Lemmings Himmelfahrt: Lemmings zweiter Fall - Stefan Slupetzky - E-Book

Lemmings Himmelfahrt: Lemmings zweiter Fall E-Book

Stefan Slupetzky

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Beschreibung

Grausig-komisch, witzig, skurril, melancholisch – ein Krimi, wie ihn nur ein Österreicher schreiben kann Der Lemming ist wieder in Schwierigkeiten. Gerade hat ihn seine Freundin hinausgeworfen, und kurz danach schießt ein Verrückter auf ihn. Zum Glück trifft es zwar einen anderen, der tot zusammenbricht, doch jetzt sucht die Polizei den Lemming als Mörder. Da hilft es nur, den wirklichen Täter zu finden - und der Lemming ist mal wieder in einen Fall verwickelt, der ihn völlig überfordert ….

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Stefan Slupetzky

Lemmings Himmelfahrt

Lemmings zweiter Fall

Kriminalroman

Für Marianne, Julia, Tomas und Fanny, die mich durchs Leben begleiten.

Von Herzen danke ich den Doktoren Johanna, Rudi und Philip für medizinische Beratung in Mord- und Folterfragen.

Grossen Dank auch an Doktor Stocker von der Kunstsektion des österreichischen Bundeskanzleramtes für seine Unterstützung.

Das Wort braucht ein Ohr, seinen Klang zu vernehmen, das Licht braucht ein Auge, es leuchten zu sehen, die Liebe ein Herz, um an ihr sich zu wärmen, die Zeit einen Körper, an ihr zu vergehen…

Des Menschen Zweck? Der Sinn erwächst aus unseren Sinnen, ein Mann allein erschafft das All in seinem Mittelpunkt. Verrücke ihm den Kopf um einen Digitus, und du wirst sehn, mein Freund: Er macht die ganze Welt verrückt.

Palous Pandurek

Der Himmelsthor (1792)

1

In der Nacht zum 27.Juni 2001 schlägt die östliche Lithosphäre den Mantelkragen hoch. Es ist kurz vor halb drei, als sich die zähen Erdmassen des Wiener Beckens in Bewegung setzen, um ihre wellenförmigen Stöße, den wogenden Armen einer balinesischen Tänzerin gleich, gegen den Balkan zu senden. Ein Sandkastenbeben, im Grunde nicht mehr als ein seismischer Furz, aber doch stark genug, um in der Buckligen Welt ein paar tausend Menschen den Schlaf zu rauben und wenig später, wenn auch schon reichlich geschwächt, durch die Pforten Wiens zu branden, um daselbst mit letzter Kraft in der Küche einer Wohnung eines Hauses im neunten Gemeindebezirk die Lötstelle eines Wasserrohrs zu kappen.

Dass dieses Naturkataströphchen, diese winzige kontinentale Inkontinenz nur das erste Glied einer Kette weit schwerer wiegender Ereignisse bilden wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand. Nicht einmal der Lemming selbst. Er liegt und träumt.

In seinen nächtlichen Phantasien schaukelt er in einer kolossalen Hängematte, die zwischen den beiden Palmen einer klassischen Witzblatt-Südseeinsel aufgespannt ist. Nur wenige Meter entfernt hockt ein Löwe im Sand, ein zwar athletisches, doch leidlich wildes Tier von plüschartiger Beschaffenheit. Der Löwe wedelt fröhlich mit dem Schwanz, wie um den Lemming zum Spielen aufzufordern, aber der will weiterdösen. Lass mich in Ruhe, träumt der Lemming. Er versucht, dem Tier seine Worte begreiflich zu machen, sie in die Löwensprache zu übersetzen: «Rulichen hassim. Hich massli rune. Melissa nurchli», brummt der Lemming im Schlaf. Endlich scheint der Löwe zu verstehen, doch er billigt die kränkende Abfuhr nicht. Stummen Protest in den gelben Augen, beginnt er auf der Stelle, in den Sand zu urinieren. Endlose Schwalle glitzernden Löwenharns versickern in der Erde und lassen bald den Meeresspiegel steigen; nach und nach frisst der Pazifik die Insel, bis nur noch die Palmen aus dem Wasser ragen. Der Lemming fühlt sich sehr erschöpft und unerhört hoffnungslos. Am Ende zeichnet der große Zeh seines rechten, lässig über den Rand der Hängematte geworfenen Beines sanfte Kräusel und Schlieren in den Ozean.

Nicht selten spiegelt ein Traum die unvernarbten Scharten wider, welche die Vergangenheit in die Seele des Träumers geschlagen hat; zuweilen ist es aber auch die Gegenwart, die seine Visionen nährt: Die Hupe eines Automobils verwandelt sich ins unheilschwangere Nebelhorn eines Panzerkreuzers, das Krabbeln einer Stubenfliege auf dem Hals des Schlafenden wird zum frivolen Liebesspiel eines züngelnden Nymphchens. Manchmal aber, so heißt es, weisen die nächtlichen Schimären direkt auf die Zukunft hin, als seien sie der Trailer eines längst noch nicht gedrehten Films.

Der Traum des Lemming nährt sich offenbar aus allen dreien; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verflechten sich darin zum abgründigen Gaukelwerk: Seine neue Stellung als Nachtwächter im Schönbrunner Tiergarten beschert ihm den Löwen; die Tatsache, dass sein rechter Fuß tatsächlich zur Hälfte im Wasser hängt, beschert ihm die Flut; und ein bislang noch nicht vorhersehbarer Umstand, dass sich nämlich vor Ablauf der nächsten vier Stunden sein leidlich geordnetes Leben in ein höllisches Chaos verwandeln wird, beschert ihm wohl seine paralytische Mutlosigkeit.

Kein guter Traum. Nicht besser als die Wirklichkeit, befindet der kleine, wackere Schutzmann, der tief in der Seele des Schläfers Wache hält. Das Männchen drückt einen Schalter, legt einen Hebel um, und schon schlägt der Lemming die Augen auf.

Er findet sich auf jenem hölzernen Eiland wieder, das sein Bett ist. Er wälzt sich mit verhaltenem Seufzen auf den Bauch. Er starrt eine Zeit lang auf den sanft oszillierenden Boden und wird dann seiner Filzpantoffeln gewahr, die mitten im halbdunklen Zimmer treiben wie zwei unbemannte Rettungskähne. Seite an Seite auf ruhiger See, einen halben Fuß unter dem Kiel das vertraute Fischgrätenmuster des Eichenparketts: ein malerischer Anblick, wenn auch kein tröstlicher um vier Uhr nachts.

Mit dem Ausdruck stiller Ergebenheit erhebt sich der Lemming und watet in Richtung Telefon. Ja, er ist müde. Ja, das Schicksal hat ihn gebeugt, ihn mehr als einmal in die Knie gezwungen. Es hat ihn aber auch eine gewisse Demut gelehrt, eine Art geistiger Elastizität, die ihn davor bewahrt, sich von Unbilden und Pechsträhnen vollends brechen zu lassen. Zumindest pflegt er sich das einzureden.

Die Türglocke schrillt.

«Grüß Sie, Frau Pawlitzky…»

Durch die geöffnete Eingangstür flutet das Wasser auf den Gang und spült die beiden Pantoffeln, gefolgt von einigen kleineren Wäschestücken, die Treppen hinunter. Zugleich strömt dem Lemming ein nicht enden wollender Wortschwall entgegen. Die Nachbarin. Plump und gedunsen, hysterisch, gehässig, laut, hässlich und dumm.

«Ja, Frau Pawlitzky. Ich weiß, Frau Pawlitzky. Feuerwehr, natürlich. Ach, Sie haben schon…»

Er schließt die Tür, ohne das Ende ihres Sermons abzuwarten.

Wenig später tritt er aus dem Haustor und strebt, einen hastig gepackten Koffer unter dem Arm, dem nächstgelegenen Taxistand entgegen. Er hat entschieden, dass seine Anwesenheit hier nicht mehr vonnöten ist. Die Feuerwehr wird, aufgemuntert durch Frau Pawlitzkys launige Kommentare, die Hauptleitung still- und sein sechzig Quadratmeter Mietaquarium trockenlegen. Um den Rest sollen sich der Hausbesitzer und die Herrschaften von der Versicherung kümmern. Er selbst ist entschlossen, noch ein wenig Schlaf zu finden. Es gilt, das Beste aus dieser Misere zu machen. Und das Beste ist, den nun schon drei Wochen lang schwelenden Streit mit Klara bei- und sich zu ihr zu legen.

Klara also. Klara Breitner, die ständige Begleiterin seiner Gedanken und gelegentliche Gefährtin seiner Nächte. Etwas länger als ein Jahr liegt es jetzt zurück, dass er im Zuge einer blutigen Mörderjagd ihrem Hund Castro begegnet ist, einem Leonberger, dessen unerwartet soziabler Charakter die erschreckend monströsen Ausmaße seines zottigen Leibes Lügen strafte. Durch Castro wieder hat er Klara kennen gelernt. Auch bei ihr konnte der Lemming bald nicht umhin, einen gewissen Kontrast zwischen innen und außen festzustellen: So anmutig ihre Erscheinung auch war, ihr Herz schien raue Stellen aufzuweisen, kleine Verhärtungen hier und da, die so unvermittelt zutage traten, wie sie sich wieder verflüchtigten. Dass sich seine Zuneigung zu Klara mit dem beharrlichen Vorsatz verknüpfte, Güte und Verständnis aufzubringen, lieferte den Lemming ihren Launen hilflos aus. Der Gedanke, dass es gerade seine unablässige Duldsamkeit war, die Klaras Nerven strapazierte, kam ihm nicht. Stattdessen schob er die Schuld an ihrem gelegentlich ruppigen und abweisenden Verhalten auf die allgemeine Natur des weiblichen Wesens, das er von jeher als einzige Gefahrenzone ansah: ein wuchernder Dschungel, ein Dickicht, gewoben aus Fallstricken der Irrationalität, verborgen hinter Nebeln von Zartheit und Grazie, genährt von reißenden, alles verschlingenden Sturzbächen aus Östrogen. Unergründlich, ja, aber je unergründlicher Klara ihm war, desto stärker zog sie ihn in ihren Bann, und desto verbissener suchte er das Geheimnis in ihr. Sie selbst vertrat einen minder abenteuerlichen Standpunkt: Nach ihrer Meinung war der Lemming ganz einfach konfliktscheu und bisweilen unerträglich harmoniebedürftig.

Dabei hatten sie damals keinen so schlechten Beginn; nach ein paar belanglosen Fehlzündungen sind sie halbwegs schwungvoll in die Startkurve ihrer Beziehung geschlittert. Aber schon auf der ersten Geraden erwartete sie eine üble Schikane: Des Lemming schlimmster Feind stand ihnen plötzlich im Weg, um sie am Punkt ihrer höchsten Beschleunigung brutal kollidieren und von der Strecke trudeln zu lassen. In einem Akt blinden Hasses hat Adolf Krotznig, seines Zeichens Polizeimajor und früherer Partner des Lemming, die beiden zutiefst gedemütigt und Klara zudem um ein Haar vergewaltigt. Wenn Krotznig auch am Ende seiner Strafe nicht entging, so gelang es ihm doch, das junge Glück schon im Ansatz zu schädigen. Krotznig – die bloße Erwähnung dieses Namens genügt, um den Puls des Lemming hochschnellen zu lassen: Ein beispielloser Zorn übermannt ihn dann, aber auch ein mehr als homöopathisches Quäntchen Angst vor der Grausamkeit dieses ledergepanzerten Schnurrbartflagellaten, dieses geistigen Koprolithen, dieser Güteklasse null auf zwei Beinen. Observieren und abservieren, das ist schon immer das Motto des Herrn Major gewesen: Wer trägt Schuld an der unehrenhaften Entlassung des Lemming aus der Kriminalpolizei? Wer hat ihn seinen Job im Detektivbüro Cerny und Cerny gekostet? Zusammen mit Schwarzafrikanern, Türken und Frauen aller Couleur ist es der Lemming, der von jeher ganz oben auf Krotznigs persönlicher Abschussliste steht.

Nach einer längeren Phase der inneren Sammlung hat der Lemming wieder zu arbeiten begonnen. Vier Wochen ist es her, dass Klara ihm die Stellung im Zoo verschafft hat, in dem sie zuweilen auch selbst beschäftigt ist. Er hat den Job nur widerwillig angenommen, denn er ahnte, dass es sein angekratztes Selbstgefühl noch weiter untergraben würde, sich auf die nächtliche Jagd nach frechen Lausbuben und besoffenen Stadtstreichern begeben zu müssen, flankiert von nackten Nilpferd- und Pavianärschen, während seine Freundin tagsüber Spritzen und Klistiere in nämliche Ärsche versenkte – unter den adorierenden Blicken der Pfleger und für das zehnfache Gehalt, versteht sich. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen und tat es auch nicht. Wie ein Virus ins geschwächte Immunsystem nistete sich die Eifersucht in das kränkelnde Ego des Lemming ein und fraß sich dort in Gestalt des Raubtieroberpflegers fest. Ein strohblonder Recke mit makellos weißem Gebiss, stahlblauen Augen und dem sauberen Humor eines Turnvater-Jahn-Epigonen.

«Wenn einer schon Rolf heißt», murmelt der Lemming im Fond des Taxis.

«Was willst du damit andeuten?», vernimmt er im Geiste Klaras Erwiderung.

«Sag bloß, es ist dir entgangen.»

«Was?»

«Dass er dir am liebsten sofort seine arische Rute zwischen die Hinterläufe schieben möchte.»

«Ach. Und wie kommst du darauf?»

«Du merkst also nicht, dass er dich ansieht wie… wie heißt das in eurer Schönbrunner Safarisprache? Brunftig? Läufig? Rollig?»

So oder so ähnlich hat der Streit vor drei Wochen begonnen, und er ist zu einem hitzigen Monolog des Lemming ausgeartet, den Klara nur mit verächtlichem Kopfschütteln quittierte. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen ihnen – während er vergeblich auf ein klärendes Wort von ihr wartete, zog sie sich schweigend von ihm zurück.

So gesehen kommt ihm die plötzliche Obdachlosigkeit ganz gelegen. Seine Notlage bietet ihm die Chance, Klara aufzusuchen, Asyl zu beantragen und das gestockte Gespräch vielleicht wieder in Gang zu bringen.

Kurz nach fünf hält der Wagen vor dem Breitner’schen Haus in Ottakring. Hier wohnen sie also, Castro und Klara, und manchmal auch deren jüngerer Bruder Max, falls er sich nicht gerade auf einer seiner dubiosen Geschäftsreisen in Ländern mit gesteigerter Cannabisproduktion befindet. Der Lemming zahlt, steigt aus und stapft den Kiesweg entlang durch den verwilderten Garten. Über ihm, in den Kronen der Obstbäume, schmettern zahllose Vögel ihre Morgenlieder. Sie kommen dem Lemming vor wie ein Haufen gefiederter Missionare, deren hehres Ziel es ist, ihn, den Unbeschwingten, mit ihrem grenzenlosen Frohsinn anzustecken.

Es dauert lange, bis Klara öffnet. Dreimal muss der Lemming klingeln, doch dann dreht sich endlich der Schlüssel im Schloss, und sie steht, knittrig und zerzaust, vor ihm.

«Ach… du bist es. Ist dir klar, wie spät es ist?» Ihr bettschwerer Blick streift den Lederkoffer, der zu Füßen des Lemming steht, flackert argwöhnisch auf, erstarrt und beißt sich an dem unschuldigen Gepäckstück fest.

«Was willst du?», fragt sie, leicht angespannt.

«Ich… ich kann nichts dafür… Ich meine, ich wollte nur fragen, ob…»

«Wieso bist du nicht im Dienst?»

«Nein… nicht heute Nacht… Ich habe mich eigentlich… krankgemeldet…»

«Und? Was fehlt dir?»

«Also im Grunde… hör zu, ich wollte mich einfach mal ausschlafen.»

«Und das wolltest du offenbar hier tun – und die Zahnbürste hast du gleich mitgebracht…»

«Nein… Ja… Es ist nur, weil…»

«Ist dir klar, dass ich in zwei Stunden zur Arbeit muss? Ich kann’s mir nämlich nicht so einfach leisten blauzumachen.»

«Ja, aber ich dachte, ich könnte inzwischen…»

«Hier einziehen? – Hast du den Möbeltransport auch schon organisiert?»

«Vergiss es…»

So kann das nichts werden. So nicht, das ist klar. Der Lemming spürt die Wut in sich aufsteigen, Wut auf sich selbst zunächst: dass er sich abermals einschüchtern lässt. Dass er schon wieder nicht in der Lage ist, richtige Worte zu finden, Worte von unwiderlegbarer Deutlichkeit, wie sie ihm noch vor fünf Minuten auf der Zunge gelegen haben. Dass es einmal mehr von Klaras Freundlichkeit abhängt, ob sich sein Geist versprüht oder verweigert.

Aber sein Zorn gilt auch ihr. Er mag ja seine Fehler haben, doch eine Abfuhr dieses Kalibers hat er nicht verdient. Die eisige Kälte, die ihm von Klara entgegenschlägt, scheint sogar die Vögel verstummen zu lassen – eine Wolkenbank hat sich vor die ersten Sonnenstrahlen geschoben. Der Lemming muss sich wohl damit abfinden: Vom heutigen Morgenrot wird kaum mehr übrig bleiben als ein düsteres Morgengrauen.

«Vergiss es…»

Er bückt sich und nimmt seinen Koffer, um wie ein geschlagener Hund das Weite zu suchen. Wie ein geschlagener Hund…

«Sag, wo ist eigentlich Castro?»

Wann immer er vor Klara Breitners Tür gestanden hat, ist ihm der Leonberger als Erster entgegengestürmt, hat ihm den Schweiß der Beklommenheit von den Händen geleckt und mit seinem freudig wedelnden Schwanz die dickste Luft in ein frisches Lüftchen verwandelt. Das ist es, was ihm fehlt. Jemand, der sich freut, ihn zu sehen, auch wenn es nur ein Hund ist.

«Wo ist er?»

«Im Haus. Warum?»

«Ist er krank?», fragt der Lemming, ehrlich bestürzt.

«Nein, ich musste ihn wegsperren. Er verträgt sich nicht mit…» Klara hält inne.

«Mit wem?»

Es bedürfte Klaras betretenen Schweigens gar nicht. Ihr Blick glimmt wie eine feuchte Lunte, indessen der Sprengsatz sich selbst entzündet. An der Schnittstelle zwischen Magen, Herz und Kopf, zwischen Angst, Ahnung und Gewissheit implodiert das Vakuum der Eifersucht mit einem dumpfen, nur für den Lemming hörbaren Ton. Aus einem klaffenden Riss in seiner Mitte ergießen sich unverzüglich die Ameisen. Es müssen Hunderttausende sein. Zusammengenommen scheint ihre Masse exakt seinem Körpervolumen zu entsprechen. Das ist interessant. Der Lemming denkt eine Weile darüber nach, während die Tiere durch seine Glieder strömen, um die Kontrolle seiner Muskeln zu übernehmen. Klara sagt etwas, aber der Lemming hört es nicht. Er ist jetzt nach innen gestülpt, ein finsteres Loch, bis zum Rand gefüllt mit kribbelnden schwarzen Insekten.

Der Koffer bleibt stehen. Der Lemming geht, und er geht mit sonderbar weichen, ferngesteuerten Knien. So fühlt sich also ein Ameisenhaufen an: vollkommen tot und doch in Bewegung.

2

Wenn Österreichs gegen das Meer gestreckte Arme auch im Laufe der Zeit amputiert wurden und die einstige Seemacht zur Spielwiese der Badewannenkapitäne verkommen ist, besitzt ihre Hauptstadt Wien nach wie vor einen höchst bedeutsamen Küstenstrich. Als Strand ohne Wasser, als rein metaphorisch maritimer Streifen erstreckt er sich nur über wenige hundert Meter und reicht dennoch von Varna bis Valletta, von Triest bis Tripolis. Ein Spaziergang auf dem Naschmarkt ist eine Reise um die halbe Welt, eine babylonische Irrfahrt für die Ohren und eine olfaktorische Odyssee. Die Menschenflut, die tagsüber zwischen den Buden mit Lammfleisch und Fisch, mit exotischen Früchten und fremden, nie geschmeckten Gewürzen wogt, weicht der Ebbe am Abend. Wenn die Läden dichtgemacht und die am Boden zertretenen Reste der manch ungeschickter Hand entglittenen Tomaten, Melonen, Auberginen und Kardonen in den Rinnstein gespült sind, zieht sich das Leben vom Naschmarkt zurück. Aber nicht lange, da kehrt es wieder, auf leisen Sohlen diesmal, kehrt sinistrer und abgründiger wieder als das lärmende Tagewerk der feilschenden Hausfrauen und prüfenden Köche, der staunenden Touristen und der laut ihre Waren preisenden Levantiner. Wenn die Nacht hereinbricht, wird das menschliche Treibgut der ganzen Stadt an die Gestade des Marktes geschwemmt und dümpelt bis zum nächsten Morgen in den umliegenden Buchten vor sich hin. Lokale gibt es viele an der Wienzeile. Es sind kleine Wirts- und Kaffeehäuser, so schwach beleuchtet wie stark besucht, deren Öffnungszeiten von jeher in antipodischem Verhältnis zu den honorigen Idealen gutbürgerlichen Lebenswandels stehen. Schnapsdrosseln und Schluckspechte bauen hier ihre schwankenden Nester, Pflastermaler und Stadtstreicher finden ihre verlorenen Perspektiven wieder, und soziale Nichtschwimmer fühlen den ersehnten Boden unter den Füßen, ohne deshalb auf dem Trockenen zu sitzen. Es wird getrunken, sinniert, gestritten, gejammert und wieder getrunken, bis die ungeliebte Sonne aufgeht und die Bourgeoisie draußen zur Arbeit treibt. Zeit für den Ausklang, Zeit für das klassische Frühstück, bevor man selbst in den Tag taucht, um sich irgendwo schlafen zu legen.

«Ein Gulasch und ein Seidel», murmelt der Lemming.

«Ein bisserl lauter, der Herr, wenn’s recht ist!»

«Ein Gulasch. Und ein Seidel. Bitte!»

Der Ober nickt müde und entfleucht. An seiner Seite schlenkert schlaff eine Stoffserviette, die sich mit allem, was die Nacht hindurch an den Kehlen der Gäste vorbei- oder gar aus ihnen herausgeronnen ist, so angereichert hat, dass ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr zu bestimmen ist.

Der Lemming sitzt in einer Nische des Café Dreher, hat die Hände auf die marmorne Tischplatte gelegt und starrt aus dem Fenster. Zwei, drei Lastwagen fahren fast lautlos vorüber; dann hält einer und öffnet seinen schwarzen Bauch, um den Blick auf mehrere Stapel bunter Kisten freizugeben. Ein paar Männer mit schmalen, unrasierten Gesichtern beginnen abzuladen. In ihren Mundwinkeln stecken verloschene Zigaretten. Der Himmel ist grau, aber es regnet nicht.

Der Lemming weint.

Schon auf dem Herweg sind die Ameisen nach und nach aus seinen Gliedern gewichen und haben seinen Körper zurückgelassen wie einen schlaffen Sack. Jetzt gibt es nichts mehr, was ihn erfüllt, im Gegenteil: Die Leere in ihm ist größer als er selbst. Sie greift auf alles über, das seine Sinne berührt, legt sich dumpf auf den Duft nach gebratenem Speck, der aus der Küche dringt, auf die Stimmen der anderen Gäste, auf das erwachende Markttreiben jenseits der Straße, auf das Muster der Gardinen, auf die Stühle, auf die Tische. Alles ist nichts, denkt der Lemming, das Leben eine flagrante Verhöhnung seiner selbst, jedes Reden und Tun, Wachsen und Blühen, Hoffen und Bemühen ein einziger zynischer Witz. Es tut weh, diesen Witz zu verstehen, denkt der Lemming. Es tut weh, Mensch zu sein.

Der Kellner bringt das Bier und das Gulasch und stellt es vor dem Lemming ab. Mag sein, dass er dessen rot geränderte Augen bemerkt, doch sieht er darüber hinweg, als sei er Tränen gewohnt. Wahrscheinlich ist er das auch. Der Lemming trinkt lustlos, mehr aus Reflex als des Durstes wegen.

«Jetzt versalzt sie sich auch noch das Seidel, die Rotznudel, die verheulte. Da muss einem ja der Appetit vergehen…»

Die Stimme schneidet tief in die trüben Gedanken. Lauter als nötig schallt sie durch das Lokal, denn der Mann, dem sie gehört, sitzt gleich am Nebentisch. Er ist von hagerer Statur, kaum älter als dreißig, trägt halblanges, schütteres Haar und ein Stecktuch hinter dem weit geöffneten Hemdkragen. Aufrecht, fast steif sitzt er vor einer entkorkten Flasche Bourbon und sieht den Lemming ungerührt an.

«Ja du, dich mein ich! Brauchst gar nicht so glotzen mit deinen Rehäugerln. Die Mama kommt eh gleich und stopft dir das Duttel ins Maul, damit eine Ruh ist…»

Normalerweise würde der Lemming diese jähe Attacke mit einem milden Kopfschütteln quittieren. Er würde dem Angreifer dann, zwar innerlich aufgewühlt, aber mit demonstrativer Geduld, den Rücken kehren. Es gibt eben solche Leute. Verbitterte Existenzen, die sich mit Vorliebe daran ergötzen, anderen Schmerz zu bereiten, sie zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Nicht selten verbindet sich ihr versteinertes Herz mit einem messerscharfen Verstand; das macht sie zu gerissenen Pirschgängern auf der Jagd nach dem Unglück. Es befriedigt sie nicht, lebenden Kleintieren die Haut abzuziehen oder die Flügel auszureißen. Ihr Sadismus ist selten handgreiflicher Natur. Sie suchen das seelische, das menschliche Leid. Sie sind die Maden in der Wunde, die Pickel auf dem Arsch der Gesellschaft.

Es gibt eben solche Leute. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist dem Lemming nicht nach stummer Resignation zumute, die sich schlecht und recht in das Mäntelchen nobler Zurückhaltung hüllt. Er hat alles verloren, und damit auch die wenigen Dinge, über denen er früher gestanden hat. Ja, es tut weh, Mensch zu sein, und der einzige Trost liegt darin, dass alle im selben schäbigen Boot sitzen. Ein abscheulicher Verräter, ein gottverfluchter Teufel, wer diesen ohnehin schon abgewrackten Kahn auch noch von innen leckschlägt, indem er die einfachsten Regeln des Humanismus missachtet.

«Miese Drecksau.» Nicht gerade eine Meisterleistung an Schlagfertigkeit, doch als Essenz seiner Gedanken trifft die Replik des Lemming allemal den Punkt. Sein Tränenfluss ist in der Sekunde versiegt; das Bewusstsein der neugeborenen Feindschaft und das prickelnde Vorgefühl der Schlacht ersetzen mit einem Mal die innere Leere. Er erwidert den starren Blick des Mannes, und der Umstand, dass seine Augen immer noch feucht sind, erleichtert es ihm, sich jeglichen Zwinkerns zu enthalten.

Der andere zieht mit gespieltem Erstaunen die Brauen hoch. «Ja, wer hat denn dem Burli so schlimme Wörter gelernt? Soll ich dir das Popscherl versohlen, du Schneebrunzer?» Nun reicht es dem Lemming. Ohne den Kopf zu wenden, tastet er nach seinem Bierglas und steht langsam auf. Es wird still im Café Dreher. Vielleicht ein Dutzend erwartungsvoller Augenpaare sind jetzt auf die Szene gerichtet, als handle es sich um eine eigens für sie inszenierte Gratisvorführung. Aber der erste Akt soll nicht halten, was er verspricht. Kein Blut. Noch kein Blut.

«Komm nur, Poldi, komm nur her, Wallisch, du kastrierter Bullenbeutel…», sagt der Mann mit dem Stecktuch ausdruckslos. Der Lemming stutzt. Das Glas drohend erhoben, hält er im Angriff inne. Leopold Wallisch. Er kennt den anderen nicht, so viel steht fest. Er ist dem anderen noch nie begegnet. Aber: Der andere weiß seinen Namen.

«Woher… ich verstehe nicht…»

«Was ist, willst jetzt hinhauen oder diskutieren?»

«Eigentlich… hinhauen…» Sichtlich verwirrt lässt der Lemming den Arm sinken und setzt sich dann ohne weitere Umstände auf einen der freien Sessel am Tisch des Fremden. Sein Zorn ist, wenn auch nicht völlig abgeklungen, so doch gebändigt. Er fühlt sich wie ein Bauer, der vom eigenen Schlachtschwein erkannt und begrüßt wird; das nimmt ihm den Sturm aus den Segeln, das entlarvt und beschämt ihn, das raubt seinem Auftritt die Dramatik.

Die Enttäuschung der anderen Gäste ist nicht zu überhören. Zwar nimmt man die allenthalben gestockten Gespräche wieder auf, doch man tut es mit dem murrenden Missmut eines gelangweilten Premierenpublikums. Schlechte Regie, kein Blut, der reine Betrug.

«Herr Ober, bringen S’ noch ein Glasel!», ruft der Hagere in den Raum und wendet sich gleich darauf mit gesenkter, beinahe vertraulicher Stimme an den Lemming:

«Trinkst eh einen Whisky, Wallisch… Siehst du? Ein kleiner Ärger – schon geht’s dir besser… Was ist denn gar so Schlimmes passiert? Na, erzähl schon…»

Dieser plötzliche Schwenk im Verhalten des eben noch verhassten Gegners entwaffnet den Lemming vollends. Er muss dem anderen Recht geben: Seine Wut hat der Schwermut die Schwere genommen, sein vermeintlicher Feind hat ihm einen Freundesdienst erwiesen. Trotzdem zwingt ihn etwas, auf der Hut zu sein, vielleicht eine Trägheit des Geistes, der sich den neuen Umständen nicht so rasch anzupassen vermag, vielleicht aber auch eine unbestimmbare Ahnung.

«Wer sind Sie… Woher wissen Sie meinen Namen?»

«Ist das jetzt wichtig? Um mich geht’s doch gar nicht… Du bist der mit den Schwierigkeiten… Weißt, Wallisch, Reden hilft, glaub mir… Also sag schon – nein, lass mich raten… eine Frau, stimmt’s?»

«Möglich.»

«Eine Frau also… Es ist eh immer eine Frau… Erzähl schon – nein, wart kurz… Prost… Auf bessere Zeiten…»

Er streckt dem Lemming sein Glas entgegen, und der nimmt das seine, ganz automatisch, als hinge er an unsichtbaren, von der Willenskraft des anderen gelenkten Fäden, und stößt mit ihm an.

«Gut so… Kann schon verstehen, dass du jetzt ein bissel zurückhaltend bist… Tät mir nicht anders gehen an deiner Stelle… Aber am Ende führt das Misstrauen gar nirgends hin, nur in die Einsamkeit… Wir sind halt angewiesen aufeinander, wir Menschen – zum Glauben aneinander verdammt, meinst nicht?»

«Doch.»

«Na siehst du… Eine Frau also… Das kenn ich… Zuerst das ewige Suchen nach der fehlenden Hälfte, die uns passt wie ein Handschuh… Dann die große Erfüllung, das Ziel vor Augen – und dann… Warts ihr lange zusammen?»

«Ein Jahr.»

«Na servus… Lang genug, dass es wehtut… Und jetzt? Was war? Hat s’ gar einen anderen?»

«Ja.»

«Au… Scheiße. Ich werd sie nie verstehen, die Weiber… Seit wann weißt es denn?»

«Seit einer Stunde…»

Es ist schon wieder so weit. Wieder steigen die Tränen hoch und drängen aus den verschwollenen Augen. Aber diesmal sind es andere, heißere Tränen als vorhin, Kindertränen, die man in den Armen einer Mutter weint, süße Tränen der Geborgenheit und des Verstandenseins. Der Damm bricht, und mit ihm bricht jeder Widerstand. Schluchzend, von Krämpfen gebeutelt, beginnt der Lemming zu erzählen. Der Fremde hört zu, und während ein wissendes Lächeln seinen Mund umspielt, hebt er an dieser oder jener Stelle der Geschichte mitfühlend die Augenbrauen und nickt.

Es geht wohl eine halbe Stunde so: Der eine schüttet dem anderen sein Herz aus; der andere schüttet dem einen seinen Whisky ins Glas. Wie sie da sitzen, bieten die beiden ein Bild der vollkommenen Freundschaft. Dass sich Barmherzigkeit und Hingabe ausgerechnet an diesem Schauplatz, zu dieser Uhrzeit offenbaren, verleiht dem Bild etwas Poetisches. Es erinnert an einen sprießenden Grashalm auf dem Mittelstreifen der Autobahn, an einen Schmetterling auf dem Fenstersims der Gefängniszelle. Not und Hoffnung miteinander vermählt, so ist es gut. So soll es sein. So soll es aber nicht bleiben.

Unvermittelt hebt der Fremde die Hand und gebietet dem Lemming Einhalt.

«Ende der Sitzung», sagt er in aller Ruhe. Er steht auf, ergreift die inzwischen geleerte Flasche und schlägt sie in kurzen Abständen gegen die Tischkante, um sich ringsum Gehör zu verschaffen. Es wird wieder still im Raum. Der Vorhang hebt sich zum zweiten Akt. Der Fremde beginnt zu sprechen, und er tut es direkt über den Kopf des Lemming hinweg, als sei dieser Luft für ihn.

«Damen und Herren, liebe Freunde, entschuldigts bitte, aber ich muss etwas loswerden. Es wird euch nicht entgangen sein, dass mich vorhin das heulende Elend heimgesucht hat, ein beleidigtes Leberwürstel an meinem Tisch, das ich gar nicht bestellt hab, oder, Herr Franz?»

Der Kellner, der müde an einem Stuhl in der Ecke des Raums lehnt, zuckt die Achseln.

«Mir scheint», fährt der Hagere fort, «es sitzt noch immer da, das Würstel, aber ich kann’s nimmer anschauen, weil sonst muss ich mich anspeiben. Warum ich euch das erzähl? Als warnendes Beispiel quasi und weil so ein fauliger Schas für mich allein zu viel ist. Also, ganz kurz, damit ihr auch was davon habts: Seine Alte lasst sich grad ordentlich durchpudern, draußen in Ottakring, derweil er herumlauft und jammert und anderen Leuten den Whisky wegsauft. Sie pudert, er sudert. Was? Ihr fragts euch, wie der überhaupt zu einer Freundin kommt? Ganz einfach: Sie ist Tierärztin, und er ist ein Ochs. Ja, ehrlich, er ist ein Bulle gewesen, bevor man ihn kastriert hat. Na, wenigstens hat ihm die Frau Doktor seine Hörner wieder aufgesetzt… Momenterl! Nein, Wallisch, dableibst! Nicht weglaufen…»

Der Lemming hat sich von seinem Stuhl erhoben, ohne dabei deutlich an Größe zu gewinnen, und wankt dem Ausgang entgegen. Seine Hände fahren durch die rauchgeschwängerte Luft wie die eines Blinden, suchen Halt, finden ihn an einem Kleiderständer und reißen das Möbel zu Boden. Strauchelnd, halb auf den Knien, erreicht er die Tür. Das Publikum zeigt sich nun endlich amüsiert: Die unwidersprochene Behauptung, dass der Lemming früher Polizist gewesen sei, hat jeglichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Exekution ausgeräumt, und so geht die allgemeine Befangenheit nach und nach in befreites Gelächter über.

«So wart doch, Poldi! Ich bin noch nicht fertig!» Beflügelt von den ermunternden Zurufen der anderen Gäste, läuft der hagere Unbekannte seinem Opfer hinterher, als sei er gerade vom Henkersknecht zum Kaiserjäger befördert worden.

Die Menschen kennen viele Gründe, um sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen, und sie tun es oft und mit insektenhaftem Eifer, aber ihr häufigstes und zugleich abwegigstes Motiv für einen Ortswechsel heißt: Einfach nur fort. Wer dagegen in sich ruht, ruht hier genauso gut wie dort in sich, er schweift mit dem Geist statt mit dem Leib, besitzt nur selten ein Wochenendhäuschen und verbringt seinen Urlaub nie und nimmer auf Mallorca. Schamanistische Sublimation, spirituelle Ubiquität, das ist es, woran es dem Lemming in diesen bitteren Minuten mangelt. Und so trägt er einfach nur seinen Körper fort, fort vom Café Dreher, und schleppt ihn die Straße entlang wie ein Reptil seinen Rumpf auf weichem Asphalt.

«Jetzt wart doch! Komm zurück! Glaubst, ich erwisch dich nicht?»

Der Lemming beschleunigt seine Schritte. Ohne sich umzudrehen, überquert er die Fahrbahn, um hinter den Marktständen auf der anderen Seite Schutz zu suchen. Er taucht in die lange Zeile zwischen den Kiosken und eilt, so rasch ihn seine Beine tragen, stadtauswärts. Die Corrida hat vorbei zu sein, wenn das verwundete Rindvieh aus der Arena flieht. Was aber noch nicht heißt, dass es dem Gnadenstoß des Matadors entkommt…

«Glaubst, ich erwisch dich nicht, du Hosenscheißer, so wie du meinen Bruder erwischt hast?»

Der Ruf des Verfolgers erreicht seine Ohren nur durch einen dichten Schleier. Noch bevor die Worte Bedeutung annehmen, um auf den Grund seines Bewusstseins zu sinken, biegt der Lemming in den engen Durchgang zwischen zwei Buden und hält abrupt an.

Keine fünf Meter entfernt steht ein Mann, dessen hervorragendstes Merkmal die silberne Damenpistole ist, mit der er auf den Lemming zielt. Kaum weniger ungewöhnlich sind die Handschuhe, die er trägt, weiße Stoffhandschuhe, so wie die jungen Herren Tänzer, die alljährlich den Wiener Opernball eröffnen. Gleich ihnen scheint sich der Mann im Zustand höchster Erregung zu befinden. Sein kleiner Leib zittert, als könne er die Waffe kaum noch halten, und die Brille in seinem verschwitzten Gesicht würde sich zweifellos beschlagen, wäre es ein kühlerer Tag. Aber so geben die Gläser den Blick auf ein Paar unnatürlich vorgewölbte, fiebrig flackernde Augen frei.

«Ich weiß, was ich tu!», stammelt er und umklammert den Pistolengriff noch ein wenig fester. «Ich weiß genau, was ich tu! Ich bin ein Mann! Ein Mann!»

Zwei dünne Speichelschlieren rinnen aus den Mundwinkeln des Schmächtigen, um sich am Kinn zu einem schlenkernden Schleimsack zu vereinigen; ein Tropfen löst sich daraus und fällt zu Boden. Mag sein, dass das der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Im Kopf des Lemming schnappt ein Schalter um und lässt ihn aus der Lethargie erwachen. In seinem Rücken das schmierige Schandmaul, den sadistischen Quälgeist aus dem Dreher, vor sich einen aufgeregt geifernden Zwerg, der seinen Wichtelrevolver auf ihn richtet, als sei es die Erektion des Gottes Pan persönlich. Zu absurd ist die Situation, zu verwirrend die Ereignisse der letzten zwei Stunden. Sie würden, selbst über ein ganzes Jahr verteilt, dazu ausreichen, einen stabileren Geist als den seinen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber wahrscheinlich ist es genau dieser Überdruck, diese Gedrängtheit des Geschehens, was ihn nun schlagartig in die Gegenwart zurückruft. Er hat keine Zeit, um etwas zu begreifen oder gar zu überdenken; sein System ist heillos überlastet, also tut es das einzig Richtige: Es schaltet auf Stand-by-Betrieb. Das Notstromaggregat springt an, und siehe da, es funktioniert.

«Was tun Sie denn? Erklären Sie es mir…»

«Ich weiß schon, was ich tu! Es ist sein Befehl! Sein Gesetz! Ich muss ein Mann sein! Keiner macht mich kaputt! Keiner macht Gottes Schöpfung kaputt!»

«Aber was wollen Sie denn von mir?»

«Lassen Sie mich in Ruhe! Ich weiß, was ich tu! Nicht mehr krank sein! Nie wieder krank sein! Alles zerbricht sonst, Gott, das Gesetz und überhaupt alles!»

In diesem Moment tritt der Mann aus dem Dreher hinter den Lemming. Seine Stimme klingt leicht überrascht.

«Schau an… Die Oblatenstirn! Wann haben s’ denn dich rausg’lassen, du Arschgeige?

Die Augen des Schmächtigen treten jetzt so weit aus ihren Höhlen, dass sie an der Innenseite der Brillengläser zu kleben scheinen.

«Da hast du es!», keucht er. «Sieh mich an, du Schwein! Ich bin der Zorn! Ich bin die Strafe!»

Dann drückt er ab.

3

Der Lemming weiß nicht mehr, ob sein Kopf im Augenblick des Schusses zur Seite gezuckt ist. Er kann sich seiner eigenen Reflexe nicht entsinnen; sie sind rein instinktiv erfolgt und haben keine Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Umso genauer hat er alle äußeren Vorgänge wahrgenommen; die Zehntelsekunde des Mordes hat sich seinem Gedächtnis eingeprägt und zieht in Endlosschleifen daran vorbei.

Zunächst die drei Blitze; einer an der Mündung der Waffe, zwei in den Augen des Schützen. Natürlich sind es Spiegelungen der Brillengläser gewesen, aber sie haben gewirkt wie das erstaunte Aufflackern im Blick des Zauberlehrlings, dem erstmals ein magischer Trick gelingt. Dann der Knall, trocken und verhalten, als würde man eine schlechte Flasche Wein entkorken. Im selben Moment das Geschoss. Der Lemming bildet sich ein, er habe es im Flug gesehen: Klein, zylindrisch, glitzernd ist es auf ihn zugekommen, und hätte es sprechen können, es würde wohl etwas Ähnliches gesagt haben wie: Verzeihen Sie, mein Herr. Ich bin Ihnen gar nicht zugedacht, mein Herr. Gleichwohl sehe ich mich nicht in der Lage, meine Richtung jetzt noch zu ändern. Diese Verwechslung tut mir Leid, mein Herr, für mich selbst nicht weniger als für Sie, denn schließlich haben wir beide nur dieses eine Leben…

Ja, hätte es sprechen können. Stattdessen hat es sich seiner Wange genähert, ist, aus welchem Grund auch immer, daran vorbeigezogen und hat sein linkes Ohrläppchen nur um Millimeter verfehlt. Nicht mehr als ein flüchtiges Sirren ist zu hören gewesen, selbst den Lufthauch des Projektils hat der Lemming intensiver wahrgenommen. Gleich darauf hat er hinter sich einen kurzen, schmatzenden Ton vernommen, einen Klang wie aus der Küche, ein Geräusch, das ihn an rohe Hühnerleber oder Fischfilets erinnerte. Etwas ist ihm ins Genick gespritzt, etwas von der Wärme eines Sommerregens. Noch bevor seine Knie weggeknickt sind, ist dem Lemming schon klar gewesen, dass die Kugel ihr Ziel erreicht hat.

Hinter ihm liegt der Hagere auf dem Straßenpflaster. Eines seiner Augen steht offen, das andere ist keines mehr. Stattdessen klafft ein kleiner schwarzer Krater in seinem Gesicht, aus dem unaufhörlich die blutige Lava strömt, um ein paar Meter weiter im Kanal zu versickern. Es heißt oft, dass der Tod dem Menschen ein friedliches Aussehen verleiht, doch diese Leiche macht nicht den Eindruck seliger Entseeltheit. Sie wirkt wie das Aas und der Geier, verloren und hungrig zugleich.

Der Lemming kauert auf dem Boden und betrachtet die gestorbenen Überreste des Feindes. Er ertappt sich dabei, nicht das Maß an Genugtuung zu empfinden, das ihm eigentlich zustünde. Fast hat er ein schlechtes Gewissen für diesen Mangel an Schadenfreude: Hier tritt wieder einmal sein verkümmerter Egoismus zutage, der bisweilen an Selbstaufgabe grenzt. Mit einem resignierten Kopfschütteln wendet er sich von dem Toten ab und dessen Mörder zu.

Der Kleine steht noch immer da und hält den Arm von sich gestreckt. Erschrocken starrt er auf die Pistole in seiner Hand. Sein Mund steht halb offen, aber der Speichel hat zu rinnen aufgehört: Schrot und Schleim scheinen fürs Erste entleert.

«Und jetzt?», fragt der Lemming leise.

Der andere rührt sich nicht. Er kann es offenbar nicht fassen, dass sein Zeigefinger den Lauf den Welt verändert hat. Nur eine winzige Bewegung, ein unmessbar kurzer Moment, in dem der Wille eine Bresche in den moralgepolsterten Panzer der Phantasie schlägt, und schon ist nichts mehr, wie es vorher war. Vorstellung und Wirklichkeit stürzen plötzlich ineinander und vereinen sich zu einem neuen Kosmos, der sich vom alten dadurch unterscheidet, dass man ihn selbst erschaffen hat. Die Macht rauscht einem durch die Ohren, man fühlt sich geborgen, der Schöpfung verbunden – man hat sie ja mitgestaltet, ist endlich selbst zum Schöpfer geworden – und sei es als Zerstörer. Es ist leicht, zu töten. Aber es ist schwierig, ein Mörder zu sein, sobald der Rausch verfliegt und man begreift, dass die Unschuld für immer verloren ist. Die Herrschaft über die Welt ist ein Nebenjob im Vergleich mit der Herrschaft über das eigene Gewissen. Die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen, die Seele ist für alle Zeiten defloriert: Das ist es, woran die meisten Verbrecher zerbrechen. Einige wenige aber werden süchtig, erhöhen die Dosis und setzen den nächsten Schuss. Der Kater eines Killers ist ein Karnivore…

Der Lemming weiß, dass sein Leben in diesen Sekunden den seidenen Faden nicht wert ist, an dem es hängt. Er robbt zur Seite, ertastet eine Bretterwand und zieht sich daran hoch. Mit der Vorsicht eines Seiltänzers nähert er sich dem Todesschützen.

«Gib her… ganz ruhig, ich tu dir nichts… Komm schon, gib mir die Waffe…»

In den Ecken und Winkeln der Marktstände werden jetzt Stimmen laut und hallen durch die dämmrigen Zeilen, Stimmen von Händlern und Arbeitern, denen der Knall nicht entgangen ist.

«Ubica! Ubica! Uhapsiti lopova!»

«Bleib da, Fredl! Gib Acht!»

«Atje… Jo! Ndal!»

«So holts doch wer die Polizei!»

Der Kleine legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Langsam lässt er die Waffe in die Hand des Lemming gleiten.

«Aber ich weiß doch, was ich tu…», flüstert er. «Ich weiß es doch…»

Dann läuft er los.

«Katil! Katil!»

«Mein Gott… schau, da steht er!»

Bevor er sich noch in Bewegung setzen kann, um den Mörder zu verfolgen, treten dem Lemming drei graue Gestalten in den Weg. Schmal, unrasiert, mit verloschenen Zigaretten in den Mundwinkeln.

«Schnell… die Rettung!»

«Verdammt! Revolver!»

So plötzlich, wie sie erschienen sind, verschwinden sie wieder hinter den Buden.

Jetzt ist es am Lemming, die Flucht zu ergreifen. Er hetzt auf die Straße, wirft die Arme hoch, quietschende Bremsen im Ohr, zwei Lichtkegel in den Augen, ein silbriges Glitzern in der Hand, einen Schrei auf den Lippen, erkaltetes, klebriges Hirn im Genick.

Es ist viertel sieben. Die junge Frau am Steuer des Wagens, ihres Zeichens Verkäuferin in einem kleinen Naturkostladen jenseits der Donau, wird an diesem Mittwoch nicht zur Arbeit erscheinen. Sie wird das Auto wenden, mit zitternden Knien nach Hause fahren, die Tür verriegeln und sich in ihr Biosonne-Bambusbett legen. Aber Joghurt und Yoga, Fengshui und Fliederkissen werden sie nicht von dem Albtraum befreien können, der da so jählings an ihrer Kühlerhaube vorbeigehuscht ist. Sie hat Ravana gesehen, den Dämonenfürsten und Todfeind des Vishnu; sie hat an jenem Morgen dem Inbild des Bösen ins Auge geblickt, aus und basta, und kein Therapeut dieser Welt wird je etwas daran ändern können.

4

Langsam und schwerfällig entfaltet sich der Tag. Die feuchte, drückende Luft, die gleichförmig düsteren Wolken lassen nicht daran zweifeln, dass ein Unwetter naht. Viele der Menschen, die, eben der U-Bahn entstiegen, durch die Passage unter dem Karlsplatz hasten, halten Regenschirme unter die Arme geklemmt, und kaum einer ist darunter, der seinen Schritt vor dem breiten Ausgang zum Resselpark nicht verlangsamt, um prüfend den Blick nach oben, zum Himmel zu richten, ehe er ins Freie tritt.

«Hast a paar Schilling zum Telefonieren?»

Der Lemming zuckt zur Seite, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt. Er starrt in die großen Augen einer jungen Frau, die ihm in demutsvoll gebeugter Haltung ihre Hand entgegenstreckt. Schön, fährt es ihm durch den Kopf, ja, schön, diese Augen, wenn nur das Gesicht rundum nicht wäre, dieses ausgezehrte, knochige Gesicht mit dem schiefen Mund, beinahe zahnlos, aus dem die noch schiefere Wahrheit, die offensichtliche Lüge strömt. Ein paar Schillinge also. Zum Telefonieren…

«He du, was is jetzt? Soll i dir einen blasen, drüben am Häusl?»

Schon fühlt sich der Lemming von den Blicken der Passanten gestreift. Fühlt sich gemustert, beobachtet, verfolgt. Man bleibt nicht einfach stehen, nicht in dieser Unterführung, sofern man nicht selbst zu den Sandlern und Junkies gehört, die hier ihr tägliches Gift und etwas Wärme suchen. Wer hier stehen bleibt, wenn er angebettelt wird, der schlägt sich auf die Seite der Ausgestoßenen, der entpuppt sich als Dissident, als Verräter an der Gesellschaft, und sei es auch nur, weil ihn sein gutes, anarchisches Herz dazu zwingt. Er zieht die Brieftasche aus der Hose, bekommt einen Schein zu fassen, egal, jetzt nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gerade hier sind Polizeistreifen an der Tagesordnung…

«He, super, du, dank dir.»

Sie schickt sich an, davonzuschlurfen, als ihr Blick auf den Rücken des Lemming fällt.

«Du, Alter, du hast da was, da hinten… Hat dir wer ins G’nack g’spieben?»

Der Lemming läuft los. Er achtet nicht auf den Himmel, an dem die ersten Blitze zucken. Er eilt quer durch den Resselpark, an Bäumen und Büschen vorbei, bis er sich vor der Karlskirche wiederfindet, deren mächtige Kuppel über ihm aufragt wie eine Doppelliterflasche Grünen Veltliners. Es ist aber weder die Form der Kuppel noch seine Frömmigkeit, was ihn die Stufen hinauf zum Haupteingang treibt, es ist vielmehr ein schlichter, naiver Gedanke: Kirche bedeutet Stille und Abgeschiedenheit. Kirche bedeutet Schutz…

Einem Schutzpatron ist sie auch gewidmet, die Karlskirche, dem Mailänder Erzbischof und späteren Pestheiligen Karl Borromäus nämlich, der im sechzehnten Jahrhundert zahlreiche Menschen vor dem schwarzen Tod gerettet haben soll. Nach der Wiener Pestepidemie im Jahr 1713 ließ Kaiser KarlVI. das Monument zu Ehren seines heiligen Namensvetters errichten – und als Symbol für den imperialen Machtanspruch der Habsburger: Nicht nur Elemente der griechischen Antike und der italienischen Renaissance zieren das Bauwerk; sein Architekt, Johann Bernhard Fischer von Erlach, schreckte selbst davor nicht zurück, den barocken Tempel mit chinesischen Pagodendächern und islamischen Minaretten zu versehen.

Der Lemming hat kein Auge für derlei architektonische Feinheiten. Er eilt die Freitreppe hinauf, um die Pforte zwischen den beiden gewaltigen römisch-muslimischen Siegessäulen fest versperrt zu finden. Er läuft weiter, umkreist suchend die Kirche und stößt endlich auf eine unverriegelte Seitentür, durch die er ins Innere schlüpft. Während draußen die ersten Tropfen fallen, schlägt ihm hier die klassische Atmosphäre katholischer Gotteshäuser entgegen, jenes düstere, beklemmend klamme Klima, das all die Schrecken, all die Angst und all das geziemende Schuldbewusstsein der Christenheit über die Jahrhunderte aufzusaugen und zu konservieren scheint. Die überquellende Fülle barocker Schnörkel, wuchernder Kapitelle und Kartuschen, verschlungener Rocailles und Rosetten, Guarinesken und Bandelwerke widerlegt diesen Eindruck nicht; sie verstärkt den Kontrast zwischen himmlischem Prunk und irdischem Elend noch. Die goldenen Putten, die prall und feist auf den Lemming herabblicken wie verschrumpelte Michelin-Männchen: Sie haben in Wahrheit ein Herz aus Gips.

Der Lemming schleicht durch den menschenleeren Raum, lässt sich auf eine der Holzbänke sinken und schließt die Augen. Stille, endlich Stille. Abgeschiedenheit. Schutz… Braucht er Schutz? Er weiß es nicht. Noch ist es ihm unmöglich, die Tragweite der Ereignisse zu begreifen. Ein klarer Gedanke, das ist es zunächst, was er braucht…

In seine Wohnung kann er nicht mehr, so viel steht fest. Klara um Hilfe zu bitten kommt ebenso wenig infrage. Nein, Klara wäre die Letzte… Zurück an den Tatort? Sich den ermittelnden Beamten als Zeuge zur Verfügung stellen? Die ganze Sache aufklären? Was gibt es denn aufzuklären? Er versucht, sich der vergangenen Stunden in allen Einzelheiten zu erinnern, er versucht auch, sich auszumalen, was wohl inzwischen geschehen ist, drüben am Naschmarkt. Er sieht den regennassen Asphalt, auf dem sich die blinkenden Lichter der Einsatzwagen spiegeln, er sieht die Absperrungen, bewacht von mürrischen Streifenpolizisten, die bei diesem Wetter vor die Türen ihrer Wachzimmer gejagt worden sind wie räudige Hunde. Er sieht die beiden Männer mittleren Alters, wie sie in ihren billigen Anzügen die Straße überqueren und das Café Dreher betreten. Es fällt ihm nicht schwer, das alles zu sehen: Er hat früher selbst so einen billigen Anzug getragen…

«Er wusste, wie ich heiße… Woher wusste er…» Vom Klang der eigenen Stimme erschreckt, zuckt der Lemming zusammen. Seine Hand fährt instinktiv zum Hosenbund, in dem die kleine, silberne Mordwaffe steckt.

«Ich kann nicht zurück… Unmöglich… Keiner wird mir glauben…»

Die beiden Herren von der Mordkommission haben wahrscheinlich schon begonnen, die Gäste des Dreher zu verhören. Einer stellt die Fragen und schreibt Namen und Fakten in sein abgewetztes Notizbuch, der andere lauscht aufmerksam und zieht schließlich ein Handy aus der Tasche. «Wallisch», raunt er in den Hörer. «Ja, genau. Poldi oder Leopold, angeblich Exkollege… Nein, Abteilung weiß i net… Was habts ihr über den?»

Der Lemming stöhnt auf und verbirgt das Gesicht in den Händen. Seine Daumen beginnen, die schmerzenden Schläfen zu massieren, so wie seine Großmutter es manchmal getan hat, damals, als er noch ein Kind gewesen ist. Langsam streicht er sich durch die Haare nach hinten, bis seine Finger das Klebrige, Feuchte berühren, das Souvenir des Todes in seinem Nacken.

«Gottverfluchter Scheißdreck!» Der Lemming springt auf und steuert quer durch den Hauptraum auf eine der Seitenkapellen zu. Er sieht sich um, vergewissert sich, noch immer alleine zu sein, steigt dann über die kniehohe Balustrade und hält vor dem Beichtstuhl an. Schwer und drohend steht der dreigeteilte Schrank vor ihm, das dunkle Holz zerfurcht von Ornamentschnitzereien, links und rechts mit zwei halblangen Vorhängen versehen, dazwischen mit einer durchbrochenen Tür, die den Priester vor neugierigen Blicken schützt. Es ist ein barocker Seelentransformator, eine kathartische Zauberbox, die Sünder aufnimmt und Geläuterte ausspeit, also auch eine Art Umkleidekabine…