Der graue Wolf - Louise Penny - E-Book

Der graue Wolf E-Book

Louise Penny

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Beschreibung

Das permanente Klingeln des Telefons stört die Ruhe des Augustmorgens, den Armand Gamache und seine Frau in ihrem Garten in Three Pines genießen wollen. Der Leiter der Mordkommission hat viel Schlimmes gesehen, zu viel. Zeit mit der Familie bedeutet ihm alles. Reine-Marie beobachtet mit wachsendem Unbehagen die Sorgenfalten auf Gamaches Stirn, der damit hadert, die Anrufe entgegenzunehmen. Und weitere besorgniserregende Zwischenfälle folgen: Die Alarmanlage ihres Hauses in Montréal geht los, ein anonymes Paket erreicht die Sûreté du Québec, ein Zettel mit der Aufschrift Das könnte Sie interessieren gibt Rätsel auf. Und dann ein Mord! Chief Inspector Gamache, Jean-Guy Beauvoir und Isabelle Lacoste begreifen: Hier droht etwas weitaus Unheilvolleres als ein einzelner Todesfall – Millionen von Menschen, ganz Montréal könnte in Gefahr schweben. Das Team ist fest entschlossen, den Plan ihrer Gegenspieler zu vereiteln. Doch mit wem haben sie es überhaupt zu tun? Mit Terroristen, mit politischen Akteuren – oder gar mit einem Feind aus den eigenen Reihen? Ihre Ermittlungen führen sie bis in den Vatikan und in eine ferne Abtei.

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Seitenzahl: 631

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Louise Penny

Der graue Wolf

Der 19. Fall für Gamache

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Kampa

Für Rocky und Steve, die ich für alle Zeiten im Herzen trage.

1

Das Handy klingelte. Schon wieder.

Es war das vierte Mal in acht Minuten.

Jedes Mal dieselbe Nummer. Jedes Mal vom Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec ignoriert. In der Hoffnung, dass es sich von selbst erledigte.

Aber wie meistens, wenn man etwas ignorierte, wurde es nur schlimmer.

Schon das erste Klingeln hatte den friedlichen Sonntagmorgen Mitte August im Garten der Gamaches in dem Québecer Dörfchen Three Pines nachhaltig gestört. Es unterbrach Gamaches Gedankengänge, als er auf der Natursteinterrasse saß, zerstreut die Croissantkrümel von seinem Hemd wischte und hin und wieder einen Schluck von dem starken Café au Lait trank.

Während Reine-Marie ihren Zeitungsteil las, lag sein zusammengefalteter Teil als Krümelfänger auf seinem Schoß und wurde langsam warm. Er hielt das Gesicht in die Sonne und atmete tief die spätsommerliche Luft ein. Dann betrachtete er die hin und her schaukelnden Schwarzäugigen Susannen, Prunkwinden, Wicken und die dunkellila Clematis Jackmanii Superba, die den Zaun entlangkletterten, der ihr Grundstück von dem der verrückten Dichterin abgrenzte.

Es war eine hübsche, aber nutzlose Barriere. Echten Schutz würde nur Stacheldraht bringen.

Die eigentliche Bedrohung war die Ente. Zum Glück schien Rosa vergessen zu haben, dass sie fliegen konnte. Oder hatte einfach keine Lust dazu, was wahrscheinlicher war.

 

Nachdem sie die Zeitung gelesen beziehungsweise nicht gelesen hatten, spazierten sie mit ihren Bechern in der Hand über den tauschimmernden Rasen, vorbei an dem riesigen Ahornbaum mit der Schaukel für die Enkel, und blieben hin und wieder stehen, um die Staudenbeete zu betrachten, bis sie an ihrer Grundstücksgrenze ankamen, wo der Rest der Welt anfing.

Das war das Sonntagsritual der Gamaches. In einem so unvorhersehbaren Leben gab es ihnen Sicherheit. Selbst wenn es nur für einen Moment war.

Schließlich bestand das Leben aus lauter kleinen Entscheidungen. Wie in einem pointillistischen Gemälde kam es nicht auf den einen Punkt, die eine Entscheidung an. Aber wenn man alle zusammen betrachtete, entstand ein Bild. Ein Leben.

Wo man lebte, wo man saß. Was man aß, trank, anzog. Ob man den Rasen mähte oder ihn zu einer Wiese wachsen ließ. Was man sagte und, vielleicht noch wichtiger, was man nicht sagte.

Welchen Beruf man ergriff. Welcher Berufung man folgte.

Welchem Ruf.

Armand Gamache kehrte zurück zu der Terrasse, deren Pflaster warm von der Sonne war, streckte die Beine aus, lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte an … nichts. Sein Kopf war herrlich leer.

Welch eine Ruhe. Wie leicht zu stören.

Als es das erste Mal geklingelt hatte, hatte Gamache nach dem Handy gegriffen, um den Anruf entgegenzunehmen. Schließlich ging er unter seiner Privatnummer ein. Die kannten nur Freunde und Familienangehörige.

Aber sein Finger hielt inne, bevor er über das Display wischte.

Dann legte er das Handy langsam zurück auf den Tisch, kniff die Augen zusammen, und als es weiterklingelte, sah er einfach geradeaus. Sah nicht mehr den Garten. Genauso wenig hörte er noch die Vögel und Grillen, die es schafften, sowohl penetrant als auch beruhigend zu klingen.

Alles ging in dem Klingeln unter. Außer diesem Klingeln nahm er nichts mehr wahr.

Reine-Marie ließ die Zeitung ein kleines Stück sinken. Gerade genug, um erst ihren Ehemann anzublicken, dann das Handy. Sie konnte die Nummer nicht erkennen, aber sie bemerkte die tiefen Falten um Armands Augen und seinen Mund.

Er war mittlerweile Ende fünfzig, und sein glatt rasiertes, wettergegerbtes Gesicht war zerknittert. Das rührte von den Jahrzehnten her, die er auf verschneiten Feldern, in Wäldern, an den felsigen Ufern winddurchfurchter Seen und auf sonnenheißem Asphalt gekniet hatte. Und auf eine Leiche geblickt hatte.

Als Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec hatte Armand Gamache mehr als genug Tote gesehen, die eines gewaltsamen, brutalen, grauenvollen Todes gestorben waren. Eines unnatürlichen Todes.

Und das war der Grund dafür, warum er als Ausgleich zu den Details einer Autopsie das Summen von Bienen und das Zirpen von Grillen genoss. Um den Bericht eines seiner Agents über einen Mord einen Moment lang beiseitezuschieben, lauschte er dem Rauschen des Windes im Wald und sog den intensiven Geruch des Herbstlaubs ein. Das war Balsam für seine Seele.

Deshalb bedeuteten ein Zuhause, eine Familie und ein friedlicher Sonntag im Garten so viel. Ihm. Ihnen.

Seine gewellten Haare waren fast vollständig ergraut. An den Ohren und am Kragen lockten sie sich. Er bräuchte mal wieder einen Haarschnitt, dachte Reine-Marie.

Er war groß, über ein Meter achtzig, und kräftig gebaut. Jemand, der ihn nicht kannte, würde ihn eher für einen Geschichtsprofessor halten als für einen Mann, der Mörder jagte.

Das Klingeln dauerte an. Und die Falten in seinem Gesicht wurden zu Furchen.

Er hätte den Anruf wegdrücken können, das wusste sie. Aber er tat es nicht. Er hätte das Handy ausstellen können. Aber er tat es nicht. Stattdessen ließ er es klingeln. Und klingeln. Und sah dabei in die Ferne.

Schließlich hörte es auf.

»Falsche Nummer?«, fragte sie.

Er sah sie an. »Nein. Falscher Anrufer.«

Der versehentlich angerufen hatte, dachte er. Passierte ja leicht. War ihm auch schon passiert.

Ja. Das musste es sein. Ein Versehen. Er war eigentlich gar nicht gemeint.

Reine-Marie hob eine Augenbraue, beließ es jedoch dabei.

Und dann lächelte er sie an. Was seine Falten noch tiefer machte und sie daran erinnerte, dass einige der Linien in seinem Gesicht zwar von Schmerz und Leid, von Anstrengung und Trauer herrührten, die tiefsten Falten aber einen anderen Ursprung hatten. Nämlich sein Lächeln. Wie die Linien auf einer Landkarte waren sie so etwas wie Längen- und Breitengrade, an denen man die Reise eines Mannes nachvollziehen konnte, der sein Glück gefunden hatte.

Wobei es auch eine tiefe Narbe an seiner Schläfe gab, die die anderen Linien durchschnitt.

Erneut senkte sich Stille über den Garten, etwas angespannt zuerst, doch dann hoben sie wieder ihre Zeitungsteile und lasen weiter.

Three Pines war auf keiner Landkarte verzeichnet und wurde nur von Menschen gefunden, die sich verirrt hatten. Sie erreichten einen Hügelkamm und blieben dort stehen, blickten verwundert über einen Wald zu den Green Mountains von Vermont, die hinter der Grenze zu Québec lagen. Sobald sie jedoch den Blick senkten, entdeckten sie etwas, womit sie noch viel weniger gerechnet hätten.

Dort, mitten im Niemandsland, lag ein Dorfanger, um den sich Häuser aus Naturstein und Schindeln und Läden aus rotem Backstein reihten. Leute führten ihre Hunde spazieren, arbeiteten in ihren Gärten oder saßen einfach auf der Bank auf dem Anger. Plauderten. In zumindest einem Fall mit sich selbst.

In der Mitte ragten drei riesige Kiefern in den Himmel. Wie ein Leuchtturm. Ein Signal.

Ein Zeichen.

Du bist zu Hause, du bist in Sicherheit.

Wer beschloss zu bleiben – und das waren nicht alle, auch wenn alle willkommen waren –, stellte bald fest, dass auch dieses Dorf nicht gefeit war gegen die Vergänglichkeit, gegen Tragödien.

Es war ein Hafen, aber kein Versteck.

Three Pines bot Trost in einer sich ständig verändernden Welt. Es bot einen Platz am Tisch, es bot Gesellschaft und Zugehörigkeit. Und Croissants.

Es bot eine Hand.

Three Pines war der Ort, an dem zu leben der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec und seine Frau, die Bibliothekarin, beschlossen hatten. Nicht um den Schrecken der Welt zu entkommen, sondern um von ihnen zu heilen.

Aber an diesem Sonntagmorgen hatte die Welt sie gefunden. Während die Gamaches friedlich im Garten saßen. Unerbittlich hatte das Klingeln wieder eingesetzt. Und wieder ignorierte Armand es.

Jetzt vermischte sich das Klingeln mit dem Läuten der Kirchenglocken, ausgerechnet.

St. Thomas rief die Gläubigen.

Und etwas völlig anderes rief Armand Gamache.

»Geh endlich an das Scheißhandy!« Eine Handvoll Kompost oder Erde oder … flog über den Zaun.

Und immer noch klingelte es. Dann hörte es unvermittelt auf. Was die plötzlich eintretende Stille fast genauso beunruhigend machte.

Als es einige Minuten darauf zum dritten Mal klingelte, ließ Reine-Marie die Wochenendzeitung schlussendlich ganz sinken und sah zuerst auf das Handy, dann zu ihrem Mann.

»Um Himmels willen, Armand, wer ist das denn? Hat es mit deiner Arbeit zu tun?« Auch wenn sie wusste, dass das nicht sein konnte. Dann wäre er drangegangen.

Nach kurzem Zögern hob er das Handy hoch, sodass sie das Display sehen konnte. Es zeigte keinen Namen an, aber sie erkannte die ersten Ziffern. Sie gehörten zur Nummer einer Regierungsbehörde. Nicht einer Landes-, sondern einer Bundesbehörde. Nicht, dass sie deswegen eine Ahnung gehabt hätte, wer da ständig anrief, aber ihr Mann offenbar schon. Er wusste, wen er da ignorierte.

»Soll ich drangehen?«

»Nein.« Er drückte das Handy an die Brust, als wollte er es vor ihr schützen, spürte die Vibration und hielt es wieder weg.

Der Anrufer hatte es schon in seinen Kopf geschafft, das sollte ihm nicht auch mit seinem Herzen gelingen.

In dem Moment hörte das Handy auf zu klingeln, und er legte es zurück auf den Tisch.

Der friedliche Sonntag lag in Scherben. Selbst die Stille war nicht mehr beruhigend. In ihr klang jetzt eher eine unheilvolle Ankündigung an, die sie beide spürten.

Einige Minuten später war es so weit, erneut klingelte es, und Gamache verlor die Geduld. Er schnappte sich das Handy, wischte mit einer heftigen Bewegung über das Display und stand auf.

Kurz hörte er zu, bevor er sagte: »Sie können mich mal.«

Er legte auf, und Reine-Marie sah ihn verblüfft an. So hatte sie ihn noch nie reden gehört. Bei der Arbeit war das sicher manchmal nötig, aber hier? In ihrem Garten?

»Erzähl«, sagte sie, als er sich mit dem Handy in der Hand, die Knöchel weiß hervortretend, wieder zu ihr drehte.

Und das tat er.

Reine-Marie hörte zu, dann atmete sie tief aus. Jetzt verstand sie, warum er die ersten Anrufe nicht angenommen hatte.

»Was wollte sie?«

»Mich treffen.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt.«

»Was fällt ihr bloß ein, sich bei dir zu melden«, sagte Reine-Marie. »Nach allem, was passiert ist.«

Sie warteten auf ein erneutes Klingeln, aber das Handy blieb stumm. Die nächste Stunde verbrachten sie scheinbar entspannt, aber ihre Schultern waren leicht hochgezogen, und Reine-Marie las mehrmals dieselbe Rezension, bis sie schließlich aufgab.

»Komm, wir gehen ins Bistro«, sagte sie und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. »Wir brauchen eine Ablenkung.«

»Du brauchst vielleicht eine Ablenkung«, sagte er und stand ebenfalls auf. »Ich brauche ein Pain au chocolat.«

Sie lachte und sah ihn lächeln. Aber die Falten, die auf seinem Gesicht erschienen, waren Sorgenfalten, keine Lachfalten.

2

»Was war da denn los?«, fragte Ruth, als sie sich auf derhinteren Terrasse des Bistros im Schatten der großen Ahornbäume zu ihnen gesellte.

»Was meinst du?«, fragte Myrna.

»Die Anrufe.« Die alte Dichterin stieß mit einem krummen Finger nach den Gamaches. »Den ganzen Morgen hat es gebimmelt. Beinah hätte ich die Cops gerufen.«

»Du weißt schon, dass Armand die Polizei ist«, sagte Clara, fuhr sich durch ihren wilden Haarschopf und sah überrascht ein Stück Lakritz herausfallen.

Sonst war niemand überrascht.

Sie steckte es in den Mund.

»Das glaubst du ja wohl selbst nicht«, sagte Ruth. »Als könnte unser Clouseau hier einen Rang bei der Sûreté bekleiden. Als Nächstes erzählst du mir, dass die Bücherei eine Buchhandlung ist und die beiden da verheiratet sind.« Sie deutete auf Olivier und Gabri. »Als wäre sowas möglich.«

»Alte Schachtel«, murmelte Gabri, stellte einen Teller mit einem Pain au chocolat vor Gamache und nahm einen Stuhl.

»Alte Schwuchtel«, murmelte Ruth, zog den Teller zu sich und bohrte ihren knochigen Finger mitten in das Gebäckstück, als wäre es ein Land und ihr Finger eine Fahne.

Armand seufzte. Gleich darauf lächelte er, als Olivier ein zweites Pain au chocolat vor ihn stellte. »Merci, patron.«

Dann bemerkte er, dass Ruth ihn in Erwartung einer Antwort ansah.

Ruth Zardo. Die Dichterin. Die Preisträgerin. Die von ihrem heruntergekommenen Häuschen in diesem verlorenen Dorf aus Dinge sehen konnte, die sonst niemand sah.

Ha, der hier ist gut:

du liegst auf dem Sterbebett.

Du hast noch eine Stunde zu leben.

Wem, genau, solltest du schon

seit so vielen Jahren vergeben?

Sie war eine von Gamaches Lieblingsdichterinnen, wenn auch nicht Lieblingsmenschen. Wobei er zugeben musste, dass sie da auch ganz gut im Rennen lag.

»Und? Wer hat angerufen?«

»Niemand.«

Myrna Landers, Inhaberin des Buchladens, saß neben ihrer besten Freundin, der Malerin Clara Morrow. Olivier, dem zusammen mit Gabri das Bistro gehörte, hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.

»Himmel, es scheint dich ja echt zu nerven, wenn Niemand anruft«, sagte Ruth. »Gleich vier Mal. Und so wie du ihn dann angebrüllt hast.« Sie warf den anderen einen vielsagenden Blick zu. »Niemand.«

Jetzt legten alle wie choreografiert den Kopf schief und sahen ihn an.

Ernsthaft?, dachte Myrna, Armand hat gebrüllt?

Wie alle hatte sie ihn in den Fernsehnachrichten gesehen, wo er von Journalisten gegrillt wurde, die ihm Unfähigkeit und Korruption vorwarfen. Besonders eine junge Vloggerin hatte ihn auf dem Kieker.

Aber Chief Inspector Gamache behielt stets einen kühlen Kopf und antwortete ruhig und überlegt.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Armand brüllte.

Was konnte eine solche Reaktion provozieren? Wer konnte sie provozieren?

Myrna Landers kannte die Gamaches gut. Die beiden kamen oft im Buchladen vorbei und stöberten durch die Regale, zogen neue und gebrauchte Titel heraus, blätterten sie durch, bis sie etwas entdeckten, das ihr Interesse weckte. Manchmal kam Armand auch allein. An kalten Wintertagen saßen er und Myrna am Holzofen, tranken starken Tee und führten vertrauliche Gespräche.

Er erzählte ihr, wie es war, wenn er in kranke Hirne kroch, immer tiefer in die finsteren Windungen vordrang, bis er die Antworten fand, die er brauchte. Bis er den Mörder hatte.

Sie wiederum erzählte ihm, wie ihr Leben als Dr. Landers gewesen war, eine erfahrene Psychologin, die sich auf kriminelles Verhalten spezialisiert hatte. Bis sie eines Tages zu tief in einen Kopf gedrungen, in die Finsternis gekrochen war und sich verirrt hatte. Sie musste einen Weg zurück in die Sonne finden. In eine Welt, in der das Gute existierte.

Also gab sie ihre Stelle auf, packte ihre Siebensachen in ihr kleines Auto und fuhr aus der Stadt, ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn zu haben. Nur einfach weg.

In einem unvermittelt vor ihr auftauchenden Dorf hielt sie für eine kurze Rast, ging in das Bistro, trank einen Kaffee und aß ein Croissant, stellte fest, dass das benachbarte Ladenlokal mit dem darüber liegenden Loft zu mieten war, und ging nie wieder weg.

Sie hatte ihren Ruheort an der Sonne gefunden. Und aus Dr. Landers wurde Myrna.

Eines Tages hatten dann der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec und seine Frau das verwinkelte alte Haus auf der anderen Seite des Dorfangers gekauft. Er kam in ihren Laden, setzte sich, und aus Chief Inspector Gamache wurde Armand.

Der einzige und, wie ihr bewusst war, beträchtliche Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass sie nicht mehr in den finsteren Windungen herumkroch und er schon.

Wer hatte an diesem Morgen angerufen? Und was hatte die betreffende Person gesagt, was hatte sie gewollt, dass dieser stets gelassene Mann an einem sonnigen Sonntagmorgen in seinem friedlichen Garten derart aus dem Gleichgewicht geraten war, dass er gebrüllt hatte?

Gamache hatte zugelassen, dass seine Wut die Oberhand über seine Vernunft gewann, dessen war er sich sehr wohl bewusst. Das passierte ihm nicht oft. Er hatte hart daran gearbeitet, diese Trigger auszuschalten, die in seinem Beruf katastrophale Folgen haben konnten. Das hatte er oft genug bei Kollegen und Kolleginnen erlebt.

Ungehemmte Wut und eine geladene Waffe waren eine schlechte Paarung.

Er wurde öfter wütend, als die meisten wussten. Man konnte nicht auf die Leiche eines ermordeten Kindes blicken, ohne wütend zu sein. Aber Wut trübte das Urteilsvermögen. Sie trug nichts zur Lösung bei, sondern wurde zu einem weiteren Problem.

Armand Gamache war sich selbst gegenüber jedoch ehrlich genug, um zu wissen, dass er seine eigenen dunklen Seiten, seine eigenen Abgründe hatte. Besonders einen. Und über dessen Kante hatte ihn aus riesiger Entfernung eine nüchterne Stimme gestoßen, und zwar durch eine schlichte Bitte.

Um ein Treffen.

Zur Beruhigung biss er in das weiche, immer noch warme Gebäckstück, aus dem dunkle Schokolade quoll. Dazu sah er über die Terrasse zum Fluss Bella Bella, in dessen rauschendem Gebirgswasser sich goldglitzernd die Sonne fing. Es war entspannend. Meditativ.

Sein Herzschlag verlangsamte sich, und seine Schultern sanken nach unten.

War es ein Fehler gewesen, den Anruf entgegenzunehmen?

Warum hatte er nicht nach dem ersten Klingeln das Handy ausgeschaltet? Warum hatte er das Handy nicht ins Arbeitszimmer gebracht und die Tür geschlossen?

Er wusste, warum. Weil er von vornherein vorgehabt hatte dranzugehen. Weil er es wissen wollte.

Weil Wissen wirklich Macht war. Während einige Kollegen ihre Pistole für ihre Waffe hielten, wusste Chief Inspector Gamache, dass die einzige echte Waffe und der einzige Schutz Wissen war.

Und dennoch …

Und dennoch war er davor zurückgescheut, mehr in Erfahrung zu bringen. Er war weggelaufen. Hatte kein Treffen gewollt. Nicht herausfinden wollen, was die Anruferin wollte. Er hatte nicht im Zorn aufgelegt, sondern weil er Angst hatte.

Genau in diesem Augenblick klingelte sein Handy erneut.

3

Beim ersten Klingeln zuckte Reine-Marie zusammen undließ den blau-weißen Teller in ihrer Hand auf den Terrassenboden fallen, wo er zerbrach.

Dann begann auch ihr Handy zu klingeln. Sie sah ihren Mann an, der ihren Blick erwiderte.

War es möglich? Seine Gedanken rasten. War die Anruferin wegen seiner Reaktion so sauer, dass sie beschlossen hatte, die Taktik zu ändern und sich auf Reine-Marie zu stürzen?

Er erwartete fast, dass alle Handys anfangen würden zu klingeln. Eine Kakofonie, ein Schrei. Ein Angriff.

Er musste das unterbinden. Er musste reagieren.

Während er den Anruf entgegennahm, stand er auf und ging zum grasbewachsenen Ufer des Flusses. Reine-Maries Handy verstummte. Auch sie war drangegangen.

»Was wollen Sie?«, fragte er.

»Chief Inspector Gamache?«

»Ja.«

»Hier ist der Sicherheitsdienst. Ein Sensor in Ihrer Wohnung in Montréal hat angeschlagen. Soll ich jemanden vorbeischicken?«

Erleichterung überkam ihn und zugleich eine leichte Hysterie. »Un instant, s’il vous plaît.« Er drehte sich zu Reine-Marie. »Sicherheitsdienst?«

»Ja.« Auch sie war erleichtert. »An der Wohnungstür?«, fragte sie in ihr Handy. »Der Alarm ist nicht ganz zuverlässig. Das ist schon mal passiert.«

»Haben die Bewegungsmelder angeschlagen?«, fragte Gamache in sein Handy.

»Nein. Nichts. Ihre Wohnung wurde nicht betreten. Offenbar war es wieder ein Fehlalarm. Sie sind nicht vor Ort, oder?«

»Nein. Sie brauchen niemanden vorbeizuschicken. Ich werde selbst jemanden bitten nachzusehen.«

»Wie Sie meinen, Chief Inspector.«

»Ja, merci.«

»Dann schalte ich den Alarm aus«, sagte der junge Mann. »Aber Sie sollten die Anlage unbedingt mal checken lassen.«

 

»Willst du mich veräppeln?«, fragte die vertraute Stimme. »Schon wieder?«

»Wir brauchen alle ein Hobby, mon vieux«, sagte Gamache.

Er sprach mit Jean-Guy Beauvoir, seinem Stellvertreter und Schwiegersohn.

Annie und Jean-Guy wohnten nicht weit von der Zweitwohnung der Gamaches entfernt im Montréaler Viertel Outremont, allerdings im weniger mondänen Mile End.

»Ich werde mit Honoré rübergehen, aber ich muss dich warnen, Armand, der Einbrecher hat womöglich alle Kekse geklaut.«

»Welche Kekse?«

Einige Minuten später rief Beauvoir aus der Wohnung an.

»Alles in Ordnung. Keine Einbruchspuren. Könntest du bitte mal eure Alarmanlage in Ordnung bringen lassen?«

Er stand in der offenen Tür zu dem kleinen Apartment, das die Gamaches gekauft hatten, nachdem sie die Familienwohnung verkauft hatten und nach Three Pines gezogen waren. Sie nutzten es, wenn sie der Arbeit wegen in Montréal übernachten mussten oder sich ein schönes Wochenende in der Stadt machen wollten.

 

Ungewollt war Chief Inspector Gamache im Laufe der Jahre zum Gesicht der Québecer Polizei geworden. Der Sûreté. Deren Motto Service, Intégrité, Justice war.

Motto und Wirklichkeit waren allerdings zwei Paar Schuhe. Gamache wusste, dass die große Mehrheit der Leute bei der Sûreté, egal ob einfacher Polizist oder Abteilungsleiter, überzeugt waren von Pflichterfüllung, Anstand und Gerechtigkeit. Aber es gab immer wieder Fälle von Korruption. Und nicht nur bei der Sûreté.

Erneut fiel ihm der morgendliche Anruf ein.

Die Nummer einer Regierungsbehörde. Von einer Frau, die er als korrupt kannte, auch wenn er es nicht beweisen konnte. Deren Macht und Einfluss im Laufe der Jahre immer weiter gewachsen und mittlerweile geradezu grenzenlos war.

»Armand?«

Beauvoirs Stimme holte ihn in die Gegenwart und zu dem anstehenden Problem zurück. Die lästigen Fehlalarme.

»Désolé«, sagte Gamache. »Ich war mit den Gedanken woanders.« Was stimmte. Er sah Rosa an. Die Ente hatte den Schnabel in sein Pain au chocolat gebohrt.

»Ich muss dich warnen, ich glaube, die Mäuse haben sich über deinen Vorrat an Chocolate Chips hergemacht, den du vor Reine-Marie versteckst.«

»So was tu ich nicht.«

»Prima. Dann wirst du sie ja auch nicht vermissen.«

»Das ist bösartig«, murmelte Gamache und hörte Beauvoir lachen, als er auflegte. Dann drehte er sich zu Reine-Marie. »Wie wär’s, wenn wir nach Montréal fahren und über Nacht bleiben. Vielleicht haben Vivienne und Marcel ja Lust, mit uns zu Abend zu essen.«

Die LaPierres waren ihre besten Freunde in Montréal. Sie hatten sich kennengelernt, als Daniel sich das Bein gebrochen hatte und Dr. LaPierre über die Avenue Querbes gerannt war, um dem brüllenden Kind und den bestürzten Eltern zu helfen.

Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen.

»Ich rufe sie an und frage, ob wir uns im Leméac treffen wollen«, erwiderte Reine-Marie.

Das Restaurant lag um die Ecke von ihrer Wohnung. Sie konnte das Lachstartar mit Trüffelöl schon schmecken, während Armand und Marcel bestimmt die üblichen Moules frites bestellen würden.

Vivienne, die Meeresbiologin, bevorzugte das cremige Pilzrisotto mit Parmesanspänen. Sie und Reine-Marie würden Pinot Noir trinken und die Männer Bier.

Die Entscheidung war schnell getroffen, die Anrufe getätigt, der Tisch reserviert.

Vor ihrem Aufbruch gingen sie noch in Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen. Und besorgten Kekse.

Auf dem Weg zu ihrem Auto begegneten sie einem Mann, der auf das Bistro zusteuerte. Ein Fremder. Schlank, älter. In einem Anzug, der nicht ganz passte, und mit einer altmodisch breiten Krawatte.

Nach ein paar Schritten warf Gamache einen Blick zurück und sah, dass der Mann stehen geblieben war, um ihm nachzusehen. Kurz begegneten sich ihre Blicke, dann wandten sie sich beide wieder ab.

Der Mann kam ihm vage bekannt vor. Bestimmt übernachtete er in der Pension. Gamache streckte die Hand nach dem Griff der Fahrertür aus und sah noch einmal zurück, aber der Mann war bereits im Bistro verschwunden.

Das Seltsame war, dass der Mann eine angenehme Assoziation weckte, dachte Gamache, als sie aus dem Dorf fuhren. Falls er ihm schon einmal begegnet war, musste es eine freundliche Begegnung gewesen sein.

4

Als Gamache am nächsten Morgen im Büro eintraf, ging eslos mit den Merkwürdigkeiten.

Am Abend zuvor – sie wollten gerade ins Leméac aufbrechen – hatte Regen eingesetzt. Er suchte nach seiner leichten Sommerjacke und stellte fest, dass er sie in Three Pines gelassen haben musste, auch wenn er sich nicht erinnerte, sie dort gesehen zu haben.

Die LaPierres warteten im Restaurant bereits auf sie. Sie verbrachten einen vergnügten Abend, an dem sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand brachten, was Familie, Arbeit und dies und das anging. Vivienne würde bald in die Arktis aufbrechen, um Daten zur Polareisschmelze zu sammeln. Ausnahmsweise begleitete Marcel sie. Sie luden die Gamaches ein, sie zu besuchen, und die waren schwer versucht und sprachen den ganzen Heimweg darüber.

Als sie das Leméac verließen, hatte es aufgehört zu nieseln, und Armand und Reine-Marie spazierten Arm in Arm die Avenue Laurier entlang und blieben gelegentlich vor einem Schaufenster stehen. Beim Abbiegen in die Seitenstraße sahen sie in die erleuchteten Fenster der in Apartments aufgeteilten Villen.

Schließlich erreichten sie ihr Haus, an dem eine Außentreppe zu ihrer Wohnung mit den hohen Stuckdecken und dem schönen Kamin führte.

Die Wohnung erinnerte sie an ihre erste gemeinsame Bleibe, auch wenn die noch kleiner gewesen war und nur gemietet. Damals war gar nicht daran zu denken gewesen, eine Wohnung zu kaufen. Armand hatte gerade erst bei der Sûreté angefangen, und Reine-Marie war eine junge Bibliothekarin, die davon träumte, in der Bibliothèque et Archives nationales du Québec zu arbeiten. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, dass sie irgendwann die Archivleiterin und Armand der Leiter der Mordkommission sein könnten.

Je me souviens, dachte Armand, als er die Treppe hinaufging. Ich erinnere mich. Das Motto Québecs war nicht falsch.

Zum Glück gab es in dieser Nacht keinen Fehlalarm, und auch ihre Handys blieben still. Die Welt schien in Ordnung zu sein. Bis zum nächsten Morgen, als das Päckchen eintraf.

 

Der Tag begann wie zu erwarten.

Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Kaffee und Croissants in der Küche machte sich Reine-Marie auf den Weg ins Archiv, wo sie ein paar Recherchen anstellen wollte, während ihr Mann ins Präsidium ging. Es war Montagmorgen, und es wartete das wöchentliche Meeting mit seiner Chefin und den anderen Abteilungsleitern, um die offenen Fälle, die abgeschlossenen und diejenigen, bei denen das Gerichtsverfahren anstand, zu besprechen.

Mit seiner Kollegin Evelyn Tardiff aus der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens hatte er sich bereits vorab getroffen. Er wollte ihre Meinung zu zwei Mordfällen einholen, an denen sein Team arbeitete und die er für Mafiahinrichtungen hielt. Einer im Bezirk Saguenay und einer auf den windumtosten Magdalenen-Inseln.

Das organisierte Verbrechen in Québec reichte viele Generation zurück bis in die Zeit der Prohibition, als die Mafia Alkohol über die Grenze geschmuggelt hatte. Was sie immer noch machte. Inzwischen schmuggelte sie allerdings auch Drogen und Waffen im Wert von Millionen. Im Lauf der Jahre hatte sie sich zu einem Monster entwickelt, dessen Arme bis zur Ostküsten-Mafia mit den Big-Five-Familien reichten. Die Mafia war so tief im Baugewerbe, Transportwesen, in der Müllbeseitigung, sogar in der Käseherstellung verankert, kurz, in allen Arten von »legalen« Unternehmen, dass die Sûreté eine eigene Einheit gebildet hatte, die sich in ihrer Arbeit ausschließlich darauf konzentrierte.

Was Gamache an den Fällen aus den beiden Gegenden außerhalb von Montréal allerdings irritierte, war, dass die Opfer keine offenkundige Verbindung zum Drogenhandel, zur Prostitution oder sonst etwas hatten. Die Frau aus dem Bezirk Saguenay hatte für Canada Post gearbeitet. Der Mann auf den Magdalenen-Inseln war ein kurz vor der Pensionierung stehender Lehrer. Beide schienen ein völlig normales, friedliches Leben geführt zu haben.

Bis man sie gefesselt und ihnen in den Hinterkopf geschossen hatte. Im Abstand von einem Tag.

»Was halten Sie davon, Evelyn?«

Sie nahm ihre Brille ab und griff nach ihrem Kaffeebecher. »Sie müssen etwas gesehen haben und deswegen ermordet worden sein.«

»Im Abstand von einem Tag?«

Tardiff betrachtete ihren Kollegen aus der Mordkommission. »Wollen Sie damit sagen, dass die Fälle etwas miteinander zu tun haben? Die beiden Opfer haben Tausende Kilometer voneinander entfernt gelebt, hatten keine Verbindung zueinander und jeweils eine lupenreine Vergangenheit.«

»Das stimmt. Trotzdem …«

»Trotzdem glauben Sie, dass die Morde nicht nur etwas miteinander zu tun haben«, sagte Tardiff und musterte die Fotos, »sondern Mafiamorde sind.« Immerhin lag in ihrem Ton kein Sarkasmus oder gar Zynismus, dachte Gamache.

»Für mich sieht das nach Hinrichtungen aus«, sagte er. »Auftragsmorde. Für Sie nicht?« Er wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. »Irgendetwas muss am Laufen sein. Haben Sie nichts mitbekommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Seit der alte Moretti gestorben ist und der Sohn übernommen hat, ist es ruhig. Wir haben einen Krieg erwartet, aber der Übergang verlief reibungslos. Diese neue Generation ist geschliffener und weniger an Gewalt interessiert als an Profiten. Ein Revierkampf bringt keinem was.«

Außer dem Gewinner, dachte Gamache. Allerdings dauerte es Jahre, bis der dadurch allen entstandene Schaden behoben war.

Es stimmte zwar, was Chief Inspector Tardiff sagte, aber sie waren beide alt und erfahren genug, um zu wissen, dass »geschliffen« nur die Oberfläche betraf. Die neue Mafiageneration mochte sich kultivierter geben, aber unter dieser Oberfläche? Sie waren mindestens ebenso brutal und im wörtlichen Sinne halsabschneiderisch wie ihre Väter und Großväter.

Das waren keine netten Menschen, wie seine Enkelin Florence mit der für sie charakteristischen Untertreibung sagen würde.

Gamache wusste noch etwas. Es gab einen Informanten aus den höheren Rängen der Montréaler Mafia. Ein ganz und gar nicht netter Mensch, aber ein notwendiges Übel.

Nur wenige kannten die Identität dieser Person. Gamache gehörte nicht zu ihnen, wohl aber die Frau, die ihm gegenübersaß. Allerdings wusste er, dass es kein mutiger Einzelkämpfer war, der das Seine dazu tun wollte, der Moretti-Familie das Handwerk zu legen. Nein, es war ein intriganter, manipulativer, verabscheuungswürdiger Opportunist. Der allein aus Eigennutz handelte.

Bislang hatten sich seine Informationen als wertvoll erwiesen, aber eines Tages würden sie das nicht mehr sein. Eines Tages würde diese Person sie in eine Falle locken.

Als er neben den exekutierten Opfern gekniet hatte, für deren Ermordung er absolut kein Motiv sah, hatte Gamache das ungute Gefühl beschlichen, dass dieser Tag nahe bevorstand.

Tardiff hatte allerdings recht. Im Moment war alles relativ ruhig. Nur hatte Gamache nicht den Eindruck, dass das Monster schlief, sondern dass es sich vielmehr ein wenig ausruhte, um seine Kräfte zu sammeln, und dabei alles im Blick behielt. Die Stille zeugte nicht von Schlummer, es war ein tiefes Luftholen. Und Luftanhalten.

Und die Morde? Sie waren das Vorspiel, die kurzen, scharfen Atemzüge vor dem Schrei.

Evelyn Tardiff tippte mit ihrer Brille auf die Akten. »Sie halten das also wirklich für Auftragsmorde, Armand?« Er nickte, und sie lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah zum Fenster hinaus auf die Skyline von Montréal. Dann wandte sie sich wieder ihrem Kollegen zu. »Ich werde sehen, was ich herausfinden kann.«

»Bon, merci.«

Er hatte irgendwie den Eindruck, dass diese Hinrichtungen für Evelyn Tardiff keine Neuigkeiten waren. Genau wie er hatte sie Geheimnisse. Wohlgehütet und, wenn sie ans Licht kamen, gefährlich.

Es wäre gut, wenn sie sich bald einmal zusammensetzen und unter vier Augen offen über diese Geheimnisse sprechen würden. Aber das brachte Risiken mit sich. Er vertraute Tardiff zwar, wusste aber, dass es innerhalb der Sûreté schon seit Jahren kriminelle Elemente gab, die nur auf den richtigen Moment warteten.

Das Quid zu ihrem ProQuo-Informanten. Leitende Sûreté-Beamte, die zur Mafia gehörten, die ihr gehörten. Und sie waren nicht die Einzigen.

Es gab Staatsanwälte und Richter, Politiker und Lobbyisten. Journalisten.

Das sagte Gamache der gesunde Menschenverstand, Beweise dafür hatte er nicht. Die Mafia verfügte über ungeahnte Reichtümer und massenhaft Waffen, hatte kein Gewissen, einen gewaltigen Machthunger und brauchte Schutz. Sie konnte beinahe jeden, den sie wollte, kaufen, und tat es auch.

Waren diese Hinrichtungen das erste faulige Lüftchen vor dem großen Sturm?

Wenn das so sein sollte, stellte sich immer noch die Frage, warum gerade diese beiden Opfer die Vorboten waren. Warum wollte jemand, erst recht die Mafia, ihren Tod?

Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Wir kommen zu spät.«

»Ach herrje!«, rief Chief Inspector Tardiff in gespieltem Entsetzten, und Gamache schnaubte amüsiert und gleichzeitig mitfühlend.

Die Montagmorgen-Meetings der Abteilungsleiter konnten ermüdend sein, besonders wenn Chief Inspector Goudreau von der Autobahnpolizei sich vernachlässigt fühlte und sich deshalb mehr Zeit nahm, als ihm eigentlich zustand.

Was fast jeden Montagmorgen der Fall war.

Gamache saß an dem langen Tisch, seine Aktenmappe lag geschlossen vor ihm, und hörte zu. Während andere gelangweilt aus dem Fenster oder verstohlen auf ihr Handy blickten, zwang er sich dazu, aufmerksam zu bleiben. Wobei es ihm schwerfiel, genügend Aufmerksamkeit für den Chef der Autobahnpolizei aufzubringen – oder überhaupt welche. Er merkte, dass er eingehend Goudreaus Krawatte musterte. Sie hatte einen warmen Orangeton. Oder war »bernsteinfarben« das richtige Wort? Jedenfalls gefiel sie ihm, und er überlegte, ob er am Abend zu Ogilvy’s gehen sollte, um …

Goudreau war gerade mit seinen langatmigen Ausführungen zu der Frage, wie viele unterbrochene Linien pro Kilometer ideal waren, zu Ende gekommen, und Chief Superintendent Toussaint wandte sich dem nächsten Bericht zu, als Goudreau noch einmal ansetzte.

Lautes Stöhnen war zu vernehmen.

Vielleicht auch gleich nach einer neuen Sommerjacke umschauen …

Gamache zwang sich, seine abschweifenden Gedanken einzufangen.

Goudreau war gerade dabei, die Einsparung von Inspektoren an den Wiegestationen zu rechtfertigen, und verwies auf Statistiken, die belegten, dass die Lastwagenfahrer zum größten Teil gesetzestreu waren.

»Könnte das vielleicht an fehlenden Inspektionen liegen?«, fragte Chief Superintendent Toussaint erschöpft. »Dass Sie sie einfach nur nicht erwischen?«

Um sein Lächeln zu verbergen, senkte Gamache den Kopf und tat so, als würde er seinen Bericht durchgehen. Mittlerweile fragten sich die meisten der Versammelten, ob sich die Fenster öffnen ließen und sie hinausspringen könnten.

»Nein, im Gegenteil«, sagte der ständig gekränkte Goudreau. »Die Lastwagenfahrer versuchen erst gar nicht, sich durchzuschummeln. Weil sie genau wissen, dass sie erwischt werden.«

»Ja, aber wenn …«, setzte Toussaint an und unterbrach sich dann selbst. »Lassen Sie uns nach dem Meeting darüber reden.«

Als Gamache zu seinem Büro zurückkehrte, fand er dort Isabelle Lacoste vor. Sie war Mitte dreißig, hatte mit ihrem Mann zwei Kinder und arbeitete seit zehn Jahren für Gamache, genauer gesagt, seit dem Tag, als ihr damaliger Chef die junge Polizistin auf die Straße setzen wollte. Weil sie zu »weich« sei.

Armand Gamache warf man allerdings auch oft vor, »weich« zu sein. Weil er Mitgefühl zeigte. Weil er nicht nur den Wert von Fakten kannte, sondern auch den von Empfindungen. Weil er lieber zuhörte als einschüchterte. Weil er verstehen wollte.

Lacoste war rasch aufgestiegen, und mittlerweile war sie seine Stellvertreterin. Diesen Posten teilte sie sich mit Jean-Guy Beauvoir.

»Einen Moment, patron«, sagte sie. Sie stellte sich in die Tür und deutete auf seinen Schreibtisch.

Dort lag ein in Zeitungspapier eingeschlagenes verschnürtes Päckchen.

»Es ist keine Bombe«, sagte sie.

Er sah sie an, leicht verwirrt, dass sie das hervorheben musste. Er hätte gehofft, dass sie das Päckchen nicht auf seinen Schreibtisch gelegt hätten, wenn es eine wäre.

»Und warum stehen wir dann hier?«, fragte er.

»Der Kerl, der es am Empfang abgegeben hat, hatte es sehr eilig, wieder wegzukommen. Keine Nachricht, aber jemand hat deinen Namen draufgeschrieben und dazu noch: Das könnte Sie interessieren.«

Die beiden standen an der Tür und betrachteten das Päckchen.

»Fingerabdrücke?«

»Nein. Wir haben es auch auf giftige Substanzen untersucht. Nichts.«

»Warte hier.« Er betrat sein Büro. Lacoste wich ihm nicht von der Seite.

Es war zwar nicht direkt ein Befehl gewesen, aber trotzdem …

Er beugte sich vor, um das Päckchen zu inspizieren. Musterte die mit Filzstift in Blockbuchstaben geschriebene Aufschrift: CHIEF INSPECTOR GAMACHE. DAS KÖNNTE SIE INTERESSIEREN.

Er richtete sich auf und dachte nach. Über die noch offenen Fälle. Die Todesfälle, die Mordfälle, in denen sie ermittelten. Wollte ihnen jemand Beweismittel zukommen lassen? Das passierte häufiger. Wenn ein Mörder gefasst werden sollte, aber die Leute selbst nicht in die Sache verwickelt werden wollten.

Das Päckchen war in eine Ausgabe des Journal de Montréal gewickelt, was sie nicht weiterbringen würde, weil es die verbreitetste Tageszeitung der Stadt war. Eine alte Wochenendausgabe. Die Genuss-Seiten.

Mit der Verpackung war schon mal keine Drohung verbunden. Es waren nicht die Todesanzeigen. Keine Verbrechensmeldungen. Nur Rezepte und Restaurantkritiken. Sein Name stand über dem Rezept für einen Cocktail, der Last Word hieß.

»Ich kriege gleich die Kameraaufnahmen vom Empfang«, sagte Lacoste.

»Gut.« Gamache griff in eine Schreibtischschublade und nahm zwei verschweißte Beutel mit sterilen Handschuhen heraus. Er warf Lacoste einen davon zu, dann streifte er sich das andere Paar Handschuhe über, schnitt die Schnur durch und legte die Stücke sorgsam beiseite.

Er musste zugeben, dass er ein bisschen Angst vor dem Inhalt des Päckchens hatte. Er dachte an die Morde in Chicoutimi und auf den Magdalenen-Inseln und fragte sich, ob die Hinrichtungen und das Eintreffen des Päckchens in Verbindung zueinander standen.

Nichts sickerte heraus. Nichts roch komisch. Aber …

Andere Agents kamen, um zuzusehen.

In dem Moment erschien auch Beauvoir und drängte sich vor.

»Sind Sie alle gekommen, um zu sehen, ob ich noch weiß, wie man Spuren sichert?«, fragte der Chief Inspector. »Gehen Sie bitte zurück an Ihre Arbeit.«

Er wusste jedoch, dass sie hier waren, weil sie sich um ihn sorgten. Falls die Sendung doch gefährlicher war, als sie aussah. Weshalb er sie ja nicht in der Nähe haben wollte.

Zurück blieben Lacoste und Beauvoir. Und er selbst.

Vorsichtig entfernte er eine nach der anderen die Zeitungsschichten, bis er beim letzten Blatt angelangt war. Dann hielt er inne, blickte zu den beiden auf, die angespannt und hoch konzentriert jeden seiner Handgriffe beobachteten. Er nahm das letzte Blatt weg und blickte auf das, was darunter zum Vorschein gekommen war.

Er neigte den Kopf, die Augenbrauen verwirrt zusammengezogen.

Der Chief Inspector besaß eine ausgeprägte Phantasie, aber dafür hätte sie nicht gereicht.

»Was ist es denn?«, fragte Lacoste und trat gleichzeitig mit Beauvoir nach vorne.

Auf Gamaches Schreibtisch lag eine Sommerjacke. Steingrau und fein säuberlich zusammengefaltet, auf der Brust ein roter Fleck.

Gamache streckte die Hand aus, aber er nahm nicht die Jacke, sondern sein Handy.

»Bist du zu Hause, Reine-Marie?«

»Nein. Ich bin noch im Archiv. Warum? Stimmt was nicht?«

»Ich weiß nicht. Geh bitte noch nicht heim.«

»Warum? Was ist denn los?«

»Bitte, tu’s einfach, bis du wieder von mir hörst.«

Noch bevor Reine-Marie Ja sagen konnte, war die Verbindung unterbrochen. Er hatte aufgelegt.

»Patron«, sagte Jean-Guy. »Was ist das?«

»Das ist meine Jacke.«

»Deine?«, sagte Lacoste. »Bist du sicher?«

»Das ist der Erdbeereisfleck von Florence, den erkenne ich sofort.«

Er hatte die Jacke in die Reinigung bringen wollen, es aber vergessen.

Lacoste lächelte erleichtert. »Gute Nachricht. Das heißt, wir müssen das Päckchen nicht sprengen. Bestimmt hast du sie in einem Restaurant oder Laden vergessen, und jemand hat sie für dich abgegeben.« Noch während sie sprach, bemerkte sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck. »Was denn?«

»Ich habe sie nirgendwo liegen lassen.« Gamache sah unverwandt auf die Jacke. Es war die, nach der er gestern Abend gesucht hatte. »Sie befand sich in unserer Wohnung.«

»Wie kommt sie dann hierher?«, fragte Lacoste, aber Beauvoir hatte das unangenehme Gefühl, die Antwort bereits zu kennen.

»Tabernac. Der Alarm«, sagte er.

»Ja.«

Beauvoir rief die Montréaler Polizei an und bat sie, einen Streifenwagen zu der Wohnung zu schicken. »Sie sollen davor warten. Wir sind bald da. Merci.«

»Welcher Alarm?«, fragte Lacoste.

»Gestern. In unserer Stadtwohnung. Wir dachten, einer der Sensoren wäre kaputt, oder eine Tür hätte sich im Luftzug leicht bewegt und einen Fehlalarm ausgelöst.«

»Aber so ist es nicht?«

Anstelle einer Antwort sah Gamache auf seine Jacke. »Gestern Abend habe ich nach der Jacke gesucht, sie aber nicht gefunden.«

Jetzt war sie hier. Auf seinem Schreibtisch. In der Sûreté. DAS KÖNNTE SIE INTERESSIEREN.

Ja, tatsächlich, das tat es.

»Moment mal«, sagte Isabelle. »Du sagst also, jemand ist eingebrochen und hat die Jacke mitgenommen und sonst nichts?«

»Ich habe nachgesehen«, erklärte Beauvoir. »Es war alles in Ordnung. Die Tür war abgeschlossen.«

»Aber …«, setzte Lacoste an.

»Warum die Jacke und sonst nichts?«, sagte Gamache. »Das weiß ich auch nicht.«

»Und warum wird sie zurückgegeben?«, sagte Beauvoir, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne eine zu bekommen.

Gamache nahm die Jacke und schüttelte sie. Halb erwartete er, dass irgendeine Scheußlichkeit herausfiel. Aber nichts.

Erst als er die Taschen durchsuchte, entdeckte er den Zettel.

Bitte, ich muss mit Ihnen sprechen. Können wir uns heute treffen? Um vier im Open Da Night. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es Ihre Wohnung ist.

Er reichte den Zettel Beauvoir. »Wer …? Warum …? Was …?«, stotterte der.

»… bedeutet das?« Gamache hatte dieselbe Frage.

»Vielleicht bedeutet es genau das, was draufsteht«, sagte Lacoste. »Wer auch immer eingebrochen ist, wusste nicht, dass die Wohnung dem Leiter der Mordkommission der Sûreté gehört. Als es ihm klar wurde, hat er es mit der Angst zu tun bekommen und die Jacke zurückgegeben.«

»Und bittet um ein Treffen?«, sagte Beauvoir. Er sah Gamache an. »Du hast doch nicht etwa vor hinzugehen?«

»Bisher habe ich noch gar nichts vor.« Gamache durchsuchte die anderen Taschen. In einer kleinen Innentasche entdeckte er einen weiteren Zettel. Er war gefaltet und aus festerem Papier.

»Was steht drauf?«, fragte Lacoste und trat zusammen mit Beauvoir näher.

Fenchel, Thymian, Salbei, Macis, Muskat … Es folgte noch mehr.

»Von dir?«, fragte Lacoste.

»Nein. Und auch nicht von Reine-Marie.« Er kannte schließlich ihre Handschrift.

»Das sind Kräuter«, sagte Lacoste. »Ein Rezept? Eine Einkaufsliste?«

»Oder ein Pflanzplan?«, sagte Beauvoir. »Für einen Kräutergarten?«

Möglich, dass Myrna oder Clara oder einer der anderen Nachbarn diese Liste geschrieben hatte. Aber keiner hatte ihm eine solche Liste gegeben, wie war sie also in eine Jackentasche gelangt, die er nie benutzte? Von deren Existenz er gar nichts gewusst hatte?

Und während einige der Kräuter verbreitet waren – Salbei und Thymian zum Beispiel –, waren andere es nicht. Weder wurden sie oft verwendet noch oft angepflanzt. Und dann waren auch noch Gewürze darunter.

Gamache drehte den Zettel um. Auf der Rückseite stand ein Wort: Wasser.

»Eine Erinnerung daran, die Pflanzen zu gießen?«, fragte Isabelle.

»Vielleicht.« Gamache hielt das Papier gegen das Licht. Nichts.

»Es ist nur ein Teil.« Lacoste deutete auf den unteren Rand. »Jemand hat das Papier auseinandergerissen.«

Das stimmte. Am unteren Rand war das Papier leicht ausgefranst.

An der Abrisskante war gerade noch ein Wort entzifferbar.

»Angelikawurzel«, las Gamache vor. »Was könnte das bedeuten?«

»Keine Ahnung«, sagte Lacoste.

Er fotografierte die beiden Zettel, dann gab er sie Lacoste. »Ich fahre jetzt zur Wohnung.«

»Das kommt alles sofort ins Labor.«

»Gut. Gib mir die beiden Zettel zurück, wenn die Sachen untersucht und fotografiert worden sind.«

»Ich werde die Spurensicherung zu eurer Wohnung schicken«, sagte Beauvoir.

Sie gingen zur Tür. »Die Aufnahmen der Überwachungskamera nicht zu vergessen. Ich will wissen, wer das Päckchen abgegeben hat.«

5

»Dann ist also eingebrochen worden?«, fragte die jungeMontréaler Polizistin, die herbeordert worden war.

»Ja. Sieht so aus.«

Sie standen auf dem Treppenabsatz und musterten die geschlossene Wohnungstür.

»Und die Tür war abgeschlossen, als Sie eintrafen?« Sie sah Beauvoir an, der nickte. »Und das Einzige, was mitgenommen wurde, war eine Jacke?«

»Ja«, sagte Gamache. Die Montréaler Polizistin sah ihn verwirrt an. Er wusste, wie das klang. Und es wurde noch schlimmer. »Heute Morgen wurde sie zurückgegeben.«

»Pardon?«

Gamache wiederholte es. Selbst in seinen Ohren klang es lächerlich. Wäre er nicht, wer er war, würde ihm oder diesem vermeintlichen Verbrechen niemand Beachtung schenken. Man würde ihn für einen Irren halten. Und genau genommen wirkte die Frau so, als würde sie das auch tun.

»Mir ist nicht ganz klar, was Sie von mir erwarten, patron.«

Ihr nervöser Blick ließ erkennen, dass sie wusste, wer er war. Nicht zuletzt die Narbe an seiner Schläfe verriet es ihr.

Sie hatte schon viel über Chief Inspector Gamache gehört. Allerdings nicht, dass er irre war. Das war ihr neu.

»Meine Leute werden die Spurensicherung übernehmen«, sagte Gamache. »Schreiben Sie bitte in Ihren Bericht, dass die Polizei von Montréal nicht weiter gefordert ist.«

»In Ordnung.« Immer noch verwirrt, trat sie den Rückzug an.

Auf dem Weg die Treppe hinunter begegnete sie dem Spurensicherungsteam der Sûreté, das gerade heraufkam.

Nachdem die Kriminaltechniker mit der Tür fertig waren und bestätigt hatten, dass sie nicht aufgebrochen worden war, gingen Gamache und Beauvoir in die Wohnung und durchsuchten sie rasch, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sonst nichts mitgenommen und nichts dagelassen worden war.

Das dauerte nicht lange. Die Wohnung war klein, aber hell und einladend, mit einem bequemen Sofa und Sesseln. Auf dem Parkettboden lagen Perserteppiche, und die Bücherregale waren mit Hardcovern und Paperbacks gefüllt. Auf dem Kaminsims standen gerahmte Familienfotos und Fotos von Freunden, auch eines von Gamaches Patenonkel Stephen Horowitz, der inzwischen bei einer Nichte in Ottawa lebte.

»Wo war die Jacke denn, patron?«, fragte der Leiter des Spurensicherungsteams.

Gamache deutete auf die Messinghaken neben der Eingangstür, an denen ein Damenmantel hing.

Die Kollegen von der Sûreté wunderten sich, dass die Wohnung des berühmten Chief Inspector und seiner Frau so bescheiden war. Die meisten wussten, dass es nur eine Zweitwohnung war und die Gamaches eigentlich im Süden von Montréal in den Eastern Townships lebten. Dennoch hätten sie bei einem der Chefs eine größere Wohnung erwartet.

Beauvoir stand mitten im Wohnzimmer und dachte nach.

Die Wohnungstür öffnete sich so, dass man nur hineingreifen musste, um die Jacke zu nehmen. Insofern konnte man nicht mal von unerlaubtem Eindringen sprechen.

Warum machte man sich überhaupt die Mühe und nahm dann nichts weiter mit als eine schmutzige alte Jacke?

Und warum gab man sie zurück? Selbst wenn es stimmte, was auf dem Zettel stand, und dem Dieb nicht bewusst gewesen war, dass er in die Wohnung eines hochrangigen Sûreté-Beamten eingebrochen war, genauer gesagt in die von Chief Inspector Gamache, wäre es dann nicht schlauer gewesen, die Jacke einfach wegzuwerfen?

Und warum um ein Treffen bitten? Wenn es darum gegangen wäre, hätte man doch einfach anrufen und sich einen Termin geben lassen können.

Armand hatte Reine-Marie Bescheid gegeben, dass sie nach Hause kommen konnte. Ein paar Minuten später war sie da.

»Was ist denn los?«

»Lass uns in die Küche gehen.«

Sie setzten sich an den Tisch am Fenster, durch das die Sonne hereinströmte, und Armand berichtete ihr alles. Als er fertig war, sah sie ihn einen Moment lang stumm an, bevor sie etwas sagte.

»Dann ist gestern also jemand bei uns eingebrochen?«

Er nickte.

»Und hat deine Jacke gestohlen und sonst nichts?«

Nicken.

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du glaubst, dass es mehr als bloß ein Einbruch war.«

»Keine Ahnung, ich will einfach nur vorsichtig sein.« Reine-Marie sah ins Wohnzimmer, wo die Spurensicherung zugange war. Das hatte nichts mehr mit vorsichtig sein zu tun.

»Das ist doch nicht alles«, sagte sie, weil sie hoffte, er würde den Kopf schütteln und sie beruhigen. Aber eigentlich wusste sie es besser, sie konnte es an seiner Miene ablesen.

Er rief die Fotos auf seinem Handy auf und zeigte ihr die Zettel. »Die habe ich in den Jackentaschen gefunden. Kommen sie dir bekannt vor?«

Er sagte es, weil er hoffte, dass sie nicken und ihn beruhigen würde. Aber eigentlich wusste er es besser, er konnte es an ihrer Miene ablesen, den Falten zwischen den Augen, die tiefer wurden.

»Warum will er oder sie dich denn treffen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du gehst doch nicht hin, oder?«

»So weit habe ich noch nicht nachgedacht.« Er deutete auf den zweiten Zettel. »Kannst du dir darauf einen Reim machen?«

»Sieht aus wie eine Einkaufsliste oder die Zutatenliste für ein Rezept, wobei die Maßangaben fehlen.«

»Vielleicht ein Kräutergarten?«, sagte er. »Könnte dir das Myrna oder sonst jemand gegeben haben?«

»Ich kenne die Handschrift nicht, und ich habe auch niemanden um Ratschläge zum Anlegen eines Kräutergartens gebeten. Außerdem sind da auch ein paar Gewürze aufgeführt. In Three Pines könnte man niemals Muskat anbauen.«

Gamache fragte sich flüchtig, wie Muskat angebaut wurde. Eine Nuss. Die man rieb. Er kannte einige hohle Nüsse im Dorf, und mindestens eine war nervenaufreibend, aber das war etwas anderes.

»Warum steckten sie in der Jacke, die du in Montréal aufbewahrst? Was denkst du, Armand?«

Er holte tief Luft. »Ich denke dasselbe wie du, was jeder halbwegs vernünftige Mensch denken würde. Dass sich da jemand sehr seltsam verhält. Meine Aufmerksamkeit sucht. Aber«, er lächelte sie an, »für eine Drohung halte ich es nicht. Wenn die betreffende Person etwas Böses im Schilde führen würde, hätte sie mir eine höfliche Anfrage zukommen lassen und um einen Termin gebeten.«

Trotzdem …

Sie sah erneut auf den Zettel. »Kommt dir das nicht seltsam vor?«

»Ja, wie gerade gesagt.«

»Ich meine nicht die Nachricht, sondern den Treffpunkt.«

»Das ist doch ein bekanntes Café hier in der Gegend.«

»Stimmt, aber dennoch. Open Da Night? Kennt dich da jemand besser, als du denkst?«

Er lächelte. Natürlich hatte Reine-Marie es bemerkt. Etwas, was nur wenige wussten. Außer ihm. Und vielleicht dem Dieb. Und das war, wie er zugeben musste, beunruhigend. Es war nicht nur ein bekanntes Café, es war auch eines, das Armand und Reine-Marie oft besucht hatten. Und der Mann hatte es bei einem Namen genannt, den nur Eingeweihte kannten.

»Was hältst du davon, zurück nach Three Pines zu fahren?«, fragte er.

Jetzt war sie an der Reihe zu lächeln. Es war als Frage formuliert, aber eigentlich war es eine Aufforderung.

»Mit Freuden. Kommst du heute Abend nach?«

»Das habe ich vor.« Sie hörte seiner Stimme an, dass es keineswegs sicher war.

Nachdem Reine-Marie aufgebrochen war, tätigte Gamache einen Anruf, dann gesellte er sich zu Beauvoir vor die Wohnungstür.

»Es sieht so aus, als hätte der Einbrecher einen Schlüssel gehabt«, sagte er.

»Stimmt«, sagte Beauvoir. »Aber wer könnte das sein?«

Gamache schüttelte den Kopf. »Ich habe veranlasst, dass das Schloss ausgewechselt wird. Wobei ich mit keinen weiteren Problemen rechne. Ich vermute, dass der Dieb bekommen hat, was er wollte.«

»Nämlich? Die Jacke?«, fragte Beauvoir.

»Meine Aufmerksamkeit.«

»Da ist noch etwas, was an diesem Einbruch seltsam ist«, sagte Beauvoir. »Wie viele Diebe kennst du, die am helllichten Tag ihrer Arbeit nachgehen? An einem Sonntag, wenn die Nachbarn zu Hause sind? Ich lasse unsere Leute von Tür zu Tür gehen, vielleicht hat ja jemand was gesehen. Um wie viel Uhr wurde der Alarm ausgelöst?«

Gamache sah auf seinem Handy nach. »Wir sind gestern Vormittag um elf Uhr sechsundvierzig informiert worden.«

Beauvoir gab die Information an den Leiter der Spurensicherung weiter.

»Isabelle hat eine Nachricht geschickt«, sagte Gamache. »Das Video von der Überwachungskamera am Empfang ist gekommen.«

Er und Beauvoir setzten sich an den Küchentisch und aktivierten den Link.

Sie sahen zu, wie ein schlanker junger Mann mit dem Päckchen unterm Arm das Gebäude der Sûreté betrat. Der Zeitcode verriet, dass es um 8:37 Uhr an diesem Morgen gewesen war.

Beauvoir drückte auf Pause und ließ die Aufnahme in Zeitlupe weiterlaufen, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen. Aber der Mann hielt den Kopf gesenkt und schaffte es, nicht frontal von den Kameras erfasst zu werden. Dennoch bekam man einen Eindruck. Längere, fransige dunkle Haare. Glatt rasiert, schlank. Er trug eine Jogginghose und ein T-Shirt. Keine sichtbaren Piercings und keine Tätowierungen.

»Kommt er dir bekannt vor?«

»Nein«, sagte Gamache.

»Wie blöd kann man eigentlich sein. Er muss doch wissen, dass wir überall Kameras installiert haben.«

»Und dennoch schafft er es, dass man sein Gesicht nicht richtig erkennt.« Was nicht einfach war. Wenn man keine Hilfe hatte.

Der Schlosser traf ein, und während er seine Arbeit verrichtete, stand Gamache an der Eingangstür und blickte in die Wohnung. Die Tür öffnete sich direkt zum Wohnzimmer. Was hatte der Einbrecher von hier aus gesehen?

Bequeme Möbel, Regale voller Bücher. Stapel von Zeitschriften, die darauf warteten, gelesen zu werden. Buntstifte und Malbücher für die Enkelkinder. Altes zerkautes Hundespielzeug. An den Wänden gerahmte Originalplakate von der Expo 67 und von Konzerten und Festivals.

Und dann waren da noch die Fotos. Von Kindern und Enkeln. Schwarz-weiße Hochzeitsfotos von Armands und Reine-Maries Eltern. Das von seiner Großmutter, auf dem sie bei seiner Highschool-Abschlussfeier stolz neben ihm stand. Die Enkel fanden es zum Kaputtlachen. Dürr wie ein Zaunpfahl, dazu die langen Haare. Und auf dem Kaminsims stand ein recht neues Foto von der ganzen Familie.

Der Gedanke, dass ein Einbrecher dort gestanden und diese ganz und gar persönlichen Dinge betrachtet hatte, machte Gamache wütend. Selbst wenn er äußerlich ruhig blieb. Nüchtern betrachtet, vom Standpunkt des Ermittlers, war nichts zu sehen, das verriet oder auch nur darauf hindeutete, dass hier ein hochrangiger Sûreté-Beamter wohnte.

Was also hatte der Dieb gesehen, das es verriet?

»Keine Wanzen, patron«, erklärte einer der Agents und unterbrach seine Gedankengänge. »Und keine Kameras. Wir sind zweimal alles genau durchgegangen.«

»Bon, merci.« Gamache konnte seine Erleichterung nicht verbergen. Als der Agent es bemerkte, lächelte er, froh, dass er seinem Chef eine gute Nachricht überbringen konnte.

Sie fuhren zurück zum Büro. Nach kurzem Schweigen sagte Beauvoir. »Du gehst hin, oder?«

Gamache nickte.

6

Es war fünf vor vier.

Gamache saß in der Rue Saint-Viateur im Auto und blickte auf die grünen Markisen des Open Da Night. Als er die Gäste vor dem Lokal italienisches Gebäck genießen sah, merkte er, wie hungrig er war, nachdem er das Mittagessen hatte ausfallen lassen.

Neben ihm auf dem Fahrersitz saß Beauvoir und suchte die Umgebung nach dem Mann mit dem Päckchen ab. Sie hatten sein Foto an alle Kollegen verteilt.

Lacoste schrieb ihm aus dem Gastraum des Cafés eine Nachricht. Sie und ihr Team waren auf ihren Plätzen.

Beauvoir wusste, dass er den Chef nicht noch einmal zu fragen brauchte, ob er sich sicher war. Er war sich sicher. Es war ein Fait accompli, eine vollendete Tatsache, und zwar von dem Moment an, als sie die Notiz entdeckt hatten.

Bitte, ich muss mit Ihnen sprechen. Können wir uns heute treffen? Um vier im Open Da Night. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es Ihre Wohnung ist.

Wie konnte Gamache den Mann, der in seine Wohnung eingebrochen war, nicht treffen wollen?

Genauso wenig musste Beauvoir den Chef fragen, ob er nicht vielleicht doch bewaffnet sein sollte, aber er tat es trotzdem und bekam genau die Antwort, die er erwartet hatte. Einen beinahe amüsierten Blick.

»Mit einer Handfeuerwaffe in ein gut besuchtes Café gehen, mon ami? Nein. Unbeteiligte zu erschießen, überlasse ich lieber dir.«

Näher an Galgenhumor war der Chef noch nie gewesen.

»Für diese Bomboloni würde ich sterben«, sagte Beauvoir.

»Ich kauf dir einen, wenn du mir versprichst, dass du nicht schießt. Vor allem nicht auf mich.«

Beauvoir hätte beinahe hinzugefügt: wieder. Kam aber zu dem Schluss, dass das zu weit ginge und womöglich zu den Dingen gehörte, an die sich keiner von ihnen erinnern wollte.

Der Mann auf dem Video der Überwachungskamera war noch nicht eingetroffen. Vielleicht war er gar nicht der Dieb. Das war das Verwirrende. Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, wer auftauchen würde. Und warum.

Eigentlich hieß das Lokal Café Olimpico. Seinen Spitznamen hatte es bekommen, nachdem einige Buchstaben des Schriftzugs an der Fassade abgefallen waren und nicht ersetzt wurden. Aus Open Day and Night wurde so Open Da Night.

Es war interessant und vielleicht aufschlussreich, dass der Dieb den Spitznamen kannte. Das tat nicht jeder.

War es Zufall, dass er gerade das Café in Montréal ausgesucht hatte, das Gamache gerne besuchte? In dem er sich fast wie zu Hause fühlte? So sicher?

Er war schon häufig da gewesen, oft zusammen mit Reine-Marie an einem Sonntagmorgen für einen espresso allongé. Zu Beginn ihrer Ehe hatten sie hier die Zeitung gelesen, Kaffee getrunken und sich mit Rocco, dem damaligen Besitzer, unterhalten.

Gamache sah auf die Zettel in seinen Händen. Das Labor hatte die Untersuchung abgeschlossen und sie ihm zurückgegeben. Er faltete sie wieder zusammen, steckte sie in seine Brusttasche und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Ich kann mit reingehen«, sagte Beauvoir.

»Besser, wenn du draußen bleibst«, sagte Gamache.

Darüber hatten sie eigentlich schon geredet. Wenn der Dieb die Fotos genauer betrachtet hatte, könnte er Jean-Guy erkennen, der auf einigen davon zu sehen war.

Auf dem Zettel stand zwar nicht, dass er allein kommen sollte, aber Gamache hielt es für besser, ihn nicht sofort wissen zu lassen, dass es in dem Café von Sûreté-Beamten wimmelte.

Er ging hinein und winkte Vito zu, einem der Baristas, die schon seit Ewigkeiten hier arbeiteten.

»Un allongé, per favore.«

»Gleich fertig, Chief Inspector. Ich habe Sie kommen gesehen.«

Dass Vito der gesamten Gästeschar, unter der nicht nur Polizisten waren, lauthals die Anwesenheit des Chief Inspector verkündete, war egal. Den Mann, mit dem er verabredet war, würde es jedenfalls nicht überraschen. Außerdem war Gamache praktisch nie inkognito.

Er suchte sich einen schönen Platz an einem Ecktisch. Von dort konnte er das ganze Lokal überblicken.

In dem Café war es laut, auf den auf volle Lautstärke gestellten Fernsehern liefen legendäre Fußballspiele, die Italien gewonnen hatte. Baristas brüllten Bestellungen und verfielen gelegentlich in selbstironische Gesänge, während die Stammgäste die Fernseher beschimpften, obwohl jeder den glücklichen Ausgang der Spiele kannte.

In einer Ecke spielten zwei alte Männer Karten. Sie trugen verschwitzte weiße Unterhemden und grüne Hosen, die vom Unkrautjäten zwischen den großen Tomatenpflanzen in den kleinen Vorgärten ihrer Reihenhäuser verdreckt waren.

Es war kein Café, in dem man seine Ruhe hatte, aber es war lebendig und gemütlich und vertraut, sehr europäisch. Gamaches Patenonkel Stephen hatte ihn das erste Mal hierher mitgenommen, als er noch ein Milchbart war, und seither hatte es sich mit seinen Ziegelwänden, der langen Marmortheke und der mit Blechfliesen verkleideten Decke nicht verändert.

Hier hatte er an dem runden Fenstertisch seinen ersten Cappuccino getrunken. Der bittere Geschmack hatte ihn abgeschreckt. Aber er hatte auch sein erstes Bier, den ersten Scotch und den ersten Räucherlachs nicht gemocht. Es dauerte eine Weile und erforderte einige Beharrlichkeit, um sich an den Geschmack des Erwachsenenlebens zu gewöhnen.

Die Cannoli waren eine andere Sache. Die hatte er vom ersten Bissen an geliebt.

Vito brachte ihm seinen Kaffee und dazu ein Gebäckstück. Unaufgefordert, aber es wurde erfreut in Empfang genommen.

»Grazie.«

»Prego.«

»Können Sie bitte noch einen Cannolo bringen? Ich erwarte jemanden.«

»Madame Gamache?«

»Nein.«

Es war warm. Gamache trug Anzug und Krawatte und war versucht, das Jackett auszuziehen, beschloss aber, nur die Krawatte zu lockern und den obersten Knopf seines weißen Hemdes zu öffnen.

Um sieben nach vier trat ein Mann durch die Tür und sah sich um, bis sein Blick auf Gamache fiel, dann ging er auf ihn zu.

Er trug einen Hoodie, die Kapuze trotz des warmen Wetters über den Kopf gezogen. Seine Hände steckten in der ausgebeulten Bauchtasche des Sweatshirts. Er war stämmig und hatte den tippelnden, tänzelnden Schritt eines Boxers, der sich seinem Gegner näherte.

Er war nicht der Mann von der Aufnahme. Gamache verspürte plötzliche Unruhe, beinahe Angst.

Vielleicht war es ja doch eine Falle?

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Lacoste aufstand. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste er die anderen Gäste, darunter einen älteren Mann mit seiner Enkelin, die zwischen Lacoste und dem näher kommenden Mann in dem Hoodie standen. Sie befanden sich in ihrer Sichtlinie. Ihrer Schusslinie.

Gamache gab Lacoste verstohlen ein Zeichen, damit sie blieb, wo sie war. Er bemerkte ihre Hand an ihrer Hüfte, wo sich eine Waffe verbarg. Sie war bereit. Auch die anderen Agents waren aufgestanden. Der Großvater schien etwas zu spüren, sah sich um und streckte instinktiv die Hand nach dem kleinen Mädchen aus.

Agents traten vor, versuchten, sich an der Traube an der Bar vorbeizuschieben, wo Gäste Kaffee und Gebäck bestellten und langsam merkten, dass hier irgendetwas Seltsames vor sich ging.

Diejenigen, die auf einen der Fernseher sahen und sonst nichts mitbekamen, brachen in Jubelschreie über ein Tor der Italiener von vor zehn Jahren aus.

Gamache hatte keinen unverstellten Blick auf seine Leute, was bedeutete, dass sie auch keinen unverstellten Blick auf ihn und den näher kommenden Fremden hatten. Falls der Mann eine Waffe zog, hatten sie keine freie Schussbahn.

Der Großvater legte seine Hand auf die Schulter des Mädchens und schob es hinter sich.

Wie immer geschah das alles in kürzester Zeit. Innerhalb von ein, zwei Sekunden.

»Darf ich?« Der Mann deutete auf den Stuhl.

»Tut mir leid, ich erwarte jemanden«, sagte Gamache angespannt. Seine Hände lagen unter der Tischplatte, um den Tisch umstoßen zu können. Um dann wegzuspringen und dem Schuss auszuweichen – oder auch nicht. Aber wenigstens würde er den Mann zu Fall bringen und seinen Agents die Gelegenheit geben zuzuschlagen.

»Das dürfte ich sein.« Der Mann schob die Kapuze vom Kopf und setzte sich.

Von Nahem war sein Gesicht rot, von Sonne und Wind gegerbt. Er verbrachte offenkundig viele Stunden an der frischen Luft. Gamache schätzte ihn auf Mitte, Ende zwanzig. Keine sichtbaren Piercings oder Tätowierungen. Kurz geschnittene Haare. Die Augen wachsam und klar. Mehr grau als blau, aber vielleicht hing das von der Kleidung ab.

»Würden Sie bitte Ihre Hände auf den Tisch legen?«, sagte Gamache, während er seine um die Tischkante legte. Um den Tisch nach vorne stoßen zu können, falls …

Der Mann wirkte ein bisschen überrascht, gehorchte aber. Er spreizte die Finger. Sie waren kräftig und doch feingliedrig. Eher die eines Pianisten als eines Boxers, dachte Gamache. Sie waren zwar ebenfalls gebräunt, hatten aber keine Schwielen. Die Nägel waren abgekaut, die Haut darum herum eingerissen.

Die Bauchtasche seines grauen Sweatshirts lag flach an, kaum dass er die Hände herausgezogen hatte. Es steckte keine Waffe darin.

Und damit war es vorbei. Die Spannung löste sich ebenso schnell, wie sie sich aufgebaut hatte. Noch rührten sich die Agents allerdings nicht. Ihre Augen blieben starr auf die Zielperson gerichtet.

Der Großvater stand immer noch schützend vor seiner Enkelin. Er folgte den Blicken der rings um ihn Stehenden zu der Ecke, wo ein großer Mann saß, der die Tischkante umklammert hielt. Und dann sah er, wie er seine Hände davon löste und sie vor sich verschränkte.

Sein Gesicht entspannte sich. Lächelnd nahm er die Hand von der mageren Schulter des Mädchens.

»Was ist denn, Opa?«, fragte sie, weil sie die wachsende Spannung und dann ihr Nachlassen gespürt hatte.

»Rien«,