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Wenn die Zeiten stürmisch sind, darfst du deinen inneren Kompass nicht verlieren! 1962: Raus in die große Welt, das ist Claras Ziel. Nachdem die junge Fotografin während der Unruhen in Schwabing mit der Polizei aneinandergeraten ist, kehrt sie München den Rücken und macht sich gemeinsam mit ihrer Freundin Sanni auf nach Hamburg. Dort gelingt ihr der Sprung in die Redaktion einer angesehenen Zeitung. Aber nicht jedem ist recht, dass eine Frau hier Karriere macht, und nach einem Artikel über den Umgang mit der Nazivergangenheit kommt es zum Eklat. Immer an ihrer Seite stehen ihr Sanni, die als Mannequin die Laufstege der Welt erobert, und Maria, die ihren Verlobten in Neapel zurückgelassen hat, und sich den Traum von einem eigenen Café erfüllt. Die Freundinnen lassen sich nicht unterkriegen und suchen neue Wege, um für Gerechtigkeit und ihren Traum vom Glück zu kämpfen. Von Ostpreußen über München nach Hamburg: Theresia Graws große Saga um die Familie Twardy geht weiter
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Der Freiheit entgegen
THERESIA GRAW wurde 1964 in Oberhausen geboren. Neben ihrer Arbeit als Journalistin beim Bayerischen Rundfunk begeistert sie die Leserinnen mit ihren Romanen. In ihrer Saga über die Twardys hat sie die Geschichte ihrer eigenen Familie zu einer fiktiven Handlung verwoben.
Von Theresia Graw sind in unserem Hause bereits erschienen:So weit die Störche ziehenDie Heimkehr der Störche
Theresia Graw
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback 1. Auflage Juni 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © akg-images / Mondadori Portfolio (Frau/Straße) ; © www.buerosued.de Autorinnenfoto: © PrivatE-Book Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2912-3
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
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Inhalt
1.
Durch die großen quadratischen Fenster fiel helles Vormittagslicht in den Hörsaal der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie an der Clemensstaße in München-Schwabing, wo die zwanzig eng gestellten Stuhlreihen bis auf den letzten Platz besetzt waren. In der fünften Reihe saß Clara von Thorau in ihrem neuen smaragdgrünen Samtkleid mit der breiten schwarzen Schleife um die Taille, die karamellblonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und lauschte mit klopfendem Herzen den Worten des Professors, der vorne an seinem Pult stand und die angehenden Fotografen und Fotografinnen begrüßte.
»Im Namen der Institutsleitung heiße ich Sie herzlich willkommen im Sommersemester 1962 und wünsche Ihnen einen guten Start in die Ausbildung!«
Es war Claras erster Tag an der Akademie, und sie war überglücklich, dass sie es geschafft hatte, den Eignungstest zu bestehen und dazuzugehören. Neugierig sah sie sich um und stellte fest, dass sie eine der wenigen jungen Frauen im Raum war. Ganze zehn Studentinnen zählte sie unter den rund zweihundert Zuhörern.
»Neben der technischen Grundausbildung werden Sie sich mit theoretischen Aspekten sowie der Geschichte der Fotografie auseinandersetzen, bevor Sie sich mit Gestaltungstechniken, Komposition und Inszenierung beschäftigen werden …«
Während Professor Roth detailreich die Abläufe der Ausbildung schilderte, kribbelte es Clara vor Aufregung in den Fingern. Sie wollte nichts von der Geschichte der Fotografie hören oder sonstigen theoretischen Kram. Sie wollte fotografieren! Sie wollte ihre Kamera in die Hand nehmen und Bilder machen. Und zwar jetzt gleich. So lange hatte sie auf diesen Tag gewartet, seit sie im Sommer die Schule beendet hatte. Weil sie im Herbst noch keine achtzehn Jahre alt gewesen war, hatte sie nicht gleich zum Wintersemester anfangen können. So hatte sie die vergangenen Monate damit zugebracht, ihren Vater, den Fotografen Curt von Thorau, bei der Arbeit zu begleiten oder ihrer Mutter Dora in der Tierarztpraxis auszuhelfen. Sie hatte einen Schreibmaschinenkurs belegt und auch etwas Stenografie gelernt, um die Zeit sinnvoll zu verbringen, wie ihre Eltern gemeint hatten. Jetzt aber war es endlich so weit, und sie konnte ihre Ausbildung zur Fotografin beginnen, der sie so lange entgegengefiebert hatte.
»Ich verstehe ja, dass Sie ungeduldig sind und am liebsten sofort loslegen würden.« Professor Roth schien ihre Gedanken lesen zu können. »Sie alle fotografieren leidenschaftlich gern. Ständig sind Sie auf der Suche nach dem nächsten Klick, nach dem noch stärkeren Motiv, drücken auf den Auslöser, um ein noch besseres Bild einzufangen. Und Sie sind gut darin. Sonst wären Sie nicht hier. Aber Herzblut und Leidenschaft allein reichen nicht aus, meine Damen und Herren, um das perfekte Foto zu machen. Ohne Fachkenntnis, etwa über Belichtungszeiten, Bildentwicklung oder die Wartung von technischen Geräten wird aus Ihnen niemals ein echter Profi.«
Clara nickte mit glühenden Wangen. Im Alter von zwölf Jahren hatte sie den Spaß am Fotografieren entdeckt und immer öfter mit einer alten Kamera ihres Vaters herumgeknipst. Wie fasziniert sie gewesen war, als sie in der Dunkelkammer zum ersten Mal die entwickelten Bilder vor sich gesehen hatte. Damit hatte sie einen Augenblick ihres Lebens eingefangen, etwas Vergangenes für immer festgehalten, das war wie ein kleines Wunder. Mit der Zeit waren ihre Bilder besser geworden, und jetzt wollte sie das Fotografieren von Grund auf lernen und einen Beruf daraus machen. Sie würde in die Fußstapfen ihres Vaters treten, dessen Bilder regelmäßig die wichtigsten Magazine Deutschlands schmückten. Clara war dankbar, dass ihre Eltern sie bei ihrer Entscheidung unterstützten. Dabei wusste sie nur zu gut, dass es keine Selbstverständlichkeit war, als Frau eine Ausbildung zu machen und einem Beruf nachzugehen. In ihrer Klasse hatte sie mit ihren Zukunftsplänen beinahe als Exotin gegolten. Die meisten ihrer Mitschülerinnen sahen ihr Lebensziel darin, treusorgende Ehefrauen und Mütter zu werden, und mit ihrer Berufstätigkeit wollten sie lediglich die Zeit bis dahin überbrücken. Clara hatte zwar nichts dagegen, auch irgendwann einmal eine eigene Familie zu haben, aber im Moment war das nicht das Wichtigste.
Professor Roth sprach noch immer. Trotz der gekippten Fenster war es warm und stickig im Saal. Clara war nicht die Einzige, die ungeduldig mit den Füßen scharrte. Sie betrachtete den Fotoapparat, der an einem Gurt um ihren Hals hing, und drehte gedankenverloren am Objektiv. Noch fotografierte sie mit einer alten Kamera ihres Vaters, die er ihr vor einiger Zeit überlassen hatte. Damit machte sie gute Bilder, aber jetzt, als angehende Fotografin, hätte sie gerne einen eigenen Apparat gehabt. Clara lächelte in Gedanken an das, was sie später zu Hause erwartete. Mit vielsagendem Blick hatte ihr Vater heute Morgen ein Geschenk auf die Anrichte im Wohnzimmer gelegt.
»Das bekommst du heute Nachmittag, wenn du deinen ersten Tag an der Photoakademie hinter dir hast«, hatte er augenzwinkernd gesagt. Sie war sich sicher, dass es der Fotoapparat war, den sie sich schon so lange wünschte, und sie brannte darauf, ihn endlich in Händen zu halten.
Als der Vortrag des Professors zu Ende war, schob Clara beschwingt Stift und Notizblock zurück in ihre Tasche und stand auf, um sich auf den Weg zu ihrem ersten praktischen Kurs zu machen. Bald war der Hörsaal erfüllt vom aufgeregten Getuschel und Gemurmel der vielen Menschen, die nun auf den Ausgang zu drängten. Zwei junge Männer, die direkt vor Clara hergingen, unterhielten sich besonders laut.
»Hast du gesehen? Da sind ja ein paar hübsche Mädchen in unserem Semester«, sagte der eine von ihnen, ein schlaksiger Rotschopf. »Das könnte ganz lustig werden …«
Der andere, ein kleiner stämmiger Typ mit kurz geschorenen blonden Haaren, zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht hier, um Mädchen kennenzulernen. Da quatsche ich besser eine im Tanzschuppen an. Ich frage mich ehrlich, was die hier machen. Denkst du wirklich, Frauen haben das Zeug zu einer richtigen Fotografin? Frauen und Technik – ich weiß nicht, so was langweilt die doch bloß.«
»Vielleicht sind sie auch hier, um ihren zukünftigen Ehemann kennenzulernen.« Der Rotschopf lachte. »Die Auswahl ist jedenfalls groß. Und ein Fotograf als Ehemann, das klingt doch ganz schick!«
Clara hatte der Unterhaltung der beiden notgedrungen zugehört, während sie hinter ihnen durch den Flur ging. »Moment mal«, sagte sie laut. »In welchem Jahrhundert lebt ihr eigentlich? Denkt ihr etwa allen Ernstes, dass Frauen keinen anspruchsvollen Beruf erlernen sollten?«
Die beiden drehten sich zu ihr um. Der Rotschopf grinste sie an, ein wenig verlegen, der andere betrachtete Clara herablassend.
»Jedenfalls keinen, für den Männer besser geeignet sind. Verkäuferin oder Stenotypistin, das lasse ich ja noch gelten. Aber um irgendwann mal niedliche Bilder fürs Familienalbum zu knipsen, braucht ihr hier nicht so eine aufwendige Ausbildung zu machen.«
Clara schnappte empört nach Atem, doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu antworten, denn sie hatten den Seminarraum erreicht, und die Türen schlossen sich hinter ihnen. »Und jetzt wird es Zeit für Ihre erste praktische Aufgabe, liebe Studentinnen und Studenten. Das Thema unserer Übung heißt ›Menschen in der Stadt‹ …«
Augenblicklich waren Clara die beiden jungen Männer egal.
Müde, aber glücklich kam Clara am späten Nachmittag nach Hause. Noch schwirrte ihr der Kopf von den vielen neuen Eindrücken an der Photoakademie, doch sie freute sich schon auf den nächsten Tag.
»Wie ist es dir ergangen?«, erkundigte sich Claras Vater, als er ihr die Tür öffnete.
Clara fiel ihm begeistert um den Hals. »Es war ganz großartig, Papa. Wir haben schon unsere ersten Bilder gemacht, bei einem Streifzug durch Schwabing. Und im Praxiskurs hat mich der Professor zweimal für meine Antworten gelobt.«
»Ich habe nichts anderes erwartet, mein Mädchen.« Curt von Thorau strich seiner Tochter sichtlich stolz über den Kopf.
Im Wohnzimmer war der große Tisch mit Kuchen und Kaffeegeschirr für fünf Personen gedeckt. In der Mitte lag das Geschenk. Es hatte etwa das Format eines Schuhkartons, war in buntes Blümchenpapier gewickelt und mit einer dicken roten Schleife versehen. Clara konnte ihren Blick kaum davon lösen. Der ganze Raum duftete nach frisch Gebackenem, und in einer Vase auf der Fensterbank stand ein Blumenstrauß, die ersten Tulpen des Jahres aus dem Garten, beschienen von milder Frühlingssonne.
»Was ist denn hier los? Ich habe doch gar nicht Geburtstag heute!«, rief Clara vergnügt.
»Aber wir haben etwas zu feiern!«
Clara fuhr herum, als sie hinter sich die vertraute Stimme ihrer besten Freundin hörte. Sie und Claras Mutter kamen gerade aus der Küche, die dampfende Kaffeekanne und einen Marmorkuchen in den Händen.
»Sanni!«, rief Clara verblüfft. »Was tust du denn hier?«
»Überraschung!« Sanni stellte die Platte auf dem Tisch ab und klatschte begeistert in die Hände. »Du hattest deinen ersten Tag an der Photoakademie, und bei mir lief es klasse heute beim Vorsprechen an der Schauspielschule. Das musste ich dir unbedingt sofort erzählen. Und weil du noch nicht zu Hause warst, habe ich deiner Mutter ein bisschen geholfen. Stell dir vor, ich bin tatsächlich eine Runde weiter. Für morgen haben sie mich noch einmal eingeladen, und dann heißt es hopp oder topp!«
»Oh, das sind großartige Nachrichten.« Die beiden Freundinnen umarmten einander. »Dann hat es sich ja gelohnt, dass ich dir heute die Daumen gedrückt habe. Herzlichen Glückwunsch! Und morgen drücke ich noch einmal ganz fest für die finale Entscheidung. Sie wären schön dumm, wenn sie dich nicht nehmen würden, so hübsch wie du bist.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, rief Sanni fröhlich.
Lächelnd betrachtete Clara ihre Freundin, die nun das Messer vom Tisch nahm und resolut den Kuchen aufschnitt. Bei jeder Bewegung tanzte der weite Glockenrock ihres rot-weiß-getupften Kleides um ihre langen Beine. Sanni war überaus attraktiv mit ihrer schlanken Figur, den großen hellen Augen und den kinnkurzen blonden Haaren, die sie nach der neuesten Mode zu einer schicken Außenwelle geföhnt hatte. Die beiden hatten sich vor ein paar Jahren an der Schule kennengelernt, als Sanni zum zweiten Mal eine Klasse wiederholen musste und Claras Banknachbarin wurde. Rasch hatte sie festgestellt, dass diese Susanne Achinger keineswegs so begriffsstutzig oder faul war, wie es ihr die Lehrer vorwarfen. Vielmehr war sie eine liebenswerte und lebensfrohe junge Frau, der es nicht an Klugheit mangelte, allerdings fand sie die meisten Dinge im Leben erheblich interessanter als den Stoff, den sie für die Schule lernen sollte. Anstatt ihre Freizeit mit dem Pauken von mathematischen Formeln oder französischer Grammatik zu verbringen, ging sie viel lieber tanzen. Mit Ach und Krach hatte sie schließlich den Schulabschluss geschafft. »Hauptsache, ich bin durch«, hatte Sanni damals grinsend gesagt. »Hey, ich will Schauspielerin werden. Wenn ich erst im Kino zu sehen bin, fragt keiner mehr danach, wieso ich in Mathe eine Vier minus hatte …«
Clara kannte kein Mädchen, das so selbstbewusst war wie sie. Schon solange die beiden einander kannten, stand Sannis Berufswunsch fest. Sie strebte auf die Leinwand, wollte Filme drehen, fürs Fernsehen oder – lieber noch – fürs Kino, am liebsten in Hollywood, wie ihr großes amerikanisches Vorbild Marilyn Monroe.
Clara hatte sich gefreut, als Sanni sie vor ein paar Wochen bat, die Bewerbungsfotos für die Schauspielschule zu machen. Sie waren einen Samstagnachmittag lang durch den Englischen Garten spaziert, und Clara hatte eine komplette Filmrolle mit der posierenden Sanni verknipst. Die meisten Bilder waren gut geworden, und jetzt war Clara ein bisschen stolz auf sich. Mit ihren Fotos hatte sie einen kleinen Anteil an Sannis Erfolg.
»Ich kann es noch gar nicht richtig glauben.« Dora von Thorau betrachtete die Mädchen kopfschüttelnd. »Jetzt seid ihr richtige junge Damen geworden!«
Clara gab ihrer Mutter einen Kuss.
»Du und Papa, ihr werdet euch daran gewöhnen müssen.«
»Ach, wo ist die Zeit nur hin?« Doras Stimme klang belegt vor Rührung, während sie begann, den Kaffee einzugießen. »Ich habe das Gefühl, als wäre gerade erst dein erster Schultag gewesen.«
Verstohlen betrachtete Clara das vertraute Gesicht ihrer Mutter. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass sich um ihre Augen ein paar winzige Fältchen bildeten, wenn sie lachte, und ihre dunklen Locken glänzten hier und da schon silbrig. Im nächsten Jahr würde sie vierzig werden. Für welches Sorgenfältchen und welches graue Haar war sie verantwortlich, weil sie ihrer Mutter Kummer bereitet hatte?
In einem Gefühl von tiefer Verbundenheit schlang Clara ihre Arme um Dora. »Danke, Mama, danke von Herzen für alles!« Und in diesem einen Wort, Mama, lag alle Liebe, die sie für Dora empfand. Denn Dora war nicht ihre leibliche Mutter. Sie hatte Clara angenommen, nachdem ihre leibliche Mutter während der Luftangriffe in Königsberg gestorben war. Damals, im Krieg, war Clara ein kleines Baby gewesen, und sie hatte keine Erinnerung an diese Frau. Seit sie denken konnte, hatte es Dora in ihrem Leben gegeben, und sie konnte sich keine bessere Mutter vorstellen. Erst sehr viel später hatte sie ihren Vater kennengelernt, Curt, der in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegsjahre lange verschollen gewesen war, eine Zeit lang sogar im Stasi-Gefängnis gesessen hatte. Er und Dora hatten viele Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, bevor sie endlich zueinanderfanden und heirateten. Aber jetzt, das spürte Clara jeden Tag, konnte die beiden nichts mehr auseinanderbringen. Sie wünschte sich, irgendwann auch einmal eine solche große Liebe zu erleben. Bis auf ein paar kleine Flirts in der Tanzschule hatte sie mit jungen Männern noch nicht viel Erfahrung. Aber das Leben fing ja auch erst heute so richtig an.
Clara sah sich an der Kaffeetafel um.
»Für wen ist eigentlich das fünfte Gedeck?«
Sie hatte die Frage kaum ausgesprochen, als es an der Haustür klingelte.
»Nanu?« Stirnrunzelnd machte sie auf.
»Deine Eltern meinten, hier gibt es heute eine kleine Überraschungsparty für dich.« Mit einem verlegenen Lächeln stand Leo vor ihr.
»Ach, wie nett, komm rein!«, begrüßte sie ihren Freund aus Kindertagen fröhlich. »Und ich dachte, du bist mit deinen Abschlussprüfungen an der Uni so beschäftigt, dass du für nichts anderes mehr Zeit hast.«
»Das stimmt«, sagte er. »Aber für dich mache ich gern eine Ausnahme. Ich muss doch wissen, wie dein erster Tag an der Photoakademie war.«
Leo Bertram wohnte im Nachbarhaus, und sie waren miteinander aufgewachsen. Sie hatten sich kennengelernt, kurz nachdem Clara mit ihren Eltern in die hübsche Villa in dem Münchner Vorort Grünwald gezogen war. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen, und in jenem Sommer 1954 hatten sie und die anderen Kinder der Nachbarschaft fast jeden Tag miteinander Fußball gespielt und mit den späteren Weltmeistern mitgefiebert. Meist waren Leo und seine jüngeren Brüder dabei gewesen. Aber mit Leo hatte sie sich immer am besten verstanden, obwohl er sechs Jahre älter war als sie. Manchmal hatte Leo ihr bei den Hausaufgaben geholfen oder abends auf Clara aufgepasst, wenn ihre Eltern an den Wochenenden ins Kino oder ins Theater gingen und sie noch zu klein gewesen war, um allein zu bleiben. Zusammen hatten sie Märchenschallplatten gehört und später Filme im Fernsehen angeschaut, die zu sehen ihr die Eltern vermutlich nicht erlaubt hätten. Aber an Leos Seite war sogar ein aufregender Krimi zu ertragen gewesen, weil sie an den spannendsten Stellen das Gesicht an seiner Schulter vergraben konnte. Mit seinen nun vierundzwanzig Jahren war er längst ein erwachsener Mann, und sie sahen einander nicht mehr so oft wie früher. Aber befreundet waren sie noch immer.
»Ich habe dir was mitgebracht«, sagte Leo und zog eine kleine hübsch verpackte Schachtel aus der Jackentasche. »Alles Gute zum Start in dein neues Leben!«
»Ein Geschenk? Das ist aber nett von dir. Vielen Dank! Das mache ich sofort auf.«
Clara nahm das Päckchen in die Hand. Es war etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel, aber quadratisch. Rasch zog sie das Papier herunter. Sie hielt eine kleine Holzschatulle in der Hand, deren Deckel mit einem Stern in Intarsienarbeit verziert war. Neugierig klappte sie die Schachtel auf. Ein Kompass aus Messing war in das Holz eingelegt.
Clara sah auf. »Der ist ja hübsch! Danke schön, Leo. Ich freue mich.«
»Damit du im Leben nicht die Orientierung verlierst«, erklärte er augenzwinkernd. »Jetzt, wo du auf eigenen Beinen stehst.«
Noch einmal betrachtete Clara den Kompass in ihrer Hand, das sternförmige Muster, die Buchstaben, die die vier Himmelsrichtungen darstellten, und den leicht zitternden Zeiger. Sie drehte den Kompass, bis dessen Spitze genau auf das N wies. »Jetzt kann ich nicht mehr verloren gehen«, rief sie übermütig. »Was für ein Glück – und dabei habe ich keineswegs vor, eine Dschungelsafari zu unternehmen.«
»Wer weiß, wohin dich das Leben verschlägt.«
Dankbar umarmte Clara Leo, was ihn sichtlich verlegen machte. Mit leicht erröteten Wangen wischte er sich eine seiner braunen Haarlocken aus der Stirn und schob sich die verrutschte Nickelbrille zurecht, als sich Clara wieder von ihm abwandte. Sie klappte den Kompass zu und legte ihn zur Seite.
»Aber jetzt will ich wissen, was Mama und Papa für mich haben«, rief sie und rieb sich erwartungsvoll die Hände.
»Ich schätze, dafür wirst du viel Verwendung haben«, kommentierte Curt lächelnd, während Clara das Paket vom Tisch nahm.
»Ist es das, was ich denke?«, jauchzte sie.
»Mach es einfach auf!«
Clara löste die Schleife, zerriss das Papier und hielt einen Karton in den Händen. Als sie sah, was darauf stand, stieß sie einen begeisterten Schrei aus.
»Eine Fotokamera! Tatsächlich! Und es ist eine echte Kodak Retina. So ein toller Apparat. Danke! Vielen Dank! Endlich habe ich eine eigene Kamera. Ihr seid die Besten!«
Clara gab erst ihrem Vater, dann ihrer Mutter einen Kuss, dann drückte sie den Karton an sich und tanzte lachend eine Runde durchs Wohnzimmer.
»Pass auf!«, rief Dora. »Sonst geht noch was kaputt, wenn du damit so herumhüpfst.«
Schließlich blieb Clara stehen. Sie öffnete den Karton und nahm vorsichtig die Kamera heraus.
»Ich habe schon einen Film eingelegt«, erklärte Curt. »Du kannst gleich loslegen mit dem Fotografieren.«
»Na dann los«, rief Clara. »Lasst uns schnell Kaffee trinken und Kuchen essen und dann geht’s raus zur Fotosafari.«
»Leider ohne mich«, sagte Leo und hob entschuldigend die Hände. »Ich muss heute noch dringend was für meine Prüfungen tun.«
Clara verzog enttäuscht das Gesicht. »Hat das nicht Zeit bis morgen? Ich starte doch nur einmal in mein neues Leben. Wer weiß, wann wir wieder Grund zum Feiern haben?«
Aber Leo zuckte mit den Schultern. »Es tut mir ja auch leid, Clara. Aber ich habe ziemlich viel Stoff zu pauken und nicht mehr viel Zeit. Ich will mein juristisches Staatsexamen auf keinen Fall verbummeln. Wenn du erst so weit bist mit deinen Prüfungen, wirst du verstehen, was ich meine.«
»Na gut …« Clara nahm die Kamera vors Gesicht und richtete sie auf Leo. »Aber vorher noch einmal lächeln!«, rief sie, während sie seine Augen fokussierte. Als er sie ansah, drückte sie auf den Auslöser und fing seinen betretenen Gesichtsausdruck ein.
Am folgenden Nachmittag war Clara nach der Photoakademie mit Sanni am Eiscafé Europa an der Leopoldstraße verabredet, der Schwabinger Flaniermeile, an der sich Cafés, Lokale und Modeboutiquen aneinanderreihten. Die Sonne schien, und die Leute strömten aus den Läden, Büros und Werkstätten, um das warme Frühlingswetter zu genießen. Die Männer, die draußen in den Bistros saßen, hatten ihre Sakkos ausgezogen und über die Stuhllehnen gehängt, manche Frauen trugen kurzärmelige Kleider.
Clara entdeckte Sanni, die gerade die Eiskarte neben dem Straßenverkauf studierte, und winkte ihr schon von Weitem zu.
»Hey, wie lief es heute an der Schauspielschule?«
Als Sanni sich zu ihr umdrehte, erkannte Clara an dem fröhlichen Strahlen in ihrem Gesicht, dass sie bei ihrem entscheidenden Vorsprechen Erfolg gehabt hatte.
»Wie es aussieht, darf ich dir gratulieren? Du siehst umwerfend aus.«
»Ja, stell dir vor! Ich hab’s geschafft, Clara! Sie haben mich tatsächlich angenommen. Ich habe den Vertrag in der Tasche. Ach, ich bin der glücklichste Mensch der Welt.«
»Das ist ja fantastisch! Alles andere hätte mich auch gewundert. Wenn man dich so ansieht, könnte man meinen, hier steht die Monroe persönlich.«
Tatsächlich sah Sanni dem Hollywoodstarlet heute zum Verwechseln ähnlich. Sie trug ein weißes, plissiertes Kleid, dazu Pumps mit atemberaubenden Absätzen. Sie hatte sich die Haare platinblond gefärbt, ein geschwungener schwarzer Lidstrich und eine Reihe falscher Wimpern betonten ihre Augen. Zudem zierte heute ein aufgemalter schwarzer Schönheitsfleck ihre linke Wange. Für einen Augenblick schien sich Sanni zu verwandeln. Sie drehte ihren Oberkörper zur Seite und blickte Clara mit leicht gesenkten Lidern über die Schulter an. Ein verführerisches Lächeln lag auf ihren knallrot geschminkten Lippen. »Gib einem Mädchen die richtigen Schuhe, und sie wird die Welt erobern«, hauchte sie. Dann brach sie in ein herzliches Lachen aus.
Die beiden gönnten sich zwei Eiswaffeln und bummelten damit über die Leopoldstraße. Währenddessen berichtete Sanni sprudelnd vor Lebensfreude und in allen Einzelheiten von ihrem Vorsprechen:
»Am Anfang den lustigen Text aufzusagen, das war ja gar kein Problem für mich. Aber dann, als ich diesen dramatischen Gretchen-Monolog aus Goethes Faust vortragen musste, du weißt schon, da wo sie fast an ihrer Liebe zu ihm verzweifelt … Na, da musste ich mich schon sehr zusammenreißen. Und weißt du was? Ich hab mir dabei einfach vorgestellt, ich wäre dieses Gretchen: unehelich schwanger von einem windigen Typen und müsste das jetzt meinen Eltern beichten … Puh, du glaubst nicht, wie sehr meine Stimme gebebt hat vor Angst.«
Gut gelaunt hob Sanni vor einem Geschäft einen breitkrempigen Strohhut mit kirschrotem Ripsband vom Gestell und setzte ihn auf.
»Na, wie wäre es damit?«
Clara hob einen Daumen. »Passt perfekt«, befand sie. »Du siehst aus, als wärest du gerade aus Hollywood eingeflogen. Den musst du kaufen.«
Sanni tat es kurz entschlossen und behielt den Hut gleich auf. Clara schien es, als wären ihre Schritte noch selbstbewusster als zuvor.
»Deine Eltern können stolz auf dich sein«, sagte sie, »dass du es geschafft hast. Aus Hunderten Bewerberinnen zu den zehn Mädchen zu gehören, die am Ende an der Schauspielschule angenommen werden – das ist eine tolle Leistung. Was haben sie eigentlich dazu gesagt?«
Sanni seufzte. »Ehrlich gesagt, ich habe meinen Eltern noch gar nicht erzählt, dass ich mich an der Schauspielschule beworben habe.«
»Aber Sanni!«, rief Clara erschrocken.
»Na ja, du kennst sie doch. Sie sind so furchtbar altmodisch in ihren Ansichten. Warum sollte ihre Tochter eine lange Ausbildung machen, wenn sie am Ende doch heiratet. Dabei wissen sie, dass ich gar nicht heiraten will. Ich bin kein Familienmensch. Wenn ich sehe, wie viel Streit und Ärger es bei uns immer gibt … Nein, danke. Ich gehe lieber meinen eigenen Weg. Ich dachte, wenn ich es an die Schauspielschule geschafft habe, dann erfahren sie das noch früh genug. Sonst hätten sie sich nur unnötig aufgeregt. Jetzt kann ich ihnen den Vertrag unter die Nase halten, und es gibt kein Zurück mehr.«
»Aber du bist noch nicht volljährig. Du darfst doch ohne die Einwilligung deiner Eltern keine Ausbildung beginnen! Was ist, wenn sie es dir nicht erlauben?«
»Warum sollten sie es mir verbieten? Ich bekomme ein Stipendium. Die Schauspielschule kostet meine Eltern keinen Pfennig. Es gibt keinen Grund, weshalb sie etwas dagegen haben sollten. Allerdings …« Sannis Stimme wurde etwas kleinlauter. »Allerdings wäre es mir tatsächlich ein bisschen wohler, wenn du dabei bist, wenn ich es ihnen erzähle. Dann meckern sie vielleicht nicht so sehr. Kommst du noch kurz mit zu mir nach Hause?«
»Ach, Sanni, du bist unverbesserlich. Aber natürlich mache ich das!«
Sanni lebte mit ihren Eltern einen kurzen Fußweg entfernt in der Georgenstraße, in einer Wohnung direkt über der väterlichen Bäckerei. Es war Mittwoch, und wie üblich an den Mittwochnachmittagen war der Laden um diese Uhrzeit bereits geschlossen. Doch im Hausflur schlug Clara noch der vertraute Duft nach frisch gebackenem Brot entgegen. Sie liebte diesen Geruch und atmete genüsslich ein, während Sanni, die neben ihr die Stufen hinaufstieg, unwillig die Nase krauste.
»Was freue ich mich auf die Zeit, in der ich nicht mehr jeden Tag diesen Mief riechen muss«, murmelte sie.
Vor der Wohnungstür blieb sie stehen.
»Warte kurz. Ich muss mir die Schminke aus dem Gesicht wischen, mein Vater kriegt einen Tobsuchtsanfall, wenn er mich so aufgedonnert sieht.«
Sanni zog ein Taschentuch und einen Handspiegel aus ihrer Handtasche. Seufzend wischte sie sich über die Lippen, die Augenlider und die Wangen, bis von dem Marilyn-Monroe-Double nicht mehr viel übrig geblieben war. Dann sperrte sie die Tür auf.
Sannis Eltern saßen am Küchentisch, als die beiden eintraten. Frau Achinger war damit beschäftigt, eine dunkle Wollsocke zu stopfen, ihr Mann hatte sich hinter der Tageszeitung verschanzt. Vor ihnen auf der geblümten Wachstuchtischdecke standen zwei Tassen und eine bauchige Kanne, die unter einer wattierten Kaffeehaube verborgen war.
»Na, da bist du ja endlich! Und grüß dich, Clara, schön dich auch mal wieder bei uns zu sehen.« Sannis Mutter sah von ihrer Handarbeit auf. Sie war eine kräftige, rotbackige Frau, deren gelblich blondierte Wasserwellen herausgewachsen waren, am Ansatz wurden ihre bereits grauen Haare sichtbar. »Aber was hast du denn für einen furchtbaren Hut auf, Sanni! In welcher Klamottenkiste hast du den denn gefunden?«
»Den habe ich mir gerade gekauft. Zur Feier des Tages. So was trägt man jetzt in Schwabing.«
Herr Achinger ließ raschelnd die Zeitung sinken und sah seine Tochter an.
»Nimm diesen Hut ab, Susanne. Sofort. Du legst es wohl darauf an, dass dir draußen die Männer nachgucken.« Damit wandte er sich wieder seiner Lektüre zu.
Sanni presste verärgert die Lippen zusammen. Doch folgsam nahm sie den Hut vom Kopf und drehte ihn in den Händen.
»Wollt ihr denn gar nicht wissen, was es zu feiern gibt?«
»Was denn?«, erkundigte sich ihre Mutter.
Sanni schöpfte Atem, wie um Mut zu tanken.
»Ihr dürft mir gratulieren. Ich habe gerade die Aufnahmeprüfung an der Münchner Schauspielschule geschafft. In drei Wochen fängt meine Ausbildung an.«
Frau Achinger betrachtete ihre Tochter verblüfft. »Ich wusste gar nicht, dass du dich da beworben hattest. Dein Vater und ich, wir dachten, du hilfst uns im Laden.«
Herr Achinger blätterte geräuschvoll die Zeitung um.
»Diesen Quatsch schlägst du dir mal ganz schnell aus dem Kopf«, sagte er, ohne aufzusehen.
»Nein, das mache ich nicht, Papa. Ich habe die Zulassung bekommen, und jetzt werde ich Schauspielerin. Das ist kein Quatsch. Das ist eine richtig große Leistung.«
»Es gibt so viele Mädchen, die von einem Platz in der Schauspielschule träumen«, sprang Clara ihrer Freundin bei. »Und Sanni hat es als eine von wenigen geschafft, weil sie so begabt ist. Sie können sehr stolz auf Ihre Tochter sein.«
»Aber das ist doch bestimmt teuer«, wandte Sannis Mutter ein.
Sanni erklärte ihren Eltern, dass sie ein Stipendium erhalten hatte, und fügte hinzu: »Ich habe den Vertrag schon in der Tasche, unterschrieben vom Leiter der Schauspielschule persönlich.«
»Den kannst du gleich wieder zurückbringen«, erklärte Herr Achinger unwirsch. »Du wirst diesen Blödsinn nicht machen. Meine Tochter eine Schauspielerin? Kommt gar nicht infrage! Ein billiges Mädchen, das vor der Kamera fremde Männer küsst oder halb nackt auf dem Tisch tanzt. Was man da alles so hört aus dem Kino … Nein, Susanne, das erlaube ich dir nicht.«
»Aber, Papa!« Sannis Stimme wurde schrill. »Du kannst mir das doch nicht verbieten.«
»Und wie ich dir das verbieten kann.«
»Aber in ein paar Monaten bin ich doch sowieso einundzwanzig, Papa, dann bin ich volljährig und brauche deine Erlaubnis nicht.« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
»Das mag sein. Aber jetzt bist du es noch nicht. Und deshalb sage ich: Deine Mutter und ich, wir werden den Vertrag nicht unterschreiben. Schlag dir diese Schauspielerei aus dem Kopf. Du arbeitest in der Bäckerei. Fräulein Lehmann hat heute gekündigt, weil sie nächsten Monat heiratet. Ich brauche dringend eine neue Aushilfe. Montag um sechs Uhr stehst du hinter der Theke!«
»Nein, Papa, auf keinen Fall.« Sannis Stimme bebte, sie war den Tränen nahe. »Warum stellst du nicht eine andere Verkäuferin ein?«
»Warum sollte ich Geld für eine Verkäuferin ausgeben, wenn ich eine Tochter im Haus habe, die mit ihrem Leben nichts anzufangen weiß?«
»Aber ich weiß etwas mit meinem Leben anzufangen. Ich will Schauspielerin werden.«
Herr Achinger warf die Zeitung klatschend auf den Tisch. Sein massiger kahler Schädel war hochrot vor Empörung. »Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du, was ich dir sage, mein Kind. Und ich sage dir, du wirst Montag früh in der Bäckerei anfangen. Wenn du jeden Tag um sechs an der Ladentheke stehst, dann werden dir deine Flausen schon vergehen. Ende der Diskussion.«
Als die Freundinnen wenig später in Sannis Zimmer zusammensaßen, warf sie den Strohhut wütend zu Boden. »Warum können meine Eltern nicht begreifen, dass es heutzutage Frauen gibt, deren Lebenssinn nicht darin besteht, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«
Clara ließ ihre Blicke durch das Zimmer wandern, dessen Wände mit etlichen Bildern von Marilyn Monroe dekoriert waren. Dazu hatte Sanni die Titelseiten von Zeitschriften und andere Fotografien aus Zeitungen und Magazinen herausgeschnitten und mit Heftzwecken oder Klebstreifen an der geblümten Tapete befestigt. Selbst von der Tür ihres Kleiderschranks lächelte das amerikanische Starlet mit den blonden Locken. Auf dem Bord über dem Kopfteil ihres Bettes bewahrte Sanni ihre Kosmetikartikel auf: Ein halbes Dutzend Lippenstifte in unterschiedlichen Rottönen standen da aufgereiht, daneben ein Töpfchen Make-up, Bürsten, Spangen, Haarspray und ein winziges Parfümfläschchen mit Chanel No 5, dem Lieblingsduft der Monroe, und er war sündhaft teuer gewesen, wie Clara wusste. Fast zwei Jahre lang hatte Sanni jede Woche einen Teil ihres Taschengeldes zurückgelegt, bis sie sich endlich den allerkleinsten Chanelflakon leisten konnte, der in der Parfümerie an der schicken Maximilianstraße zu bekommen war.
Jetzt nahm sie das Fläschchen vom Regal. Vorsichtig zog sie den Glasverschluss ab und hielt ihre Nase über die Öffnung. Mit geschlossenen Augen atmete sie den Duft des Parfüms ein. Sogleich glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Ah, wie ich das liebe. Das tut so gut, das ist wie ein Zauberelixier …«
Sie reichte den Flakon an Clara weiter, damit sie auch noch einmal an dem wunderbaren Parfüm schnupperte, dann steckte sie den Pfropfen wieder auf das Fläschchen und stellte es zurück auf das Regal.
Tatsächlich schien der Duft sie belebt zu haben. Entschlossen stand Sanni auf, hob den Hut vom Boden und hängte ihn an einen Haken an der Zimmertür. Dann drehte sie sich zu Clara um, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Nur noch drei Monate, Clara. In drei Monaten werde ich volljährig – und dann können sie mir nichts mehr vorschreiben. Dann mache ich, was ich will. Ich will endlich leben!«
Während Sanni in der Bäckerei ihrer Eltern arbeitete und ihre Träume von einer Karriere als Schauspielerin vorerst begraben musste, war Clara glücklich, jeden Tag etwas Neues über das Fotografieren zu lernen. Sie war eifrig dabei und ging den beiden jungen Männern, über die sie sich am ersten Tag so geärgert hatte, möglichst aus dem Weg. Am besten gefielen ihr die praktischen Kurse an der Akademie, und sie sah selbst, dass ihre Bilder, die sie den Professoren regelmäßig zu bestimmten Themen vorlegen musste, von Woche zu Woche besser wurden. Nichts liebte sie mehr, als mit ihrer neuen Kamera in der Hand bei jedem Wetter durch die Stadt zu spazieren, auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Detail oder einem neuen Blickwinkel. Der Gedanke, dass sie auf ihren Fotos etwas zeigte, was so vielleicht noch niemand wahrgenommen hatte, machte sie glücklich.
Ende Juni wurde es endlich richtig Sommer in München. Clara hatte von ihren Eltern die Erlaubnis bekommen, das lange Wochenende bei Sanni in Schwabing zu verbringen. Der Donnerstag war ein Feiertag, und auch am Freitag blieb die Hochschule geschlossen.
»Herrlich«, fand Clara, »vier freie Tage. Vier Tage zum Ausschlafen, Ausgehen und Feiern. Und keiner fragt, wann wir nach Hause kommen.«
Was sie ihren Eltern nicht gesagt hatte, war, dass Sannis Eltern und ihr Bruder an diesem Wochenende gar nicht daheim waren. Sie waren zu einer Tauffeier zu Verwandten aufs Land gefahren, und die beiden Freundinnen hatten sturmfreie Bude.
Sie und Sanni hatten einander untergehakt, während sie die Leopoldstraße entlangflanierten. Es war der 21. Juni, der erste laue Sommerabend nach vielen Regentagen. Von den Hauswänden strahlte noch die Hitze des Tages. Auf dem Schwabinger Boulevard drängten sich die Spaziergänger, Einheimische und viele Touristen, wie Clara an den vergnügt plaudernden Stimmen erkannte. Die Straßencafés waren bis auf den letzten Klappstuhl besetzt. Obwohl die Sonne bereits hinter den Dächern verschwunden war und die Häuser lange Schatten warfen, saßen die Leute noch immer in luftigen Kleidern oder mit hochgekrempelten Ärmeln vor ihren Eisbechern und Biergläsern. Aus einem VW-Käfer-Cabriolet, das mit zurückgeklapptem Verdeck am Café vorbeiknatterte, klang laute Musik aus dem Autoradio. Clara erkannte den Song »Let’s twist again« von Chubby Checker, der seit dem vorigen Jahr landauf, landab in allen Rundfunkstationen und Musikclubs gespielt wurde. Unwillkürlich schnippte sie im Takt mit den Fingern.
Clara liebte die besondere Atmosphäre dieses Stadtteils. Hier in Schwabing fühlte sich das Leben irgendwie anders an als im übrigen München. Freizügiger, fröhlicher, aufregender. In dem Viertel zwischen dem Englischen Garten und dem Siegestor gab es nicht nur jede Menge Lokale, vom feinen Restaurant bis hin zur verqualmten Bierkneipe, sondern auch Kabarettbühnen und kleine Theater, Jazzclubs und andere Tanzkeller. Straßenmusiker spielten ihre Lieder, und auf dem Gehweg entlang der Leopoldstraße hatten Künstler ihre Werke ausgestellt. Zwischen den Stämmen der hohen Pappeln am Straßenrand waren Leinen gespannt, an denen Maler ihre Bilder mit Wäscheklammern aufgehängt hatten und zum Verkauf anboten. An den Mauern und Zäunen, die die Grundstücke umgaben, lehnten Staffeleien mit Leinwänden in unterschiedlichsten Formaten, und wer im Vorbeigehen Lust auf ein Porträt von sich bekam, konnte sich auf einen kleinen Hocker setzen und sich gleich vor Ort von einem der Künstler zeichnen lassen.
»Ich habe gehört, dass in diesem Jahr sogar Maler aus Paris hergekommen sind«, erklärte Sanni, während sie das kleine Aquarell einer Windmühle betrachtete, und fügte sehnsüchtig hinzu: »Ach, Paris, da möchte ich auch gern mal hin. Und nach Rom und London und New York …«
»Du Träumerin! Hier ist es doch auch fein.«
Clara genoss den Abend mit allen Sinnen. Es war schon nach zehn Uhr, und noch immer konnte man ohne Strickjacke herumlaufen, ohne zu frieren. Die Luft roch nach einer Mischung aus Ölfarbe und Zigarettendunst, nach erhitztem Asphalt und dem Qualm der vorbeifahrenden Autos. Von irgendwoher wehten undefinierbare Klänge von Musik heran.
»Warte mal!« Clara hielt einen Moment inne. »Hörst du das auch? Da hinten spielen ein paar Leute Gitarre. Lass uns mal gucken gehen.«
Die beiden bogen in eine schmale Seitenstraße ab und fanden sich nach ein paar Schritten in einer Menschentraube wieder. Am Wedekindplatz, einer kleinen baumbestandenen Grünfläche unweit der Leopoldstraße, saßen fünf junge Männer auf einer Bank vor dem Brunnen und musizierten. Sie spielten auf ihren Gitarren und sangen mehrstimmig dazu. Es waren fremdländische Lieder, Clara kannte sie nicht und verstand kein Wort dieser Sprache, doch die merkwürdig sentimentalen Melodien berührten sie im Inneren. Immer mehr Leute gesellten sich dazu, wiegten sich beim Zuhören im Takt der Musik und applaudierten, wenn ein Lied zu Ende war.
»Was spielt ihr da?«, rief Sanni, als die fünf eine kurze Pause machten, um eine Wasserflasche herumzureichen. »Das klingt toll.«
Einer der Burschen sah auf.
»Das sind russische Volkslieder«, erklärte er grinsend und schob sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das letzte war ein Seemannslied vom Schwarzen Meer. Auf Deutsch heißt es ›Mein kleiner Seemann‹.«
»Macht weiter!«, rief jemand aus der Menge. »Ihr seid klasse.« Und eine Frau jauchzte: »Ihr solltet auf eine Konzertbühne!«
Die fünf lachten nur, nahmen ihre Gitarren wieder auf und spielten weiter. Ihre Stimmen hallten von den umliegenden Häuserwänden wider. Die Lieder wurden jetzt rhythmischer, die Zuschauer klatschten begeistert mit.
Clara war wie verzaubert. Stand sie wirklich mitten in München? Sie fühlte sich auf einmal wie in eine ferne fremde Welt versetzt. An diesem Abend, so schien es ihr, war alles möglich.
Sie zuckte zusammen, als plötzlich eine barsche Stimme über den kleinen Platz schallte und für einen Augenblick sogar das Gitarrenspiel übertönte.
»Schluss da unten mit dem Lärm! Hören Sie sofort mit dem Gejaule auf, oder ich alarmiere die Polizei wegen Ruhestörung.«
Clara drehte sich um. Im dritten Stock des Hauses hinter ihr hatte jemand ein Fenster geöffnet. Ein Mann beugte sich heraus, die rechte Faust drohend erhoben. Doch die Leute auf dem Platz lachten nur.
»Es ist doch so ein schöner Sommerabend heute!«, entgegnete Sanni und winkte dem Mann freundlich zu. »Und die Burschen spielen so gut.« Die Gitarristen ließen sich nicht beirren und zupften und sangen ungerührt weiter. Auch die übrigen Zuhörer ignorierten den Protest des Mannes und klatschten und wippten im Takt der Musik.
»Es ist bald elf«, donnerte die empörte Stimme des Mannes herunter. »Habt ihr da unten schon mal was von Nachtruhe gehört? Anständige Leute müssen morgen früh raus. Bei dem Krach kann ja keiner schlafen.«
»Diese Nacht ist doch viel zu schön, um sie zu verschlafen!«, rief Clara ihm zu. »Kommen Sie lieber zu uns runter.«
»Das wäre ja noch schöner. Mit so Gammlern wie euch habe ich nichts zu tun. Wenn hier nicht bald Ruhe ist, gibt es Ärger.«
Krachend flog das Fenster zu.
Sanni und Clara sahen einander schulterzuckend an und wandten sich wieder den Gitarristen zu.
»Da kann man nichts machen. Solche Spießertypen kenne ich. Die kapieren einfach gar nichts.«
Clara fuhr herum, um zu sehen, wer das gesagt hatte. Ein junger Mann stand neben ihr und grinste sie aus dunklen Augen an. Er mochte Mitte zwanzig sein und war einen halben Kopf größer als sie. Über seiner Stirn glänzte eine schwarze Haartolle. Seine abgewetzte Lederjacke, die er mit einem Finger am Aufhänger festhielt, hatte er sich lässig über die Schulter gehängt, die Arme unter seinen aufgekrempelten Hemdärmeln waren sonnengebräunt. Clara spürte, wie ihr unter seinem forschen Blick die Röte in die Wangen schoss, und hoffte, dass er das nicht bemerkte. Da lag etwas in der Art, wie er sie ansah, das sie beinahe schwindlig machte.
»Ja, die Jungs machen klasse Musik«, rief sie ihm rasch zu und wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, als Sanni, die von dem kurzen Wortwechsel nichts mitbekommen hatte, ihren Arm fasste und sie mit sich zog.
»Komm, lass uns weiter nach vorn gehen, da sieht man besser.«
Inzwischen war der ganze Wedekindplatz voller Leute. Selbst auf der Fahrbahn war kaum mehr ein Durchkommen. Es war eine einzige große Freiluftparty. Die beiden Freundinnen schlängelten sich durch die Menschenmassen. Aus dem Augenwinkel nahm Clara wahr, wie das Fenster im dritten Stock noch einmal geöffnet wurde und der Mann erneut schimpfte. Doch inzwischen war es so laut auf der Straße, dass sie seine Worte nicht verstehen konnte. Und eigentlich war es ihr auch egal, was der Mann sagte. Niemand interessierte sich hier unten für das Gemecker eines alten Spießbürgers. Hier tobte das Leben, und sie wollte keine einzige Sekunde dieser wunderbaren Sommernacht verpassen. Noch einmal drehte sie sich zu dem jungen Mann mit der Haartolle um, aber im Gedränge war er nicht mehr zu sehen.
Clara vermochte nicht zu sagen, wie lange die fünf Gitarristen noch musiziert hatten, als sich von der Leopoldstraße her plötzlich ein Polizeiwagen mit gellender Sirene näherte. Erschrocken sprangen die Leute auseinander, als das Auto mit quietschenden Bremsen in der Nähe des Brunnens stehen blieb. Zwei Beamte stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch das Gedränge, bis sie direkt vor den Musikern standen.
»Hören Sie augenblicklich auf mit dem Lärm«, sagte der eine Polizist mit barscher Stimme, ein kräftiger Typ Ende fünfzig.
»Aber den Leuten gefällt’s!«, entgegnete einer der Musiker freundlich.
»Den Anwohnern gefällt dieser Krach ganz und gar nicht. Los, stehen Sie auf. Sie sind festgenommen wegen Ruhestörung.«
»Das soll wohl ein Witz sein?«
Statt einer Antwort packte der Polizist den jungen Mann am Arm und riss ihn hoch. Auch der zweite Polizist schritt nun ein.
»Keine Widerrede, Freundchen, sonst haben Sie noch ganz schnell eine Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt am Hals.«
Inzwischen war ein weiterer Polizeiwagen auf den Platz gekommen. Ein Beamter stieg aus. Drohend erhob er den Schlagstock, der an seinem Gürtel gehangen hatte. »Mitkommen. Alle fünf.«
Grob nahm er dem einen die Gitarre aus der Hand und warf sie zur Seite. Krachend fiel das Instrument auf den Asphalt. Das Geräusch von splitterndem Holz ließ Clara zusammenzucken. Ein paar Sekunden lang war es still auf dem Platz. Alle Menschen, die das abrupte Ende des Konzerts und die rabiate Festnahme beobachtet hatten, schienen für einen Augenblick die Luft angehalten zu haben. In dem Moment aber, in dem die Polizisten die fünf jungen Männer zu den Streifenwagen schoben und hineinbugsierten, entlud sich die angestaute Empörung.
»Das ist ja wie damals bei Adolf!«, schrie es irgendwo aus der Menschenmenge. »Verdammte Nazi-Polizei!«
Starr vor Schreck beobachtete Clara, wie ein paar der Zuschauer auf einen der Streifenwagen zustürzten, in den die Polizisten eingestiegen waren, und an dem Fahrzeug rüttelten. Einige kräftige Männer hoben die grüne BMW-Limousine hoch und ließen sie wieder fallen, sodass die Stoßdämpfer ächzten.
»Aufhören!«, befahl einer der Beamten durch das heruntergekurbelte Seitenfenster. Doch das hatte keine Wirkung.
»Nazi-Polizei!«, schallte es immer wieder wütend durch die Menschenmenge.
»Die Jungs haben doch nur ganz friedlich Musik gemacht«, rief Sanni den Beamten zu. »Die dürfen Sie nicht festnehmen.«
Der Protest der Leute blieb unbeachtet. Die beiden Polizeiwagen fuhren an. Doch niemand machte Platz, um sie durchzulassen. Mit laufenden Motoren standen die Fahrzeuge inmitten der Menschenmenge.
»Los, die dürfen wir nicht wegfahren lassen.«
Diese Stimme kannte Clara. Der Bursche mit der Haartolle war plötzlich neben ihr aufgetaucht. Ihr Herz machte einen kleinen Satz.
»Wir müssen die Luft aus den Reifen lassen!«, rief er. Im nächsten Moment kniete er neben einem Fahrzeug. Atemlos sah Clara zu, wie er am Ventil eines Hinterreifens hantierte. Zischend entströmte die Luft. Drei andere Männer folgten johlend seinem Beispiel.
Die Polizisten hatten inzwischen die Sirene eingeschaltet, und unter dem Heulen des Martinshorns rollten die Wagen nun im Schritttempo durch die Traube von Menschen, die nur widerwillig aus dem Weg gingen. Auf platten Reifen ruckelten und rumpelten die Wagen Richtung Leopoldstraße. Immer wieder mussten sie anhalten, weil sich ihnen Leute mit ausgebreiteten Armen in den Weg stellten oder mit ihren Fäusten auf die Motorhaube schlugen.
»Lasst die Männer frei!«, schrien immer mehr Menschen. »Die haben nichts getan. Das ist eine Sauerei! Das sind Nazi-Methoden!«
Pfiffe und Buh-Rufe klangen durch die Nacht. Clara und Sanni schlossen sich dem Strom der Leute an, die die Autos unter wütendem Protest begleiteten.
»Lasst die Männer frei!« – »Das ist doch kein Polizeistaat hier!« – »Nazi-Polizei!«
Vielstimmig hallte es von den Hauswänden wider. Immer mehr Menschen, die an diesem Sommerabend durch Schwabing schlenderten, waren neugierig geworden und kamen heran, um zu sehen, was da los war. Es waren Tausende, die schließlich auf der Leopoldstraße standen und die mühsame Abfahrt der demolierten Polizeiwagen beobachteten. Auf der Fahrbahn wimmelte es von Menschen, die Autos stauten sich auf beiden Seiten, hin und wieder war lautes Hupen zu hören. Auch eine Trambahn war im Gedränge der Leute stecken geblieben und klingelte schrill. Aus der Ferne ertönte weiteres Sirenengeheul von Einsatzfahrzeugen, die rasch näher kamen. In der Dunkelheit und der Menge der Menschen konnte Clara nicht genau erkennen, wie viele Autos es waren, die am Straßenrand und auf den Gehwegen stehen blieben, aber es schien ihr mindestens ein Dutzend zu sein.
»Willkommen auf der Straßenfete!«, schrie jemand, und die Leute lachten. Flackernde Blaulichter warfen einen gespenstischen Schein durch die Nacht, und Clara hörte eine harsche Männerstimme, die durch ein Megafon verzerrt wurde: »Hier spricht die Polizei. Machen Sie sofort die Straße frei. Das ist eine polizeiliche Aufforderung. Machen Sie augenblicklich die Straße frei!«
Niemand folgte. Ganz im Gegenteil. Das Johlen der Protestierenden wurde nur lauter. Auch aus den Restaurants und Kneipen der umliegenden Straßen kamen Leute heraus und schlossen sich der Menschenmenge auf der Leopoldstraße an.
»Du liebe Zeit, das ist ja ein richtiges Volksfest«, jauchzte Sanni freudig. »Ist das nicht verrückt? Auf einmal gehört die Straße uns.«
Übermütig tanzte sie ein paar Schritte Cha-Cha-Cha, soweit das in der dicht gedrängten Menschenmenge möglich war. Clara nickte nur. Sie war viel zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Das hier war etwas ganz Neues, etwas Unerhörtes, eine prickelnde Erfahrung: Etwas Verbotenes zu tun, die öffentliche Ordnung zu stören, das Alltägliche hinter sich zu lassen und sich über die Anweisung der Polizei hinwegzusetzen – so etwas hatte sie noch nie gemacht. Und doch hatte sie das Gefühl, im Recht zu sein!
Aber es war nicht nur die ungewohnte Lust am Ungehorsam, die Clara warm ums Herz werden ließ. Es war auch der Junge mit der Haartolle, der ihr nicht aus dem Kopf ging. Er stand noch immer nur ein paar Meter neben ihr, und ab und zu begegnete ihr sein grinsender Blick, wenn sein Gesicht in der Menge der johlenden Leute auftauchte.
»Auseinander! Wenn Sie der polizeilichen Anweisung nicht Folge leisten, sind wir gezwungen, Gewalt anzuwenden.«
Verzerrt durch ein Megafon schallte erneut die Stimme des Polizisten durch die Nacht, doch er erntete nur Gelächter.
Plötzlich entstand eine Unruhe in der Nähe der parkenden Einsatzfahrzeuge. Clara konnte nicht genau erkennen, was passierte. Aber die Leute rannten auseinander, Schreie waren zu hören, dann das entsetzte Kreischen einer Frau.
»Die prügeln auf die Leute ein!«, schrie jemand. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. »Vorsicht, die Bullen haben Gummiknüppel! Die nehmen alle Leute fest, die sie zu fassen kriegen …«
»Los, wir hauen ab!« Sanni fasste Claras Hand. »Das wird mir zu brenzlig hier. Ich habe keine Lust, die Nacht in einer Zelle zu verbringen.«
»Ja, verschwinden wir, schnell.«
Die beiden bahnten sich einen Weg durch das Gedränge, was nicht ganz einfach war, weil die Leute in verschiedene Richtungen strömten, um sich vor der anrückenden Polizei in Sicherheit zu bringen. Plötzlich spürte Clara, wie jemand ihre Schulter griff. Erschrocken fuhr sie herum, in der Überzeugung, einem Polizisten mit Schlagstock gegenüberzustehen. Doch es war der Junge mit der Haartolle.
»Hey, Mädels, geht ihr schon nach Hause? Jetzt, wo das Polizeifest erst so richtig anfängt?«
Clara lächelte schief und nickte. »Ist wohl besser so. Bevor wir einen Knüppel abbekommen.«
»Schade. Sehen wir uns wieder? Morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort? Um neun im Rialto?«
Clara war es, als würde ihr Herz für einen Moment aussetzen.
»Klar«, brachte sie heraus, dann hatte Sanni sie auch schon weitergezogen.
An diesem Abend war an Schlaf natürlich nicht zu denken. Ganz Schwabing schien in Aufruhr zu sein. Clara und Sanni war es über Umwege gelungen, den Polizisten und dem Getümmel auf der Leopoldstraße zu entkommen. Alle Straßen rund um den Boulevard waren blockiert gewesen durch protestierende Menschen, Polizeifahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht und andere Autos, die in dem Tumult stecken geblieben waren. Erst weit nach Mitternacht hatten die beiden die Wohnung erreicht.
Jetzt saßen sie atemlos und aufgewühlt von den Ereignissen am Küchentisch. Sanni goss Mineralwasser in zwei Gläser. Durch das offene Fenster waren aus der Ferne noch immer die Sirenen der Einsatzfahrzeuge zu hören.
»Wie? Du hast eine Verabredung mit diesem schicken Typen? Aber du kennst den doch überhaupt nicht.«
»Ich weiß«, gestand Clara. »Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Aber ich freue mich wie verrückt, ihn wiederzusehen.«
Sanni lächelte, während sie den Stöpsel des Bügelverschlusses über die Öffnung der Flasche stülpte.
»Du grinst ja über beide Ohren. Bist du etwa verknallt? Oh, ich wäre so gern Mäuschen bei eurem Rendezvous, aber keine Sorge, ich weiß mich anderweitig zu beschäftigen.«
Clara betrachtete das Wasserglas in ihren Händen, aus dem sie nur wenige Schlucke getrunken hatte. »Meine Eltern würden es mir nie im Leben erlauben, mich mit einem wildfremden Kerl zu treffen. Zumal einem, den ich bei so einer Randale kennengelernt habe. Gut, dass sie nichts davon wissen.«
Sanni zuckte unbekümmert mit den Schultern.
»Er sah nett aus. Und ich finde, dass es absolut richtig war, gegen die Festnahme der Musiker zu protestieren. Das war eine Unverschämtheit. Man darf sich nicht alles gefallen lassen. Aber jetzt lass uns endlich zu Bett gehen. Ich bin hundemüde und muss morgen früh im Laden stehen. Mein Vater kriegt einen Anfall, wenn ihm zu Ohren kommt, dass ich nicht pünktlich aufgemacht habe.«
Clara lag noch hellwach auf ihrer Luftmatratze, als die ersten Strahlen der Morgensonne durch die nachlässig zugezogenen Vorhänge fielen, und lauschte Sannis gleichmäßigen Atemzügen im Bett neben sich. Vor ihren Augen sah sie noch immer das Grinsen des jungen Mannes, den sie bald wiedersehen würde. Sie war so aufgeregt. Noch sechzehn Stunden, dachte sie. Dann schlief sie ein.
Der Leopoldstraße war nicht anzusehen, was für eine Aufregung es hier tags zuvor gegeben hatte. Die Leute flanierten umher oder saßen mit Bier- oder Limonadengläsern in der Hand unter den Sonnenschirmen vor den Lokalen wie an jedem Sommerabend. Und doch meinte Clara eine besondere Atmosphäre wahrzunehmen. Da schien etwas in der Luft zu liegen, es juckte ihr förmlich auf der Haut.
»Ich bin ja verrückt«, schalt sie sich selbst in Gedanken. »Bloß, weil ich mit diesem Burschen ein Eis essen gehe …«
Sie war viel zu früh aufgebrochen und hatte noch ein wenig Zeit bis zu ihrer Verabredung. Ziellos schlenderte sie über die Leopoldstraße. Sie hatte ihre Kamera dabei und fotografierte ein paar Straßenkünstler. Vielleicht konnte sie eines der Bilder für ihren Porträtkurs an der Akademie verwenden. Je später der Abend wurde, desto mehr Leute strömten herbei. Als es zu dämmern begann, schien es auf dem breiten Boulevard förmlich zu brodeln. Es war kaum mehr Platz auf dem Gehweg.
Der junge Mann mit der dunklen Haartolle saß bereits an einem der kleinen Tischchen vor dem Eiscafé Rialto, als Clara um kurz nach neun dorthin kam. Er sah sie sofort und winkte ihr zu.
»Hallo, schönes Fräulein. Ich bin froh, dich zu sehen.« Er drückte die Zigarette, die er gerade rauchte, im Aschenbecher aus und erhob sich, als Clara zum Tisch kam. Wohlerzogen rückte er ihr einen Stuhl zurecht.
»Danke.« Sie setzte sich.
»Ich war mir nicht sicher, ob du tatsächlich kommen würdest. Ich habe mich noch nie unter so merkwürdigen Umständen mit einem Mädchen verabredet.« Er lachte leise, während er sich wieder in seinen Stuhl fallen ließ und sich bequem zurücklehnte. Seine dunklen Augen schienen förmlich zu blitzen. »Ich bin übrigens Freddy.«
Sie reichten einander die Hand.
»Clara«, sagte sie. »Und ich kann dir verraten, dass ich mich auch noch nie mit jemandem getroffen habe, den ich eigentlich gar nicht kenne.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass wir uns kennenlernen. Ich verspreche dir, ich bin kein Strolch. Magst du ein Eis? Was isst du am liebsten? Vanille? Schokolade?«
»Erdbeer!«, antwortete Clara.
»Oh, da gehen unsere Geschmäcker leider ein wenig auseinander. Mein Favorit ist Schokolade.« Er grinste. »Aber immerhin mögen wir ähnliche Musik, glaube ich. Denn wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann haben dir die Songs gestern Abend ganz gut gefallen, oder?«
»Ja, die Jungs waren großartig! Der ganze Abend war großartig. Bis zu dem Moment, an dem die Polizisten auftauchten.«
»Tja, das waren echte Spaßverderber.«
Er sah auf, als ein Kellner an den Tisch kam und die beiden nach ihren Wünschen fragte.
»Zwei Eisbecher mit Sahne, bitte. Einmal Schoko, einmal Erdbeer. – Das ist doch okay für dich, oder?«, wandte er sich an Clara, die lächelnd nickte.
Wenig später löffelten sie ihre Eiscreme, und Clara konnte sich nicht erinnern, jemals so ein köstliches Erdbeereis gegessen zu haben. Was vor allem aber an der Gegenwart dieses hinreißenden Freddy lag.
»Warst du gestern Nacht noch lange auf der Leopoldstraße?«, erkundigte sich Clara. »Wie ist die Sache denn ausgegangen? Ich wohne gerade bei meiner Freundin in Schwabing, und wir haben noch stundenlang die Polizeisirenen gehört.«
»Ja, sie sind am Ende mit mehreren Mannschaftswagen angerückt. Da wurden noch etliche Leute wegen Ruhestörung festgenommen. Ich hatte Glück, ich bin ihnen entwischt. Aber wir dürfen uns so was nicht gefallen lassen. Das war eine Unverschämtheit, die Jungs abzuführen wie brutale Schwerverbrecher, nur weil sie ein bisschen Musik gemacht haben.«
»Ja, das finde ich auch. Und dabei heißt es doch immer, die Polizei sei dein Freund und Helfer.«
Freddy nickte. »Von wegen! Vor zwei Wochen hat es schon mal Ärger gegeben in Schwabing. Bei einem Jazzkonzert in der Aula der Uni. Da kam es zu Rempeleien mit der Polente, weil die Leute im Freien weiterspielen wollten. Es muss heftig zugegangen sein. Mehrere Polizeiwagen wurden beschädigt und ein paar Leute festgenommen.«
»Das ist ja schlimm.«
»Allerdings. Wo wir doch alle froh sind, dass wir diesen grausamen Polizeistaat der Hitlerzeit hinter uns gelassen haben. Und dass wir nicht drüben im anderen Teil Deutschlands leben müssen. Die DDR-Polizei geht auch nicht gerade zimperlich mit den Leuten um. Überhaupt der Osten … Unvorstellbar, dass sie da voriges Jahr die Mauer gebaut haben. Damit ihnen nicht die Leute alle davonlaufen. Der reine Wahnsinn. Aber hier – hier leben wir doch im freien Westen, habe ich gedacht.«
»Als Kind habe ich ein Jahr in Ostberlin verbracht. Ich kann mich zwar nicht mehr gut daran erinnern, aber ich weiß, wie froh meine Eltern sind, dass wir uns rechtzeitig hierher absetzen konnten.«
»Ah – ihr seid geflohen? Stell dir vor, gewissermaßen bin ich auch ein Flüchtling.«
»Tatsächlich?«
»Nein, nicht wirklich, ich übertreibe.« Freddy grinste sie an. »Ich habe mich bloß mit meinem Vater verkracht und bin von zu Hause abgehauen. Ich komme aus Hamburg, weißt du, mein Alter hatte da große Pläne mit mir. Ich sollte seinen Betrieb übernehmen, aber das ist nicht mein Ding. Das würde mich langweilen. Ich will doch nicht hinter einem Schreibtisch versauern. Ich will was erleben. Am liebsten würde ich ein paar Jahre lang in einem VW-Bus durch die Welt fahren. Nach Südfrankreich und nach Marokko. Zwischendurch irgendwo ein bisschen Geld verdienen und dann wieder weiter. Aber meine Eltern verstehen das nicht. Die verstehen gar nichts. Die sind …« Für einen Moment schien sich sein Blick zu verdüstern. »Ach, was soll’s.« Er sprach nicht weiter.
»Und was tust du hier in München?«, fragte Clara, die ihm verblüfft gelauscht hatte. Freddy war anders als alle anderen jungen Männer, denen sie je begegnet war. Selbstbewusster, aufmüpfiger, aufregender.
»Ich mache in München gerade eine Ausbildung zum Automechaniker«, antwortete er. »Beim Onkel eines ehemaligen Klassenkameraden. Es macht mir Spaß, mit meinen Händen zu arbeiten und an Motoren rumzuschrauben. Meine Eltern finden zwar, das ist unter meinem Niveau …« Er machte eine verächtliche Handbewegung. »Aber das ist totaler Quatsch. So eine Lehre kann schon nützlich sein. Vor allem, wenn man mit einem altersschwachen Bulli durch die Welt fahren will … Und was machst du?«
»Nun.« Clara schlang die Arme um die Kameratasche. »Ich bin im ersten Semester an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie hier in Schwabing.«
Es klang plötzlich so brav und langweilig in Freddys Gegenwart. Doch er hob respektvoll staunend eine Augenbraue.
»Oh, du wirst Fotografin? Das klingt toll. Vielleicht lade ich dich ja zu meiner Weltreise ein. Dann kannst du unterwegs die tollsten Fotos machen. Vom Eiffelturm oder vom Sonnenaufgang in der Sahara.« Er zwinkerte ihr zu.
»Ich denke nicht, dass mir meine Eltern so eine aufregende Reise erlauben würden.« Sie senkte verlegen den Blick. »Ich bin schon froh, dass ich das lange Wochenende bei meiner Freundin hier in Schwabing verbringen darf. Ich bin ja erst achtzehn.«
»Dann muss ich wohl noch drei Jahre warten mit meiner Weltreise, damit ich dich mitnehmen kann.«
Clara errötete. »Du bist frech. Ich habe noch gar nicht gesagt, ob ich Lust darauf habe.«
»Das stimmt. Tut mir leid. Ich wollte nur einen Witz machen. Habe ich es mir jetzt für immer und ewig mit dir verdorben?«
»Quatsch.«
Sie lächelten einander an. Irgendetwas Merkwürdiges passierte bei diesem Blick in Claras Bauch. Auf einmal schien es ihr, als tanzte dort etwas herum, etwas Kleines, Leichtes. Als würde ein Schwarm Schmetterlinge Kapriolen schlagen. Noch nie war sie gleichzeitig so verwirrt, so aufgeregt und so selig gewesen wie in Freddys Gegenwart. Wie konnte derselbe Mensch nur so dreist und so sympathisch sein!
»Hey, was ist denn da auf der Straße los?«
Freddys verblüffte Worte rissen Clara aus ihren Gedanken. Sie sah sich um. Auf der Leopoldstraße stauten sich die Autos. Ungeduldiges Hupen war zu hören. Und dann sah auch sie das, was Freddy so erstaunte: Mitten auf der Fahrbahn tanzten einige junge Leute. Sie verdrehten ihre Hüften im Rhythmus von Twist-Musik, die von irgendwoher aus dem Lautsprecher eines Transistorradios schepperte. Daneben standen andere, lachten und klatschten oder schnippten im Takt mit den Fingern und schienen sich köstlich zu amüsieren. Niemand kümmerte sich darum, dass jetzt auch eine Straßenbahn im Verkehrsstau stecken geblieben war und ein schrilles Bimmeln ausstieß. Vier junge Männer schleppten einen kleinen Cafétisch und Stühle herbei und machten es sich auf der Fahrbahn gemütlich. Einer von ihnen prostete Freddy und Clara mit seinem halb vollen Bierglas zu.
»Die erobern schon wieder die Straße«, stellte Freddy begeistert fest. »Komm, da machen wir mit!«
Er nahm ein paar Münzen aus seiner Jackentasche, warf sie auf den Tisch und stand auf. Ehe Clara sichs versah, hatte er ihre Hand ergriffen und zog sie mit sich. Ohne Bedauern ließ sie die zusammengeschmolzenen Reste ihres Erdbeereises stehen. Mit diesem Freddy durch Schwabing zu tanzen war doch viel interessanter als Eiscreme, egal wie laut und empört die ausgebremsten Autofahrer auch hupen mochten.
Sekunden später fand sich Clara in einem wilden Getümmel wieder. Mitten auf der Straße ging es zu wie auf dem Oktoberfest. Die Menge jauchzte und johlte. Aus allen umliegenden Cafés und Restaurants wurde immer mehr Mobiliar auf die Fahrbahn geschleppt. Vor dem Café Europa hatten ein paar junge Frauen die Tische erklommen und tanzten darauf herum, dass ihre Rocksäume flatterten, während ihnen die umstehenden jungen Männer mit ihren Bierflaschen in der Hand zujubelten.
»Das ist himmlisch!«, schrie Clara gegen den Lärm an, und Freddy grinste zurück. Schon hatte er sie an der Taille gefasst und hob sie ebenfalls auf einen der Tische. Dann schwang er sich selbst hinauf. Eine Sekunde lang blieb Clara verdutzt stehen, doch als Freddy übermütig lostanzte und mit den Armen durch die Luft ruderte, vergaß sie ihre Scheu und twistete los. Es war ihr völlig egal, wie viele Leute dabei zuschauten und ob das peinlich aussah oder nicht. Es machte einfach Spaß, mit Freddy auf einem kleinen, wackeligen Cafétisch herumzutanzen und mit all den anderen den Text des Liedes mitzugrölen, das sie schon so oft im Radio gehört hatte: »It’s allright all night, ist okay all day … yeah, yeah …«
Ein bizarres Glücksgefühl durchrauschte Clara. Mehr noch als am Abend zuvor genoss sie es, etwas Unerhörtes zu tun. Etwas, das ihre Eltern ganz und gar nicht gutheißen würden. Aber genau darum machte dieser unglaubliche Abend so viel Vergnügen. Wer konnte schon von sich behaupten, in einer hinreißenden Sommernacht mitten auf der Leopoldstraße Twist getanzt zu haben? Clara sah sich um, in der Hoffnung, dass irgendwo Sannis lachendes Gesicht in der Menge auftauchte, aber sie war nirgendwo zu sehen. Vermutlich lag sie bereits im Bett, weil sie morgen früh wieder so zeitig aufstehen musste, um in der Bäckerei zu arbeiten.
Als die Klänge von Joey Dees Peppermint-Twist