Glück ist nichts für schwache Nerven - Theresia Graw - E-Book
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Glück ist nichts für schwache Nerven E-Book

Theresia Graw

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Beschreibung

Ein Sommer mit Hindernissen: Der amüsante Wohlfühlroman »Glück ist nichts für schwache Nerven« von Theresia Graw jetzt als eBook bei dotbooks. Es hat immer etwas mit Herzklopfen zu tun, einen neuen Job anzufangen. Ganz besonders im Fall von Valentina – denn die hat sich soeben undercover in das Anwesen des vermögenden Herrn Enzinger eingeschlichen! Was der Pensionär nicht ahnt: Valentina ist gar nicht seine neue Haushälterin – sondern seine uneheliche Tochter, mit der er nie Kontakt haben wollte … Zunächst macht der grummelige alte Mann ihr nichts als Ärger, doch je mehr Zeit sie gemeinsam verbringen, desto besser versteht Valentina den Schmerz und den Kummer, die ihren Vater plagen. Als sie dann auch noch den gutaussehenden Gärtner Felix kennenlernt, der ihr Herz bei jeder Begegnung hüpfen lässt, scheint ein unerwartetes Happy-End für sie in greifbarer Nähe zu sein. Da gibt es nur ein Problem: Wird Valentina ihrem Vater das Herz brechen, wenn sie ihren Schwindel beichtet? »Theresia Graw erzählt mit Herz und Augenzwinkern von der Suche nach der großen Liebe und dem, was man Glück nennt.« Zeitschrift ›Linda Apotheken‹ Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der humorvolle Liebesroman »Glück ist nichts für schwache Nerven« von Theresia Graw ist ein Lesevergnügen für alle Fans von Susanne Fröhlich und Petra Hülsmann! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 553

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Über dieses Buch:

Es hat immer etwas mit Herzklopfen zu tun, einen neuen Job anzufangen. Ganz besonders im Fall von Valentina – denn die hat sich soeben undercover in das Anwesen des vermögenden Herrn Enzinger eingeschlichen! Was der Pensionär nicht ahnt: Valentina ist gar nicht seine neue Haushälterin – sondern seine uneheliche Tochter, mit der er nie Kontakt haben wollte … Zunächst macht der grummelige alte Mann ihr nichts als Ärger, doch je mehr Zeit sie gemeinsam verbringen, desto besser versteht Valentina den Schmerz und den Kummer, die ihren Vater plagen. Als sie dann auch noch den gutaussehenden Gärtner Felix kennenlernt, der ihr Herz bei jeder Begegnung hüpfen lässt, scheint ein unerwartetes Happy-End für sie in greifbarer Nähe zu sein. Da gibt es nur ein Problem: Wird Valentina ihrem Vater das Herz brechen, wenn sie ihren Schwindel beichtet?

Über die Autorin:

Theresia Graw, geboren 1964 in Oberhausen, lebt in München. Sie hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Nach einem Studium der Germanistik und Kommunikationswissenschaften arbeitete sie zunächst als Journalistin, bevor sie sich immer mehr auch dem Schreiben von Romanen zuwandte. »Anders als in der Nachrichtenredaktion kann ich als Romanautorin meine Phantasie spielen lassen und selbst entscheiden, ob die Geschichten ein gutes Ende nehmen.«

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre turbulenten Liebesromane »Wenn das Leben Loopings dreht« und »Liebe ist wie Salsa tanzen«.

Die Website der Autorin: www.theresiagraw.de

Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/theresia.graw/

Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/theresiagraw/

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von einen Motiven von Valenty / shutterstock.com und Arlenta Apostrophe / stock.adobe.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-846-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Theresia Graw

Glück ist nichts für schwache Nerven

Roman

dotbooks.

Kapitel 1.

Wenn nur dieses Klingeln nicht wäre! Wahrscheinlich geht eines der Lämpchen am Kronleuchter bald kaputt. Wirklich ärgerlich. So ein feudales Ambiente hier, und dann nervt dieses Gebimmel. Leise, aber lästig.

»Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Antwort«, sagt die Frau, die sich mir gegenüber in ihrem Sessel zurückgelehnt hat. Eine attraktive Mittfünfzigerin, graue Kurzhaarfrisur, dunkelblauer Hosenanzug. Ihre wohlmanikürten Hände liegen auf einem aufgeklappten Notizblock, in der Rechten hält sie lässig einen schmalen silbernen Kugelschreiber. »Machen Sie es sich bequem, Valentina – ich darf doch Valentina sagen, oder? Wir haben es überhaupt nicht eilig.«

Natürlich haben wir es nicht eilig. Vor allem sie nicht! Wir sitzen seit einer Viertelstunde in ihrem prächtigen Wohnzimmerpraxisbüro zwischen hohen stuckverzierten Wänden, einem breiten, vollgestopften Bücherregal und dem schweren Mahagonischreibtisch vor dem Fenster, und sie verdient an jeder einzelnen Minute, die ich auf diesem tiefen, weichen Ledersofa sitze, egal ob ich etwas sage oder nicht. Je weniger ich sage, desto länger dauert es, und je länger es dauert, desto besser für sie. Wenn ich richtig gerechnet habe, dann hat sie bis jetzt bereits 40 Euro eingenommen, ohne dass wir entscheidend vorangekommen sind. Ich habe gerade mal ein paar Angaben zu meiner Person gemacht. Allmählich muss etwas passieren.

»Es geht mir miserabel«, sage ich endlich und starre auf den kleinen weißen Porzellanelefanten, der mittelmäßig dekorativ vor mir auf dem Glastisch steht. Es fehlt ein Stück vom Rüssel. Vielleicht hat ihn einer meiner Vorgänger aus lauter Verzweiflung abgebissen. »Ich bin seit genau drei Tagen und siebeneinhalb Stunden geschieden, so ganz offiziell mit Richterspruch und Behördenstempel und allem Drum und Dran. Und anstatt froh zu sein, dass das ganze Theater endlich vorbei ist – diese grässlichen Anwaltsbriefe, diese elenden Verhandlungstermine und die ganze miese Trickserei meines Mannes –, stattdessen geht es mir schlecht. Hundeelend. Grauenhaft.«

Der Kronleuchter klingelt immer noch.

Die Frau nickt. »Sie sind enttäuscht, weil Ihr Lebensplan gescheitert ist. Das ist eine verständliche Reaktion. Das muss noch lange keine Depression sein.«

Natürlich nicht. Ich habe am Telefon nur behauptet, womöglich an einer akuten Depression mit Suizidgedanken zu leiden, damit ich schnellstens einen Termin bei ihr bekomme. Ich habe ehrlich gesagt überhaupt keinen Drang danach, sofort die nächstbeste ICE-Strecke aufzusuchen und einem Lokführer das Trauma seines Lebens zu verpassen, aber so richtig blendend geht es mir nun wirklich nicht.

»Empfinden Sie Zorn?«, fragt die Frau weiter und schaut wieder auf, nachdem sie ein paar nicht entzifferbare Kringel auf ihren Block geschrieben hat.

»Klar.« Diesmal muss ich nicht lange nachdenken. »Ich bin stinksauer auf meinen Mann. Auf meinen Exmann, wollte ich natürlich sagen.«

Noch ein zustimmendes Nicken. »Sie sind wütend auf Ihren geschiedenen Mann, weil er Sie enttäuscht hat. Das ist gut. Sie haben ein Recht auf dieses Gefühl.«

»Ich würde ihm am liebsten in die Eier treten, dem Blödmann«, murmele ich.

Jetzt nickt sie nur noch.

Hoffentlich ist sie ihr Geld wert, denke ich. Ich habe keine Erfahrung in diesen Dingen. Ich war bis jetzt noch nie bei einer Therapeutin. Ich bin hergekommen, weil mir jeden Tag auf dem Weg zur U-Bahn dieses Türschild aufgefallen ist: Dr. Roswitha Leberecht – Psychotherapie und Coaching – Leben in Balance. Ich finde, eine Frau mit diesem Namen sollte in der Lage sein, mein Dasein wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich habe es dringend nötig.

»Er sagt, er will Kinder mit ihr«, knurre ich.

Das Klingeln aus dem Kronleuchter ist wirklich ärgerlich. Jemand sollte Frau Leberecht mal sagen, dass sie ihre Lampe reparieren lassen muss.

»Ich habe immer eine Familie haben wollen, wissen Sie, all die Jahre. Aber Holger hat gesagt, das hat Zeit, Schatz, lass uns erst das Leben genießen und im Beruf Karriere machen. Und dann kommt diese Tussi daher, und plötzlich ist alles anders. Ich könnte ihn ...«

Ich sage nicht, was ich alles könnte, abgesehen von der Sache mit den Eiern. Ich nehme an, Frau Leberecht kann es sich denken. Jedenfalls nickt sie wieder. »Sie sind wütend und empört, weil sich Ihr Ehemann einer anderen Frau zugewandt hat. Weil er mit ihr das Leben leben will, das Sie für Ihre Ehe mit ihm geplant hatten.«

Prima. Das weiß ich selbst, dass ich wütend bin. Kann sie mir nicht endlich den entscheidenden Tipp geben?

Frau Leberecht blickt kurz auf den Notizblock auf ihrem Schoß und dann wieder zu mir hoch.

»Sie sind sechsunddreißig, haben Sie gesagt. Sie sind noch jung. Viele Frauen fangen heutzutage in diesem Alter erst an, sich Gedanken darüber zu machen, ob sie einmal Kinder haben wollen oder nicht. Sie sind eine attraktive Frau, Sie haben einen interessanten Beruf. In Ihrem Leben ist noch alles möglich. Kinder, Karriere – vielleicht auch ein ganz anderer Weg ... Ich bin überzeugt davon, dass wir diese problematische Phase in Ihrem Leben gemeinsam überwinden und dass Sie gestärkt aus dieser Krise hervorgehen werden.«

Was soll sie auch sonst sagen. Ein Satz wie »Ich fürchte, Sie sind ein hoffnungsloser Fall, da kann ich leider nichts machen« gehört sicherlich nicht zu ihrem Repertoire. Ich frage mich, welchen anderen Weg Frau Leberecht neben Kindern und Karriere meinen könnte. K wie Kloster? Ja, vielleicht finden wir in der hundertfünfzigsten Therapiestunde heraus, dass meine wahre Bestimmung darin liegt, für den Rest meines Lebens als verschleierte Nonne hinter dicken Klostermauern zu verschwinden. Wundern würde es mich nicht.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Tätigkeit als Personalreferentin bei Bauer und Böhning«, fährt Frau Leberecht fort und lässt den Blick wieder über ihre Notizen wandern. »›Großhandel für Aktenvernichter und Schreddermaschinen‹. Das klingt – hm – interessant, ein bisschen pikant möglicherweise in Ihrer momentanen Lage ...« Hier huscht ein kleines ironisches Lächeln über ihr Gesicht, das aber gleich wieder hinter einer professionellen ernsten Miene verschwindet. »Vielleicht gelingt es Ihnen, Ihre gegenwärtige, verständlicherweise schmerzhafte persönliche Situation als Chance zu begreifen, um beruflich einen neuen Schritt zu tun und diesen Erfolg dann ...«

»Beruflich geht gar nichts«, unterbreche ich sie. Ich habe den Eindruck, das Kronleuchterklingeln ist ein kleines bisschen lauter geworden. »Weder Schritt noch Erfolg. Da stehe ich in einer Sackgasse. Bis gestern hatte ich gedacht, dass ich im nächsten Monat den Job als Bereichsleiterin bekomme. Mein Chef hat seit Wochen entsprechende Andeutungen gemacht und mir geraten, mich zu bewerben. Das habe ich auch getan. Und dann erfahre ich, dass meine neue Kollegin befördert wird, obwohl sie erst seit ein paar Monaten bei uns arbeitet.«

Wahrscheinlich hatte sie beim Bewerbungsgespräch den kürzeren Rock an. Die blöde Schlampe. Das denke ich aber nur.

»Aha«, sagt Frau Leberecht, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sie erleiden im Moment also nicht nur eine persönliche Enttäuschung, ausgelöst durch die Trennung von Ihrem Mann, sondern auch eine frustrierende Entscheidung in Ihrem Berufsleben, weil eine Mitbewerberin Ihnen vorgezogen wurde. Es ist nur natürlich, dass Sie mit Ihrer Lebenssituation im Moment unzufrieden sind.«

»Das kann man so sagen.« Muss man wirklich jahrelang Psychologie studiert haben, um zu dieser Erkenntnis zu kommen? Wenn ich rundum glücklich und zufrieden wäre, hätte ich mich doch niemals zu ihr auf dieses peinliche Sofa gesetzt.

»Wie sieht es in Ihrem sozialen Umfeld aus?«, fährt Frau Leberecht fort und rückt sich kurz die Brille zurecht. »Erzählen Sie mir etwas über Ihre beste Freundin.«

Ich zucke mit den Schultern. »Meine eine beste Freundin ist Anfang des Jahres zu ihrem Freund nach Berlin gezogen und hat vor ein paar Wochen ihr erstes Kind bekommen. Die andere macht gerade Flitterwochen auf Mauritius. Gestern kam eine Postkarte von ihr. Ihre frisch verknallten Urlaubsgrüße, garniert mit weißem Sandstrand, Meer und Palmen, haben mich nicht gerade aufgemuntert, das können Sie sich vorstellen.«

»Aha«, macht Frau Leberecht noch einmal, und nach einer winzigen Pause: »Wie steht es mit Ihrer Familie? Geschwister? Eltern?«

Ich schüttele den Kopf: »Da ist auch nicht viel Trost zu holen. Abgesehen von meiner Mutter habe ich keine näheren Verwandten. Meine Zeugung fiel in eine Zeit, in der meine Mutter eine überzeugte Anhängerin der freien Liebe war. Ich befürchte, sie weiß selbst nicht genau, wer mir die andere Hälfte meiner DNA vererbt hat.«

Frau Leberecht zieht ihre linke Augenbraue einen Millimeter in die Höhe. Sie sitzt jetzt sehr aufrecht in ihrem Sessel. Allmählich nähern wir uns offenbar dem therapeutisch interessanten Bereich meiner Vita.

»Berichten Sie mir etwas über Ihre Kindheit, Valentina!«

»Ach Gott.« Mir entweicht ein Seufzer. Gehört das wirklich alles zur Therapie? Mir sind die Details peinlich. »Es war immer ein bisschen chaotisch bei uns, wissen Sie. Als ich klein war, hat meine Mutter in einer Kommune gelebt. Zwölf Leute in einem heruntergekommenen Haus in Schwabing. Die Jungs und Mädels um mich herum waren alle ganz nett und locker, aber ich fand es schwierig, den Überblick zu behalten. Ständig zog jemand ein oder aus, und ich habe nie kapiert, wer gerade mit wem liiert war. Andererseits war es natürlich praktisch, weil immer jemand zu Hause war, der mir bei den Schularbeiten helfen konnte oder mir abends zur Gitarre ein Gutenachtlied vorgesungen hat, wenn meine Mutter unterwegs war. Glauben Sie mir, noch heute kann ich sämtliche Strophen von ›Blowin’ in the Wind‹ auswendig.«

Ich halte einen Moment inne. Oder sind derlei Feinheiten irrelevant? Frau Leberecht sieht mich schweigend, aber aufmerksam an. Sie nickt mir aufmunternd zu. Na gut, was soll’s, dann erzähle ich eben weiter. Ich bin ja schließlich nicht zum Spaß hier. Vielleicht hilft es mir tatsächlich.

»Meine Mutter ist nicht so der Familientyp, wissen Sie. Gerade organisiert sie ein Protestcamp in Alaska. Sie demonstriert da seit ein paar Tagen mit Greenpeace gegen Ölbohrungen in einem Naturschutzgebiet. Sie ist hauptberuflich Umweltaktivistin. Dabei ist sie inzwischen über sechzig. Sie war immer sehr engagiert in diesen Dingen. Schon als Studentin war sie als Friedensaktivistin unterwegs und protestierte mit ihren Freunden gegen den Vietnamkrieg, später gegen Atomkraft, gegen das Wettrüsten, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die Benachteiligung der Frau, gegen Umweltverschmutzung und gegen Gentechnik. Wogegen halt so protestiert werden muss. Wissen Sie, ich bin wirklich sehr stolz darauf, dass sich meine Mutter um die Rettung der Welt kümmert. Aber manchmal finde ich, sie hätte sich zwischendurch ruhig ein bisschen mehr um ihre eigene Tochter kümmern können.«

Frau Leberecht blinzelt leicht. Sie sagt jetzt nicht einmal mehr »Aha«, sondern kritzelt eifrig auf ihren Notizblock. Ich schätze, sie hat den Haken gefunden, bei dem sie mit ihrer Therapie ansetzen kann: Vaterlosigkeit, Mutter-Tochter-Konflikt, Verlustängste und so. Kein Wunder wahrscheinlich, dass es mit meiner Beziehung nicht geklappt hat. Ich rede einfach weiter:

»Wo immer auf diesem Planeten Bäume gerodet werden sollen, Gelbbauchunken in ihrem Biotop bedroht sind oder die Jagd auf Wale ansteht, ist meine Mutter mit ihren Plakaten und Gummistiefeln dabei. Sie geht völlig darin auf.«

»Und kann man davon leben?« Ich bezweifele, dass Frau Leberecht es tatsächlich in Erwägung zieht, beruflich umzusatteln.

»Sie finanziert sich seit ein paar Jahren über ihre Homepage«, erkläre ich. »›You-and-me-will-change-the-world.com‹. Sie hat da eine Kontonummer angegeben, und es gibt tatsächlich Leute, die ihr Geld spenden. Zumindest gelegentlich. Außerdem arbeitet sie freiberuflich bei Greenpeace.«

»Sehr interessant.« Frau Leberecht macht sich weiter Notizen. »Und wohnt sie immer noch in der Kommune?«

Ich schüttele den Kopf.

»Nein. Ich war ungefähr fünfzehn, als meine Mutter feststellte, wie vorteilhaft es ist, wenn man nicht ständig erst die Küche putzen muss, bevor man sich morgens eine Tasse Kaffee machen möchte, und wenn es keinen Belegungsplan fürs Badezimmer gibt, an den sich sowieso niemand hält ...«

»Und Ihr Vater? Haben Sie mit Ihrer Mutter je über Ihren Vater gesprochen?«

Es war zu befürchten gewesen, dass diese Frage kommen würde. Eigentlich wollte ich mich ja hier über meinen bescheuerten Exmann auslassen und über meinen hinterhältigen Chef und vielleicht auch noch über meine infame Kollegin. Aber doch nicht über meinen Erzeuger, von dem ich nicht einmal den Namen kenne! Wahrscheinlich denkt Frau Leberecht, dass ich einen Vaterkomplex habe. So ein ausgemachter Blödsinn. Ich kenne den Typen doch gar nicht.

»Meine Mutter will darüber nicht reden«, antworte ich. »Männer werden völlig überschätzt, sagt sie immer. Wie gesagt, ich nehme an, sie hatte bei ihren Männerbekanntschaften den Überblick verloren, damals in den Siebzigern, als sie als einer der letzten Hippies unterwegs war und noch immer an Frieden, Freiheit und den immerwährenden Sommer der Liebe glaubte.«

»Nahm Ihre Mutter damals Drogen? Marihuana? LSD vielleicht?«

»LSD?« Jetzt wird’s mir aber allmählich zu bunt. »Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht dabei. Vielleicht hat sie mal was geraucht, was weiß ich. Seit ich sie kenne, lebt meine Mutter jedenfalls sehr gesund. Im Übrigen wollte ich mit Ihnen über meine eigenen Probleme sprechen und nicht über die meiner Mutter.«

Das Letzte sage ich ein bisschen patzig, aber Frau Leberecht lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich muss Ihr gesamtes Umfeld kennen, um einen Einblick in Ihre Psyche zu erhalten. Es gehört alles zusammen, Valentina.«

Frau Leberecht blickt diskret auf ihre schmale goldene Armbanduhr. Wahrscheinlich ist meine Therapiestunde jetzt zu Ende. Toll. Da habe ich ihr alles Mögliche über meine Blumenmädchen-Mutti erzählt und weiß immer noch nicht, wie ich es anstellen soll, meinem eigenen verkorksten Leben den nötigen positiven Schub zu geben. Vielleicht sollte ich mir ein paar Gänseblümchen in die Haare flechten und nach San Francisco fliegen.

»Es sind nicht die Probleme an sich, die uns das Leben schwer machen, sondern unser Festhalten daran – sagt Buddha. Ich denke, wir haben einen guten Ansatz für unsere Therapie gefunden.« Frau Leberecht klappt ihren Notizblock zusammen, erhebt sich lächelnd und reicht mir die Hand. »Ich würde gern mit Ihnen weiterarbeiten. Wollen wir einen Termin für nächste Woche ausmachen? Es wäre wichtig, dass wir unser Gespräch konsequent durchführen.«

Na klar. Am besten zweimal wöchentlich bis ans Ende meines Lebens. Falls ich nicht vorher ins Kloster gehe. Oder nach Kalifornien. (Noch eine Option mit K!) Ausreichend therapeutischen Sprengstoff scheint es in meiner unorthodoxen Familienführung ja zu geben. Vielleicht bekomme ich nach drei Jahren Dauertherapie wenigstens einen Rabatt.

»Natürlich. Ich bin am nächsten Dienstag wieder hier«, sage ich und überlege, wie Frau Leberecht und Buddha eigentlich darauf kommen, dass ich an meinen Problemen festhalte. Ich habe meinen Mann an eine andere abgetreten, ich habe meine Karriere einer Kollegin überlassen, und ich habe mich noch nie ernsthaft beschwert, dass meine Mutter lieber in der Welt herumdemonstriert, statt sich für mich ein bisschen mehr um eine heile Familie zu bemühen. Ich finde, gerade im Loslassen bin ich sehr gut.

Auf dem Weg zur Tür bleibe ich stehen. »Sie sollten Ihren Kronleuchter reparieren lassen. Eines der Lämpchen klingelt die ganze Zeit. Ein ganz hoher, stechender Ton. Stört Sie das nicht?«

Frau Leberecht schaut mich erstaunt an und horcht einen Moment.

»Es klingelt? Im Kronleuchter? Das habe ich noch gar nicht bemerkt.«

Sie geht zur Tür und knipst den Schalter aus. Augenblicklich liegt das Zimmer im trüben Dämmerlicht dieses regnerischen Aprilnachmittags. Aber es klingelt immer noch.

»Die Lampe ist es nicht«, sage ich und schaue mich suchend in ihrem Zimmer um. »Woher kann das Klingeln bloß kommen? Haben Sie irgendwo noch ...«

»Tinnitus!«, ruft Frau Leberecht. »Kann es sein, dass Sie einen Tinnitus haben? Ohrgeräusche?«

»Ich? Wieso sollte ich Ohrgeräusche haben! Ich hatte noch nie Ohrgeräusche. Vielleicht – vielleicht hat jemand im Zimmer nebenan vergessen, den Wecker auszustellen?«

Frau Leberecht blickt mich mit dem Hauch eines Kopfschüttelns an.

»Es gibt keinen Wecker in meiner Toilette. Ich befürchte wirklich, dass Sie Ohrgeräusche haben. Womöglich bahnt sich bei Ihnen ein Hörsturz an. Kein Wunder bei all dem Stress in letzter Zeit. Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das ist ein Fall für den Ohrenarzt. Wenn nicht für den Neurologen. Gehen Sie am besten sofort zu einem Fachmann!«

Kapitel 2.

Es ist Freitagvormittag, Viertel nach elf. Ich sitze vor einer Tasse Milchkaffee und einem gigantischen Stück Erdbeersahnetorte im Café Glockenspiel und schaue hinunter auf den reich bevölkerten Marienplatz. Üblicherweise ist das nicht die Zeit, in der ich es mir in einem hauptsächlich von Touristen heimgesuchten Lokal gemütlich mache und eine derart üppige Zwischenmahlzeit einnehme. Eigentlich müsste ich jetzt mit unserer neuen Bereichsleiterin zusammensitzen und die Termine für die nächste Woche durchgehen. Aber wer hätte das gedacht: Frau Leberecht lag richtig mit ihrer Annahme! Ich bin arbeitsunfähig. Und zwar für die nächsten drei Wochen. So lange hat der Ohrenarzt mich krankgeschrieben, nachdem er heute früh bei mir einen mittelschweren Tinnitus diagnostiziert hat.

»Wenn Sie nicht sofort einen Gang runterschalten, droht Ihnen ein Kollaps«, hat er gesagt. »Sie müssen zur Ruhe kommen. Nehmen Sie sich Zeit für sich. Schlafen Sie, lesen Sie, kochen Sie sich etwas Schönes, gehen Sie spazieren. Tun Sie sich etwas Gutes. Genießen Sie Ihr Leben.«

Tja, danke, Doc, guter Tipp. Die Frage ist nur: Wie genießt man sein Leben, wenn es sich gerade zu einer kapitalen Katastrophe entwickelt hat?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bin ich bei meiner Torte im Café Glockenspiel gelandet. Nach dem Motto: Auf dem Weg zu Genuss und Entspannung könnte der Verzehr von fünfhundert Kalorien vorübergehend gute Dienste leisten.

Geschmacklich klappt das auch ganz gut, die Torte ist himmlisch. Sahnig, fruchtig, toll. Gegen mein akustisches Problem hilft sie leider nicht. Ganz im Gegenteil. Das Klingeln in meinem Gehörgang schwillt gerade dramatisch an und geht in einen markerschütternden Radetzkymarsch über.

Ach, das ist ja gar nicht mein kaputtes Ohr. Das Handy in meiner Tasche meldet Gesprächsbedarf.

Meine Mutter.

»Hallo, Valentina! Alles klar bei dir?«

Es rauscht und knirscht im Hörer. Angesichts der Tatsache, dass sich meine Mutter gerade in Übersee befindet und ich ihre Handyrechnung nicht durch einen umfangreichen Bericht über die unerfreulichen Ereignisse der vergangenen Tage strapazieren will, fasse ich meine Lage in den drei Worten »Es geht so« zusammen.

»Ach ja, hattest du nicht neulich deinen Scheidungstermin? Bin leider nicht dazu gekommen, früher anzurufen. War es sehr schlimm?«

Von Holgers zufriedenem Grinsen nach dem Richterspruch, von der Proseccoflasche, die aus der Umhängetasche seiner neuen Gefährtin herauslugte, von meiner Psychotherapie, dem Tinnitus und der Krankschreibung kann ich ihr ja immer noch erzählen, wenn sie zurück ist.

»Ich hab es überstanden«, sage ich deshalb und füge schnell hinzu, um Nachfragen zu entgehen: »Und wie ist es bei dir in Alaska? Ist ja irre, dass du von der Arktis aus anrufen kannst. Wie läuft eure Protestaktion?«

»Ach, das ist leider schiefgegangen. Wir mussten unser Camp abbrechen. Vor ein paar Tagen ist in der Region ein furchtbarer Schneesturm aufgezogen. Es wäre zu gefährlich gewesen dortzubleiben. Wir werden es vielleicht im Sommer wieder versuchen. Erst mal haben wir umdisponiert. Ich bin jetzt in Brasilien.«

»In Brasilien? Um Himmels willen, Mutti, was machst du in Brasilien?«

Ich stelle mir vor, wie meine Mutter und ihre Öko-Aktivisten-Freunde in Bikinis und Badehosen am Strand der Copacabana liegen, die Doppeldaunen-Polarschlafsäcke bequem unter den Köpfen zusammengerollt. Aber ich ahne schon, dass sie keinen Erholungsurlaub unter südamerikanischer Sonne plant.

»Wir schließen uns einer Protestaktion gegen das Abholzen des Regenwalds an. Das ist ein ganz wichtiges Klimaschutzprojekt. Wir bleiben noch so lange in Rio, bis unsere Truppe vollständig ist, und dann fliegen wir zusammen an den Amazonas ...«

»An den Amazonas? Ach Mutti, du bist verrückt! Hast du dir schon mal überlegt, wie viel CO2 du in die Luft pustest, während du kreuz und quer durch die Welt jettest? Ich glaube, du würdest mehr für den Klimaschutz tun, wenn du zu Hause auf dem Sofa sitzen und ein gutes Buch lesen würdest.«

»Sei nicht albern, Valentina. Irgendjemand muss doch die Menschen aufrütteln, die Politik unter Druck setzen, sonst passiert überhaupt nichts. Hör zu! Ich habe ein Problem: Mir ist gestern Abend mein Geldbeutel geklaut worden. Geld, Kreditkarte, Ausweis, alles futsch.«

»Ach du Schreck! Und jetzt?«

»Die Karten habe ich schon gesperrt, aber ich muss so schnell wie möglich zum Konsulat und mir einen neuen Ausweis besorgen, sonst komme ich nicht weiter. Ich habe blöderweise die Kopie meines Reisepasses zu Hause vergessen. Sie müsste irgendwo in einer Schublade in meinem Schreibtisch liegen. Kannst du sie mir nachher faxen? Ich geb dir gleich mal die Faxnummer meines Hotels. 0055...«

»Moment, ich brauche erst was zum Schreiben.«

Hektisch krame ich in meiner Handtasche nach einem Stift. Meine Mutter kann ja nicht wissen, dass ich heute Vormittag nicht im Büro sitze und statt eines Kugelschreibers eine Kuchengabel vor mir auf dem Tisch liegt. Ich kritzele die Nummer auf die dünne weiße Papierserviette. Hoffentlich kann ich das Gekrakel später noch entziffern.

»Danke, Valentina. Wunderbar. Bitte beeil dich mit dem Faxen. Ich melde mich, wenn alles geklappt hat.«

»Viel Glück, Mutti.«

Weg ist sie wieder. In meinen Ohren bleibt nur ein leises Klingeln zurück.

Lustlos stopfe ich den Rest der Torte in mich hinein. Hatte ich tatsächlich eine Sekunde lang gedacht, meine Mutter würde ihr Klimaschutz-Protestprogramm vorzeitig abbrechen und zurück nach München kommen, um ihrer frisch geschiedenen Tochter tröstend die Hand zu halten? Das wäre ja mal was ganz Neues gewesen. Sie hatte nicht einmal an meinem ersten Schultag Zeit, mich in die Klasse zu begleiten, weil sie dringend für die Wiedereinbürgerung von Bibern in Bayern demonstrieren musste. Oder war es gegen den Bau eines Hotelkomplexes, der eine Population von Sumpfspitzmäusen bedrohte? Ich weiß es nicht mehr so genau. Netterweise half mir eine von Mamas WG-Freundinnen damals, das richtige Klassenzimmer zu finden. Aber ich frage mich: Wenn meine Mutter der Ansicht war, dass ich bereits als Sechsjährige ganz gut ohne sie klarkommen würde, wie sollte sie jetzt, wo ich eine erwachsene, selbstständige Frau bin, glauben, dass ich gelegentlich ein wenig moralische Unterstützung gebrauchen könnte?

Ach verdammt! Was nützt einem der schönste arbeitsfreie Tag, wenn man ihn allein mit einem Stück Torte verbringen muss! Ein Haufen Sahne beseitigt keine Probleme, sondern schafft höchstens ein paar neue im Hüftbereich. Ich muss den Tatsachen ins Auge sehen: Mein Leben ist das einer einsamen Solistin. Kein Mann, keine Mutter, kein Vater, keine Geschwister, keine Freundin – was für eine miserable Personalpolitik!

Ich bin mir sicher, meine persönlichen Rückschläge der letzten Zeit wären leichter zu ertragen, wenn ich ein bisschen mehr Verwandtschaft hätte. Schon als kleines Mädchen habe ich sämtliche Schulfreundinnen um ihre Familien beneidet. Die hatten immer das komplette Programm um sich herum: Mutter, Vater, Bruder und Schwester, manchmal mehrere von beiden Sorten und im besten Fall noch einen Golden Retriever oder eine Siamkatze. Wahlweise ein paar Kanarienvögel. Zum Kindergeburtstag strömten dann noch jede Menge Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen herbei, und es gab reichlich Geschenke. Was für ein beneidenswertes Spektakel das am Kaffeetisch immer war! Dazu fantastische Schokoladen- oder Buttercremetorten mit Smarties drauf, bunte Clownsservietten und Luftballons in Häschenform. Himmlisch. So hätte ich auch gern gelebt.

Aber meine Mutter hielt nicht viel von alledem.

»Schätzchen, so was ist doch total spießig«, sagte sie immer, wenn ich zwischen Schützt-den-Regenwald-Puzzle und Bedrohte-Tiere-deiner-Heimat-Memory hin und wieder das Thema Geschwister ansprach. Oder mich erkundigte, wann es denn endlich mal einen richtigen Papa für mich gäbe. Oder wenigstens Clownsservietten.

»Ach Valentina!« Ich höre ihre Stimme noch heute. »Wir wollen doch nicht zum Establishment gehören, oder?«

Ich leider doch. Ich hätte furchtbar gern zum Esstäblischmänt gehört (oder wie immer man das komische Wort aussprach) und so spießig wie möglich gelebt. Inklusive Reihenhaus und Salzteignamensschild an der Tür (»Hier wohnen Mama, Papa, Valentina – und Lumpi!«). Ich bin mir sicher, ich war das einzige Kind im Hort, das den Begriff »Establishment« kannte. Jedenfalls so halbwegs. Für mich war das eine ferne, begehrenswerte Welt, die meiner Vorstellung vom Paradies ziemlich nahe kam. Im Establishment gäbe es jeden Tag Torte. Und einen Papa.

Keine Ahnung, warum das mit meiner Mutter und der großen Liebe nie geklappt hat. Ich für meinen Teil habe mir in dieser Hinsicht Mühe gegeben. Wie gern hätte ich wenigstens selbst eine Familie gegründet, am Anfang, als mit Holger noch alles in Ordnung war. Mit zwei bis drei allerliebsten, süßen kleinen Kindern in Hellblau und Rosa. So wie die Familie, die da hinten im Eck am Fenster sitzt. Wie aus dem Bilderbuch: Mama, Papa und zwei Kinder, die sich beim Ausflug in die Stadt eine kleine Kuchenpause gönnen. Allerliebst! Na gut, das Idealbild wird ein bisschen getrübt durch das grässliche Geschrei, welches das kleine zahnlose Monster in seinem Kinderwagen veranstaltet. Und es wäre auch angenehmer, wenn die größere Schwester nicht ununterbrochen mit zwei Kaffeelöffeln auf sämtlichen Tellern und Tassen herumtrommeln und damit das ganze Lokal nerven würde. Ja, vielleicht wäre die Szene sogar noch ein bisschen zauberhafter, wenn sich die Eltern nicht gerade in raumfüllender Lautstärke darüber austauschen würden, wer von beiden dafür verantwortlich ist, dass der geplante Erwerb des neuen Flachbildfernsehers ein solches Fiasko geworden ist ...

Aber trotzdem. Abgesehen von diesen kleinen Unzulänglichkeiten handelt es sich ganz sicher um eine glückliche, beneidenswerte Familie. Die ich nicht habe und weshalb ich aller Wahrscheinlichkeit nach dazu verdammt bin, den Rest meines Lebens allein bei einem ungesunden Stück Torte zu sitzen.

Wenn ich Holger und seine neue Tussi demnächst dabei erwische, wie sie selig lächelnd einen Kinderwagen durch die Straße schieben, erwürge ich ihn eigenhändig.

Es sei denn, Frau Leberecht überzeugt mich rechtzeitig davon, im Umgang mit meinem Exmann eine andere Strategie anzuwenden.

Kapitel 3.

Im Arbeitszimmer meiner Mutter begrüßt mich stumm die Kaktusarmee auf dem Fensterbrett. Wenigstens brauche ich mich nicht um irgendwelche Pflanzen zu kümmern, während Frau You-and-me-will-change-the-world auf dem Globus unterwegs ist. Diese hässlichen stacheligen Burschen halten es gut und gerne ein paar Wochen ohne Wasser aus. Aber ein bisschen frische Luft täte der Wohnung gut. Ich reiße das Fenster auf, und gleich strömt eine freundliche Frühlingsbrise ins Zimmer. Die Sonne ist wunderbar nach drei Regentagen. Jetzt schnell ran an den Schreibtisch, die Kopie finden, nach Brasilien faxen und dann nach Hause in die Badewanne. Vorher vielleicht noch ein Abstecher in meine Lieblings-Secondhand-Boutique »La Dolce Vita«, um mir die ein oder andere ebenso tröstende wie preisreduzierte Luxusklamotte zu kaufen, und zwischendurch ein Anruf bei Jimmy’s Pizza.

Das ist mein Plan für den Rest des Tages. Der Arzt hat gesagt, ich solle mein Leben genießen, und ich finde, ein opulentes Schaumbad mit Pizzabegleitung und der Erwerb eines atemberaubenden (und unfassbar teuer aussehenden) Textils gehören unbedingt dazu.

Zuerst aber muss ich diese blöde Kopie finden.

Auf Mutters Schreibtisch herrscht das gewöhnliche kreative Chaos zwischen Computer, Bildschirm und Drucker: Stapel von Schriftstücken, Fotos, Flugblätter, Zeitungsausschnitte. Im Regal an der Wand stehen ein paar Dutzend Aktenordner, in denen sie ihre sämtlichen politischen Aktionen der vergangenen vierzig Jahre dokumentiert hat: »Vietnam« lese ich in kaum noch erkennbaren, ausgeblichenen Buchstaben auf einem Aufkleber, »Nato-Doppelbeschluss«, »Gorleben«, »Wackersdorf«, »Startbahn«, »Stuttgart 21« ... Meine Mutter hat wirklich überall mitgemischt. Aber über die Biografie meiner Erzeugerin kann ich mir bei meiner nächsten Therapiestunde noch genug Gedanken machen. Jetzt geht es darum, ihre Ausweiskopie zu finden. Also los.

Schublade eins: Befund negativ. Stifte, Lineale, Radiergummis, ein zerknülltes Taschentuch, ein Lippenstift, eine zerbrochene Sonnenbrille, sonst nichts.

Schublade zwei: dito. Briefumschläge, Briefmarken, Tesafilm, eine zerknickte Ansichtskarte aus Bad Wörishofen, zwei halb abgebrannte rote Kerzen, ein kaputtes Handy nebst Ladekabel, nichts.

Schublade drei: auch nichts.

Und so weiter.

Ich krame sämtliche zwölf Schubladen am Schreibtisch noch mal durch, doch leider vergebens. Mutters Reisepasskopie ist nicht zu finden. Ob ihr das Blatt vielleicht irgendwie unter einen der Papierstapel auf dem Tisch geraten ist? Bei ihrem anarchischen Ablagesystem wäre das kein Wunder. Ich gehe sämtliche Zettel, Briefe und Notizen durch, die in wilden Haufen zusammengetürmt auf der Tischplatte liegen. Aber das einzig Interessante, das ich finde, ist eine Mahnung ihrer Hausratversicherung aus dem Jahr 2012, weil sie vergessen hat, rechtzeitig den Beitrag zu bezahlen. Ich nehme an, das hat sich inzwischen erledigt, lege dieses Schreiben aber trotzdem ganz oben auf den Stapel, damit sie es ordentlich abheften kann, wenn sie nach Hause kommt. Ansonsten: nichts. Kein Pass, keine Kopie, keine Weiterreise an den Amazonas. Sieht so aus, als müsse sich meine Mutter aus dem Klimaschutzprogramm ihrer Freunde ausklinken und dafür etwas länger in Rio de Janeiro bleiben.

Ich aber habe nicht vor, noch länger in ihrer Wohnung zu bleiben. Die Badewanne wartet. Was kann ich dafür, dass meine Mutter ein gestörtes Verhältnis zur Ordnung hat und ich ihre Ausweiskopie nicht auftreiben kann!

Mit Schwung werfe ich das Fenster wieder zu. Allerdings bewege ich mich dabei wohl etwas ungeschickt. Oder wehte da gerade ein heftiger Frühlingswindstoß von draußen herein? Was auch immer es war: Der komplette Papierberg auf dem Schreibtisch wirbelt in der nächsten Sekunde durch die Luft und landet auf dem Fußboden. Und zwar genau in der am schlechtesten zugänglichen Ecke des Zimmers, zwischen Tisch und Regal. Verdammt! Es bleibt mir nichts anderes übrig, als hinterherzukriechen und den ganzen Kram wieder aufzusammeln.

Ich klaube gefühlte zweihundertfünfzig Zettel vom Parkett, und gerade als ich den letzten kleinen Kassenbon aufgehoben habe, entdecke ich etwas Merkwürdiges. Hinter dem Regal, zwischen Wand und Aktenordnern, klemmt eine Pappschachtel. Eine flache weiße Pappschachtel. Nanu, denke ich. Was ist denn das? Wer weiß, wie lange die da schon feststeckt. Womöglich vermisst meine Mutter sie seit Jahren. Allerdings frage ich mich, wie es physikalisch möglich sein kann, dass eine Schachtel oben vom Regal in diesen schmalen Zwischenraum rutscht. Andererseits: Es ist so manches physikalisch Unmögliche seltsamerweise doch möglich. Hummeln zum Beispiel können theoretisch gar nicht fliegen, habe ich mal gehört. Ihre Flügel sind viel zu klein, um diese dicken Körper durch die Luft zu tragen. Zum Glück haben Hummeln keine Ahnung von Physik und fliegen trotzdem munter durch die Gegend. Der Hummelflug, ein naturwissenschaftliches Mysterium.

Noch so ein naturwissenschaftliches Mysterium ist diese Schachtel hinter dem Regal. Eine Sekunde lang zuckt der Gedanke durch mein Gehirn, dass meine Mutter sie absichtlich versteckt haben könnte. Aber das wäre ja albern. Sie ist doch keine pubertierende Tagebuchschreiberin. Wieso sollte sie so etwas Kindisches tun! Vor wem sollte sie irgendetwas in ihrer eigenen Wohnung verstecken?

Ich ziehe die Schachtel vorsichtig heraus. Wie ich feststelle, handelt es sich um eine uralte Pralinenpackung, Edle Auslese in Zartbitter, bedruckt mit vergilbten Blumenmotiven, hauptsächlich in grässlichen Rosa-Orange-Tönen. Vom Design her tippe ich auf ein Herstellungsdatum in den frühen Siebzigerjahren. Die Schachtel ist ganz leicht. Entweder sind die Pralinen vor Jahrzehnten zu schimmeligem Staub zerfallen, oder es liegt etwas anderes darin. Ich will ja nicht neugierig sein, aber weil ich Möglichkeit Nummer eins nicht ausschließen kann und das Wohlergehen meiner Mutter nicht durch gesundheitsgefährdende Sporen in ihrer Raumluft aufs Spiel setzen möchte, hebe ich den Deckel hoch, um Gewissheit zu haben.

Pralinen liegen jedenfalls nicht darin. Sondern zu meinem großen Erstaunen: eine Krawatte. Ein abscheuliches breites Ding mit einem psychedelischen Fantasiemuster darauf, das den Blumenranken auf der Pralinenschachtel in seiner Geschmacklosigkeit in nichts nachsteht. Allerdings überwiegen hier Grün- und Brauntöne in den aberwitzigsten Schattierungen und Verschnörkelungen. Wieso, um Himmels willen, bewahrt meine Mutter eine dermaßen abscheuliche Krawatte hinter ihrem Bücherregal auf? Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, wie Frau Leberecht befürchtet: Meine Mutter scheint bisweilen ganz schön auf Droge gewesen zu sein! Wahrscheinlich weiß sie gar nicht mehr, dass dieses üble Teil hier herumliegt. Ich hole die Krawatte heraus (natürlich 100 Prozent Polyester! Wenn es wenigstens edle Seide wäre ...) und deponiere das gute Stück neben mir auf dem Boden.

Es liegt noch etwas in der Schachtel: ein sorgfältig ausgeschnittener Zeitungsartikel, das Papier ist alt und brüchig und an einer Seite eingerissen. Studenten wehren sich gegen Abriss der Kulturfabrik, heißt es in der Überschrift. Ich überfliege den Text: Rund hundert Studenten haben gestern gegen den geplanten Abriss des ehemaligen Industriegebäudes Hammerbach in München-Giesing demonstriert. Auf dem Gelände soll ein modernes Einkaufszentrum nach den Plänen des international erfolgreichen Architekten Werner Enzinger entstehen. Die Studenten haben das Gebäude nach Bekanntwerden der Abrisspläne vor einem halben Jahr besetzt. Sie wollen erreichen, dass darin Ateliers und Ausstellungsräume für Kunststudenten eingerichtet werden. Architekt Enzinger stellte sich am Nachmittag den Demonstranten und diskutierte mit ihnen. Vonseiten der Stadt heißt es bislang, man werde an den Abrissplänen festhalten. Es gehe um viele Arbeitsplätze ... Und so weiter, und so weiter.

Über dem Artikel ist ein Foto abgedruckt, das eine Gruppe langmähniger jugendlicher Demonstranten zeigt: viele von ihnen in Jeans und Parka, manche in Schlaghosen und wallenden Hemden, einer hat seine Faust in den Himmel gereckt. Ein anderer trägt ein Plakat in den Händen. »Kunst statt Kommerz«, kann ich darauf entziffern. Ganz vorn im Bild steht eine junge Frau, sie trägt einen bodenlangen Rock, ein Batikshirt und ein schmales Stirnband über den langen, gescheitelten Haaren. Sie ist die Einzige, die einigermaßen vergnügt aussieht. Als ich genauer hinschaue, erkenne ich: Das ist ja meine Mutter! Meine Mutter in jungen Jahren, wie ich sie von anderen Fotos kenne. Mitte zwanzig, schätze ich. Wahrscheinlich war dies das erste Mal, dass über sie in der Zeitung berichtet wurde. Wahrscheinlich hat sie den Artikel deshalb aufbewahrt. Aber warum nicht in einem ihrer Aktenordner, sondern in einer Schachtel hinter dem Regal, zusammen mit einer hässlichen Krawatte? Ihr gegenüber steht ein Mann, wahrscheinlich der berühmte Architekt, gegen den sich dieser Studentenprotest richtet: ein nicht mehr ganz so junger Mensch in feinem Zwirn und blanken Schuhen. Wie es aussieht, reden er und meine Mutter gerade miteinander. Er sieht nicht unfreundlich aus, soweit ich das auf dem grobkörnigen Zeitungsfoto erkennen kann. Man könnte fast meinen, dass er meine Mutter anlächelt. Mein Blick fällt auf seine Krawatte, und ich kneife die Augen zusammen, um genauer hinsehen zu können. Die Farben kann ich auf dem Schwarz-Weiß-Bild natürlich nicht erkennen, aber das Muster ist eindeutig dasselbe. Ich schlucke. Wie kam meine Mutter in den Besitz seiner bescheuerten Krawatte, und wieso hat sie dieses monströse Teil so lange aufbewahrt?

Ich betrachte den Zeitungsartikel noch einmal, und dann sehe ich das Datum: Der Bericht ist vom 25. Mai 1976. Ich spüre ein seltsames Rumoren in meinen Eingeweiden. Das Klingeln in meinen Ohren kommt in der Lautstärke eines Presslufthammers zurück. Dieses Foto ist fast genau neun Monate vor meiner Geburt aufgenommen worden. Hat das irgendetwas zu sagen? Mit zitternden Händen nehme ich das Stück Zeitung aus der Schachtel.

In dem Moment erschallt in meiner Hosentasche der Radetzkymarsch.

»Valentina!«, höre ich meine Mutter, nachdem es mir gelungen ist, trotz meiner unter dem Schreibtisch zusammengefalteten Körperhaltung das Handy aus der Hose zu ziehen. »Suchst du schon nach der Kopie? Mir ist eingefallen, dass ich sie kurz vor der Abreise an meine Kühlschranktür gehängt habe. Sie müsste da unter einem der Magneten stecken. Bist du in meiner Wohnung? Valentina?«

»Ja, Mama«, ächze ich und krieche, das Telefon ans Ohr gedrückt, unter dem Tisch hervor. »Alles bestens so weit. Dann ist es ja kein Wunder, dass ich in deinem Arbeitszimmer nichts finden konnte ...« Jedenfalls nichts, was meiner Mutter bei der beschleunigten Wiederbeschaffung ihres Ausweises helfen würde. »Du bekommst dein Fax sofort.«

»Super. Danke dir. Tschüss!«

Ich gehe in die Küche und zupfe die Kopie von der Kühlschranktür. Eine halbe Minute später fiept das Fax in Richtung Brasilien. Dann widme ich mich wieder der Pralinenschachtel.

Liebste Doris!, steht in makelloser Handschrift auf dem vergilbten und verknickten Blatt Papier, das ich unter dem Zeitungsartikel gefunden habe. Es bricht mir das Herz, dass ich dir diesen Brief schreiben muss ...

Kapitel 4.

Ich habe auf den Besuch bei »La Dolce Vita« verzichtet. Das Verlangen danach, meine Garderobe dramatisch aufzurüsten, hat sich in Luft aufgelöst. Der Appetit auf Pizza ist mir ebenso vergangen wie die Lust auf ein Lavendel-Rosenholz-Entspannungsschaumbad. Das Klingeln in meinem Ohr ist noch da, aber im Moment kann ich mich nicht darum kümmern.

Ich sitze auf meinem Sessel im Wohnzimmer und streichle Esmeralda. Ich muss nachdenken, und das kann ich am besten, wenn ich dabei neun Kilo warmes Fell auf dem Schoß habe. Esmeralda ist ein Hase, ein belgischer Riese, genauer gesagt eine belgische Riesin mit schwarz-weiß geschecktem Fell. Sie trat vor acht oder neun Jahren in mein Leben, als die Tochter meiner damaligen Nachbarin kurzfristig eine Ferienbetreuung für ihr Haustier brauchte. Nach sechs Wochen hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, Esmeralda bei mir zu haben (und noch mehr hatte sich das Kind meiner Nachbarin daran gewöhnt, Esmeralda nicht mehr bei sich zu haben), dass die Häsin in meinen Besitz überging. Holger hielt mich damals zwar für völlig übergeschnappt. Aber ich sagte, solange wir noch kein Baby hätten, könnte ich mich doch um ein so süßes Tier wie Esmeralda kümmern. Inzwischen sind die Nachbarn längst weggezogen, Holger lebt mit einer anderen Frau zusammen, und Kinder habe ich noch immer keine. Nur Esmeralda ist mir geblieben. Meine Mitbewohnerin ist anschmiegsam, treu, weitgehend stubenrein und hat nichts dagegen, abends mit mir auf dem Sofa zu sitzen, meine »How-I-met-your-Mother«-DVDs zu schauen und sich die Ohren kraulen zu lassen. Anders als Holger ist sie dabei naturgemäß eher schweigsam. Wenigstens gibt sie keine dämlichen Kommentare über meinen angeblich fragwürdigen Fernsehgeschmack ab.

Heute allerdings ist der Fernseher aus. Heute ist es totenstill in meinem Wohnzimmer, denn ich muss nachdenken. Über Studentendemonstrationen in den Siebzigerjahren, über hässliche Krawatten, über berühmte Architekten, über traurige Abschiedsbriefe, über alleinerziehende Mütter und vor allem über die Frage, wie das alles miteinander zusammenhängt.

Vor mir auf dem Tisch liegt die ominöse Pralinenschachtel, die ich aus dem Arbeitszimmer meiner Mutter mit nach Hause genommen habe. Natürlich gehört es sich nicht, jemandem etwas wegzunehmen. Es gehört sich schon gar nicht, Briefe zu lesen, die eindeutig an jemand anderen gerichtet sind. Aber in diesem Fall finde ich irgendwie, dass ich ein Recht auf Informationen habe. Ein Recht auf Informationen über einen Mann, von dem ich den dringenden Verdacht habe, dass es sich bei ihm um meinen unbekannten Vater handeln könnte.

Liebste Doris, lese ich zum mindestens zwanzigsten Mal an diesem Nachmittag. Die wichtigsten Sätze des Briefes kann ich inzwischen auswendig. Also im Grunde alle Sätze. Es bricht mir das Herz, dass ich Dir diesen Brief schreiben muss. Die vergangenen Wochen mit Dir waren wie ein Traum. Du bist eine großartige, liebenswerte Frau, mit der ich gern mein Leben verbracht hätte. Aber es darf so nicht weitergehen. Ich kann verstehen, wenn Du jetzt wütend über mich bist: Aber ich darf Dich nicht wiedersehen. Es geht nicht. Es geht wirklich nicht! Es tut mir leid, dass ich den Kopf verloren habe. Ich hätte irgendwann die Notbremse ziehen sollen, ich weiß. Aber es ging alles so schnell. Ich habe mich so plötzlich in Dich verliebt und nicht eine Sekunde lang daran gedacht, wie es weitergehen soll. Ich kann nicht für Dich da sein, liebste Doris. Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen. Bitte verzeih mir. Versuch nicht, mich zu erreichen. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Behalte mich in Erinnerung. Ich wünsche Dir, dass Du glücklich wirst. Ich werde mein Leben lang an Dich denken. In Liebe, Dein Werner.

Was für ein Brief! In Liebe, Dein Werner. Dein Werner Enzinger, internationaler Super-Architekt. Der Lover meiner Mutter, der sie hat sitzen lassen. Da hatte sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann und sagt mir kein Sterbenswort. Schwärmt mir was vom Leben in der Kommune vor, und dann so was: Kriegt ein Kind von einem Typen, der das personifizierte Establishment ist. Ich kann es nicht fassen. Und sie hat diesen Brief siebenunddreißig Jahre lang heimlich aufbewahrt. (Falls sie ihn nicht doch irgendwann vergessen hat, nachdem er ihr vor langer Zeit mal hinter das Regal gerutscht ist.)

Es steht kein Datum auf dem Brief. Und natürlich keine Adresse. Ich gehe mal schwer davon aus, dass die ganze Geschichte irgendwann Ende Mai 1976 begonnen hat. Ob sie sich bei dieser Demo kennengelernt haben, von der in dem Zeitungsartikel die Rede ist? Und dann? Was passierte, nachdem meine Mutter diesen Brief bekam? Hat sie sich brav daran gehalten und nie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen? Oder ist sie wenigstens irgendwann mal mit ihrem Ballonbauch zu ihm hingefahren und hat im Beisein der holden Gattin ein bisschen Rabatz gemacht? Sofern sie wusste, wo er wohnte. Verdient hätte er es, der ach so tolle Herr Enzinger: Macht sich nach ein paar amüsanten Tagen mit der kleinen süßen Münchner Studentin einfach aus dem Staub.

Je länger ich über alles nachdenke, desto wütender werde ich. Frau Leberecht wird ihre helle Freude an mir haben, wenn ich ihr bei meiner nächsten Therapiestunde ein paar neue Details aus dem Leben meiner engsten Verwandtschaft erzähle.

Esmeralda wird unruhig. Wahrscheinlich muss sie pinkeln. Ich setze sie zurück in ihre Behausung, damit es kein Malheur gibt, und gehe in die Küche. Ich brauche dringend einen heißen Tee. Mir ist plötzlich kalt und irgendwie seltsam zumute.

Mein Gott, ich bin meinem Vater auf der Spur. Nach sechsunddreißig Jahren Ungewissheit und bohrenden Fragen liegt die Antwort vor mir. Ob er weiß, dass es mich gibt? Wahrscheinlich nicht. Meine Mutter hätte seine Korrespondenz sicherlich aufbewahrt, wenn es eine gegeben hätte. So wie sie den Zeitungsartikel mit seinem Bild, seine Krawatte und diesen schrecklich traurigen Brief aufbewahrt hat.

Ob sie ihn sehr geliebt hat?, überlege ich, während ich auf das Kochen des Wassers warte. Ist er der Grund dafür, dass sie nie wieder eine vernünftige Beziehung zu einem Mann gehabt hat? Jedenfalls keine, die ihr wichtig genug war, um zu heiraten und noch ein paar Kinder zu bekommen. Warum hat sie nie mit mir über diesen Mann sprechen wollen?

Ich stelle das Tablett mit der dampfenden Teekanne und der dicken, rot geringelten Tasse auf meinen Wohnzimmertisch und fahre den Laptop hoch. Noch vor dem ersten Schluck tippe ich »Werner Enzinger« bei Google ein. Zweihundertdreiundfünfzigtausend Suchergebnisse bietet mir das Internet. Das hilft mir nicht wirklich weiter. Der Zusatz »Architekt« verschlankt die Angelegenheit immerhin auf hundertsechzigtausend. Gut, dass der Mann nicht Hans Müller heißt.

Ich scrolle durch die Seiten, um den Ex meiner Mutter näher kennenzulernen. »Stararchitekt Enzinger baut Museum in Berlin«, lese ich. »Ganz Wien staunt über neues Enzinger-Hochhaus«, und »Enzinger gewinnt Ausschreibung für neue Hafensiedlung in Köln«. Der Mann ist ja wirklich überall im Einsatz, tatsächlich ein ganz Großer seines Fachs. Allerdings ist der letzte Artikel – wie ich feststelle – über zehn Jahre alt. In jüngster Zeit scheint es still geworden zu sein um den Herrn Stararchitekten. Ob er gestorben ist? Meiner groben Schätzung nach müsste er Mitte Siebzig sein. Aber bei so einem bekannten Mann stünde sicherlich irgendwo im Netz ein Nachruf.

Nach einigen Klicks finde ich die Antwort. Es ist ein Bericht im Oberbayerischen Anzeiger, der vor zehn Jahren ins Internet gestellt wurde: »Architekt Werner Enzinger geht in den wohlverdienten Ruhestand. Aus gesundheitlichen Gründen gibt er die Betreuung der geplanten Rathaus-Erweiterung in Oberbichlberg ab. ›Gern hätte ich den Neubau in meiner Heimatgemeinde weiter begleitet‹, sagt der 64-jährige, ›aber mein Gesundheitszustand lässt das leider nicht zu.‹ Die Durchführung des Umbaus hat ein Kollege aus München übernommen. Es handelt sich dabei um ...«

Der Rest des Artikels interessiert mich nicht mehr. Ich schaue auf das Foto neben dem Text. Ein älterer Herr mit akkurat gestutzten grauen Haaren blickt ernst in die Kamera, ein ganz anderer Typ als auf dem alten Zeitungsfoto aus der Schachtel. Den hätte ich im Leben nicht wiedererkannt. Wenigstens trägt er auf diesem Bild eine anständige Krawatte. Werner Enzinger, Architekt aus Starnberg. Falls er noch lebt, ist er vierundsiebzig Jahre alt.

Und wohnt keine halbe Stunde Autofahrt von mir entfernt.

Warum habe ich bloß auf einmal so klamme Finger? Da hilft auch kein Hagebuttentee. Vor allem wenn der längst kalt geworden ist. Ich fahre den Laptop herunter und bleibe einen Moment in meinem dunklen Wohnzimmer sitzen. Am liebsten würde ich jetzt gleich bei Frau Leberecht anrufen und fragen, ob ich wegen eines akuten psychischen Notfalls noch mal vorbeikommen darf. Stattdessen rufe ich endlich bei Jimmy’s Pizza an und bestelle eine Jumbo Venezia mit extra viel Oliven. Dann lasse ich heißes Wasser in die Badewanne laufen.

Kapitel 5.

Ich wache etwa gleichzeitig mit der Amsel vor meinem Fenster auf. Also praktisch mitten in der Nacht. Es ist noch nicht einmal richtig hell draußen. Aber ich bin erstaunlicherweise genauso munter wie der flötende Vogel.

»Hallo, Esmeralda!«, begrüße ich meine Mitbewohnerin im Wohnzimmer und ziehe die Vorhänge auf. Esmeralda verdreht irritiert die Ohren. So früh am Morgen sieht sie mich nicht oft. Ich schalte den Laptop ein, bevor ich in die Küche schlurfe und die Kaffeemaschine anwerfe.

Fünf Minuten später bin ich wieder im Internet. Ich gebe seinen Namen bei der Bildersuche ein und klicke mich durch die Fotos, die mir Google bietet. Architekt Enzinger beim Spatenstich, Architekt Enzinger beim Richtfest, Architekt Enzinger beim Bürgermeister, bei irgendeiner Preisverleihung ... Mal mit hochgekrempelten Ärmeln, meist im grauen Anzug, immer seriös dreinblickend. Auf manchen Fotos wird er von einem Pulk Menschen umringt, mal steht er allein da, meist vor einem seiner futuristisch anmutenden Gebäude, die hauptsächlich aus großen Glasfassaden und kahlen Betonwänden bestehen. So musste man in den vergangenen Jahrzehnten wahrscheinlich bauen, wenn man ein berühmter Architekt werden wollte.

Ein aktuelles Bild ist nicht dabei. Dann kommt ein Foto, das ich mir besonders genau ansehe: »Architekt Enzinger vor seiner Villa am Ufer des Starnberger Sees«, steht darunter.

Wow, denke ich. Was heißt hier Villa! Der Mann wohnt ja praktisch in einem Palast! Ob er sein Haus selbst entworfen hat? Wahrscheinlich. Privat bevorzugt dieser Herr Enzinger jedenfalls einen weniger kühlen Baustil als bei seinen Rathäusern und Museumsgebäuden: Mit den vier weißen Säulen neben der Haustür, den beiden breiten, geschwungenen Steintreppen, die rechts und links zum Eingang hinaufführen, mit dem Erker und dem halbrunden Balkon, den großen grünen Fensterläden und der weiß gekiesten Auffahrt mit den üppigen, rot blühenden Rosenbüschen dahinter sieht das Enzinger’sche Anwesen aus wie ein amerikanisches Südstaatenhaus. Da könnte man glatt die nächste Version von Vom Winde verweht drehen. Schade, dass keine Adresse dabeisteht. Das hätte ich mir ja wirklich mal gern aus der Nähe angesehen.

Ich starre auf das Foto, bis mir etwas auffällt. Ich kneife die Augen zusammen. Hängt da nicht das Schild mit der Hausnummer an dem hohen weißen Zaun? Ich nehme jedenfalls an, dass es sich bei dem kleinen blauen Rechteck um die Hausnummer handelt. Falls nicht jemand ein Flugblatt des örtlichen Kasperletheaters an die Holzlatte geklebt hat.

Ich klicke auf den Zoom, bis es nicht mehr weiter geht. Dann halte ich den Atem an und konzentriere mich auf die verpixelten Buchstaben und Ziffern, bis meine Augen brennen. Oberer Seeuferweg 29 steht da. Ich bin mir ganz sicher.

Zwanzig Minuten später sitze ich im Auto.

Kapitel 6.

Machen Sie sich einen schönen Tag, hat mein Arzt gesagt. Und was kann schöner sein als ein Tag, der mit einem vergnüglichen Ausflug zum Starnberger See beginnt und danach mit einer kleinen Reise nach Süden weitergeht. Ich habe nämlich beschlossen, ganz spontan nach Italien zu fahren. Warum nicht so lange südwärts rollen, bis es draußen warm genug ist, um in einem luftigen Kleid in einem Straßencafé zu sitzen und ein Stracciatellaeis zu essen! Bis ich weit genug weg bin von allen lieblosen Exmännern, allen hinterlistigen Scheidungsanwälten, allen nervigen Kolleginnen, allen jungen Müttern und flitternden Freundinnen, die mich in den vergangenen Monaten zur Verzweiflung gebracht haben. Ich darf drei Wochen lang nicht zur Arbeit gehen, ich muss mich erholen. Also lege ich kurzfristig ein paar Tage Urlaub ein – und zwar mit einem neugierigen Zwischenstopp am Starnberger See! Ich habe Esmeralda und mein halb gestorbenes Orchideenstämmchen auf der Fensterbank der freundlichen alten Dame im vierten Stock anvertraut und wahllos ein paar Klamotten in meine Reisetasche geworfen. Der Tank ist voll. Die Reise kann beginnen.

Mein Navi meckert ein bisschen, als ich den Oberen Seeuferweg eingebe. Wie ich dem Display entnehme, handelt es sich um eine Privatstraße in einem Kaff außerhalb von Starnberg, direkt am Wasser gelegen und nur für Anwohner zugänglich. Ist ja klar, dass so ein Stararchitekt a. D. nicht in irgendeiner gewöhnlichen Nachbarschaft wohnt, wo Hinz und Kunz mal schnell vorbeifahren und Guten Tag sagen können. Egal. Ich schon. Ich fahre los, raus aus München. Die Straßen sind fast menschenleer um diese frühe Uhrzeit. Ich komme gut voran. Es geht immer munter Richtung Süden, die Autobahn entlang, dann kreuz und quer durch Starnberg und runter zum See. Ein paar Kilometer hinter dem Ortsausgang ignoriere ich das Straßenschild, das die Weiterfahrt verbietet, sofern man nicht im Besitz einer speziellen Durchfahrtsgenehmigung ist. So weit kommt’s noch, denke ich und gebe Gas. Ich bin eine freie Bürgerin in einem freien Land, ich werde ja wohl noch den Oberen Seeuferweg durchfahren dürfen.

Nach etwa fünfzig Metern verlässt mich dann aber doch der Mut. Ich parke meinen bescheidenen Mazda vor einem verwitterten Bootshaus. Es sieht so aus, als sei es seit Längerem nicht mehr benutzt worden. Die Einfahrt ist von Unkraut überwuchert. Da wird wohl auch in der nächsten halben Stunde keiner rein- oder rausfahren wollen. Ich beschließe, den weiteren Teil dieser bemerkenswerten Straße bei einem Spaziergang zu erkunden.

Der Obere Seeuferweg ist schmal, aber atemberaubend. Links schimmert der See durch die paar dünnen Fichten, hier und da liegt ein Segelboot an einem Steg. Ein paar Enten quaken im morgendlichen Schilf herum. Auf der anderen Straßenseite erahne ich gewaltige Villen hinter meterhohen Mauern und Hecken. Wie es scheint, möchte man nicht gesehen werden als Anwohner des Oberen Seeuferwegs. Und am liebsten anonym bleiben: Auf den wenigsten Klingelschildern stehen Namen. Dafür gibt es pro Haus etwa drei bis vier Garagen. Respekt. Aber irgendwo muss man seine vielen Porsches und Ferraris ja abstellen.

Der einzige Mensch, der mir zu dieser frühen Morgenstunde begegnet, ist eine junge Frau in einem pinkfarbenen Sportanzug, die drei dünne kleine Windhunde an einer Leine ausführt, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ehe ich michs versehe, stehe ich vor der Nummer 29.

Das Haus sieht genauso aus wie auf dem Foto im Internet. Ein Südstaatentraum. Willkommen auf Tara.

Die Villa ist ein bisschen in die Jahre gekommen, aber noch immer bestens in Schuss. Allerdings ist die Auffahrt jetzt nicht mehr gekiest, sondern mit hellen Natursteinplatten ausgelegt. Und natürlich blühen die Rosenbüsche noch nicht. Stattdessen ist die Wiese vor dem Haus mit gelben Büscheln von Narzissen übersät. Rechts und links der Auffahrt blühen Tulpen in allen möglichen Rot- und Orangetönen, dazwischen jede Menge mir unbekannte Blumengewächse in Blau, Weiß und Lila. Das Paradies eines jeden Gärtners, beschienen von der kühlen Aprilmorgensonne.

Ich bleibe vor dem hohen weißen Zaun stehen und lasse das Ganze auf mich wirken. Sehr beeindruckend, dieses Anwesen. Ich frage mich: Wenn die hier schon so einen gigantischen Vorgarten haben, wie sieht es dann erst hinter dem Haus aus? Wahrscheinlich gibt es da einen richtigen Park mit Swimmingpool und Tennisplatz.

Tja, so kann man natürlich auch wohnen. Das also ist das Zuhause des Herrn Architekten Werner Enzinger. Hierhin ist er zurückgekehrt, nachdem er anno 1976 seine kleine folgenreiche Affäre mit diesem Hippiemädchen aus der Schwabinger Kommune hatte. Klar, so eine gepflegte Hütte gibt man nicht so schnell auf, schon gar nicht für eine flüchtige Liebesgeschichte mit ungewissem Ausgang.

Enzinger steht in fein gravierten Buchstaben auf dem Messingklingelschild am Tor. Immerhin, der berühmte Mann lebt freundlicherweise nicht inkognito in seiner Villa. Ob meine Mutter vor vielen Jahren auch mal heimlich hier gestanden hat? Seufzend, was für ein Leben ihr entgangen ist, weil der gute Herr Enzinger schon mit einer anderen verheiratet war? Aber wie hätte sie seine Adresse finden können! Damals, ganz ohne Google und Internet!

Ich zucke zusammen, weil es in der Gegensprechanlage am Klingelschild zu knacken und knarzen beginnt.

»Kommen Sie ruhig herein«, sagt eine weibliche Stimme. »Ich mache das Tor auf.«

Mit leisem Schnurren und wie von Zauberhand bewegt, fährt das hohe weiße Zauntor zur Seite. Erst jetzt entdecke ich die Kamera, die an der Garagenwand hängt und direkt auf mich gerichtet ist. Ein rotes Lämpchen blinkt. Mein Gott, ich werde beobachtet! Ich wurde die ganze Zeit schon beobachtet, wie ich hier herumspioniert habe. Sehr gruselig!

»Worauf warten Sie?«, fragt die Stimme aus dem Lautsprecher. »Kommen Sie doch bitte herein.«

Wieso will diese Frau unbedingt, dass ich sie besuche? Passiert das öfter, dass hier jemand in aller Herrgottsfrühe staunend vor dem Haus steht und spontan zum Kaffeetrinken eingeladen wird? Sind die immer so gastfreundlich, die Enzingers?

»Hallo? Können Sie mich hören?« Die Stimme in der Gegensprechanlage gibt nicht auf. »Sprechen Sie Deutsch?«

Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt umdrehen und ganz schnell zum Auto zurückgehen. Ich sollte nach Hause fahren oder nach Italien oder sonst wohin und meinen Tinnitus auskurieren. Ich sollte diese vermaledeite Schachtel mitsamt dem Brief, dem Zeitungsartikel und der blöden Krawatte wieder hinter Mutters Regal verschwinden lassen und dann nie mehr daran denken. Wäre es nicht der reine Wahnsinn, durch dieses schöne Tor zu spazieren, diese prächtige Auffahrt hinaufzugehen, in diesen reizenden Palast einzutreten und meinem unbekannten Erzeuger einen Besuch abzustatten? Was sollte der von mir denken? Und was überhaupt sollte ich ihm sagen? Bin ich denn lebensmüde?

Offensichtlich ja. Denn meine Schuhsohlen knirschen schon über den Steinplattenweg, während sich hinter mir summend das Tor schließt.

Kapitel 7.

»Sie sind ein bisschen zu früh, aber das macht nichts.«

Die alte Dame, die mich an der Haustür erwartet, schaut mich ernst, aber nicht unfreundlich an. »Mein Name ist Brigitte Enzinger. Herzlich willkommen. Mein Mann ist gleich da. Gehen Sie doch bitte mit mir durch ins Wohnzimmer.«

»Guten Tag«, sage ich höflich und schüttle kurz ihre ausgestreckte Hand. Meinen Namen behalte ich sicherheitshalber für mich. Glücklicherweise fragt sie nicht danach.

Wenn ich bloß irgendeinen Schimmer hätte, wen diese Lady erwartet hat. Ich werde hier doch hoffentlich nicht in irgendwas Kriminelles verwickelt? Menschenhandel? Drogenschmuggel? Aber Frau Enzinger sieht eigentlich ziemlich unverdächtig aus mit ihren schulterlangen, weiß-grau melierten Haaren und dem dunkelblauen Wollkleid, auf dem eine dicke Perlenkette liegt. Also folge ich ihr ebenso brav wie neugierig durch den Flur. Interessant, wie die Enzingers so leben. Auch hier drinnen ist alles sehr nobel: Dicke, rot gemusterte Perserteppiche auf hellen Marmorfliesen, eine hüfthohe, original chinesische Bodenvase (ich bin mir ziemlich sicher, dass der Topf mit dem blauen, blumenumrankten Drachenungeheuer mehr oder weniger direkt aus der Ming- oder Qing-Dynastie in diesen Haushalt gekommen ist), und der breite geschnitzte Schrank an der Wand sieht auch eher nach schwerer Antiquität aus als nach einem Schnäppchen vom XXL-Möbelhaus. Überhaupt: So viel Platz für einen Flur! Was für eine Verschwendung! In Bangladesch leben drei Großfamilien auf solch einer Fläche.

Und dann erst das Wohnzimmer. Wobei: Was heißt hier Wohnzimmer – es ist ja praktisch ein Ballsaal. Frau Enzinger hat eine breite weiße Flügeltür aufgestoßen, und das Erste, was ich sehe, ist der riesige Kamin auf der anderen Seite des Raumes, wo allerdings in dieser frühen Stunde noch kein Feuer flackert. Auf dem breiten weißen Sims steht in goldverschnörkeltem Rahmen eine südländische Landschaft in Öl. Ein bisschen altmodisch, das Bild. Aber wahrscheinlich war es teuer. Ich nehme an, die Enzingers haben nicht nur in Antiquitäten, sondern auch ein bisschen in alte Kunst investiert. Von Ikea ist der Schinken jedenfalls nicht. Ebenso wenig der schätzungsweise fünf Meter lange, schwere Holztisch in der Mitte des Raumes. Mit den hohen Lederstühlen drumherum macht mir das Ensemble nicht gerade den Eindruck, als würde es unter der Bezeichnung Ingatorp, Lyrestad oder Björkudden im Katalog stehen. Da könnte glatt Artus mit seiner kompletten Ritterrunde tafeln, und es wäre immer noch Platz für ein paar klampfende Minnesänger dazwischen. Die dazugehörigen Damen in ihren langen wallenden Kleidern könnten bequem in den tiefen englischen Clubsesseln Platz nehmen, von denen ein halbes Dutzend zu einem breiten Rechteck angeordnet vor der bodentiefen Fensterfront steht. Durch die man übrigens einen – aber holla! – fantastischen Ausblick hat: Hinter einer riesigen halbrunden Terrasse, die von einer Marmorsäulenbrüstung eingefasst ist, schaut man in endloses Frühlingsgrün. Ich glaube, auf diesem Rasen da draußen könnte man tatsächlich Tennis spielen. Oder ein Fußballfeld einrichten. Sofern die prächtigen bunten Blumenrabatten und die rosa knospenden Kirschbäume rechts und links davon keinen Schaden nehmen. Und dahinten? Was schimmert da so blau hinter dem undefinierbaren Gesträuch? Ist das nicht ... Tatsächlich, ein Pool! Ach Mutti, wenn du das sehen könntest, denke ich, und dann noch: Gratuliere, Herr Enzinger. Wer so wohnt, der hat es wirklich geschafft.

»Da sind Sie ja schon«, brummt eine Stimme hinter mir, und ich fahre erschrocken herum. Als ich ihn sehe, bringe ich nicht einmal einen Gruß heraus.

Da ist er. Der Mann, den ich seit ungefähr sechsunddreißig Jahren kennenlernen möchte. Der Mann vom Zeitungsfoto. Der den Brief geschrieben hat. Der Mann mit der Krawatte. Mein – Vater!

Ich hatte ihn mir imposanter vorgestellt. Kräftiger. Sein Gesicht ist bleich und eingefallen, graue Augenbrauen wuchern unter seiner hohen Stirn, die mittlerweile schlohweißen Haare trägt er etwas länger und nach hinten gekämmt. Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. Ein mürrischer Mensch in grauer Strickjacke und ausgetretenen Lederpantoffeln, ganz leger und schlipslos. Er sieht anders aus, als ich erwartet hatte. Überhaupt ist alles ganz anders, als ich erwartet hatte, denn Herr Enzinger sitzt in einem Rollstuhl.

»Guten Morgen«, stammle ich endlich.

»Na, Sie sind mir ja vielleicht ein früher Vogel.« Enzinger rollt näher auf mich zu, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Mit der Agentur war ausgemacht, dass Sie erst um halb zehn kommen. Aber mir ist das recht. Wenn es nach meiner Frau gegangen wäre, hätten Sie schon vor drei Monaten bei uns angefangen.«

»Hm«, sage ich unbestimmt, und ich hoffe, es klingt so, als hätte ich eine Ahnung, wovon er spricht.

»Wie war doch noch gleich Ihr Name?«

Schlagartig bricht mir der kalte Schweiß aus allen Poren. War ja klar, dass das nicht lange gut gehen konnte. Ich sage den falschen Namen, und schon fliegt der Schwindel auf.

Ich zögere eine Sekunde oder zwei. Dann krächze ich schicksalsergeben »Valentina Meyer« und verfluche meinen Wahnwitz, durch das offene Tor gegangen zu sein.