen ist nicht bewusst, dass es überhaupt ein Problem gibt, genauer gesagt: eine Vielzahl davon. Munter schreiben sie drauflos – »munter« kann, muss aber nicht »planlos« bedeuten – und kümmern sich nicht weiter um die Perspektive.

Warum sollten sie? Perspektive, Erzählperspektive, das klingt abstrakt, nach Schulgrammatik. Ohne die man blendend durchs Leben kommt, oder? Ich meine, was interessiert es den Bäckereifachverkäufer, die Bankenvorstandsvorsitzende oder den Escortherrn, was ein Konditionalsatz ist oder ein Akkusativobjekt? Brötchen, Staatspleiten und Sex verkauft man auch ohne dieses Wissen. Hat ein Autor eine Geschichte zu erzählen, kann eine Autorin wunderbare Charaktere zum Leben erwecken, muss es ihn oder sie doch einen trockenen Kehricht interessieren, wie das eigentlich so genau war mit der Perspektive.

Womit wir am Punkt sind: Sie als Autor (oder Ihr Erzähler, siehe oben) erzählen eine Geschichte besser und wirkungsvoller und gestalten Charaktere runder und lebendiger, wenn Sie das mit der Erzählperspektive hinbekommen.

Umgekehrt können reihenweise Perspektivfehlerund die Wahl eines falschen POV eine Szene, einen Erzählstrang oder den kompletten Roman verwässern, schwächen und schlimmstenfalls zerstören. Etwa, wenn Sie an Schlüsselstellen dem Leser die relevante Sicht verwehren. Oder wenn Sie die Kontrolle über Ihre Charaktere verlieren und diese unglaubhaft oder inkonsistent agieren oder fühlen.

Keine Sorge, wir sind nicht in der Schule, nur in der des Lebens, und hier geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um wirkungsvoll oder weniger wirkungsvoll. Es geht uns nicht darum, irgendeinen Roman irgendwie in die Tasten zu hacken, sondern darum, einen guten oder sogar den besten Roman zu schreiben, den Sie schreiben können. Schließlich haben Sie Ambitionen und eine Schreiber-Ehre.

Denn die Perspektive macht nicht nur den Roman – die Perspektive macht auch die Autorin und den Autor. Je präziser und prägnanter Sie die bestmögliche Perspektive einsetzen, desto näher kommen Sie dem Idealbild des Romans, den Sie schreiben und erzählen möchten, desto besser bringen Sie Ihre literarischen Fähigkeiten zur Geltung, nutzen mehr Ihres Potenzials aus und werden als Autorin oder Autor zu dem, der Sie sein können.

Perspektivpower

Das kann Perspektive

Die Erzählperspektive filtert den kompletten Roman vom ersten bis zum letzten Wort, sprich: Die Perspektive beeinflusst jedes Satzzeichen und jede Silbe, jede Leerzeile und jeden Absatz, jedes Kapitel und jede Szene – und auch alles, was Sie nicht schreiben. Einzig unberührt bleibt der Mückenschiss[Fußnote 6] auf Seite 313. Anders gesagt: Das schönste Ölgemälde der Welt ist wertlos, wenn die Leute es nicht oder nicht richtig oder nicht gut sehen können.[Fußnote 7]

Damit wir wissen, worüber wir reden, Beispiele der drei gängigsten Perspektiven:

Auktorialer Erzähler:

»…

Die Frau wurde am Morgen des 11. September 2001 am Strand gefunden, ziemlich genau zwischen dem Badhotel Skodsborg und dem Strandpark Bellevue.

Das war wenige Stunden, bevor die Welt für fast alle Menschen in den unterschiedlichsten Erdteilen nachhaltig verändert wurde. Diese eigenartige Koinzidenz hatte eine entscheidende Bedeutung für den seltsamen Verlauf, den dieser Fall nahm, sodass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann, das Schicksal habe seine Freude daran gehabt, zwei so vollkommen unterschiedliche Geschehnisse auf ein und den gleichen Tag zu legen.

…«

(Erik Valeur, »Das siebte Kind«, Blanvalet 2014)

Personaler Erzähler, dritte Person:

»…

Shelby hatte nur noch wenige Kilometer bis zur Ranch ihres Onkels Walt vor sich, als sie auf dem Highway 36 zwischen Fortuna und Virgin River gezwungen wurde, am Straßenrand anzuhalten. Der Highway 36 war die Verbindung zwischen Fortuna und Red Bluff, eine Landstraße, die größtenteils nur zweispurig durch die Berge führte, und natürlich war dies der Streckenabschnitt mit dem meisten Verkehr. Sie kam hinter einem Truck zu stehen, der ihr vage bekannt vorkam, stellte den Wählhebel der Automatik ihres kirschroten Geländewagens auf »Parken« und stieg aus. Die Regenwolken hatten sich endlich verzogen und der strahlenden Sommersonne Platz gemacht, aber der Asphalt war noch nass und überall hatten sich Schlammpfützen gebildet. Als sie die Straße hinaufschaute, konnte sie am Ende einer langen Autoschlange einen Mann erkennen, der eine leuchtend orangefarbene Weste trug und ein Stoppschild hochhielt, womit er beide Fahrspuren blockierte. Die Abzweigung zu dem Anwesen ihres Onkels lag direkt hinter dem nächsten Berg.

…«

(Robyn Carr, »Verliebt in Virgin River«, MIRA 2009)

Personal, Ich-Erzähler:

»…

Ich saß in der hintersten Kirchenbank und sah zu, wie die einzige Frau, die ich je lieben würde, einen anderen Mann heiratete.

Natalie kam ganz in Weiß – wie auch sonst – und sah so hinreißend aus, dass ich es nie wieder vergessen würde. In ihrer Schönheit hatten sich schon immer Grazilität und eine ruhige Kraft vereint, aber da oben, auf der Empore vor dem Altar, sah sie so ätherisch aus, als wäre sie nicht von dieser Welt.

…«

(Harlan Coben, »Ich finde dich«, Goldmann 2014)

Haben Sie sich für eine Perspektive (für den gesamten Roman oder einen Erzählstrang) entschieden, müssen[Fußnote 8] Sie sie beibehalten. Jeder unmotivierte oder falsche Wechsel, jeder Perspektivfehler ist, als würden Sie beim Kaffeekochen den Filter zwischendrin immer mal wieder austauschen, gegen ein Teesieb, einen benutzten Staubsaugerbeutel, einen Seiher. Glauben Sie mir, das braun-klumpige Ergebnis in Ihrer Kanne wollen Sie nicht trinken.

Auch wenn Sie irgendwann merken, dass dieser POV nicht funktioniert, bleibt Ihnen nichts übrig, als den kompletten Text Wort für Wort zu überarbeiten. Oder ihn gleich neu zu schreiben.

Sehen Sie die Perspektive, trotz unseres dramatischen Intros oben, nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Mit einem kristallklaren, konsistenten POV reizen Sie die Power und die Kunst, die in Ihrem Roman und Ihren Charakteren steckt, erst so richtig aus.

Denn eine effektive Ausgestaltung der passenden Perspektive verstärkt jeden anderen Aspekt Ihres Romans, sei es die Handlung, sei es die Spannung, seien es die Charaktere und ihre Persönlichkeiten.

Umgekehrt kann eine ineffektive Perspektive das alles verzerren, schwächen, unsichtbar machen. Das ist, als würden Sie Ihrem Publikum einen Film zeigen: Die Schauspieler verstehen ihr Handwerk, sie gehen in ihren Rollen auf, die Story ist knackig und anregend, der Schauplatz und seine Ausgestaltung sind ein Meisterwerk an Authentizität und Detailreichtum. Und dann leuchten Sie die Szene nicht oder falsch aus, das Mikrofon überträgt bloß den Wind und das, was die Menschen im Saal zu sehen bekommen, sind hastig verlegte Kabel, Standmarkierungen und ein halber UGG Boot Ihrer Protagonistin. Der ganze Aufwand, Ihre Zeit und genialen Einfälle, die wunderbare Sprache – alles für die Katz!

Eine klare Erzählperspektive ist für den Leser, als wäre er extrem kurzsichtig und altersweitsichtig dazu und Sie würden ihm die perfekt passende Gleitsichtbrille auf die Nase setzen. Damit sieht er nicht nur deutlicher, was Sie ihm an Story und Figuren vorsetzen, vieles begreift oder fühlt er erst jetzt. An welchen Roman wird sich ein Leser wohl erinnern, welchen Roman weiterempfehlen? Den, den er vor seinem inneren Auge nur verschwommen gesehen hat? Oder den kristallklaren, mit Szenen wie in Bergluft?

Die Perspektive lediglich als Kameraauge oder Brille zu betrachten, greift jedoch zu kurz. Diese »Sicht der Dinge« meint neben dem über alle Sinne (einschließlich des sechsten) Wahrgenommenen auch Wissen und Emotionen des Erzählers oder POV-Charakters. Dem verliebten Helden zeigt die Perspektive nicht nur die Geliebte (sinnlich wahrnehmbar), sondern sie liefert die rosarote Brille (für die Emotionen) gleich mit. Wer eine Menge über dsungarische Zwerghamster weiß, sieht die kasachischen Steppen mit anderen Augen als ein Hamsterignorant.

Denken Sie auch an die vom Wahrgenommenen ausgelösten körperlichen Empfindungen, etwa die Schmetterlinge im Bauch, die leider manchmal, danke, Herbert G., zu Flugzeugen werden.

Damit sich all das auch auf die Leser überträgt, es ihnen verständlich wird und sie berührt, sie zum Weinen bringt und ihnen den Atem verschlägt oder sogar die Faust im Triumph recken lässt, damit Ihnen all das und mehr gelingt, genügt nicht allein Ihr sprachliches und schreibhandwerkliches Geschick. Die effektive Arbeit mit Perspektiven verlangt das Einnehmen des jeweiligen Standpunkts samt Filter, das Einlassen auf die Perspektiven, das Einfühlen in Charaktere, die Übernahme der Sicht Ihrer Erzähler, seien sie auktorial oder personal.

Merke

Um aus einer Perspektive überzeugend und mitreißend zu schreiben, müssen Sie diese selbst einnehmen.

Mit der Erzählperspektive steuern Sie den Fluss der Informationen: Welche Informationen übermitteln Sie an die Leser? Relevante! Doch selbst die unterscheiden sich von Perspektive zu Perspektive. Ein allwissender Erzähler hat andere Informationen zur Verfügung als ein Ich-Erzähler; eine siebzigjährige Ärztin als POV-Charakter präsentiert eine Information über die Risiken einer frühen Schwangerschaft anders als eine dreizehnjährige Hauptschülerin; eine ungeduldige Frau mit großem Freundeskreis verrät ein wichtiges Geheimnis eher als ein autistischer Mann ohne soziale Kontakte. In welchem POV, an welcher Stelle der Dramaturgie und auf welche Weise bringt Ihr Erzähler seine Informationen an?

Die Perspektive ist nicht fixiert oder für einen ganzen Roman verbindlich. Jeden Handlungsstrang können Sie aus einer eigenen Perspektive erzählen. In jeder Perspektive wiederum können Sie oder Ihre Erzähler sich mal näher, mal aus größerer Distanz Ihren Charakteren widmen.

Steht das nicht im Widerspruch zum oben beschworenen konsistenten Durcherzählen in einer Perspektive? Nein. Sie dürfen die Perspektive (aus gutem Grund) wechseln, sollten aber in der Perspektive selbst konsistent bleiben – weitgehend. Denn ein zielgerichteter, dynamischer Umgang mit der Distanz zwischen Leser und POV-Charakter oder Leser und Story ist je nach Perspektive ebenfalls möglich. Mehr dazu später.

Einer der wichtigsten Gründe für Ausgestaltung und Optimierung der Erzählperspektive sind die Charaktere Ihres Romans. Was nutzt es den Lesern, wenn Sie einen wunderbaren Protagonisten erschaffen haben, sie ihm aber nicht nahe kommen, ihn nicht verstehen, sich nicht auf ihn einlassen, nicht emotional mit ihm verbinden können? Wenn sie keine Ahnung haben, wie er die Welt sieht oder wie seine Haltung zu den Kernthemen und -werten Ihrer Story ist? Erst mit der richtig gewählten und effektiv ausgearbeiteten Perspektive kommen Ihre Charaktere voll zur Geltung, nur dann werden die Leser sie ins Herz schließen, mit ihnen mitfiebern und bis aufs Komma genau wissen wollen, was mit ihnen geschieht – von der ersten bis zur letzten Seite.

Mehr noch: Erst wenn die Leser einen Bezug zu Ihren Charakteren aufbauen, erst wenn sie die Ereignisse auf die Weise gefiltert aufnehmen, die Sie und Ihr Erzähler mit der Perspektive vorgeben, werden sie Ihren Roman in seiner ganzen Schönheit, Spannung, Klugheit und Komplexität zu schätzen wissen.

Merke

Die Erzählperspektive fasst das Erleben der Romanfiguren in für die Leser verständliche Worte und Gefühle.

Die Möglichkeiten zur Auswahl von Perspektive und Erzähler sind zahlreicher, als Sie denken.

Die Fliege an der Wand, die wir bei der dramatischen Perspektive kennenlernen werden, kann buchstäblich eine Fliege an der Wand sein. Wie in Rebecca Millers »Jacobs wundersame Wiederkehr«. Oder ein noch sehr viel ungewöhnlicherer Erzähler. Wie das ungeborene Kind in Ian McEwans »Nussschale«, die Schüssel in Tibor Fischers »Die Voyeurin« oder die Droge Crack-Kokain, von der Hauptfigur Darlene abhängig ist, in James Hannahams »Delicious Foods«. Orhan Pamuks Roman »Rot ist mein Name« dürfte im Hinblick auf ausgefallene Perspektiven kaum zu toppen sein. Einer der vielen Erzähler des Werks ist Satan, ein anderer eine Münze, noch ein anderer die Farbe Rot.

Hoffen wir, dass diese Autoren gute Gründe für die Wahl der Perspektive hatten. Jeder Trottel kann aus der Sicht einer buddhistischen Wanderheuschrecke erzählen. Aber es auf eine Weise zu tun, die der Roman braucht und die ihm gerecht wird und die obendrein unterhaltsam oder literarisch hochwertig ist, das kriegt nicht jeder hin.

Die Perspektive ist so etwas wie ein Überholvorgang auf einer engen, kurvigen Landstraße bei dichtem Nebel und drei Ihrer Kinder auf dem Rücksitz. Bestehen Zweifel, dass Sie es hinkriegen, lassen Sie es bleiben. Es steht zu viel auf dem Spiel. Mit den bewährten Perspektiven kommen Sie sicherer an Ihr Ziel.

Vorteile klarer und konsistenter Perspektiven

Die filternden Eigenschaften der Perspektive erweisen sich, wenn konsequent durchgehalten, als Vorteil: Vieles, was Sie sonst wieder und wieder erklären und betonen müssten, wird von einer klaren und konsistenten Erzählperspektive verstärkt. Der Erzähler erscheint konturiert und lebendig, unabhängig davon, ob er auktorial erzählt oder personal (und damit im Roman selbst als Figur vorkommt). Auch seine Erzählerstimme kristallisiert sich besser heraus. Umgekehrt stärken ein prägnanter Erzähler und eine eigenständige Stimme die Filterwirkung des POV.

Logisch, oder? Haben die Leser erst Ihren Erzähler als »Freund feiner Ironie« erkannt, werden sie die Ironie zwischen seinen Zeilen heraushören, ohne dass Sie sie jedes Mal in den Zeilen ausformulieren oder gar umständlich erklären müssten.

Wenn Ihre Erzählerin von den Lesern als »raffiniert« abgespeichert wurde – und Sie die Perspektive durchhalten –, merken die Leser, wenn die Erzählerin sich dumm stellt, um an Infos zu kommen. Und Ihre Erzählerin für umso raffinierter halten.

Sorgen Sie bei den Lesern für ein einheitliches Bild des Charakters, müssen Sie vieles nicht mehr eigens erwähnen – die Leser ergänzen es selbst. Weil sie, dank Ihrer Konsistenz, jetzt dazu in der Lage sind.

Weitere wichtige Vorteile einer konsistenten Perspektive (die wir uns bei den einzelnen Perspektiven genauer ansehen werden):

+ Die Verbindung zwischen Leser und Charakter wird erleichtert.

Eine strikt durchgehaltene Erzählperspektive hält die Leser dauerhaft eng an der Perspektivfigur (dem POV-Charakter). Damit vergessen die Leser schneller, dass sie nur eine Geschichte lesen. Der Charakter gewinnt an Kontur.

Dazu gehört, dass Sie sich als Autor tief genug in den POV-Charakter[Fußnote 9] hineindenken, hineinversetzen, um überzeugend aus seiner Sicht zu berichten.

Wie das C. J. Sansom in seinem historischen Roman »Die Schrift des Todes« (orig. »Lamentation«) vormacht. Darin schleicht Protagonist und Ich-Erzähler Shardlake im Schutz der Dunkelheit mit Verbündeten zu einem Schiff, das am Hafen vor Anker liegt. Sie wollen verhindern, dass religiöse Fanatiker mit einem bedeutenden Manuskript England verlassen, und die Männer abfangen, bevor diese das Schiff betreten. Shardlake wirft einen Blick aufs Deck und beschreibt, was er sieht:

»…

Es gab ein kleines Deckhaus, die Fenster ohne Läden; drinnen saßen zwei Männer in Leinenhemden und spielten Karten im Licht der Lampe. Sie waren mittleren Alters, aber sahen kräftig aus.

…«

(C. J. Sansom, »Lamentation«, Mantle 2014, eigene Übersetzung)

Die Beschreibung ist perspektivisch effektiv, gibt sie doch genau wieder, worauf der Charakter in dieser Situation achten würde – und nicht mehr. Für einen bevorstehenden Kampf ist es wichtig, zu wissen, wie alt und wie stark die Männer sind, selbst die Leinenhemden sind bedeutsam, weil sie keinen Schutz gegen Shardlakes Messer bieten. Was die Männer tun, spielt ebenfalls eine Rolle: Sie beschäftigen sich mit Karten, sind also nicht wachsam und nicht interessiert daran, was am Kai vor sich geht. Sogar die Erwähnung der Lampe macht, aus Shardlakes Sicht, Sinn. Natürlich brauchen die Männer zum Kartenspielen eine Lampe. Aber eine Lampe im Deckhaus bedeutet auch, dass die Männer weniger gut erkennen können, was auf dem dunklen Kai vor sich geht.

Für Sie heißt das: Widerstehen Sie der Versuchung, Überflüssiges zu beschreiben oder zu erwähnen, sondern konzentrieren Sie sich auf die Situation und ihre Erfordernisse. So gestalten Sie eine Perspektive angemessen und einheitlich.

Ginge Shardlake nur am Kai spazieren, seine Frau im Arm, und würde die Nachtluft genießen und von Reisen in ferne Länder träumen, müsste seine Beschreibung der beiden Kartenspieler anders ausfallen. Vielleicht würde er das fremdländische Aussehen der Männer registrieren und sie um die Reise beneiden, die vor ihnen liegt. Er würde sehen, dass auf dem Arm des einen zwei sonderbare Tattoos prangen, und sich fragen, in welchem exotischen Hafen er die wohl erworben hat. Um seine Frau zu necken, könnte er betonen, wie gutaussehend einer der Männer im Deckhaus ist.

Gehen Sie so vor, schlagen die Emotionen Ihrer Charaktere effektiver auf die Leser durch. Denn je klarer der POV, desto besser können sich die Leser in den POV-Charakter einfühlen, sodass sie entweder Vergleichbares empfinden oder die Emotion zumindest besser erkennen und nachvollziehen können – unverzichtbar für die Identifikation.

+ Die Handlungen der Charaktere werden plausibler.

Je länger und tiefer die Leser im Kopf des erzählenden Charakters stecken, desto eher lassen sie sich auf dessen Weltsicht und Motive ein.

Das sorgt bei positiven Charakteren, wie etwa der Heldin und ihren Verbündeten, für eine schnellere und intensivere Bindung der Leser. Die Motivationen, Ziele und Handlungen schwieriger bis negativer Charaktere – insbesondere die des Antagonisten – werden transparenter. Damit steigt die Bereitschaft der Leser, mehr Zeit selbst mit weniger netten Gesellen zu verbringen, und ermöglicht erst einen zugkräftigen Erzählstrang für den Antagonisten.

+ Die guten Charaktere erscheinen sympathischer, die bösen unsympathischer.

Eine gestochen scharfe und zweckmäßige Erzählperspektive sorgt dafür, dass die Leser das wahre Wesen der Romanfiguren deutlicher erkennen – auch eine mögliche Zerrissenheit oder Mehrdeutigkeit. Die Leser nehmen sie intensiver wahr. Das sorgt für ein tieferes Lese-Erlebnis und erhöht die Chancen, dass sie Ihr Buch weiterempfehlen.

+ Die Figuren erscheinen trennschärfer und auch für den Autor klarer umrissen.

Je augenfälliger Sie mit der Perspektive die Persönlichkeiten der Romanfiguren herausarbeiten, desto besser unterscheidbar werden sie für die Leser und umso lebensechter erscheinen sie ihm.

+ Die Leser werden tiefer berührt und erfahren mehr.

Auch über sich selbst lernen die Leser mehr, denn der konsistente POV erleichtert ihnen Rückschlüsse auf sich selbst. Stellen Sie sich einen Spiegel vor. Man sieht sich in dem sauberen, geraden Metall besser als in dem verdreckten, gewellten.

+ Das Lesen fällt leichter …,

… der Text liest sich flotter und wirkt tiefer, logischer, eindrücklicher. Die Leser haben das Gefühl, durch den Roman hindurchgeflogen zu sein. Die klare, konsistente Erzählperspektive macht aus Ihrem Roman einen Pageturner.

+ Die Perspektive macht die Worte Ihres Erzählers fassbarer.

So geben veränderte Wahrnehmungen und Emotionen eines POV-Charakters Aufschluss über seine Veränderung. Nehmen Sie eine Frau, die sich gegen Ende eines Entwicklungsromans entschieden hat, ein Kind zu bekommen. Zuvor fielen ihr Kinder auf der Straße nicht auf und falls doch, dann eher negativ. Nach ihrer Veränderung scheinen die Straßen von Kindern überrannt zu werden – und sie freut sich darüber. Diese Entwicklung wird für die Leser in einer konsequenten Perspektive besser erkennbar.

+ Gute Beschreibungen und Details finden sich leichter.

Eine klare Erzählperspektive erleichtert es Ihnen als Autor, genau die Beschreibungen oder spezifischen Details herauszufinden, die am besten zum POV-Charakter und zum Erzähler passen. Denn was eine Figur wahrnimmt, sagt oft mehr über sie aus als über das Wahrgenommene.

Beispiel: Melanie betritt Freds Wohnzimmer und bemerkt sofort die geschmackvolle Ton-in-Ton-Wahl von Tapete, Couch und Kissen. Lutz betritt dasselbe Zimmer und ihm fallen zuerst die Stapel von Musical-DVDs in einer Ecke auf.

Auf diese Weise werden Beschreibungen zudem prägnanter und individueller. Sie bringen die Persönlichkeit des Beschreibenden deutlicher zum Vorschein. Eine Szene liest sich wie aus einem Guss, wenn der POV-Charakter Action und Setting mit einer Stimme beschreibt – und einer akzentuierten dazu.

+ Instrumente wie Subtext oder dramatische Ironie[Fußnote 10] können ihre Möglichkeiten ausspielen …

… und so Ihren Roman deutlich verbessern. Subtext funktioniert nur dann, wenn der eigentliche Text klar genug umrissen ist, die Bedeutung darunter hindurchscheinen zu lassen.

Stellen Sie sich den Text auf der Seite wie Ausstanzungen im Papier vor, die den Blick auf den Subtext darunter freigeben. Sobald die Kanten der Löcher unscharf sind oder die Löcher woanders liegen, kommt der Subtext gar nicht oder nur verzerrt zum Vorschein. Und in jedem Fall anders, als Sie das vorhaben.

+ Falsche Fährten funktionieren besser …

… ebenso eingestreute Hinweise und Vorausdeutungen.

+ Spannung und Suspense lassen sich besser aufbauen …

… und länger halten, was insgesamt für einen spannenderen Roman sorgt. So macht ein konsistenter POV beispielsweise die Bedrohlichkeit einer Umgebung deutlicher, da alles Wahrgenommene auf den Erzähler/POV-Charakter bedrohlich wirkt und er das den Lesern konsequent vermittelt.

Flicht der Erzähler im Beispiel hingegen eine nette Erinnerung an einen Urlaub ein, zerstört er damit die Bedrohlichkeit. Oder er fällt aus der Perspektive und mischt die Gedanken eines anderen Charakters in die Beschreibungen, für den die Szenerie nicht bedrohlich wirkt, sondern deprimierend.

+ Im Leser entstehen klarere Bilder …

… und damit klarere Emotionen. Denn das Durchhalten einer Perspektive vermittelt einen trennschärferen Eindruck einer Szene. Die Leser wissen genauer, was sie fühlen und fühlen sollen.

Stellen Sie sich den Erzähler wie einen Maler vor, der die Szene in einem einzigen Stil darstellt. Die Szene würde unschärfer, je mehr und je stärker er von dem Stil abweicht, etwa in seine superrealistische Szene impressionistisches Gepünktel einfließen lässt oder den spitzen Zeichenstift hier und da durch den breiten Malerpinsel ersetzt. Am Ende hat er das eigene Bild ruiniert.

+ POV-Charaktere lassen sich klarer unterscheiden.

Beim multiperspektivischen Erzählen heben sich die POV-Charaktere entschiedener voneinander ab, wenn jeder von ihnen den Roman aus einer erkennbar individuellen Sicht erlebt und schildert. Hier entfaltet insbesondere eine markante Erzählstimme ihre Wirkung, ebenso kommen die unterschiedlichen Filter der POV-Charaktere zum Tragen.

Nehmen wir wieder unseren Maler, zu dem sich zwei Kollegen gesellen: Einer malt durchgängig impressionistisch, der zweite realistisch, der dritte expressionistisch. Der Bildbetrachter weiß auf den ersten Blick, welchen Maler er vor sich hat. – Die Leser wissen nach den ersten Sätzen, welchen Erzähler sie lesen.

+ Der Erzähler erhält mehr Autorität …,

… auch wirkt er kompetenter. Denn Unterbrechungen und Unebenheiten in der Perspektive sind, als würde ein Erzähler mal deutlich, mal undeutlich, mal mit Bassstimme, mal im Mezzosopran sprechen. Wer könnte da noch in der Geschichte versinken?

Haben Sie die Autorität des Erzählers etabliert und den Leser damit gepackt, können Sie erzählerisch tun, was Sie wollen. Die Leser lassen Ihnen so gut wie alles durchgehen und folgen Ihrem Erzähler bis ans Ende der Welt – mindestens bis ans Ende Ihres Buchs.

+ Sie als Autorin oder Autor erleichtern sich das Schreiben.

Wenn Sie eine Perspektive klar und sicher durchhalten, wirkt das auch auf Sie und Ihr Schreiben positiv zurück. Denn nicht nur die Leser, auch Sie selbst erhalten ein klareres Bild von Erzähler, Charakteren, Story, Thema. Was Ihnen das Schreiben erleichtert und dazu führt, dass Ihnen weniger Fehler unterlaufen, etwa im Ton oder in der Darstellung eines Charakters. Ja, der ganze Roman liegt auf einmal sehr viel deutlicher vor Ihnen.

Alles in allem bereitet Ihnen das Durchhalten einer klaren Perspektive weit weniger Mühe und kostet weniger Zeit, als sich permanent mit den Folgen schlampiger Perspektivarbeit herumzuschlagen. Stellen Sie sich das Schreiben wie eine Straße vor. Ein unklarer oder inkonsistenter POV sorgt für eine Holperstrecke, jeder Fehler ein eigenes Schlagloch. Die konsistente Perspektive hingegen ist ein glatter, gerader Highway, der Sie sofort in den Schreibfluss bringt und darin hält.

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Klingt gut. Ist noch besser. Eine konsistente Erzählperspektive nutzt Ihren Lesern und Ihnen selbst. Sie sehen, es lohnt sich, im Vorfeld einiges an Hirnschmalz und Hosenboden in die Erzählperspektive zu investieren.

Sehen wir uns an, was passiert, wenn Sie aus der Perspektive fallen. Wie das hier Jeffery Deaver unterläuft, im letzten Satz am (vorläufigen) Ende eines Handlungsstrangs:

»…

Und sie [POV-Charakter Amelia Sachs] erinnerte sich daran, was Lincoln Rhyme gesagt hatte.

Ich werde diesen Fehler nicht noch einmal begehen …

Die letzten Worte, die er je an sie richten würde.

…«

(Jeffery Deaver, »Der Todbringer«, Blanvalet 2019)

Sachs ist eine der Hauptfiguren der Krimireihe um Lincoln Rhyme. Dass sie stirbt, halten die Leser für unwahrscheinlich. Der Satz lässt zwei Lesarten zu, je nach POV.

Wird er personal erzählt? Dann wird Amelia Sachs tatsächlich sterben.[Fußnote 11] Und sie als personale Erzählerin weiß das in diesem Moment. Kann sie in die Zukunft sehen? Oder ist die Situation so offenbar tödlich?

Oder wird der Satz auktorial erzählt? Dann würde der auktoriale Erzähler lügen, um Spannung zu erzeugen. Und damit den Vertrag mit den Lesern brechen, die den auktorialen Erzähler für zuverlässig halten (müssen).

Dass Amelia Sachs überzeugt davon ist, sie werde sterben, und sich irrt, ist wenig wahrscheinlich. Dafür ist der Satz zu eindeutig. Zumal sich einige Seiten weiter dieser Satz findet:

»…

Amelia Sachs wusste, sie würde sterben.

…«

Dass sie dann doch überlebt, fühlt sich für viele Leser wie ein Betrug an, und zwar ein unfairer, einer, den sie dem Autor nicht durchgehen lassen. Vertragsbruch, Jeff!

Vertiefen und festigen der Erzählperspektive

Mit der narrativen Prämisse sagen Sie den Lesern, wer der Erzähler des Romans oder Erzählstrangs ist, mit welcher Stimme er zu den Lesern spricht und auf welche Weise er erzählt – damit klären Sie, inwiefern die geschilderten Ereignisse, Handlungen, Gedanken und Gefühle gefiltert sind.

Das sollte sofort auf der erstenSeite klar werden, denn erst die Kenntnis der narrativen Prämisse erlaubt den Lesern die korrekte Interpretation dessen, was sie vor sich auf der Seite sehen. Nur dann haben Sie als Autor die Chance, emotionale Reaktionen der Leser vorherzusehen und effektiv zu beeinflussen. Beim Einstieg in Ihren Roman oder Handlungsstrang sollten Sie die narrative Prämisse daher so früh wie (sinnvoll) möglich offenlegen. Bei erzählten Anfängen in den ersten zwei, drei Absätzen, bei szenischen Anfängen noch in dieser ersten Szene.

Wer erzählt da? Aus welcher Position heraus? Mit welcher Absicht, welchem Wissen und wie zuverlässig? Inwiefern werden die objektiven, die tatsächlichen Vorfälle gefiltert?

Halten Sie mit der narrativen Prämisse hinterm Berg oder geben Sie den Lesern widersprüchliche Signale dazu, ist es, als würden Sie einen Gast in Ihr Esszimmer bitten und ihn, statt ihn am Tisch sitzen zu lassen, wieder und wieder zum Aufstehen zwingen, auch wenn er schon den Löffel Tomatencremesuppe zum Mund führt. Würde sich dieser Mensch bei Ihnen willkommen fühlen?[Fußnote 12]

Eine andere entscheidende Frage ist, mit welcher Stimme der Erzähler spricht. Die Stimme sagt eine Menge über den Erzähler und damit über den Filter aus. Lernen die Leser den Erzähler beispielsweise als rhetorischen Übertreiber kennen, werden sie seine Aussagen entsprechend justieren, um die Wahrheit darin zu finden.

Danach entscheidet eine klare und stringent durchgehaltene Erzählperspektive, ob und wie weit die Leser sich auf Ihre Charaktere einlassen, sich um sie sorgen, sich mit ihnen identifizieren. Vieles davon erreichen Sie über Handlung, etwa indem Sie Ihre Heldin in Gefahr bringen, oder über Dialoge, indem Sie Ihren Helden etwas Kluges oder Schlagfertiges sagen lassen.

Handlung allein – und auch Dialoge sind Handlung – reicht nicht aus. Gehen Sie tiefer. Verbinden Sie die Wahrnehmungen des Point-of-View-Charakters mit Emotionen, Erinnerungen, Anekdoten. Und tun Sie das, was Stefan Kiesbye hier vormacht:

»…

Die letzten hundert Meter schien die Limousine aufs Große Haus zuzugleiten. Das Gut lag auf dem Hügel, den der Riese Hüklüt zurückgelassen hatte, als er im Moor versunken und gestorben war. Obwohl wir wussten, dass es nur eine Legende war, machte es das Gutshaus noch beeindruckender. Das Gebäude war größer als unsere Schule, größer noch als unsere Kirche, und die Ziegel waren gelb gestrichen. Und ganz so, als ob wir hohe Herren wären, wurden wir zum Vordereingang hinaufgefahren. Der Fahrer stieg aus und öffnete uns die Türen.

…«

(Stefan Kiesbye, »Hemmersmoor«, Tropen 2011)

Mit Vergleichen wie »größer als unsere Schule, größer noch als unsere Kirche« nimmt der POV-Charakter seine aktuellen Wahrnehmungen und relativiert sie anhand von Wahrgenommenem aus seinen Erinnerungen, seiner Vergangenheit, seinem Leben. Eine indirekte Relativierung folgt im nächsten Satz: »als ob wir hohe Herren wären« zeigt, dass der POV-Charakter eben kein hoher Herr ist oder sich nicht als solcher sieht – und hilft mit, die Erzählperspektive einzigartig zu gestalten.

Genau darauf zielen Sie ab: die Erzählperspektive unverwechselbar zu machen – und damit den Erzähler, den POV-Charakter.

Wenn Sie genauer hinhören – besser gesagt: hinspüren –, erkennen Sie, dass die Vergleiche aus Kiesbyes Roman die Erzählperspektive in ihrem direkten Umfeld vertiefen. Der den Vergleichen folgende Nebensatz »die Ziegel waren gelb gestrichen« klingt dann nicht mehr nur wie eine schlichte Beobachtung. In ihr scheint das für den Erzähler Besondere daran auf: »gelbe Ziegel, nein, wie vornehm«.

Für Sie heißt das: Erhärten Sie die Erzählperspektive – über solche Vergleiche oder über ein anderes Instrument –, strahlt die Wirkung über dieses Instrument hinaus. Erzählökonomie in Reinform!

Sie finden das Beispiel banal? Genau das ist der Punkt. Eben weil die erwähnten Relationen nicht auffallen, sind sie so effektiv darin, die Erzählperspektive glaubhaft zu machen. Solche Vergleiche mit dem Leben des Charakters können Sie immer wieder einfließen lassen, ohne dass es die Leser stört oder sie gar aus dem Erzähltraum (fiktionalen Traum) reißt.

Wir kommen durch diese Vergleiche dem Kern des Wortes »Perspektive« ganz nah, denn gerade diese Vergleiche verdeutlichen den Standpunkt des Erzählers und setzen damit den Ausgangspunkt fest – für die Betrachtung der Welt Ihres Romans durch die Augen, durch alle Sinne, durch Verstand und Herz Ihres Erzählers.

Lassen Sie sich von Filmtechnik inspirieren

Um gezielt auf das Publikum zu wirken, legt ein Filmregisseur mit der Kameraperspektive sowohl den Standpunkt des Zuschauers als auch die Fläche des Filmsets fest. Bei der Auswahl einer Kameraperspektive spielen neben technischen auch dramaturgische Überlegungen mit. – Klingt nach etwas, das Sie inspirieren könnte.

Bei der Untersicht (Low-Angle-Shot) werden Objekte aus einer niedrigen vertikalen Position gezeigt. Im Film wird sie beispielsweise eingesetzt, um beim Zuschauer Ehrfurcht oder Erregung gegenüber dem Charakter oder Objekt zu erzeugen.

Mit anderen Worten: Eine Figur wirkt durch diese Perspektive größer, mächtiger, dominanter. Auch weil sie aus dieser Perspektive das Gesichtsfeld des Erzählers ausfüllt.

Das können Sie verwenden, um etwa eine fiese Antagonistin einzuführen. Dazu beschreibt Ihr Erzähler die Person von unten. Vielleicht ist der Erzähler/Protagonist hingefallen und schaut zur Antagonistin hoch. Dabei beschreibt er Dinge, die er nur aus dieser Perspektive wahrnehmen kann, zum Beispiel ein Muttermal unter ihrem Kinn. Oder dieser Perspektive geschuldete Verzerrungen wie die unverhältnismäßige Größe des Kinns oder die nackten Äste vor dem Himmel, die hinter dem Kopf der Antagonistin wie eine dunkle Krone wirken.

Statt die Leser mit einer exakten Beschreibung zu verwirren – ein Roman ist kein Film und will auch keiner sein –, sollten Sie sich eher auf die Eindrücke und Emotionen konzentrieren, die diese Perspektive im Erzähler auslöst. Das wäre in diesem Fall ein Gefühl der Hilflosigkeit oder Unterlegenheit.

Eine Extremform der Untersicht ist die Froschperspektive, bei der die Vertikale noch dominanter wird.

Sie passt zu Extremsituationen, etwa wenn ein Charakter einem Riesen gegenübersteht, oder bei starken Veränderungen wie einem langen Sturz. Sprachlich eine vergleichbare Wirkung erzielen Sie mit eindringlichen Metaphern oder Vergleichen: Das Sonnenlicht, das von oben in den Brunnenschacht fällt, erscheint dem Gefallenen wie das verheißungsvolle Licht am Ende eines Tunnels.

Bei der Aufsicht (Obersicht oder High-Angle-Shot) nimmt die Kamera eine erhöhte vertikale Perspektive ein und blickt auf das Objekt oder die Person hinab.

Verwenden Sie sie, um die unmittelbare Umgebung einer Figur zu zeigen oder um eine Szene mit mehreren Personen zu etablieren.

Beim auktorialen Erzählen ist sie perfekt für einen Überblick oder zur Erkennung von Mustern. Beim personalen Erzählen könnte der POV-Charakter am Rand einer Grube stehen, in die eine andere Figur hineingefallen ist. Was empfindet er dabei? Wie filtert diese Machtposition seine Sicht?

Selbst die im Film selten angewandte Schrägsicht kann Ihnen Impulse für die Erzählperspektive geben. Bei der dabei gekippten Kamera (Dutch Angle) steht das Bild auf der Leinwand schräg und verliert seine Balance. Der Regisseur wählt diese Kameraperspektive aus dramaturgischen Gründen, um Verwirrung, Andersartigkeit, Gewalt oder Instabilität einer Situation oder eines Charakters auszudrücken.

Wollen Sie eine Person mit den genannten Eigenschaften oder Problemen beschreiben, halten Sie die Kamera im Kopf Ihres Erzählers einfach mal schräg. Sie werden erstaunt sein, auf welche neuen und vielleicht sogar schrägen Ideen Sie dabei kommen.

Mit den beschriebenen Kameraeinstellungen sollten Sie sich jedoch nicht zufriedengeben. Die Erzählperspektive im Roman kann so viel mehr: Ihnen steht der komplette Wahrnehmungsapparat (nicht nur) von Menschen zur Verfügung und eine Innensicht in beliebiger Tiefe und Komplexität – und vor allem die Sprache, die Sie etwa zur Verdeutlichung oder Verstärkung der Perspektive verwenden.

Die Grenze ist erst da, wo Sie stehenbleiben. Gehen Sie ruhig noch einen Schritt weiter …

Achtung!

Achten Sie beim nächsten Mal, wenn Sie einen Film sehen, genauer auf die Perspektive. Sie werden merken, dass die Kamera sehr viele Perspektiven einnimmt und auch viel mit Nähe und Distanz spielt. Das eins zu eins auf einen Roman zu übertragen, würde für Chaos sorgen und die Leser komplett verwirren und aus der Geschichte reißen. Sprich: Gehen Sie ruhig weiter … aber gehen Sie behutsam vor.

Weiter geht’s mit der vielleicht wichtigsten Aufgabe der Erzählperspektive.

Nähe und Distanz

Wie nahe holen Sie die Leser heran?

In unseren so virtuellen Zeiten, in denen man mehr Stunden vor Bildschirmen und Buchseiten verbringt als vor einem menschlichen Gegenüber, ist die emotionale Bindung an einen oder die Identifikation mit einem fiktiven Charakter für viele Leser wichtiger als je zuvor.

Was zunächst paradox klingt, leuchtet ein: Früher hatten die Leser ihre Bindungen fast ausschließlich im realen Leben, sie mussten sie nicht im Fernseher, auf der Kinoleinwand, in einem Magazin oder auf dem Smartphone suchen. Heute werden wir zudem mit Eindrücken übersättigt – und eben auch mit fiktiven Charakteren aus Serien, Filmen, Games, Comics und Büchern. Selbst realen Menschen treten wir oft nur virtuell entgegen, ob am Telefon, in sozialen Medien oder in Videokonferenzen. Unsere Sehnsucht nach bedeutsamen und emotionsstarken Kontakten bleibt jedoch unbefriedigt, wird durch all das eher noch verstärkt. Kein Wunder also, dass für viele das Lesen eines Romans auch eine Suche nach emotionaler Bindung ist. Selbst wenn diese einseitig bleiben muss. Für Sie ist das ein großer Vorteil: Diese Leser wollen sich in Ihre Romanfiguren verlieben.

Andere Leser – oder dieselben Leser zu einer anderen Zeit, in einer anderen Stimmung – ziehen die Distanz einer zu großen Nähe vor. Ihnen hilft der Abstand zu den Ereignissen einer Geschichte, um ihr eigenes, zu intensives (was meistens heißt: zu stressiges) Leben abzutönen. Sie möchten gar nicht in die Haut eines anderen schlüpfen, sondern genießen es, die dramatischen Vorgänge aus der Ferne zu betrachten und sich einmal nicht mit hochkochenden Emotionen zu befassen, über den Dingen stehen zu dürfen, statt mittendrin zu stecken. Männer scheinen vermehrt zu dieser Gruppe zu gehören, denn selbst die raren Romanleser unter ihnen bevorzugen häufig die nüchternen und damit distanzierteren Genres wie Krimi, SciFi oder Hochliteratur.

Bei der Auswahl der Erzählperspektive geht es daher um sehr viel mehr als nur darum, welches Personalpronomen Ihnen sympathischer ist. Eine der ersten Fragen, die Sie klären sollten, ist die nach der Nähe, die die Leser zu Ihren Figuren und insbesondere zu Ihren Protagonisten empfinden sollen. Je näher die Leser an einer Romanfigur dran sind, desto eher identifizieren sie sich mit ihr und desto bereitwilliger, leichter und tiefer versinken sie in Ihrer Story.

Ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz der Leser zu Charakteren und Geschichte herzustellen ist Ihr Ziel – die Erzählperspektive und deren Ausgestaltung sind die Mittel, mit denen Sie es erreichen. Anders gesagt: Werden Sie sich erst darüber klar, wie nahe Sie Ihre Leser an Charaktere, Story und Thema heranholen wollen – und dann entscheiden Sie sich für die Perspektive, mit der Ihnen das am besten gelingt.

Was genau meinen wir mit der Nähe der Leser zu einem Charakter? Stellen Sie sich zwei Personen in einem Zimmer vor (Ihrem Wohnzimmer), die Romanfigur und den Erzähler. Wenn Sie sehr nahe erzählen, stellen Sie Ihren Erzähler dicht neben die Figur. Er drückt seine Wange gegen ihre und schaut in dieselbe Richtung. So nahe, Wange an Wange, sehen beide das Gleiche, sie riechen sogar das Gleiche, und wenn die Romanfigur einen Bissen von ihrem Teller nimmt, steckt sich auch der Erzähler einen Bissen vom selben Teller in den Mund. Der Erzähler, leicht telepathisch begabt, hört aus dieser Nähe, was die Romanfigur denkt, und der Erzähler, stark empathisch, fühlt, was die Romanfigur fühlt.

Je nachdem, wie gut er erzählen kann, holt er die Leser mit zu sich und an die Figur heran. Dann ist es, als ob nicht der Erzähler da stünde, sondern an seiner Stelle die Leser. Und wenn es mit der Identifikation klappt, vergessen die Leser den Erzähler und schlüpfen in den Charakter hinein.

Entfernt sich Ihr Erzähler von der Romanfigur und stellt sich ans andere Ende des Zimmers, sieht er nicht mehr exakt das Gleiche, sein Geruchssinn nimmt Düfte schwächer wahr und die Gedanken werden nicht länger alle empfangen, die Gefühle werden nicht mehr genau nachempfunden. Trotzdem bleibt das Erzählen personal[Fußnote 13] im Sinne eines begrenzten Wissens, weil beide, Erzähler und Figur, sich dennoch am selben Ort befinden und zum Beispiel nur undeutlich hören, was in der Küche nebenan vor sich geht, und nichts davon sehen, was im Keller, zwei Stockwerke tiefer, geschieht. Entsprechend kann der Erzähler auch den Lesern nur diese eingeschränkten Erfahrungen, diese undeutlicheren Gefühle mitteilen.

Achtung, Missverständnis droht!

Es geht in den meisten Romanen nicht darum, dass die Leser genau das Gleiche empfinden sollen wie der Charakter, auch nicht in abgeschwächter Form. Tatsächlich ist die emotionale Reise der Leser eine andere als die der Figuren. Es geht selbst bei einer emotionalen Bindung, bei großer Nähe und Identifikation eben um das: eine Verbundenheit, die durch Mitgefühl entsteht: »Mich Leser berührt, wie du Charakter leidest.« Es geht nicht darum, dass Ihre Leser leiden. Hoffe ich …

Denken Sie umgekehrt an die zentrale Emotion »Spannung«. Diese wollen Sie in Ihren Lesern hervorrufen, sicher nicht in Ihren Charakteren.

Möchten Sie die Leser also möglichst dicht an Ihren Charakter heranbringen, sie tief in seinen Kopf, seine Gefühle lassen und sie damit berühren?

Große Nähe fungiert als Vergrößerungsglas: Der Charakter wirkt massiger, stärker, wichtiger, Details erlangen mehr Bedeutung – und ein solcher Charakter unter der Lupe ist eher in der Lage, auf glaubhafte Weise einen Roman zu tragen. Mehr noch: Ein dem Leser naher Charakter erschafft den Roman mit seinen Entscheidungen und Taten leichter und organischer als eine dem Leser ferne Figur. Denn der nahe Charakter wirkt selbstbestimmter, eigenständiger, während die ferne Figur zu einer Marionette des, vergleichsweise, starken Erzählers zu werden droht. Anders gesagt: Ein Charakter, der dem Leser sehr nahe ist, scheint einen eigenen Willen zu haben, er oder sie sitzt am (Plot-)Hebel, nicht der Erzähler, nicht der Autor.

Oder möchten Sie die Leser auf Abstand halten? Das ist wahrscheinlich dann die bessere Lösung, wenn Sie aus einer ironischen Distanz erzählen. Es lacht sich leichter über Figuren, denen man weniger nahe ist.

Auch um die Gefühle der Leser zu schützen, kann mehr Distanz sinnvoll sein. Denken Sie beispielsweise an einen Handlungsstrang aus der Perspektive eines psychopathischen Kindermörders – zu viel Nähe über zu viele Seiten könnte das Lesen hier buchstäblich zur Qual machen.

Eine hilfreiche Frage

Wollen Sie von einem Charakter erzählen (distanziert) oder als der Charakter (nahe)?

Nähe zu den Charakteren ist nicht die einzige Nähe. Sie können die Leser auch oder stattdessen näher an die Ereignisse führen, also an die Story, oder näher ans Thema.

So mag ein auktorialer Erzähler durch sein Sichtbarwerden zwar die Nähe zu den Charakteren stören, zugleich aber mehr Nähe zu dem herstellen, was sich ereignet, etwa über seinen allwissenden Überblick oder das Herausarbeiten von Auffälligkeiten und Mustern, die der einzelnen Figur nicht zugänglich sind. Ebenso kann der auktoriale Erzähler eine spannende Diskussion der im Roman verhandelten Werte schildern. Damit holt er die Leser bei Wertefragen heran, bleibt den Charakteren jedoch relativ fern.

Nähe heißt hier zudem, dass Sie den POV-Charakter die Ereignisse und Taten, das ganze Umfeld bewerten lassen: durch Reaktionen in Form von Gedanken und Gefühlen. Erst diese Bewertungen geben den Lesern einen Kontext und Anhaltspunkte, sich ihr eigenes Bild zu machen, erst diese Bewertungen erlauben es ihnen, den POV-Charakter kennenzulernen.

Reagiert die Protagonistin auf eine Beleidigung mit Trotz? Mit Humor? Oder zieht sie sich innerlich zurück? Liebt der Held seine Arbeit als Forensiker? Oder leidet er unter dem Anblick eines Kinderherzens auf einer Waage im Leichenschauhaus? Beobachten die Leser die beiden Protagonisten nur bei diesen Ereignissen und Handlungen, ohne in ihr Innenleben zu blicken, können sie ihnen nicht nahekommen. Mehr noch: Ohne diese Orientierung durch die Innenschau wissen die Leser nicht, was sie selbst empfinden sollen. Erst die Nähe zu den Charakteren gibt den Lesern eine Richtung oder eine Schablone für ihre eigenen Emotionen. Und wie Sie wissen, sind die Emotionen der Leser das Wichtigste bei Ihrem Roman, für Sie zugleich Ziel und Kapital.[Fußnote 14]

Für einen angenehmen Lesefluss sorgt eine rhythmische Abwechslung aus Außensicht und Innenschau, sodass sich eine Abfolge ergibt, die so natürlich wirkt wie atmen.

Faustregel[Fußnote 15]

Zu viel Außensicht tötet die Emotionen, zu viel Innenschau tötet die Handlung.

Das für Ihren Roman oder für einen Handlungsstrang richtige Verhältnis Außensicht zu Innenschau hängt vom Genre und von der Art Roman ab, die Sie schreiben.

Schreibtipp

Das Innenleben können Sie durchaus mal unterschlagen – an einer Stelle und pointiert –, um eine Überraschung oder einen Twist vorzubereiten.

Nahe zu erzählen, heißt auch: durch den Filter des Erzählers oder POV-Charakters. Je stärker das (objektiv) Wahrnehmbare vom (subjektiven) Filter verändert wird, desto intimer, authentischer und näher wirkt die Erzählweise.

Letztlich stellen sich Ihnen die zentralen Fragen, die uns bei jeder Perspektivwahl begegnen werden: Was wollen Sie bei den Lesern erreichen? Und was wollen Ihre Leser von Ihrem Roman?

Denken Sie etwa an Frank Schätzings Buchbacksteine wie »Der Schwarm« oder »Limit«. Darin gelingt es ihm gut, die Leser nahe an die Ereignisse und an das Thema heranzuholen. An die Charaktere holt er sie eher weniger heran. Die in diesen Romanen erzeugte Nähe ist eine eher intellektuelle, kopfgesteuerte Nähe, mehr Verständnis als Mitgefühl, und genau das, was Leser in dieser Art Roman suchen.

Emotional am nächsten aber kommen die Leser Ihrem Roman als Ganzes dann, wenn sie mit den Charakteren mitfiebern und sich mit ihnen identifizieren. Idealerweise sorgt diese Nähe zu den Figuren für die Nähe zu Handlung und Thema. Logisch: Wir interessieren uns mehr für Ereignisse und Themen, wenn uns die Menschen nahe sind, denen diese Ereignisse widerfahren oder denen die Themen etwas bedeuten. Daher betrachten wir im Folgenden vor allem die emotionale Nähe oder Distanz zwischen Leser und Figur. Dass Sie alternativ oder zusätzlich Nähe zur Handlung, zum Thema, zum Setting herstellen können, behalten Sie im Hinterkopf.

Vergleichen Sie die Anfänge von zwei der größten Klassiker der Weltliteratur:

»…

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.

Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis. Die Frau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann eine Liaison hatte mit einer Französin, die als Gouvernante im Haus gewesen war, und hatte ihrem Mann verkündet, dass sie nicht mehr im selben Haus mit ihm leben könne. Diese Situation dauerte schon den dritten Tag und wurde sowohl von den Eheleuten wie von allen Familienmitgliedern und Hausgenossen als qualvoll empfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenossen hatten das Gefühl, dass ihr Zusammenleben keinen Sinn habe und dass in jedem Absteigequartier die zusammengewürfelten Gäste mehr miteinander verbinde als sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen der Oblonskis. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim.

Die Kinder rannten wie verloren im Haus herum; die Engländerin hatte sich mit der Wirtschafterin zerstritten und schrieb einer Freundin ein Billett, sie möge sich nach einer neuen Stelle für sie umtun; der Koch hatte gestern das Weite gesucht, noch während des Diners; Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung.

…«

(Leo Tolstoi, »Anna Karenina«, Hanser in der Übersetzung von 2009, Original von 1877)

»…

»Was ist das. – Was – ist das …«

»Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!« Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt.

»Tony!«, sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott –« Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: »Was ist das«, sprach darauf langsam: »Ich glaube, daß mich Gott«, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: »– geschaffen hat samt allen Kreaturen«, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den »Jerusalemsberg« hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.

…«

(Thomas Mann, »Buddenbrooks«, S. Fischer 2014 (Erstausgabe 1901))

Beide Anfänge werden auktorial erzählt, beide beginnen mit der Schilderung eines Familienlebens. Während Tolstoi eher einen Überblick über die Verhältnisse gibt, schreibt Mann szenisch, bringt Dialog und dringt in die Gedanken seiner Charaktere vor. Sein Erzähler ist den Charakteren näher, Tolstois Erzähler bleibt mehr auf Distanz.

Übersetzungen

Tolstois Text oben ist eine Übersetzung. Da Übersetzungen nur Annäherungen sein können, nehmen Leser zu ihnen und ihren Charakteren häufig eine andere Distanz ein als zum Original. Schwerwiegender: Die Distanz des Originals über die Länge des Romans auch beizubehalten, stellt höchste Anforderungen an den Übersetzer. Bei manchen Werken ist das kaum möglich.

Je nach Schwierigkeit der Übertragung, dem Sachverstand des Übersetzers und der Zeit, die der Verlag ihm für seine Arbeit zur Verfügung stellt, können Abweichungen in der Distanz wenig ausmachen. Aber auch sehr viel. So mag eine in der Übersetzung nicht erreichte Nähe ein Grund dafür sein, dass die Übersetzung hinter dem Erfolg des Originals zurückbleibt.

Hinzu kommt, dass Leser automatisch mehr Nähe entwickeln zu vertrauten Umgebungen, Situationen oder Sprechweisen. So hat ein Deutscher, der Stephen King auf Deutsch liest, sowohl mit der distanzierenden Übersetzung zu kämpfen als auch mit den von Deutschland sehr verschiedenen sozialen Gefügen und Regeln, den Situationen und Interaktionen der Menschen in den USA.

Vielleicht denken Sie künftig daran, wenn Sie, als Leserin oder Leser, ein übersetztes Buch aus einer anderen Kultur bewerten. Ihnen als deutschsprachigem Autor oder deutschsprachiger Autorin bringt das einen Heimvorteil bei Agenten, Verlagen, Buchhändlern und Lesern in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – den Sie nutzen sollten, indem Sie sich besondere Mühe bei der Justierung von Nähe und Distanz in Ihrem Roman geben.

Leser kommen Ihren Charakteren umso näher, je tiefer Sie sie in das Innenleben dieser Figur eintauchen lassen und je unmittelbarer ihnen die Gedanken oder Gefühle präsentiert werden.

In der Tiefe gibt es Abstufungen: von einer oberflächlichen Zusammenfassung bis zur extremen Tiefe eines Bewusstseinsstroms.

• zusammengefasst erzählte Gedanken

In ihrem Kopf fügten sich die Einzelheiten endlich zu einem Ganzen.

• detailliert erzählte Gedanken

Sie mochte Clara nicht, nicht mehr, und sie würde ihr morgen Abend nicht gratulieren.

• erzählte und gezeigte (direkte) Gedanken, optisch abgesetzt

Clara kann mich mal, dachte sie. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• gezeigte Gedanken, optisch abgesetzt

Clara kann mich mal. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• gezeigte Gedanken

Clara kann mich mal. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• Bewusstseinsstrom