Der Fall des Lemming - Stefan Slupetzky - E-Book

Der Fall des Lemming E-Book

Stefan Slupetzky

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Beschreibung

Witzig, skurril, abgründig – eine süchtigmachende Wiener Mischung Leopold Wallisch, Spitzname «Lemming» ist auf Betreiben seines bösartigen Kollegen Krotznig aus der Mordkommission entlassen worden. Jetzt arbeitet er für eine kleine Wiener Privatdetektei und spioniert potentiellen Ehebrechern hinterher. Als einer der von ihm Überwachten, der pensionierte Lateinlehrer Grinzinger, ermordet wird, will er den Fall selber aufklären. Immer tiefer gerät er in ein komplexes Geflecht aus Macht und Verrat, Sadismus und Demütigung, dessen Wurzeln zwanzig Jahre zurückreichen. Die Suche nach dem Mörder gerät zum Wettlauf mit dem brutalen Krotznig, der die Ermittlungen seines ehemaligen Partners mit allen Mitteln zu stoppen versucht. Doch der Lemming hat noch einen Trumpf in der Hand: die ominöse Nickelbrille, die Grinziger kurz vor seinem Tod im Wald vergraben hat... «Ein Buch, das man nicht weglegen kann. Bis zur letzten Seite.» (Der Kurier)

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Seitenzahl: 320

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Stefan Slupetzky

Der Fall des Lemming

Kriminalroman

1

«Hopp, hopp, wirf an dei’ Rostschüssel, gemma!»

Krotznig steigt ächzend in den Fond des Taxis, spuckt ein letztes Mal aufs Trottoir hinaus, zieht dann kraftvoll die Tür zu. Sie schließt nicht.

«Scheißkübel, elendiger!»

Leise vibrieren Krotznigs frisch getrimmte Schnurrbartspitzen. Er beugt sich zur Seite, ein drohendes Brummen auf den Lippen, und fährt prüfend mit den Fingern den Türrahmen entlang. Dann, endlich, spürt er den Widerstand, den Widerstand seines eigenen Mantels, der sich im Spalt zwischen Tür und Rahmen verfangen hat. Schlichtweg eingeklemmt, Krotznigs Stutzer, Krotznigs Stolz, sein langer brauner Ledermantel.

«Drecks…!»

Während der fluchende Krotznig auf dem Rücksitz die Tür wieder aufstößt, um seine Kleidung ins Trockene zu bringen, nimmt der Lemming vorne Platz, auf dem Beifahrersitz, rechts neben dem Chauffeur.

Draußen schwirrt der Schnee im Licht der Laternen, wirbelt in dichten Flocken durch die Straßen und legt sich auf den aschgrauen Matsch der vergangenen Tage.

Die Stadt ist wieder weiß.

Der Taxifahrer wird immer schwarz bleiben.

Es ist nur eine Frage von Sekunden, bis Krotznigs Blick in den Rückspiegel fallen, bis Krotznig es bemerken wird. Krotznig hat schon immer einen Hang zum Ungemütlichen gehabt. Aber er treibt diese Eigenschaft zu höchster Vollendung, wenn es um exotische Hautfarben geht. Der Lemming weiß das, er kennt seines Kollegen Abneigung gegen alles Unvertraute. Und so beeilt er sich, dem Afrikaner in gleichsam vorauseilend begütigendem Tonfall zuzuraunen: «Bringen S’ uns in die Berggasse, bitte. Lokal Augenschein!»

Der Fahrer nickt, lässt den Motor an und greift zur Taxiuhr, um das Zählwerk einzuschalten.

«Finger weg…»

Ruhig, ganz ruhig hat Krotznig das gesagt. Regungslos sitzt er hinten im Dunkel, und der Lemming kann spüren, dass Krotznig jetzt in den Rückspiegel starrt, dass er die erstaunten Augen des Afrikaners darin mustert.

«Mir fahrn heut ohne Taxameter…»

«Aber… ich verstehe nicht…»

Die Stimme des Schwarzen ist leise. Er wendet nicht den Kopf, vermeidet instinktiv direkten Blickkontakt mit dem Mann auf dem Rücksitz.

«Da gibt’s nix zum Vastehn. Der Wagn is konfisziert.»

Nun kommt Bewegung in Kriminalgruppeninspektor Adolf Krotznig. Man kann das Knarren seines Mantels hören, als er sich langsam vorbeugt, um seinen Mund ganz nahe an das Ohr des Fahrers zu bringen. «Polizei», raunt Krotznig, samtweich.

Der Lemming hält den Kopf gesenkt, starrt auf die abgewetzten Spitzen seiner Schuhe. Jetzt fährt seine Hand in die Jacke, hastig, wie um das Schlimmste verhindern zu wollen, und nestelt eine Brieftasche hervor.

«Es stimmt», murmelt der Lemming, bevor der Schwarze etwas sagen kann, und hält ihm seine Dienstmarke hin. «Es stimmt.»

Langsam gleitet der Mercedes die menschenleere Landesgerichtsstraße entlang, bremst sich schlingernd einer roten Ampel entgegen. Und nun geschieht, was schon vorher unvermeidlich war: Im selben Moment, da der Wagen zum Stillstand kommt, gerät Krotznig erst richtig in Fahrt.

«Was is, Bimbo? Glaubst, mir sitzen wegn dera schönen Aussicht da? Du fahren weiter, du Kaffer, sonst ich dir Feuer machen unter deinem kackbraunen Arscherl!»

Der Fahrer starrt geradeaus. Der Schock und die Angst und der Stolz und die Wut, das alles steht ihm ins Gesicht geschrieben, arbeitet, kämpft in ihm, und als er endlich eine Antwort wagt, da zittert seine Stimme.

«Auf Ihre Verantwortung», sagt der Schwarze.

Krotznig stutzt. Holt Luft, tief und lange. Legt gleichsam eine künstlerische Pause ein, markiert Verblüffung, Verwirrung. Greift in die Innentasche seines Mantels, steckt sich nachdenklich eine Virginia an. Raucht stirnrunzelnd. Wendet sich dann plötzlich mit hochgezogenen Augenbrauen dem Lemming zu und fragt, ein Grinsen auf den Lippen:

«Hast des g’hört, Partner? Des Mohrl red’t z’ruck…»

Der Lemming ringt mit sich selbst. Zusammenhalt ist oberstes Gebot bei den Kriminesern. Zusammenhalt nach außen jedenfalls, und das heißt: jeder so genannten vereinsfremden Person gegenüber. Wie ein Mann haben die Beamten zusammenzustehen, unerschütterlich und ehrenhaft im täglichen Kampf gegen Unrecht und Verbrechen. Wer einem Kollegen in der Öffentlichkeit widerspricht, wer Uneinigkeit anklingen lässt, der gefährdet den Gemeinschaftsgeist, der unterminiert das Ansehen der Polizei, die Macht des Gesetzes und damit die Sicherheit des ganzen Landes.

Kaum noch erträgt der Lemming die innere Spannung. Geh, lass ihn doch zufrieden…, möchte er Krotznig zuflüstern. Aber er kommt nicht mehr dazu.

«Machen Sie bitte die Zigarre aus», lässt sich die Stimme des Fahrers vernehmen, «das ist ein Nichtrauchertaxi.»

Der Afrikaner hat seinen Entschluss gefasst. Hat sich für die Würde entschieden und gegen die Furcht vor dem lederbemäntelten Zwei-Meter-Polizisten auf dem Rücksitz. Manchmal trifft der Mensch die falschen Entscheidungen. Manchmal erkennt er das bereits nach Bruchteilen von Sekunden. Ein kleiner, kalter Druck im Genick des Schwarzen, ein scharfes, metallisches Klicken genügt. Der Mund des Taxifahrers wird für den Rest der Fahrt versiegelt bleiben. Krotznig wird die Unterhaltung bestreiten, Krotznig ganz alleine.

«Jetzt sag amal, du Plattnaserl», tönt Krotznig heiter und bläst eine dicke Rauchwolke nach vorne, dem Schwarzen ins Gesicht, «g’fallt’s dir da bei uns? Weiße Frauen gut ficki, ficki? Oder hast ’leicht dei’ Hauskamel zum Pudern mit’bracht? Hm? Tut es auch eine hübsche kleine Aufenthaltsgenehmigung haben? Na, is jo wurscht, bei de Kamele san mir ned a so, stimmt’s, Partner? Jo, jo, de Negerinnen… Beim Blasn solln s’ jo guad sein, de Bimboweiber mit ihre Wulstlipperln, aber weider unt’n, au weh, völlig ausg’leiert. Des kummt von denan großen Kochbananen, mit denan s’ immer… na eh klar, weil die Herren Bimboschwänze treiben’s viel lieber mit echte Kameldamen…» Krotznig kichert. «Für ein Kamel gehn wir meilenweit, gell, Freinderl? Und wann des Kamel ned will, dann fahrn mir ins schöne Österreich und schnackseln weiße Weiber…»

Der Druck im Nacken des Fahrers wird stärker. Wieder dieses Klicken in Krotznigs Hand. Und dann noch einmal. Der Afrikaner zuckt zusammen, verreißt das Lenkrad, tritt hart auf die Bremse, verliert die Kontrolle über den Wagen. Schräg schlittert der Mercedes der Währinger Straße entgegen, dreht eine Pirouette unter dem Rotlicht der Ampel und tanzt elegant in die Mitte der Kreuzung. Ein greller Lichtschein streift die weit aufgerissenen Augen des Lemming, zugleich ertönt das ohrenbetäubende Dröhnen eines Nebelhorns, und vor dem Bug des Wagens, keinen halben Meter entfernt, braust wütend etwas Riesiges, Dunkles vorbei, wirbelt Fontänen auf, hüllt das Taxi in eine dichte Wolke glitzernden Pulverschnees.

«So a Wichser», meint Krotznig fröhlich.

Der Afrikaner zittert am ganzen Leib. Seine Haut hat nun doch einen leichten Grauton angenommen. Es gelingt ihm, den Wagen zu wenden und, wie in Trance, die dicht verparkte Berggasse hinabzufahren. Steil geht es jetzt hinunter in den Kessel des neunten Bezirks, in die Rossau, wo sich der Smog sein Nest gebaut hat, wo die Luft immer ein wenig schlechter ist als sonst in Wien und wo sich dennoch ein Straßencafé ans nächste reiht. Hier lebte und heilte Sigmund Freud, hier steht, monströs und finster, die Liesl, das Polizeigefangenenhaus mit dem angeschlossenen Hauptkommissariat, hier wohnt schließlich auch der Lemming, keine hundert Meter von den Büros der Mordkommission entfernt und keine fünfzig vom Stammlokal der Krimineser, dem Augenschein.

Jetzt erst zieht Krotznig wie beiläufig den Arm zurück, jetzt erst erkennt der Lemming den Gegenstand in seiner Hand. Dick und glänzend, ein Kugelschreiber.

«Harley», gluckst Krotznig, «schreibt wie a Anser und klingt wie a Fünfavierzga. Da steh i drauf…»

Dann, endlich, parken sie vor dem Augenschein.

Krotznig öffnet die Autotür, beugt sich ein letztes Mal vor und ergreift das rechte Ohr des Taxifahrers. Knetet es zärtlich zwischen seinen manikürten Fingerkuppen. «Immer brav bleiben, Herr Buschmann, gell? Und bis zum nächsten Mal…»

Und Gruppeninspektor Krotznig entschlüpft in die kalte Nacht.

Auch der Lemming steigt aus, zögernd allerdings, dreht sich noch einmal um, als wolle er etwas sagen, besinnt sich eines Besseren, bückt sich stattdessen und legt zwei Hundertschillingscheine auf den Beifahrersitz. Der Schwarze bemerkt es nicht. Er sitzt aufrecht, beide Hände auf dem Lenkrad, und starrt durch Glas und Eis und Finsternis, als könne er in andere Zeiten blicken und weithin zu fernen, warmen Kontinenten.

«Trinken», murmelt der Lemming. Und noch einmal, etwas lauter: «Trinken!» Gebeugt steuert er auf das spärlich erleuchtete Portal des Augenschein zu. Stößt die Milchglastür auf und tritt ein.

Die Gaststube des Augenschein ist kaum größer als das durchschnittliche Wohnzimmer eines gewöhnlichen Kriminalbeamten. Gerade dreißig Quadratmeter misst der Raum, aber sein Mangel an Ausdehnung wird durch den Mangel an Einrichtung wettgemacht. Zwei kleine Tische auf dem unebenen Bretterboden, eine Eckbank aus den Fünfzigern, eine Jukebox an der vom Qualm ungezählter Zigaretten patinierten Wand, das ist es. Dahinter die wuchtige Bar, Zentrum und Quelle jener schummrigen Oase, in der keine Milch fließt und kein Honig, nur Bier und Wein und Schnaps, Medizin mit einem Wort, Balsam für die armen Seelen der Krimineser, der Stammgäste von schräg vis-à-vis. Dicht unter der Decke glüht ein großer Heizstrahler vor sich hin, heftig und hellrot, als müsse er nicht nur Wärme, sondern auch Licht geben, als trage er alleine die Verantwortung dafür, das unwirtliche Wirtshaus ein wenig heimeliger zu machen. Er trägt sie auch. Die beiden Lampen über der Bar dienen höchstens als Wegweiser. Ihr kümmerlicher Schein vermag die schwere, rauchgeschwängerte Luft nicht zu durchdringen.

Krotznig ist schon ins Gespräch vertieft, das obligate Menu vor sich auf der Theke, das Krügel Bier und den doppelten Cognac nämlich. Seine Laune scheint sich auf magische Weise gebessert zu haben, und so schildert er den locker im Raum verteilten Kollegen mit leuchtenden Augen und großen Gesten seine eben getätigte Amtshandlung. Erst als der Lemming zu den Trinkenden tritt, wendet Krotznig den Kopf und verzieht seinen Mund zu einem schiefen Grinsen: «Da is er jo… Na, hast ihm no a Abschiedsbusserl gebn, dem Kameltreiber?» Allgemeine Heiterkeit. Gläserklirren. Ein «Prost, du Sitzbrunzer!» wird laut, dann ein «Auf die Mulis und die Kulis!».

«Naa, auf die die Mulikuli– Multikultis!»

Gelächter. Hinter der Theke Dragica, die Kellnerin, bauchfrei und wasserstoffgebleicht.

«Was trinkta Weltenbürga?», kichert sie dem Lemming zu. Sie weiß, wessen Hände sie füttern, zu wem sie gehört, gehören will.

Vor acht Jahren ist sie nach Österreich gekommen, kurz nach dem Anpfiff zum ersten Balkankrieg, dem großen Match Kroatien gegen Serbien, täglich vierundzwanzig Stunden, live auf CNN. Der kroatische Unterrichtsminister ließ damals die Schulen schließen, die Kinder in Busse verfrachten und außer Landes bringen. An ihrem elften Geburtstag hat Dragica Abschied von ihren Eltern genommen, vom Haus in Zadar, mit Blick auf den Strand, aufs Meer. Eine beklemmende Nacht im Bus, zwischen Kinderschluchzen und nass geweinten Teddybären, dann der trübe Morgen in Wien, Nieselregen, Häuserschluchten, tief und alt und fremd. Eine Schar Erwachsener unter schwarzen Regenschirmen, sorgenvolle Blicke – die Gasteltern. Rasch sind die Kleinen aufgeteilt und zugewiesen worden, unverständliche Worte, seltsam im Klang, ein Streicheln über Dragas Kopf, Gesten beiläufigen Mitleids. Unbekannte Männerhände haben Dragas Reisetasche ergriffen, haben das Mädchen mit sanfter Bestimmtheit von ihren Freunden, ihrer Sprache weggezogen und, die Straße entlang, ihrem neuen Heim entgegengeschoben. Hier, in dem riesenhaften, reich verzierten Haus, in der Wohnung mit den hohen Räumen, hat Draga eine andere, nie geträumte Welt kennen gelernt. Eine Welt mit dreißig verschiedenen Fernsehsendern und Schränken voller Schuhe, eine Welt mit Seidenpyjamas und Kinderparfum und Gameboys für alle. Ein sonderbares, klimatisiertes Paradies tat sich dem Mädchen auf, kühl, luftleer und ordentlich senkte es sich auf Dragicas Gedächtnis, plättete nach und nach ihre Erinnerungen. Das Meer, der Strand, die Eltern wurden archiviert und abgelegt wie ein zu oft gesehener Videofilm. Und als sie die Nachricht von jenem Bombentreffer erreichte und vom Tod ihrer Eltern, da mischte sich eine kleine, hässliche Freude in ihre Tränen, und die Freude hieß: hier bleiben dürfen.

Hier bleiben durfte sie, wenn auch ein wenig anders als erhofft. Mit einem ständigen Aufenthalt der Kleinen hatten ihre Gasteltern nicht gerechnet; sie waren vielmehr darauf eingestellt gewesen, ihre Großherzigkeit gerade bis zum Ende des Krieges zu beweisen, um Draga dann, mit Koffern voller Spielzeug und Lebensmitteln versehen, wieder in den Bus nach Zadar zu setzen. Nun mussten sie sich entscheiden: Behielten sie das Mädchen, dann büßten sie ihre Freiheit ein, übergaben sie es aber den Behörden, dann betrogen sie sich um ihr gutes Gewissen. Sie waren Österreicher, und als solche fanden sie einen österreichischen Kompromiss. Wenig später zog Draga ins Waisenhaus. Noch ein halbes Jahr lang wurde sie wöchentlich von den Gasteltern besucht, für ein weiteres Jahr erhielt sie monatlich Pakete mit Süßigkeiten, und bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag brachte ihr der Briefträger das obligatorische Glückwunschbillet. Dann war Draga erwachsen.

Gruppeninspektor Krotznig hat Draga vor zwei Jahren am Karlsplatz festgenommen, unten, in der U-Bahn-Station, wo es auch im Winter warm und gesellig ist. «Razzia!», hat Krotznig gerufen, und dann ist es eine sehr kleine Razzia gewesen. Krotznig hat sie im Grunde ganz alleine durchgeführt, mit Draga als einziger Verdächtiger. Statt eines Ausweises hat Draga zwei Gramm Heroin bei sich gehabt, aber Krotznig hat ein Auge zugedrückt. Er hat Draga noch in derselben Nacht dreimal perlustriert, drüben in seiner Wohnung im fünften Bezirk. Und eine Woche später hat er ihr den Job im Augenschein verschafft.

«Viertel Rot.»

Der Lemming nimmt das Glas, wendet sich ab, geht langsam auf einen der beiden Tische zu. Bleibt auf halbem Wege stehen, trinkt, tritt wieder an die Bar.

«Viertel Rot.»

Der Lemming trinkt. Er schüttet den Roten in sich hinein, als könne ihn der Wein von innen her erneuern, ihm seine alte Kraft, seinen alten Namen wiedergeben. Er reist in einen Zustand der Klarheit, des Gedankenflusses, der Entkörperung. Und er reist express.

«Viertel Rot.»

Sich wieder spüren. Das Richtige tun, und zwar zur rechten Zeit, also jetzt. Diese unerträglichen Zweifel abstreifen. Sich vor Krotznig hinstellen, ihm wortlos ins Gesicht schlagen. Was ist richtig? Was ist falsch? Selbstverständlich ist Krotznig eine Sau, aber ist er nicht eine arme Sau? Wenn man schon aus Klagenfurt stammt, mit einem versoffenen Bundesbahner als Vater. Wenn man schon mit siebzehn ein Ei verliert, weil der gegnerische Stürmer den Ball verfehlt. Wenn man schon extra nach Wien kommt, um ausgerechnet Polizist zu werden. Wenn man sich schon in eine rothaarige Kellnerin namens Manuela Ploderer verliebt. Und wenn man Manuela Ploderer ein Jahr später mit einem anderen im Bett erwischt…

«Arme Sau», murmelt der Lemming, und: «Viertel Rot.»

«Was sagst, Lemming? Was hast g’sagt?»

«Nichts…»

Noch ist er nicht so weit. Noch hat der Lemming die angestrebte Vergeistigung nicht erreicht. Zwei Viertel, drei vielleicht, und er wird angekommen sein. Krotznig also. Man muss ihn verstehen. Er kann nicht anders, als seine Schwächen mit Härte zu kaschieren, seine alten Wunden hinter Rohheit zu verstecken. Man muss das verstehen. Der Arme hat ja nur ein Ei, sein Nebenbuhler hatte zwei…

«Viertel Rot», kichert der Lemming.

Und dann dieser Spitzname. Auch eine Erfindung Krotznigs. Der Lemming heißt ja gar nicht Lemming, er heißt Wallisch, Leopold Wallisch. Bei einem Einsatz hinter dem Westbahnhof ist es gewesen, da hat er sich, ohne die Waffe zu ziehen, dem Wagen eines Flüchtigen in den Weg gestellt. Ein junger Eifersuchtsmörder, nervlich am Ende, kurz davor, sich zu ergeben. Er wäre auf die Bremse gestiegen, ganz sicher hätte er gebremst. Krotznig war es, der gefeuert hat. Ein sauberer Schläfenschuss, aus dreißig Metern durch die Autoscheibe. Und am nächsten Tag hat Kollege Adolf Krotznig den Kollegen Leopold Wallisch vor versammelter Mannschaft «woamer Lemming» genannt. Der Lemming haftet ihm seither an, nur der Lemming, glücklicherweise.

Was ist nun also richtig? Und was falsch? Nachfragen? Mitfühlen? Verstehen wollen? Oder handeln, spontan, synchron, intuitiv?

«Handeln», lallt der Lemming, «handeln!»

Es ist so weit. Er ist warm getrunken. Er fühlt sich endlich, und er fühlt sich wohl in seiner Haut.

«Viertel Rot! Handeln!», brüllt der Lemming.

Ein wenig ungelenk schlüpft er aus dem Mantel, dann aus seiner Weste und öffnet den ersten Hemdknopf.

«Handeln! Alle! Das ist die letzte Chance! Die letzte Chance! Jetzt sofort! Versteht’s ihr nicht? Gleich muss man’s tun!» Er nimmt einen Schluck. Beginnt, sich die Hose aufzuknöpfen. Legt kurz den Kopf zur Seite, lauscht dem Rauschen in seinen Ohren, dem Rauschen des Blutes, des Weines, der Wahrheit.

«Versteht’s ihr nicht? Immer die anderen verletzen! Gegenseitig! Das hört nie auf! Wenn’s uns wehtut, geben wir’s weiter, immer weiter, Hauptsach, an Schwächere, am Schluss an die Kinder!»

Stolpernd entledigt sich der Lemming seiner Socken. Richtet sich wieder auf, leert rasch sein Glas und steigt aus der Unterhose.

Still ist es jetzt im Augenschein. Belustigt, überrascht ruhen elf Augenpaare auf dem nackten weißen Körper. Auch Krotznig schweigt und streichelt versonnen seine rechte Schurrbartspitze.

«Na, was ist?», grölt der Lemming. «Kommt’s ihr endlich?» Er wankt in weitem Bogen durchs Lokal, stößt an die Eingangstür und reißt sie auf. Ein eisiger Windstoß fährt durchs Augenschein.

«Geh, Dolfi, der Arme…», stößt Dragica hervor. «Gusch, Pupperl! A Lemming is a Lemming…»

Aber da ist des Lemming leuchtender Hintern sowieso schon im Schneegestöber verschwunden.

DIE REINE WAHRHEIT VOM 9.12.1998

Unsere Staatsdiener – nächtlich nackt im Wiener Winter!

Dafür zahlen anständige Österreicher hart verdientes Steuergeld: Wie gestern bekannt wurde, ging der Wiener Polizei in der Nacht zum Dienstag ein Fisch aus den eigenen Reihen ins Netz. Kriminalgruppeninspektor Leopold W., 38, wurde nach einem Trinkgelage gegen 1.30Uhr völlig unbekleidet vor der Servitenkirche im 9.Wiener Gemeindebezirk aufgegriffen. Schlafende Anrainer waren von W. obszön beschimpft und lautstark zum gemeinsamen Selbstmord aufgefordert worden. Ein Kollege W.s, Kriminalgruppeninspektor Adolf K., 32, hatte bereits das nahe gelegene Wachzimmer verständigt. Wie er gegenüber Reportern der «Reinen» erklärte, habe er den schwer alkoholisierten W. mehrmals zurückhalten wollen, doch sei ihm schließlich «nichts anderes übrig geblieben, als die Freunde von der Polizei zu rufen». W. sei schon seit längerem psychisch labil, aber «wir hoffen, ihn bald wieder in unserer Mitte zu haben».

Leopold W. wurde mit sofortiger Wirkung dienstfrei gestellt.

2

Seit Stunden schon kämpft die Sonne gegen die Hochnebel an, versucht, den Dunst zu durchdringen. Dann, gegen die Mittagszeit, kommt Wind auf, der treibt die Wolken vor sich her, zerreißt ihr fahlweißes Band, und endlich brechen die ersten Strahlen durch.

Tief liegen die Spielzeughäuser Wiens, das ziegelrote Dächermeer und die Kirchturmspitzen der Innenbezirke, deren feine Struktur sich nach außen hin ringförmig ausdünnt, vergröbert, um sich endlich, zerklüftet und rissig, in Wienerwald und Wiener Becken zu verlieren.

Sieht aus wie eine schlecht belegte Pizza, denkt der Lemming, während er aus dem Busfenster schaut. Sein Blick sucht die glänzende Kuppel der Spittelauer Müllverbrennungsanlage, dieses goldene Krebsgeschwür unter den neueren Wahrzeichen Wiens, streicht dann den Donaukanal entlang bis zum Ringturm und wandert ein Stück nach rechts, zur Rossau. Wann auch immer der Lemming im Bus auf den Kahlenberg sitzt, versucht er, sein Grätzl, seine Gasse, sein Haus zu finden. Es ist ihm noch nie gelungen. Die Straßenschluchten, von denen er täglich verschluckt wird, erscheinen aus dieser Entfernung zu wirr, zu verschwommen und unbedeutend. Und so wendet er sich wieder seinem neuen Auftrag zu, jenem Mann, den es zu überwachen gilt, dem Mann mit der Rose, der drei Reihen vor ihm sitzt.

Gestern Vormittag war es, da hat ihn der alte Cerny zu sich ins Büro gerufen und mit einem jener gelben Umschläge herumgewedelt, die der Lemming so verabscheut.

«Mein lieber Wallisch», hat Cerny gesagt und sich geräuspert, «ich weiß, Sie schätzen das nicht, aber ich hab grad keinen anderen frei für die Sache. Auftrag ist Auftrag, mein lieber Wallisch, da könn’ ma keinen Unterschied machen, gell? Also, morgen früh geht’s los, der Mann heißt Grinzinger, Doktor Grinzinger. Und geben S’ mir ja Ihr Bestes, Wallisch, schnell, korrekt und vor allem diskret, keine Mucken, keine Macken, mein Freund, denken S’ mir nur immer an Ihre unrühmliche Vergangenheit. Cerny und Cerny hat im Gegensatz zu Ihnen einen Ruf zu verlieren.» Und dann hat ihm der alte Cerny den gelben Umschlag über den Tisch geschoben. Wie alle mittelgroßen Detektivbüros befasst sich die Detektei Cerny und Cerny vorwiegend mit vier Arten von Aufträgen:

Da ist zunächst die Suche nach Vermissten. Wenn beispielsweise ein braver Familienvater aus Hernals am Abend noch rasch Zigaretten kaufen geht und nach zwei Tagen immer noch nicht heimgekommen ist und wenn er auch nicht beim Brunnenwirt an der Ecke unterm Stammtisch liegt und etwas von «a bisserl später word’n» vor sich hin nuschelt und wenn sich dann die Frau Gemahlin an die Detektei Cerny und Cerny wendet, «scho weg’n die drei Kinder und die Alimente», dann drückt der alte Cerny kurz darauf einem seiner fünf Mitarbeiter einen weißen Umschlag in die Hand. «Weiß wie die Spuren im Schnee», raunt er dabei in geheimnisvollem Flüsterton und fügt wie immer hinzu: «Schnell, korrekt und vor allem diskret, keine Mucken, keine Macken, mein Freund…»

Dann der Personenschutz. Wenn beispielsweise ein braver Familienvater aus Hernals auf dem Weg zum Zigarettenautomaten seiner Jugendliebe begegnet, sie auf ein Achterl in ihre Wohnung am Währinger Gürtel begleitet und zwei Tage später von ihrem Mann mit ihr im Bett erwischt wird, nämlich von jenem stattlichen Fernfahrer, den er beiläufig vom Stammtisch des Brunnenwirten kennt, und wenn der Fernfahrer ihm dann mit der leidlich sachgerechten Amputation wichtiger Körperteile droht und mit noch Schlimmerem und wenn sich dann der Familienvater an die Detektei Cerny und Cerny wendet, weil er sich «nimmer recht sicher» fühlt, dann liegt wenig später ein roter Umschlag auf Cernys Tisch. «Rot wie Blut», das ist Cernys Kommentar, und er reißt dabei die Augen auf, als wäre er selbst der gehörnte Trucker.

Weiter die Personalüberwachung. Wenn sich beispielsweise ein braver Familienvater aus Hernals zum achten Mal in acht Monaten krank gemeldet hat, wegen «die Scheiß-Hämorrhoiden» und wegen «dera Gürtelrose», und wenn sein Chef den Verdacht hegt, dass er in Wirklichkeit die fünfzehn Videorecorder und die zwanzig Gameboys verhökern will, die in letzter Zeit aus dem Lager verschwunden sind, oder dass er diverse kleinere Nebenjobs für die Konkurrenz erledigt, statt zur Arbeit zu kommen, oder dass es sich bei seiner Krankheit weniger um eine Gürtelrose als um eine Gürtel-Rosi handelt, und wenn sich dann der Chef an die Detektei Cerny und Cerny wendet, weil man «ja sonst kaum mehr wem kündigen kann, heutzutag», dann ist es ein grauer Umschlag, den der alte Cerny einem seiner Detektive übergibt. «Grau wie die nächtlichen Katzen», sagt er dabei mit fester Stimme, und er kann seinen Stolz kaum verbergen, mit einer Wirtschaftsangelegenheit betraut worden zu sein.

Zu guter Letzt die gelben Umschläge. Gelb wie die Eifersucht, aber das sagt Cerny nicht. «Ehescheidungsangelegenheiten» heißt es in seinem Jargon oder «Überprüfung der Partnertreue». Wenn also der brave Hernalser Familienvater zwischen Zigarettenkauf, Brunnenwirt, Hehlerei und Schwarzarbeit noch ein wenig Zeit findet, um seine Jugendliebe zu besuchen, und wenn sich seine Frau Gemahlin oder ihr Leidensgenosse, der Fernfahrer, oder gar beide nicht so recht mit diesem Umstand abfinden wollen und wenn sie sich an die Detektei Cerny und Cerny wenden, weil «dem Saubären», respektive «der Schlampen kräftig eins ausg’wischt g’hört», dann, ja dann ist Cernys Umschlag gelb. Ein gelber Auftrag lässt die Stimmung des Lemming grundsätzlich ins Bodenlose sinken. Und das ist gestern nicht anders gewesen.

«Was bin ich», hat er gemurmelt, «was bin ich denn… ein Paparazzo, ein schmieriger?» Aber er hat den Umschlag dann doch an sich genommen. Der Lemming weiß, dass er so bald keine bessere Arbeit finden wird. Fast zweieinhalb Jahre sind seit seinem Abschied von der Polizei vergangen, und erst vor sechs Monaten, im Herbst 1999, hat ihn der alte Cerny gnadenhalber und probeweise eingestellt.

Grinzinger also. Doktor Friedrich Grinzinger, einundsechzig Jahre alt, seines Zeichens Rentner. Grinzingers Frau hegt, und zwar den dringenden Verdacht, dass ihr Mann pflegt, nämlich ein außereheliches Verhältnis. In Cernys gelbem Umschlag hat der Lemming ein Foto des Beschuldigten gefunden, daneben seine Wohnadresse im neunzehnten Bezirk und einige Notizen bezüglich seiner Vergangenheit, seiner Vorlieben, seiner Lebensgewohnheiten. Grinzinger ist Lehrer gewesen, hat seit 1962 an einem Döblinger Gymnasium Latein und Geschichte unterrichtet, bis er im Vorjahr in Pension ging. 1966 hat er seine heutige Frau Nora geheiratet. Die Ehe der beiden ist kinderlos geblieben. Seit zwei, drei Monaten benimmt sich Grinzinger sehr eigenartig. Er geht oft außer Haus, ohne nähere Gründe dafür anzugeben. Nora hat in Erfahrung gebracht, dass ihr Mann in einem Blumenladen in der Hardtgasse wiederholt rote Rosen gekauft hat. Sie ist sicher, dass ihr Mann eine Affäre hat, weiß aber nicht, mit wem. Es kann sich nach ihrer Meinung nur um eine Lehrerin handeln, da sich Grinzingers Bekanntenkreis auf ein paar ehemalige Kollegen beschränkt. Grinzinger besitzt einen Führerschein, aber keinen Wagen.

Der Bus keucht die Höhenstraße bergan, quält sich in einer lang gezogenen Kurve bis zum höchsten Punkt der Strecke und schaukelt endlich mit selbstgefälligem Brummen dem großen Parkplatz auf dem Kahlenberg entgegen. Obwohl erst Mitte März, ist der Bus mit Urlaubern voll besetzt. Die Stimmen rund um den Lemming werden jetzt lauter, der fröhliche Chor der Touristen erschallt und singt in kakophoner Mischung aus Englisch, Italienisch, Ungarisch und Japanisch sein Loblied auf den schönen Wienerwald. Das Klicken der Fotoapparate gibt den Rhythmus vor.

Gut so, denkt der Lemming, da fällt meine Kamera nicht so auf.

Fauchend öffnen sich die Türen. Der grau melierte Mann drei Sitzreihen vor dem Lemming wartet, bis die letzten Mitreisenden den Bus verlassen haben. Dann erhebt er sich vorsichtig, um die rote Rose in seiner rechten Hand nicht zu beschädigen, wirft einen Blick auf die Uhr und steigt aus. Ein leises Lächeln umspielt seinen Mund.

Den Lemming plagt schon jetzt das schlechte Gewissen. Woher, denkt er, nehme ich das Recht, das blühende Glück eines welkenden Mannes zu zerstören? Warum kann man die Frischverliebten nicht zufrieden lassen? Vielleicht ist es ja seine letzte Chance…

Es ist weit eher persönliche als professionelle Neugier, die ihn dazu treibt, Grinzinger doch noch zu folgen. Wie mag sie wohl aussehen, die neue Flamme des alten Lateiners? Friedrich Grinzinger geht nicht, wohin die bunten Reisegruppen gehen. Er steuert nicht an der polnischen Kirche vorbei auf die Stufen der höher gelegenen Aussichtsterrasse zu. Er wendet sich schon bald nach links und betritt einen düsteren Waldweg, der zur anderen, von der Wienerstadt abgewandten Seite des Kahlenbergs führt. Dann schreitet er aus, der Doktor, als habe er nicht Latein, sondern Sport unterrichtet. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter hinter ihm schnauft der Lemming, dessen notgedrungen schnelle Gangart seine Tarnung als lustwandelnder Urlauber Lügen straft. Nach zehn Minuten lichtet sich der Wald und macht einer Wiese Platz, an deren Rain ein Ausflugslokal, die Josefinenhütte, steht. Hier windet sich noch einmal die Straße vorbei, merklich abgeschlankt, weit und breit das letzte Zeichen von Zivilisation.

Grinzinger hält an. Wieder schaut er auf die Uhr, zögert kurz, blickt dann nach hinten, wo der Lemming in gemessenem Abstand und höchster Konzentration seine Schuhbänder knotet, und betritt den Gastgarten. Es ist der fünfzehnte März, dreizehn Uhr zehn.

Der Lemming trinkt eine Melange. Er lehnt sich mit halb geschlossenen Augen zurück, streckt sein Gesicht der Sonne entgegen, genießt, von ihrem Licht umschmeichelt, die sanft erwärmte Luft, die Vorbotin des Frühlings. Drei Tische weiter sitzt Grinzinger bei einer Tasse Kamillentee und lässt Anzeichen von Nervosität erkennen. Immer öfter kontrolliert er die Uhrzeit, greift schließlich in die Innentasche seiner beigen Windjacke und zieht ein kleines blassblaues Päckchen hervor.

Diamanten, fährt es dem Lemming durch den Kopf, eine Kette, ein Collier, nein, wahrscheinlich eine Armbanduhr: des Humanisten freundliche Aufforderung an seine Herzdame, in Zukunft pünktlicher zu sein. Recht hat er. Sie lässt auch wirklich auf sich warten…

Dreizehn Uhr vierzig. Grinzinger wirkt nun sehr unruhig. Unvermittelt winkt er den Kellner herbei, bezahlt und steht auf. Nimmt Rose und Päckchen und verlässt das Lokal. Rasch ist jetzt auch der Lemming auf den Beinen. «Herr Ober! Die Rechnung!»

«Ist schon erledigt, der Herr.»

Der Lemming stutzt. «Wie… was… erledigt?»

Er blickt verwirrt dem enteilenden Kellner nach, ergreift dann kurzerhand seine Kamera und läuft Grinzinger hinterher.

Wieder geht es durch den Wald. Der Berg fällt jetzt steil ab, gegen die Stadt Klosterneuburg hin, deren kolossales Augustinerstift hier und da durch die Zweige schimmert. Der steinige Weg verläuft in Mäandern, immer schwieriger wird es, dem Lehrer zu folgen, ohne ihn ganz aus der Sicht zu verlieren, und dann, als der keuchende Lemming um die nächste Kurve biegt, steht ihm Grinzinger plötzlich gegenüber, keine zwanzig Meter entfernt. Und Grinzingers kleine dunkle Augen blicken ihn an.

Da ist nichts mehr zu hören als das Hämmern des eigenen Herzens. Da ist nichts mehr zu spüren als die brennende Röte im Gesicht. In wilden Rösselsprüngen zucken die Gedanken des Lemming hin und her, stoßen an die Innenwände seines Schädels, werden zurückgeworfen und versuchen abermals, der unerträglichen Peinlichkeit der Situation zu entfliehen. Ein Bild taucht auf, ein lange verschüttetes Kindheitsbild, das seines eigenen Vaters in der Küchenecke, die Spielkarten in der Hand. Beim Schnapsen hat der Vater den kleinen Lemming oft gewinnen lassen, aber er hat ihm nie, nicht ein einziges Mal, den Triumph des Siegers gegönnt. Seiner Miene konnte der Bub stets nur eines entnehmen: ein selbstgefälliges, gnädiges «Sieh her, du Knirps, wie gut ich’s mit dir meine…». Dreißig Jahre sind seither vergangen, aber jetzt und hier fällt es ihm wieder ein. Der Ausdruck seines Vaters. Grinzingers Blick spricht eine ähnliche Sprache. So stehen sie und starren einander an, und mit einem Mal dämmert es dem Lemming: Das hier ist ein Spiel, dessen Regeln er nicht kennt, ein Spiel mit vertauschten Rollen. Er, der Lemming, ist hier der Überwachte, nein, schlimmer noch, er war von Anfang an eine Marionette in Grinzingers Hand. Der Lehrer hat ihn, aus welchem Grund auch immer, hierher in den Wald gelockt.

Was tun, überlegt er fieberhaft, was denn nur tun?

Der Anflug eines Lächelns huscht jetzt über Grinzingers unbewegtes Gesicht, er zieht den linken Mundwinkel hoch und nickt dem Lemming zu, kurz und spöttisch und doch auch ein wenig verschwörerisch, wendet sich ab und geht los. Er bleibt nicht auf dem Weg, sondern lenkt seine Schritte quer in den Wald hinein, stapft durch raschelndes Laub und Unterholz, bis er kaum noch zu sehen ist. Am Fuß einer mächtigen Buche hält Grinzinger an, stützt sich am Baumstamm ab und hockt sich auf den Boden. Angestrengt späht der Lemming durch die Büsche, versucht zu erkennen, was der Lehrer dort tut. Die Kamera fällt ihm ein. Er zieht die Schutzkappe vom Teleobjektiv, senkt aber dann den Kopf und seufzt.

«Weit hast du es gebracht… Pensionäre beim Scheißen fotografieren, ein Traumjob. Da kannst du stolz drauf sein, mein Lieber…»

Inzwischen scheint Grinzinger fertig zu sein. Er richtet sich auf, kehrt zurück auf den Weg, ohne den Lemming eines weiteren Blickes zu würdigen, und setzt seinen Marsch in Richtung Klosterneuburg fort.

Und wenn er nicht…?, denkt der Lemming. Es ist nur ein vages Gefühl, das da plötzlich in ihm hochsteigt, aber vage Gefühle sollte man nie ignorieren, das weiß er aus seiner langen Zeit bei der Kriminalpolizei.

Das Spiel ist noch nicht verloren, sagt ihm dieses Gefühl, und: Grinzinger braucht dich, und: Hier geht es um etwas ganz anderes. So seltsam es sein mag: Mit einem Mal kommt ihm der Verdacht, dass der gelbe Umschlag des alten Cerny in Wahrheit hätte rot sein müssen. Und jetzt verlässt auch der Lemming den Pfad, kämpft sich durchs Gestrüpp, bis er die Buche erreicht hat. Schiebt mit seinen Schuhspitzen das Laub zur Seite. Grinzinger hat nicht geschissen. Vor den Füßen des Lemming liegt das blassblaue Päckchen.

Nun versteht er gar nichts mehr. Durch seinen Kopf wirbelt ein Reigen wirrer Zweifel, dem er schließlich ärgerlich Einhalt gebietet: Ich habe mir das alles nur eingebildet. Er hält mich für einen Touristen, nicht mehr. Und seine Einladung, oben in der Hütte? Purer Übermut. Eine Laune. Immerhin ist der Mann verliebt. Der Frühling steckt ihm in den Knochen. Er wird seine Angebetete treffen, ihr die Rose überreichen und sie dann zu einem Kinderspiel auffordern. Kichernd wie pickelige Primaner werden sie auf Schatzsuche gehen, werden wie zufällig unter der Buche landen und das Päckchen entdecken. Er wird ihr zuzwinkern und überrascht tun, und sie wird ihm seufzend in die Arme sinken, ihn auf den Boden ziehen und küssen. Nein, nicht nur küssen… Und ich werde die beiden Turteltäubchen dabei fotografieren. Vielleicht bringt das gnädige Fräulein dem alten Lateiner ja Griechisch bei…

Gereizt schnaubt der Lemming durch die Nase. Deckt kurzerhand das Päckchen wieder zu und hastet Grinzinger nach.

Aber Grinzinger ist verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

Der Lemming stolpert den Weg hinab, sucht links und rechts, passiert bald die Waldgrenze und einige dichte Hecken, gerät auf Asphalt und sieht die ersten Häuser vor sich auftauchen. Kann Grinzinger so weit gelaufen sein? Hat ihn sein Tête-à-tête vielleicht gar in einer dieser zaunbewehrten Villen erwartet? War am Ende alles nur ein Ablenkungsmanöver? Der Lemming glaubt es nicht. Er macht kehrt, läuft abermals bergan, taucht in den Wald, sucht verbissen seinen verlorenen Auftrag.

Und dann vernimmt er ein Geräusch. Ein leises Piepsen, ähnlich dem seines Radioweckers, und kurz darauf die erregte Stimme eines Mannes, zu weit entfernt allerdings, um verständlich zu sein. Wieder wendet sich der Lemming talwärts, schleppt sich, schon reichlich erschöpft, bis zu den Hecken am Waldrand. Irgendwo links von hier muss es gewesen sein, irgendwo hinter den Hecken; von da muss die Stimme gekommen sein.

Der Lemming zwängt sich durchs Gesträuch und merkt schon bald, dass jenseits der Büsche ein schmaler, waldumsäumter Wiesenhang liegt, der zieht sich, noch dürr und braun vom Winter, fünfzig, sechzig Meter weit den Berg hinab, fängt sich in einer sanften Mulde, um auf der anderen Seite wieder anzusteigen. Dort unten aber, in der Mulde, entdeckt er endlich den abhanden gekommenen Grinzinger. Friedrich Grinzinger sieht den Lemming nicht. Er liegt auf dem Bauch im Gras, ganz still, und aus seinen Ohren tropft satt und rot das Blut.

3

Der Lemming ist müde. Er sitzt, an eine junge Birke gelehnt, am Rand der Wiese und wartet. Die Hände hat er in den Schoß gelegt, um sie nach Möglichkeit nicht zu bewegen. Entschieden zu eng, diese Handschellen… Unweit von ihm haben sich vier Gendarmen postiert, im Kreis um Grinzingers Leiche, und werfen ihm misstrauische Seitenblicke zu.

Alles ist so schnell gegangen. Beunruhigend schnell.

Die vergangene Stunde läuft vor dem inneren Auge des Lemming ab, immer und immer wieder. Es war etwa vierzehn Uhr zwanzig, als er den Toten gefunden hat. Er ist den Hang hinabgelaufen und hat, noch bevor er bei Grinzinger angelangt war, erkannt: Hier ist nichts mehr zu machen. Vor einem halben Jahr im Herbst ist dem Lemming unten auf der Wienzeile ein Missgeschick passiert. Er spazierte den Naschmarkt entlang und wollte sich eben einen extrascharfen Döner zu Gemüte führen, da wurde er von hinten angerempelt und stieß an einen der Verkaufstische, auf denen die Waren feilgeboten wurden. Eine ganzer Haufen Kürbisse ist damals auf den Boden gepoltert und zerplatzt, Kürbisse für die nahende Geisternacht, die auch in Wien längst Halloween genannt wird.

Grinzingers Hinterkopf hat ihn sofort an die aufgeplatzten Kürbisse erinnert. Die aufgebrochene Schale, dazwischen das weiche, saftige Fruchtfleisch, quellend, amorph, von rötlichen Schlieren durchzogen. Aber er hat das freigelegte Lateinergehirn nicht lange betrachtet. Er hat seine Aufmerksamkeit bedeutend wichtigeren Dingen zugewandt. Dem schweren, blutverschmierten Stein zu Grinzingers Füßen beispielsweise. Und dem Mobiltelefon, das neben der roten Rose im dürren Gras gelegen hat. Rasch und mit aller gebotenen Vorsicht hat der Lemming begonnen, die Leiche zu durchsuchen. Mit spitzen Fingern zuerst, dann mit Hilfe der Handschuhe, die er glücklicherweise bei sich trug. Aber da ist nichts zu finden gewesen, nichts Ungewöhnliches jedenfalls. Ein Schlüsselbund. Eine Packung Taschentücher. Ein Kugelschreiber. Eine Brieftasche. Darin ein kleinerer Geldbetrag, Grinzingers Führerschein, drei Tickets der Wiener Verkehrsbetriebe, ein paar Visitenkarten. Die Visitenkarten hat der Lemming an sich genommen. Dann hat er die Brieftasche in Grinzingers kariertes Sakko zurückgeschoben und den Lehrer wieder auf den Bauch gedreht. Kaum zehn Minuten hat er für all das gebraucht, es muss also kurz nach halb drei gewesen sein, da sind schon die Gendarmen aus den Büschen gebrochen und mit erhobenen Pistolen auf ihn zugelaufen.

«Stehen bleiben!», «Hände hoch!», «Waffe runter!», «Gesicht zur Wand!», haben die vier durcheinander gebrüllt, aber es war keine Waffe da und vor allem keine Wand, an die sich der Lemming hätte stellen können. Also hat er ganz langsam die Arme gehoben und gerufen:

«Nicht schießen! Kollegen! Nicht schießen!»

Trotzdem sitzt er jetzt da, ist an den Händen gefesselt und steht unter Mordverdacht. Hoch über ihm zieht ein Bussard seine Kreise. Die Herren von der Mordkommission lassen auf sich warten.

Im Kopf des Lemming breitet sich Chaos aus. Er versucht, das Erlebte zu deuten, zu einem stimmigen Bild oder doch zumindest zu einer groben Skizze zu fügen. Aber er kommt nicht weit. Zu wirr, zu widersprüchlich sind Gesehenes und Geglaubtes, Gewusstes und Gefühltes, als dass ein Muster dahinter erkennbar wäre. Dazu noch das schlechte Gewissen. Er hat kläglich versagt, er hat es vermasselt, er hat einen springlebendigen Mann zu Tode observiert. Selbst wenn er die eigene Unschuld beweisen kann, so muss er sich doch mitschuldig fühlen. Und er wird dastehen wie der größte Trottel der Wiener Polizeigeschichte.

«Schau, schau, der Trottel…» Ein fröhliches Grinsen auf den Lippen, stiefelt Kriminalgruppeninspektor Adolf Krotznig den Hang herunter, gefolgt von einem hageren jungen Mann im Trenchcoat und einem sehr betagten, rundlichen mit schütterem Haar und dicken Brillen. Es gibt solche Tage. Die Augen schließen. An gar nichts mehr denken. Die Dinge geschehen lassen. Das sanfte Streichen des Windes durchs Gras. Das Rauschen im Wald. Die kühle, heuduftende Luft. Von weit her der zaghafte Klang einer Kirchenglocke. Vier Uhr ist es. Der Bussard kreist nicht mehr. Er richtet sich auf, steht kurz ganz still am Himmel, stößt dann hinab, pfeilschnell und elegant, verschwindet hinter den Bäumen.

Es gibt solche Tage.

«Habe d’Ehre…», brummt Krotznig, der, seine Hände tief in den Manteltaschen vergraben, über Grinzingers Leiche steht, und nickt anerkennend. «Ganze Arbeit, Nackerter. Und? Warum? Drogen? Geld? Oder Sex?»

«Ich bin das nicht gewesen.»

«Er is des ned g’wesn!» Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens zieht Krotznig die Augenbrauen hoch und wendet sich an den Mann im Trenchcoat: «Vastehst, Huber? Er is des ned g’wesn…»

Der junge Mann blickt betreten zu Boden. Er tritt von einem Bein aufs andere, sieht dann den Lemming an, hüstelt verlegen und meint: «Sie kennen Ihre Rechte?»

«Der da hat kane Rechte!», fährt Krotznig dazwischen. «Kumm mir du ned scho wieder mit deine Rechte, du linke Studentenschwuchtel!»

Die vier Gendarmen horchen auf. Huber, der Mann mit dem Trenchcoat, errötet bis unter die Haarspitzen. Öffnet den Mund zu einem heiseren Krächzen. Huber kämpft mit den Tränen.

Der wievielte mag das sein?, überlegt der Lemming. Wie viele Partner hat Krotznig wohl nach mir verbraucht?

Der bebrillte Alte, eben noch damit beschäftigt, durch eine riesenhafte Lupe den geborstenen Schädel Grinzingers zu inspizieren, schüttelt mit vernehmbarem Seufzen den Kopf. «Geh, helft’s mir wer…» Er lässt sich von einem der Uniformierten auf die Beine helfen und tritt auf den Lemming zu. «Servus, Wallisch.» – «Grüß Sie, Doktor.»