Lemmings Blues - Stefan Slupetzky - E-Book

Lemmings Blues E-Book

Stefan Slupetzky

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Beschreibung

Treffen sich ein Lemming und ein Mops in einer Detektei … … und stecken plötzlich mittendrin in einem kunterbunten Kriminalfall. Wem hängen sie nicht schon längst zum Hals heraus? Die dauernden Sorgen um Corona, den Klimawandel und die generelle Weltlage … Dem Lemming geht es ganz genauso. Deshalb steht für ihn fest: Wenn er Schriftsteller wäre, würde er diese Themen ruckzuck abarbeiten und sich dann endlich mit dem wirklich Wichtigen beschäftigen: seinem neuesten Fall. Der nämlich beschert ihm einen neuen Gefährten: Kuli, eigentlich Herkules, den Mops. Kuli befindet sich auf mysteriöse Weise plötzlich in seiner Detektei, scheint philosophisch versiert zu sein – und schwebt in Lebensgefahr. Denn eine Gruppe Schweißerbrillen tragender Wahnsinniger, die ihrer ganz eigenen Wahrheit anhängt, ist hinter ihm her. Und der Lemming? Der weiß plötzlich selbst nicht mehr so genau, was eigentlich wahr ist … Aluhelm oder Schweißerbrille? Was wirklich gegen Realitätsverweigerung hilft, weiß der Lemming leider auch nicht so genau. Der kann aber auch mit der Erklärung leben, dass rote Ampeln einfach nur der Verkehrsregelung wegen rot leuchten und dass der Chip, den der Mops Herkules im Nacken trägt, einfach nur Auskunft über seinen Besitzer gibt. Die Schweißerbrillenschwurbler, mit denen er es plötzlich zu tun hat, sehen das aber ganz anders. Was lustig klingt, ist in Wahrheit brandgefährlich. Denn diese im wahrsten Sinne des Wortes Geblendeten schrecken auch vor Waffengewalt nicht zurück. Selbst dann nicht, wenn es um einen unschuldigen Mops geht … Ein knallbunter Musikmix Eine Atempause gönnt dir der neue Fall des Lemming nicht. Denn darin folgen psychedelische Tripps auf philosophische Dialoge, Verfolgungsjagden auf herrlich skurrile Freundschaften mit einem Mops und Explosionen auf traurig-schöne Momente. Stefan Slupetzkys Romane sind wie gute Musikstücke, die dich vor sich hertreiben, animieren und dann wieder sanft umschmeicheln. Mit Leopold "Lemming" Wallisch tauchst du ein in eine Welt, die permanent ihre Farben verändert, bis du nicht mehr weißt, was eigentlich real ist. Was im Übrigen ziemlich schön sein kann.

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Umschlag

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Danke an

Über den Autor

Impressum

Stefan Slupetzky

Lemmings Blues

Kriminalroman

1.

Nichts ist, wie es scheint, und alles ist vielleicht ganz anders. Aber sicher ist das nicht.

Die Straßen in ein sanftes getaucht, der Himmel alabasterfarben, die Geräusche wie das Flattern frisch gewaschener Wäsche an der Leine. Hell und freundlich die Gesichter der Passanten in den Gassen. Ihre langsamen, geschmeidigen Bewegungen, als schwebten sie. So könnte es im Himmel sein. Und wenn auch nur im Himmel eines Werbespots für Weichspüler oder Vanillejoghurt.

Stille im Foyer der Bank. Zunächst noch die verträumte Stille eines Sommernachmittags, die einen kühl umfängt, sobald man aus der prallen Hitze in den Schatten eines Hauses tritt. Dann aber, vor dem Kassenschalter, eine zunehmend gespannte Stille: die gereizte, feindselige Ruhe vor dem Sturm.

Der Lemming hat es eilig: Er muss Geld abheben. Vierzehntausend Euro, zwanzig Cent. Wofür er so viel Geld braucht, hat er zwar vergessen, aber den Betrag hat er genau im Kopf. Er wippt auf seinen Zehen, scharrt mit den Füßen auf dem Fliesenboden. Wenn das doch nur schneller ginge!

Hinter ihm gleiten die Schiebetüren auf, und eine Melodie pfeifend marschieren vier Männer in das Bankfoyer. Der Lemming kennt sie nur zu gut: Es sind die Dalton-Brüder. Ihre Sporen klirren im Rhythmus ihrer Schritte. Die karierten Halstücher haben sie sich bis knapp unter die Augen hochgezogen, wie sie es zu tun pflegen, wenn sie auf Raubzug sind.

Glücklicherweise lässt die Polizei nicht lange auf sich warten: Acht mit Gummiknüppeln, Glocks und Gasmasken bewaffnete Beamte stürmen durch die Tür. Sie schwärmen aus – anscheinend wollen sie die Daltons in die Zange nehmen –, laufen dann aber vorbei an den Banditen, laufen weiter, laufen auf den Lemming zu.

Er wird von groben Fäusten im Genick gepackt und gegen eine goldverzierte Marmorsäule in der Mitte des Foyers gedrückt. Vor seiner Nase hängt ein Stück Papier, ein – interessanterweise zweisprachiger – fett bedruckter Aushang:

Клиенты банка без маски отображаются без исключения!

UNMASKIERTE BANKKUNDENWERDENAUSNAHMSLOSZUR ANZEIGEGEBRACHT!

Handschellen klicken, und der Lemming wird unter den Blicken der Passanten abgeführt. Schon hagelt es Beschimpfungen, Beifall für die Polizisten brandet auf. Das Letzte, was der Lemming hören kann, sind die Stimmen Emmett Daltons und der Bankbeamtin:

„Nur gebrauchte Scheine bitte.“

„Aber gern, gnädiger Herr.“

Was für ein Scheißtraum. Wo die große Seuche doch seit letztem Jahr im Abflauen ist. Die Seuche, derentwegen die Regierung das noch kurz davor erlassene Verschleierungsverbot in eine Maskenpflicht verwandelt hat. Die Seuche, die das Land nicht nur gesellschaftlich gespalten, sondern seine Bürger grundlegend verändert hat: Leitsterne in Trabanten, Handlanger in Helden, Demokraten in Despoten, Liebende in Feinde, Lebende in Tote.

Und Vernünftige in Idioten.

Im Vergleich zu anderen ist die Familie des Lemming halbwegs glimpflich durch die schwere Zeit gekommen. Tausende sind an der Infektion gestorben, tausende sind an den Gegenmaßnahmen verzweifelt, sind vereinsamt und verarmt und seelisch krank geworden. Auch die Zahl der Gasthäuser, Theater und Geschäfte, die für immer schließen mussten, ist Legion. Dagegen haben andere – wie wohl in jedem Krieg – gehörigen Gewinn gemacht: Die Aktien der Onlinehändler, Lieferdienste, Softwareanbieter und Pharmaunternehmen stiegen in den Himmel.

Sicher, dieses Virus war eine Naturgewalt: Sowohl die Schäden, die es selbst verursachte, als auch die Schäden, die aufgrund der Gegenmaßnahmen entstanden, lagen in seiner Natur. Es offenbarte aber auch die zwiegespaltene Natur der menschlichen Gesellschaft, die sich neuerdings in zwei diametrale Gruppen einteilen ließ: die wichtige, bedeutsame, die als systemrelevant bezeichnet wurde, und die unerhebliche, verzichtbare, die nichts zum substanziellen Fortbestehen der Menschheit beitrug. Endlich ging es wieder um den Ursprung, um die Wurzeln, um die vorzüglichste Eigenschaft des Homo Sapiens: die fleischliche.

Diese Einteilung in Wichtiges und Überflüssiges hat es dem Lemming auch während des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs gestattet, seine Arbeit als Privatermittler fortzusetzen. Denn das Schnüffeln ist nun einmal relevant für ein System, das vor Betrügern, Schwindlern, Hochstaplern und Ehebrechern nur so strotzt. Wobei die Zahl der Aufträge in so genannten Ehescheidungsangelegenheiten stark zurückgegangen ist: Wenn alle nur zu Hause sitzen und sich gegenseitig auf die Nerven gehen, bedarf es keines Seitensprungs mehr, um die Scheidung einzureichen. Dafür mussten sich der Lemming und sein Partner Polivka vermehrt mit Internetbetrug und den diversen arbeitsrechtlichen Verfehlungen befassen, die im Zuge der nun allerorten praktizierten Heimarbeit begangen wurden. Ob ein Buchhalter auf seinem Sofa Stornos buchte oder Pornos suchte, war für seinen Chef schwer festzustellen, wenn er sich nicht von kompetenten Schnüfflern dabei helfen ließ. Und dann trat eben Polpo auf den Plan: So heißt die Agentur, die er, der Lemming, vor drei Jahren mit Polivka gegründet hat.

Auch Klara, seine seit gut zwanzig Jahren geliebte Frau, durfte als Tierärztin natürlich weiter ihrer Arbeit nachgehen. Schließlich ist das Schnüffeln auch für Hunde relevant, und Hunde wieder sind für Menschen relevant, die trotz verhängter Ausgangssperren ab und zu das Haus verlassen wollen, weil sie in ihren eigenen vier Wänden zu ersticken drohen. Ein Hund muss ja gewartet werden, da gehören ein bisschen Auslauf und ein bisschen Gassi gehen dazu.

Und Ben, der Sohn des Lemming, der inzwischen fünfzehn ist? Er ist im so genannten Homeschooling zur Koryphäe in IT-Fragen geworden. Die Unmenge an Hausaufgaben, die sich Tag für Tag in seinem Laptop häuften, absolvierte er gemeinsam mit dem Lemming. Dabei überwand er alle technischen Barrieren (er installierte, konvertierte, formatierte, filmte und lud hoch), während sein Vater sich in erster Linie um das Inhaltliche kümmerte: Die binomischen Formeln, Hitlers Machtergreifung und der Energieerhaltungssatz zwangen den Lemming zu einer absonderlichen Zeitreise zurück in seine eigene Schulzeit. Vieles fand er gar nicht mehr so langweilig wie damals, und das eine oder andere begann er überhaupt erst jetzt, nach mehr als vierzig Jahren, zu verstehen.

Egal. Es wird ja bald vorbei sein, jedenfalls laut den seit Jahren gemachten Prophezeiungen des jeweiligen Bundeskanzlers. Aber selbst, wenn es tatsächlich irgendwann vorbei sein wird, wird es noch lange nicht vorbei sein: Abgesehen von manifesten finanziellen und gesundheitlichen hat das Virus ja auch unsichtbare, feinstoffliche Schäden angerichtet. Ständig zwischen Angst und Hoffnung zu lavieren, hält niemand aus, kein Mensch und auch keine Gemeinschaft. Und so sind schon bald die wunderlichsten Theorien über die Herkunft und Beschaffenheit der Pandemie kursiert, haben sich in den sozialen Medien verbreitet wie ein Lauffeuer. Der Mensch ist nun einmal ein phantasiebegabtes Wesen. Dass er Hirngespinste produziert, um sich verzwickte Sachverhalte zu erklären, ist nichts Neues. Neu war allerdings, dass jede kuriose These, die normalerweise nur belächelt worden wäre, plötzlich einen Aufschrei der Entrüstung nach sich zog. Die Spinnereien wurden postwendend einer politischen Gesinnung zugeordnet, in der Regel einer rechtsextremen. Wer die offizielle Wahrheit hinterfragte oder gar bezweifelte, wurde sofort als Leugner und Demokratiefeind abgestempelt.

Bei den Nazis wieder galten alle, die der Wissenschaft vertrauten, als linksradikale Gutmenschen und willfährige Opfer einer weltumspannenden Verschwörung der – natürlich jüdischen – Eliten.

Kurz gesagt, die Menschen waren gereizt und aufgebracht, man könnte sagen: kollektiv psychotisch.

Und sie sind es leider nach wie vor.

So eine Scheißzeit, denkt der Lemming. Nichts ist, wie es scheint, und alles ist vielleicht ganz anders, aber sicher ist das nicht. Wahrscheinlich wird deswegen jeder Fliegendreck zur quasi religiösen Grundsatzfrage aufgeblasen. Wäre ich ein Schriftsteller, sinniert er weiter, wäre diese Zeit das Letzte, über das ich gerne schreiben würde. Und die Seuche überhaupt das Allerletzte. Davon abgesehen, dass jetzt wohl alle Schriftsteller darüber schreiben, schreiben müssen, weil sich das ja kaum vermeiden lässt bei einem so präsenten Thema. Weil man gar nicht nicht darüber schreiben kann.

Was leider auch noch auf ein weiteres Thema zutrifft, das die Welt seit Monaten in Atem hält: den unseligen Krieg in Osteuropa. Diesmal allerdings kein Krieg, der auf den Intensivstationen und in medizinischen Laboren ausgefochten wird, sondern ein regelrecht archaischer, anachronistischer Gewaltausbruch (anachronistisch für die meisten Europäer jedenfalls). Von einem alternden, mit Botox aufgespritzten Rottweiler in Moskau angezettelt, wirkt dieser Eroberungskrieg wie eine Schellackplatte in einem CD-Player.

Natürlich zählen Rottweiler nicht unbedingt zu jener Art von Zeitgenossen, die man reizen sollte. Und die treuherzige Rührigkeit, mit der der so genannte Westen in den letzten zwanzig Jahren die Relikte des zerfallenen Sowjetreichs aufgeklaubt hat wie das Fallobst in einem verbotenen Garten, diente sicher nicht dazu, ihn zu besänftigen. Trotzdem kann sich ein Kampfhund, der als Staatsmann kostümiert ist, für seine Verbrechen nicht mit seiner bissigen Natur rechtfertigen. Wenn er das Nachbarskind zerfleischt, weil es nicht mit ihm spielen will, gehört das Vieh nicht in den Kreml, sondern an die Kette. An eine sehr kurze Kette.

Hinter dem letzten und dem allerletzten Thema, über das der Lemming gerne schreiben würde, gibt es also noch ein allerallerletztes. Wäre ich ein Schriftsteller, so denkt er, würde ich mir nichts diktieren lassen. Nicht von meinen Zeitgenossen, nicht von irgendeinem Virus und schon gar nicht von einem Diktator, sosehr dieser das Diktieren auch gewohnt sein mag. Ich würde alle diese Themen auf den ersten Seiten hinter mich bringen und abhaken wie einen unbefriedigenden Morgenschiss.

Der Traum verblasst, die Dalton-Brüder sind schon fast vergessen. Jetzt, im Wachzustand, findet der Lemming sich an seinem Schreibtisch wieder, im Büro von Polpo: ein vormaliges Gewürzgeschäft in einem kleinen, ebenerdigen Lokal in der Sobieskigasse. Er und Polivka haben es nicht nur wegen der günstigen Miete und der ruhigen Lage angemietet. Ausschlaggebend war vielmehr das Olfaktorische: Noch immer sind die Räume von den Düften hunderter exotischer Gewürze, den Gerüchen von Kumin und Kardamom, Kurkuma und Cayennepfeffer, Gewürznelken und Zimt gesättigt. Jeden Morgen, wenn der Lemming von der Gasse direkt in das dunkle, altmodische Kontor tritt, schließt er die Augen und macht einen tiefen Atemzug. Dann fühlt er sich in ferne Zeiten und an einen fernen Ort versetzt: ein zwei Sekunden langer Urlaub.

Nicht, dass ihm ein längerer Urlaub schaden könnte; die vergangenen drei Jahre waren durchaus kein Honiglecken: Klaras Haus in Ottakring, bei einem Brandanschlag zerstört, musste von Grund auf neu gebaut werden, dazu kamen die Arbeit an und in der Detektei und die an allen Nerven zehrende pandemische Bedrohung, wegen der ja Urlaubsreisen ohnehin nicht möglich waren.

Und trotzdem muss er nun, da alle Grenzen wieder offen sind, in Wien die Stellung halten. Denn sein Kompagnon, der gute Polivka, hat einen noch viel triftigeren Grund gehabt, sich in den Zug zu setzen und für ein, zwei Wochen zu verreisen. Polivka führt schon seit vielen Jahren eine Fernbeziehung mit Sophie, einer Französin aus Amiens. Und weil der Mensch nicht selten auch in Fernbeziehungen nach Nähe strebt, hat ihn die Pandemie besonders hart getroffen. Tägliche Telefonate oder Videogespräche können eben keinen Hautkontakt ersetzen. Und ein Mangel an Berührungen lässt irgendwann auch die Gefühle erodieren. „Gut möglich, Wallisch, dass ich demnächst wieder Single bin“, hat Polivka dem Lemming zugebrummt, bevor er in den Zug gestiegen ist. „Dann hast du mich am Hals, bis dass der Tod uns scheidet.“

Aber nicht nur Polivka hat sich vorübergehend abgemeldet, auch für Ben und Klara hat sich die so lang ersehnte Möglichkeit eines Tapetenwechsels aufgetan. „Ich glaube, es ist Zeit, den Buben auszulüften“, so hat Klara es vor zwei Tagen beim Frühstück formuliert, nachdem sie Ben, der blass auf seinen Teller stierte, eingehend gemustert hatte. „Immerhin ist Pfingsten. Mit zwei Tagen Ferien und einer kleinen Grippe ließen sich da fünf bis sechs schulfreie Tage rausschlagen. Wir könnten morgen Abend mit dem Schlafwagen nach Amsterdam, und dann vielleicht auch noch nach Texel, in das Ferienhaus von meiner Tante Wilma. Na, was meint ihr?“

Amsterdam. Ein Zauberwort für Ben, sie musste es nicht zweimal sagen. „Echt jetzt?“, fragte er, und sein Gesicht bekam sofort ein bisschen Farbe.

„Kommst du auch mit, Poldi? Texel?“

Wie perfide Klara ihre magischen Beschwörungsformeln in den Raum warf. Amsterdam für Ben und Texel für den Lemming: Weite Dünen, Licht und Luft und ein paar Schafe, das war seine Vorstellung vom Paradies. Und trotzdem ist er hiergeblieben. Pflichtgefühl. „Ich kann die Firma nicht so einfach zusperren“, hat er missmutig zurückgegeben. „Aber fahrt ihr nur und habt es schön.“

„Wir können dir ja etwas mitbringen“, hat Ben gekichert. „Aus dem Coffeeshop.“

So kommt es, dass der Lemming jetzt in der Sobieskigasse sitzt, von Weib und Sohn und Kompagnon verlassen, und auf Kundschaft wartet. Er sitzt da wie Humphrey Bogart als Phil Marlowe, mit den Füßen auf dem Schreibtisch, schaut hinaus in diesen trüben, wolkenschweren Freitag und betrachtet dann das Schaufenster, durch dessen Glas die Rückseite des goldenen Schriftzugs schimmert:

POLPOLEOPOLD WALLISCH + H. POLIVKAERMITTLUNGEN

Dass Polivkas Vorname nicht ausgeschrieben, sondern zu einem geheimnisvollen H. gekürzt ist, hängt mit ebendiesem Vornamen zusammen: Jeder noch so arglose Versuch, ihm diesen Namen zu entlocken, treibt dem armen Polivka nicht nur die Schames-, sondern auch die Zornesröte ins Gesicht. Sogar der Lemming tappt in dieser Hinsicht vollkommen im Dunkeln, und so sind die beiden Herren zwar per Du, rufen einander aber grundsätzlich beim Nachnamen.

Der Lemming seufzt. Wie gut wäre jetzt eine Zigarette. Humphrey Bogart hätte jetzt wohl auch eine im Mundwinkel gehabt. Aber das Rauchen gilt ja längst nicht mehr als Markenzeichen des verwegenen Helden, sondern als Symbol charakterlicher Schwäche und sozialer Unzulänglichkeit. Im Übrigen versuchen Ben und Klara schon seit Jahren, den Lemming davon abzubringen. Also hat er sich die Zigaretten abgewöhnt, erst letzte Woche wieder. Und er musste Ben und Klara feierlich versprechen, bis zu ihrer Rückkehr brav und stark und abstinent zu bleiben.

Aber wie das zehrende Verlangen mildern? Pharmazeutische Ersatzprodukte kaufen? Sicher nicht: Er lehnt es kategorisch ab, sich Nikotin, das spitzfindig als medizinisch angepriesen wird, in Form von Sprays, Dragees und Pflastern zuzuführen. In diesem Fall glaubt er nicht an die Kraft des Wortes, sondern an die Kraft der Pflanze.

Gut, dass er im Abstellraum des ehemaligen Gewürzkontors etwas gefunden hat, das Linderung verspricht: ein kleines, aber prall gefülltes Leinensäckchen, das sich hinter mehreren Kartons mit rotem Pfeffer, Muskatnüssen und getrockneten Wacholderbeeren versteckte. Kautabak natur – Brasilien, stand handgeschrieben auf dem Leinen. Diesen Beutel zieht er jetzt aus seiner Jackentasche, um ihm eine bräunliche, gekrümmte Wurzel zu entnehmen. Kurz entschlossen schiebt er sich den Stängel in den Mund, speichelt ihn kräftig ein und lagert ihn unter der Zunge ab. Das Zeug schmeckt unerwartet mild, nach Rettich oder Gras, er kann nur hoffen, dass es wirkt.

Die Zeit will nicht verrinnen, und die Kundschaft will nicht kommen. So, als seien auch die Gehörnten und Betrogenen erschöpft in diesen grauen Frühlingstagen. Wäre ich ein Schriftsteller, sinniert der Lemming, würde ich jetzt durch die Dünen wandern, Schafe zählen und das Meer betrachten, und ich müsste nicht darauf warten, dass etwas passiert, weil alles nur in meinem Kopf passiert. Und trotzdem würde jetzt – spätestens jetzt! – etwas passieren.

So unvermittelt springt die Tür auf, dass der Lemming aufschreit und von seinem Sessel hochschnellt. Ein geheimnisvolles goldenes Licht strömt in den Raum, ein Licht wie auf Gemälden alter Meister, und in diesem Licht schwebt jetzt eine Gestalt herein, die ebenso von einem Renaissancemaler erdacht sein könnte. Sie ist in ein langes, hellblaues Gewand gehüllt, hat langes, rötlich-blondes Haar und wiegt ein Bündel in den Armen. Ist das möglich? Hier in der Sobieskigasse? Ja, es muss ein Wunder sein, denn die Gestalt schwebt eine Handbreit über dem Parkett, ihre Sandalen berühren den Boden nicht. Der Lemming hyperventiliert. Maria, die Mutter Gottes, stattet seiner Detektei einen Besuch ab.

Seltsam nur, dass ihre Augen groß und glänzend sind wie jene der Lemuren, an die der Lemming sich aus seiner Zeit als Nachtwächter im Tiergarten Schönbrunn erinnert. Runde Lichter, die ihm während seiner Inspektionstouren aus der Finsternis entgegenblinkten. Allerdings waren diese Lichter bei den Varis, Makis und Sifakas rot, während die Augen der Madonna leuchtend blau sind: ein Paar lupenreiner, hochkarätiger Saphire. Und das Bündel, das Maria in den Armen hält, bewegt sich zwar, sieht aber völlig anders als das Jesuskindlein in der Weihnachtskrippe aus. Als sie das Tuch zurückschlägt, glotzt dem Lemming etwas Sandfarbenes, Haariges entgegen, eine untersetzte, runzelige Kreatur mit missmutigem Silberblick.

Dann aber spricht die heilige Jungfrau, und sie spricht zu ihm, dem Lemming, ihm, dem Auserwählten. So etwas passiert einem nicht alle Tage, und es wäre ein noch weihevollerer Moment, wenn ihre Stimme nicht so aufgeregt und heiser klänge, so gehetzt.

„Das ist der Herkules“, stößt sie hervor. „Ich bitt Sie, geben Sie gut acht auf meinen Kleinen, er ist in Gefahr!“

Mit diesen Worten setzt Maria das Geschöpf auf Polivkas verwaisten Schreibtischsessel. Einmal noch streicht sie ihm sanft über den Kopf, dann wendet sie sich ab, um wieder aus der Tür zu schweben. Harfenklänge füllen jetzt das Büro mit einer weichen, vielstimmigen Melodie. Da hat sich wohl ein winziges Orchester in den Ritzen des Parkettbodens verschanzt, ein Heer aus hundert unsichtbaren Harfenisten, die der hellblauen Lemurenmadonna ein barockes Abschiedsständchen bringen.

Eine Weile starrt der Lemming ihr noch nach, dann aber setzt er sich und beugt sich vor, um – über die zwei Schreibtische hinweg – das Bündel namens Herkules in Augenschein zu nehmen. Bewegungslos sitzt es dem Lemming gegenüber, seine Glubschaugen rollen knapp über der Schreibtischkante hin und her. Ist das ein Kind? Ein Tier? Ein Kobold? Oder doch ein Gott?

„Du stellst die falschen Fragen.“

Hat der Lemming das gerade nur gedacht, oder hat dieses Wesen tatsächlich gesprochen?

„Wieder eine falsche Frage. Warum oder? Du hast es gedacht und ich hab es gesagt.“

„Das gibt es nicht“, hört sich der Lemming krächzen. „Sag mir, dass es das nicht gibt. Du kannst nicht sprechen.“

„Gut. Ich kann nicht sprechen“, sagt das Wesen und verdreht die Augen.

Nichts ist, wie es scheint, und alles ist vielleicht ganz anders. Aber sicher ist das nicht. In solchen Fällen kann nur eine Taktik helfen, die den Dingen ihren angemessenen Platz zuweist, ein kleiner Trick, der das Erlebte ordnet und wieder zurechtrückt, kurz: eine Methode, die man Realitätscheck nennt. Von Schlafforschern entwickelt, um sich seines Wachzustands zu vergewissern, dient dieser Kniff nicht nur als Mittel gegen unheilvolles Schlafwandeln und unrühmliches Bettnässen, sondern auch als der Schlüssel, der die Pforte zum luziden Träumen öffnet. Zählt der Schläfer seine Finger und stellt fest, dass er auf einmal elf statt zehn besitzt, befindet er sich offensichtlich in der Traumwelt: einer Welt, die er mit diesem Wissen frei gestalten kann.

Zehn Finger zählt der Lemming. Und weil er ganz sichergehen will, hält er sich mit beiden Händen Mund und Nase zu: Die Atempumpe lässt sich nicht so leicht von einem Phantasiebild überlisten, und so atmet man durch die geträumten Hände weiter.

„Stich dir doch den Brieföffner ins Herz“, sagt das verrunzelte Geschöpf. „Wenn du dann tot bist, weißt du, dass du nicht geschlafen hast.“

Dem Lemming rauscht das Blut im Schädel. Nein, er träumt nicht, er ist bei Bewusstsein, was er hier und jetzt erlebt, geschieht tatsächlich. Rasch nimmt er die Hände vom Gesicht und schnappt nach Luft. „Sehr lustig“, keucht er. „So was muss ich mir von einem sagen lassen, der vor zwei Jahrtausenden am Kreuz gestorben ist.“

„Die Suche nach der Wahrheit war auch damals schon gefährlich. Außerdem bin ich nicht der, für den du mich anscheinend hältst. Glaubst du vielleicht, dass Jesus wie ein Mittelding aus Marty Feldman, Meister Yoda und einer behaarten Weißwurst ausgesehen hat?“

„Warum nicht? Die Bibel ist ja kein Fotoroman.“

„Homer war auch kein Maler. Trotzdem heiße ich, wie du ja schon gehört hast, Herkules.“

Der Lemming grinst. „Ob jüdisch oder griechisch, macht im Grunde keinen großen Unterschied, solange man ein Halbgott ist. Heißt du denn wirklich so?“

„Ist das nicht scheißegal? Natürlich heiß ich so. Du kannst mich meinetwegen Kuli nennen.“

Diese Ausdrucksweise, denkt der Lemming, dieser Sessel, diese Physiognomie: So, wie er da sitzt und verdrossen vor sich hin schnauft, ist eine frappante Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Kuli und dem alten Polivka nicht von der Hand zu weisen.

„So ein Blödsinn: Ähnlichkeit“, knurrt Kuli. „Laut Nietzsche sind Gleichmacherei und Ähnlichseherei das Merkmal schwacher Augen.“

„Kann schon sein. Dagegen sind Gedankenleserei und Besserwisserei das Merkmal großer Widerlinge. Bist du deshalb in Gefahr? Weil du den Leuten auf die Nerven gehst?“

„Im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen, Wallisch.“ Kuli schnaubt verächtlich auf.

„Okay, aber worin besteht denn überhaupt diese angebliche Bedrohung? Warum bist du wirklich in Gefahr?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wer ist die Frau, die dich gebracht hat? Deine Mutter?“

„Nein, ich glaube nicht … Sie ist so etwas wie meine Beschützerin.“

„Als hätt ich das nicht mitgekriegt. Du weißt also nicht mehr als ich.“

„Ja. Aber auch nicht weniger“, sagt Kuli. „Was wir nämlich beide wissen, ist, dass nichts ist, wie es scheint …“

„Und dass auch das nicht sicher ist“, murmelt der Lemming.

Sicher ist dagegen, dass der Lemming sich die kommenden vier Stunden lang mit seinem kleinen beigen Gegenüber unterhält, wobei die Themen variieren: Einmal geht es ums Fressen, dann um die Moral, dann wieder um die Wechselwirkung zwischen Schlaf und Spiritualität. An manchen – ganz besonders interessanten – Stellen des Gesprächs wachen die Harfenisten auf und unterstreichen die Dramatik der Gedanken mit beschwingt gezupften Septakkorden.

Später Nachmittag. Das ohnehin schon fahle Tageslicht wird schwach und schwächer, und die Abenddämmerung senkt sich schwer über die Stadt. Es ist die Stunde, die den Lemming meistens melancholisch werden lässt, die Stunde, die ihm meistens eine zwar nur kurze, aber veritable Depression beschert. Das Nichts ist der Normalzustand, das Licht eine Anomalie der Finsternis, das Leben eine Ausnahme des Todes. Aber ist ihm das nicht ohnehin bewusst? Muss ihn der Sonnenuntergang denn wirklich jeden Tag an diese Tatsache erinnern?

Erstaunt stellt der Lemming fest, dass die gewohnte Schwermut heute ausbleibt, und nach einer Weile wird ihm klar, wem er das zu verdanken hat. Es ist kein anderer als Kuli, der ihn mit ironischem Humor und Scharfsinn davon abhält, trübsinnig zu werden.

„Danke für die Blumen.“ Kuli nickt und gähnt. Sein Atem geht jetzt schwerer, seine Augenlider senken sich, und er fängt leise an zu schnarchen. Noch etwas, das er mit Polivka gemein hat, denkt der Lemming.

Dann aber fallen auch ihm selbst die Augen zu. So rasch wie eine Münze, die man in den Brunnen wirft, sinkt er in einen traumlos tiefen Schlaf.

2.

Ist es tatsächlich schon halb sieben Uhr früh? Der Lemming blinzelt in das trübe Morgengrauen, stützt sich an der Schreibtischkante ab und streckt den Rücken durch. Der Schmerz fährt ihm durch alle Glieder: Eine neunundfünfzig Jahre alte Wirbelsäule sollte man nun einmal nicht auf einem Neunundfünfzig-Euro-Stuhl zur Ruhe betten.

Halb sieben Uhr früh. Um diese Uhrzeit ist nur ein Gedanke möglich, nämlich der an einen heißen, kräftigen Kaffee. Glücklicherweise gibt es in der kleinen Küche hinter dem Büroraum einen altertümlichen Espressoautomaten, und so macht der Lemming sich mit steifen Beinen und gebeugtem Rücken auf den Weg. Der Automat heizt röchelnd seinen Boiler auf, der Lemming fährt behäbig seine grauen Zellen hoch. Nur langsam dringt ihm die Erinnerung ins Bewusstsein: die Erinnerung an den absurden Traum der letzten Nacht. An die Madonna mit den großen blauen Augen, an die unsichtbaren Harfenisten und an Kuli, den kleinwüchsigen Gedankenleser mit dem mürrischen Gesicht. Nur seltsam, dass der Traum sich immer noch wie die Realität anfühlt, wie ein authentisches Erlebnis. Und dass es dem Lemming nicht gelingt, sich daran zu erinnern, wie er den gestrigen Nachmittag und Abend wirklich zugebracht hat. Hinter seinem Schreibtisch, in Erwartung eines Kunden? Und wieso ist er am Abend nicht mehr heimgefahren? Warum hat er hier im Büro geschlafen?

Nachdenklich trägt er die dampfende Kaffeetasse zu seinem Tisch und lässt sich wieder in den Sessel sinken. Diese Träume, überlegt er, und diese Erinnerungslücken deuten auf nichts Gutes hin. Wahrscheinlich wäre es doch wieder einmal Zeit für einen Arztbesuch. Oder für mehrere. Den letzten Anlauf zu einer umfassenden Vorsorgeuntersuchung hat er ja schon vor fünf Jahren unternommen, mit Betonung auf dem Wörtchen Anlauf