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Weihnachten steht vor der Tür, und in Québec bedeutet das funkelnde Lichter, verschneite Landschaften und trautes Beisammensein vor knisternden Kaminen. Doch für Chief Inspector Armand Gamache liegt diesmal ein Schatten über der besinnlichen Jahreszeit. Sein Rivale Sylvain Francoeur hat bei der Sûreté du Québec in Montréal ordentlich ausgemistet. Das Resultat: Die berühmte Mordkommission ist nur mehr ein Haufen von Taugenichtsen und Faulenzern. Auch Gamaches Stellvertreter und Vertrauter Jean-Guy Beauvoir ist versetzt worden. Seit Monaten haben die beiden kein Wort miteinander gesprochen. Eine Nachricht von Myrna Landers, der Besitzerin der Buchhandlung in Three Pines, bietet Gamache den idealen Vorwand, der Stadt eine Weile zu entfliehen. Sie macht sich Sorgen, weil eine alte Freundin nicht wie versprochen bei ihrem Weihnachtsfest aufgetaucht ist. Was keiner wissen soll: Es handelt sich um eine ehemalige Berühmtheit, die sich vor der Öffentlichkeit versteckt. Als Gamache in Three Pines die Ermittlungen aufnimmt, spitzt sich in Montréal die Lage zu. Francoeur bastelt an einem von langer Hand geschmiedeten Plan, der Gamache zum Rücktritt zwingen soll. Und während der mit den paar wenigen loyalen Kollegen in Three Pines untertaucht, kommt es ausgerechnet dort zum Showdown.
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Seitenzahl: 675
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Louise Penny
Der vermisste Weihnachtsgast
Der neunte Fall für Gamache
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Kampa
Audrey Villeneuve wusste, dass das, was sich in ihrer Vorstellung abspielte, nicht geschehen konnte. Sie war erwachsen und kannte den Unterschied zwischen Realität und Phantasie. Doch jeden Morgen, wenn sie auf dem Weg von ihrem Haus im Osten Montréals zum Büro durch den Ville-Marie-Tunnel fuhr, konnte sie es sehen. Hören. Spüren.
Es begann mit dem plötzlichen Aufleuchten von Bremslichtern. Der Lastwagen vor ihr scherte aus, kam ins Schlingern und rammte die Tunnelwand. Ein grauenvolles Kreischen hallte von den Betonwänden wider und raste auf sie zu, verschlang alles andere. Hupen, Sirenen, Bremsen, schreiende Menschen.
Und dann sah Audrey, wie sich riesige Betonbrocken von der Decke lösten und ein Gewirr aus metallenen Adern und Sehnen hinter sich herzogen. Das, was den riesigen Bau zusammenhielt. Das, was die Stadt Montréal zusammenhielt.
Bis heute.
Und dann, und dann … schloss sich das Oval aus Tageslicht am Ende des Tunnels. Wie ein Auge.
Und dann war Dunkelheit.
Und das lange, lange Warten darauf, zerschmettert zu werden.
Jeden Morgen und jeden Abend, wenn Audrey Villeneuve durch dieses Wunderwerk der Technik, das ein Ende der Stadt mit dem anderen verband, fuhr, stürzte es ein.
»Alles wird gut.« Sie lachte über sich selbst. »Alles wird gut.«
Sie drehte das Radio lauter und sang mit.
Trotzdem kribbelten ihre Hände auf dem Lenkrad, gleich darauf wurden sie kalt und taub, und ihr Herz begann zu hämmern. Schneematsch klatschte gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer schoben ihn weg und hinterließen einen streifigen Halbmond.
Der Verkehrsfluss geriet ins Stocken. Kam zum Stillstand.
Audreys Augen weiteten sich. Das war bisher noch nie vorgekommen. Es war schon schlimm genug, durch den Tunnel zu fahren. Mittendrin stehen zu bleiben war ein Albtraum. Sie erstarrte innerlich.
»Alles wird gut.« Aber sie konnte ihre Stimme nicht hören, so abgehackt kam ihr Atem und so laut war das Heulen in ihrem Kopf.
Mit dem Ellbogen verriegelte sie die Tür. Nicht um jemanden auszuschließen, sondern um sich einzuschließen. Ein schwacher Versuch, sich selbst davon abzuhalten, die Tür aufzureißen und wegzulaufen, schreiend aus dem Tunnel zu rennen. Sie umklammerte das Lenkrad. Fest. Fester. Noch fester.
Ihr Blick schoss zu der verdreckten Wand auf ihrer Seite, zur Decke, zur gegenüberliegenden Wand.
Die Risse.
O Gott, Risse.
Und die halbherzigen Versuche, sie zu verspachteln.
Nicht um sie zu reparieren, sondern um sie zu verbergen.
Das bedeutet nicht, dass der Tunnel einstürzt, beruhigte sie sich.
Doch dann wurden die Risse größer und verschlangen jeden klaren Gedanken. Alle Ungeheuer, die in ihrer Phantasie lebten, zwängten sich heraus, streckten die Arme aus, drangen durch diese Risse hervor.
Sie schaltete das Radio aus, um sich besser konzentrieren zu können, alle Sinne aufs Äußerste geschärft. Das Auto vor ihr kroch ein paar Zentimeter weiter. Dann blieb es wieder stehen.
»Fahr, fahr doch«, flehte sie.
Aber Audrey Villeneuve saß in der Falle. Von Grauen erfüllt. Sie konnte nirgendwohin. Der Tunnel war schlimm, aber das, was sie im grauen Dezemberlicht erwartete, war noch schlimmer.
Seit Tagen, Wochen, Monaten – ja seit Jahren, wenn sie ehrlich war – hatte sie es gewusst. Es gab Ungeheuer. Sie verbargen sich in den Rissen in Tunneln und in dunklen Seitenstraßen und ordentlichen Reihenhäusern. Sie hießen Frankenstein und Dracula und Martha und David und Pierre. Und fast immer begegnete man ihnen dort, wo man es am wenigsten erwartete.
Sie sah in den Rückspiegel und blickte in zwei verängstigte braune Augen. Dahinter sah sie jedoch auch ihre Rettung. Ihre Silberkugel. Ihren Holzpfahl.
Ein hübsches Cocktailkleid.
Stundenlang hatte sie daran genäht. Zeit, die sie damit hätte verbringen können, verbringen sollen, Weihnachtsgeschenke für ihren Mann und ihre Töchter einzupacken. Zeit, die sie damit hätte verbringen können, verbringen sollen, Plätzchen in Form von Sternen und Engeln und fröhlichen Schneemännern zu backen, mit Knöpfen aus Zuckerperlen und Augen aus Schokolinsen.
Stattdessen war Audrey Villeneuve jeden Abend, wenn sie nach Hause gekommen war, schnurstracks in den Keller zu ihrer Nähmaschine gegangen. Sie hatte sich über den smaragdgrünen Stoff gebeugt und alle ihre Hoffnungen in dieses Cocktailkleid eingenäht.
Heute Abend würde sie es anziehen, zu der Weihnachtsfeier gehen, sich umsehen und die verwunderten Blicke auf sich spüren. In ihrem knallengen grünen Kleid würde die brave Audrey Villeneuve im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Aber sie wollte nicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sondern nur die eines einzigen Mannes. Und wenn sie die hatte, konnte sie sich entspannen.
Sie würde die Verantwortung loswerden und könnte sich wieder um ihr Leben kümmern. Die Mängel würden behoben werden. Die Risse geschlossen. Die Ungeheuer dahin zurückkehren, wohin sie gehörten.
Die Ausfahrt zur Champlain Bridge kam in Sicht. Normalerweise nahm sie die nicht, aber heute war kein normaler Tag.
Audrey setzte den Blinker und sah, dass der Mann in dem Auto neben ihr sie mit einem finsteren Blick bedachte. Wo zum Kuckuck wollte sie hin? Sie saßen alle in der Falle. Aber Audrey Villeneuve mehr als die anderen. Der Mann zeigte ihr den Mittelfinger, aber sie war nicht beleidigt. In Québec entsprach das praktisch einem freundlichen Winken. Falls die Québecer jemals ein Auto entwerfen würden, hätte es als Kühlerfigur einen Mittelfinger. Normalerweise hätte sie »freundlich zurückgewinkt«, aber ihr gingen andere Dinge durch den Kopf.
Sie drängelte sich auf die äußerste rechte Fahrspur, zur Brückenausfahrt. Die Tunnelwand war kaum einen Meter von ihr entfernt. Sie hätte die Faust in eines der Löcher stecken können.
»Alles wird gut.«
Aber Audrey Villeneuve wusste, dass es, egal was passierte, wahrscheinlich nicht gut werden würde.
»Legen Sie sich doch selbst eine Ente zu«, sagte Ruth und drückte Rosa etwas fester an sich. Ein lebendes Daunenkissen.
Constance Pineault lächelte und blickte vor sich hin. Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, eine Ente haben zu wollen, aber jetzt beneidete sie Ruth tatsächlich um Rosa. Und nicht nur wegen der Wärme, die die Ente an diesem bitterkalten Dezembertag spendete.
Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihren gemütlichen Sessel im Bistro zu verlassen, um auf einer eiskalten Bank neben einer Frau zu sitzen, die entweder betrunken oder dement war. Aber hier saß sie.
Noch vor vier Tagen hatte Constance Pineault nicht gewusst, dass Wärme viele Formen haben konnte. So wie gesunder Menschenverstand. Aber jetzt wusste sie es.
»Aab-weeeehr«, rief Ruth den jungen Eishockeyspielern auf dem zugefrorenen Teich zu. »Verflixt noch mal, Aimée Patterson, das könnte Rosa ja besser.«
Aimée glitt an ihnen vorbei, und Constance hörte sie etwas murmeln, das »Scheibe« hätte heißen können. Oder …
»Sie vergöttern mich«, sagte Ruth zu Constance. Oder zu Rosa. Oder ins Nichts.
»Sie haben Angst vor Ihnen«, sagte Constance.
Ruth bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sind Sie immer noch da? Ich dachte, Sie wären gestorben.«
Constance lachte, und ihr Lachen schwebte wie ein heiteres Wölkchen über den Dorfanger und vermischte sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen.
Vier Tage zuvor hatte sie gedacht, sie würde nie wieder lachen können. Aber während sie bis zu den Knöcheln im Schnee neben Ruth saß und sich den Hintern abfror, hatte sie etwas entdeckt. Versteckt. Hier in Three Pines. Das Lachen.
Schweigend sahen die beiden Frauen dem Treiben auf dem Dorfanger zu, nur von einem gelegentlichen Quaken unterbrochen, von dem Constance hoffte, dass es von der Ente kam.
Obwohl im gleichen Alter, waren die beiden Frauen so verschieden wie Tag und Nacht. Constance war weich, Ruth war hart. Constances lange und seidige Haare waren zu einem ordentlichen Knoten geschlungen, die von Ruth waren strohig und raspelkurz. Constance hatte Rundungen, Ruth hatte Kanten. Schroffe, harte Kanten.
Rosa regte sich und schlug mit den Flügeln. Dann glitt sie von Ruth’ Schoß auf die schneebedeckte Bank und watschelte die paar Schritte zu Constance. Kletterte auf Constances Schoß und machte es sich dort gemütlich.
Ruth kniff die Augen zusammen. Das war ihre einzige Regung.
Seit Constances Ankunft in Three Pines hatte es Tag und Nacht geschneit. Sie hatte ihr gesamtes Erwachsenenleben in Montréal verbracht und völlig vergessen, dass Schnee so schön sein konnte. Ihrer Erfahrung nach war Schnee etwas, das beseitigt werden musste. Eine Last, die vom Himmel fiel.
Doch das hier war der Schnee ihrer Kindheit. Fröhlich, heiter, weiß und sauber. Je mehr, desto besser. Etwas zum Spielen.
Er bedeckte die Häuser aus Natursteinen, Schindeln und Ziegeln, die den Dorfanger säumten. Er bedeckte das Bistro und den Buchladen, die Bäckerei und den Gemischtwarenladen. Constance kam es so vor, als wäre ein Alchemist am Werk gewesen und Three Pines das Ergebnis. Aus dem Nichts herbeigezaubert und in diesem Tal abgesetzt. Vielleicht war das winzige Dorf aber auch wie der Schnee vom Himmel gefallen, um diejenigen, die ebenfalls gefallen waren, weich aufzufangen.
Bei ihrer Ankunft hatte Constance vor Myrnas Buchladen geparkt und war besorgt gewesen, als sich das Schneetreiben im Laufe des Abends zu einem Schneesturm auswuchs.
»Soll ich mein Auto lieber woanders hinstellen?«, hatte sie Myrna gefragt, bevor sie zum Schlafen nach oben gegangen waren. Myrna war ans Fenster ihres Ladens für neue und gebrauchte Bücher getreten und hatte überlegt.
»Ich denke, es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.«
Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.
Und sie behielt recht. Constance hatte eine unruhige Nacht lang auf die Sirenen der Schneepflüge gelauscht. Auf die Aufforderung, ihr Auto auszugraben und wegzufahren. Die Fenster hatten in ihren Rahmen gewackelt, als der Wind Schnee dagegenpeitschte. Sie hörte den Sturm zwischen den Bäumen und um die trutzigen Häuser heulen. Wie etwas Lebendiges, das auf der Jagd war. Schließlich war Constance unter ihrer warmen Daunendecke weggedämmert. Als sie aufwachte, war der Sturm weitergezogen. Constance trat ans Fenster und rechnete damit, ihr Auto unter dem Schnee begraben zu sehen, nur mehr eine weiße Erhebung unter einem halben Meter Neuschnee. Stattdessen war die Straße geräumt, und alle Autos waren ausgegraben.
Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.
Und endlich galt das auch für sie.
Vier Tage und vier Nächte hatte es ununterbrochen geschneit, bevor Billy Williams mit seinem Schneepflug zurückgekommen war. Bis dahin war Three Pines eingeschneit gewesen, abgeschnitten von der Welt. Aber das spielte keine Rolle, weil sie hier alles hatten, was sie brauchten.
Allmählich wurde der siebenundsiebzigjährigen Constance Pineault klar, dass es ihr nicht deshalb gut ging, weil sie in ein Bistro gehen konnte, sondern weil sie in das Bistro von Olivier und Gabri gehen konnte. Es gab nicht einfach nur einen Buchladen, es gab Myrnas Buchladen, Sarahs Bäckerei und Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen.
Als autonome Städterin war sie gekommen, und jetzt saß sie eingeschneit neben einer Verrückten auf einer Bank und hatte eine Ente auf dem Schoß.
Wer war hier gaga?
Aber Constance Pineault wusste, dass sie kein bisschen verrückt, sondern endlich zur Vernunft gekommen war.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust auf einen Drink haben«, sagte Constance.
»Herrgott noch mal, Sie alte Schachtel, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Ruth stand auf und wischte den Schnee von ihrem Wollmantel.
Constance erhob sich ebenfalls und gab Rosa mit den Worten »Lieber ein Schrecken mit Ente« an Ruth zurück.
Ruth akzeptierte die Ente und den Kommentar mit einem Schnauben.
Auf der Straße trafen sie auf Olivier und Gabri, die aus dem Bistro kamen.
»Ein Schwulengestöber«, sagte Ruth.
»Früher war ich so unschuldig wie Schneewittchen«, vertraute Gabri Constance an. »Dann geriet ich unter die sieben Zwerge.«
Olivier und Constance lachten.
»Du hörst dich an wie Mae West«, sagte Ruth. »Die hatte aber eindeutig mehr Oberweite.«
»Das wird schon noch«, erwiderte Olivier und musterte seinen wohlbeleibten Lebensgefährten.
Constance hatte bisher nicht viel mit Homosexuellen zu tun gehabt, jedenfalls nicht wissentlich. Alles, was sie über sie wusste, war, dass sie »anders« waren. Und »anders« war gleichbedeutend mit unnatürlich. Wenn sie milde gestimmt war, hatte sie Homosexuelle als gestört betrachtet. Als krank.
Aber im Grunde dachte sie nur mit Missbilligung an sie. Sogar mit Abscheu.
Bis vor vier Tagen. Bis der Schnee zu fallen begann und das kleine Dorf im Tal von der Welt abgeschnitten wurde. Bis sie herausgefunden hatte, dass Olivier, der Mann, dem sie so kühl begegnet war, ihr Auto freigeschaufelt hatte. Unaufgefordert. Ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Bis sie vom Fenster ihres Schlafzimmers in Myrnas Loft über dem Buchladen gesehen hatte, wie Gabri sich mit gesenktem Kopf gegen das Schneetreiben stemmte und den Dorfbewohnern, die es nicht zum Frühstück ins Bistro schafften, Kaffee und warme Croissants brachte.
Sie sah zu, wie er anschließend gleich noch Veranden und Eingangsstufen und Wege freischaufelte.
Und wieder ging. Zum nächsten Haus.
Constance spürte an ihrem Arm Oliviers kräftige Hand, die sie stützte. Was würde ein Fremder denken, der in diesem Augenblick ins Dorf käme? Dass Gabri und Olivier ihre Söhne waren?
Sie hoffte es.
Constance trat durch die Tür, und ihr stieg der inzwischen vertraute Geruch des Bistros in die Nase. Die dunklen Holzbalken und die breiten Kieferndielen waren durchdrungen von mehr als hundert Jahren Kaminrauch und Kaffeearoma.
»Hier drüben.«
Constance folgte der Stimme. Obwohl die Sprossenfenster so viel Tageslicht wie möglich hereinließen, war es dämmerig. Ihr Blick wanderte zu den beiden großen Kaminen, in denen ein munteres Feuer prasselte und vor denen bequeme Sofas und Sessel standen. In der Mitte des Raums, zwischen den Kaminen mit den Sitzgruppen, waren alte Tische aus Kiefernholz mit Silberbesteck und zusammengewürfeltem Porzellangeschirr gedeckt. In einer Ecke stand ein großer dichter Weihnachtsbaum mit roten, grünen und blauen Lichtern und einem Sammelsurium an Kugeln, Perlenschnüren und Eiszapfen, die von den Ästen baumelten.
In den Sesseln hatten es sich einige Gäste bequem gemacht, tranken Café au Lait oder heiße Schokolade und lasen mehrere Tage alte französisch- und englischsprachige Zeitungen.
Die Stimme war vom anderen Ende des Raums gekommen, und auch wenn Constance die Frau noch nicht richtig sehen konnte, wusste sie doch, wer gerufen hatte.
»Ich habe Tee für euch bestellt.« Myrna stand neben dem Kamin und wartete auf sie.
»Du redest mit der da, oder?«, erwiderte Ruth, ließ sich auf den besten Sessel am Feuer plumpsen und legte die Füße auf den Hocker.
Constance umarmte Myrna und spürte ihren weichen Körper unter dem dicken Pullover. Myrna war groß, schwarz und zwanzig Jahre jünger als sie, dennoch fühlte sie sich an und roch, als wäre sie Constances Mutter. Anfangs hatte es Constance aus dem Gleichgewicht gebracht, so als hätte sie einen Stoß erhalten. Aber dann begann sie sich auf diese Umarmungen zu freuen.
Constance trank ihren Tee, sah in das flackernde Kaminfeuer und hörte mit halbem Ohr zu, als Myrna und Ruth sich über die letzte Bücherlieferung unterhielten, die sich wegen des Schnees verzögerte.
Die Wärme machte sie schläfrig.
Vier Tage. Und jetzt hatte sie zwei schwule Söhne, eine große schwarze Mutter und eine demente Dichterin als Freundin und dachte darüber nach, sich eine Ente zuzulegen.
Es war nicht das, was sie sich von diesem Besuch erwartet hatte.
Wie gebannt sah sie in die Flammen und verlor sich in ihren Gedanken. Sie war sich nicht sicher, ob Myrna verstand, warum sie gekommen war. Warum sie nach so vielen Jahren Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Dabei war wichtig, dass Myrna es verstand, aber ihr lief die Zeit davon.
»Der Schneefall lässt nach«, sagte Clara Morrow. Sie nahm ihre Mütze ab und strich sich über die zerzausten Haare, machte es damit aber nur schlimmer.
Constance schreckte hoch. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Clara zu ihnen gestoßen war.
Sie hatte sie an ihrem ersten Abend in Three Pines kennengelernt. Clara hatte Myrna und sie zum Essen eingeladen, und Constance, die sich eigentlich nach einem ruhigen Abendessen mit Myrna sehnte, hatte nicht gewusst, wie sie die Einladung höflich ablehnen sollte. Also hatten sie ihre Mäntel und Stiefel angezogen und waren hinübergestapft.
Eigentlich hätten sie nur zu dritt sein sollen, was schon schlimm genug war, aber dann war noch Ruth Zardo mit ihrer Ente aufgetaucht, und aus einem anstrengenden Abend wurde ein Fiasko. Rosa die Ente hatte die ganze Zeit etwas von sich gegeben, das wie »Fuck, fuck, fuck« klang, während Ruth den gesamten Abend damit verbracht hatte, zu trinken, zu fluchen, Beleidigungen zu verteilen und dazwischenzureden.
Natürlich hatte Constance schon von ihr gehört. Die demente und verbitterte Gewinnerin des Literaturpreises des Generalgouverneurs war so etwas wie Kanadas Nationaldichterin.
Wer verletzte dich so unheilbar, dass du die ausgestreckte Hand mit Verachtung strafst?
Das war eine gute Frage, wie Constance im Laufe des Abends klar wurde. Sie war versucht, sie der verrückten Dichterin zu stellen, verkniff es sich jedoch aus Angst, sie als Gegenfrage gestellt zu bekommen.
Clara hatte mit Ziegenkäse gefüllte Omelettes gemacht. Dazu gab es gemischten Salat und Baguette. Sie hatten in der großen Küche gegessen, und nach dem Essen hatte Clara sie in ihr Atelier geführt, während Myrna Kaffee kochte und Ruth und Rosa sich ins Wohnzimmer verzogen. Das Atelier war ein einziges Chaos, überall Pinsel und Paletten und Leinwände. Und es roch nach Ölfarbe, Terpentin und reifen Bananen.
»Peter hätte mir den ganzen Tag damit in den Ohren gelegen, dass ich aufräumen soll«, sagte Clara und betrachtete das Durcheinander.
Während des Essens hatte Clara über die Trennung von ihrem Mann gesprochen. Constance hatte eine mitfühlende Miene aufgesetzt und überlegt, ob sie vielleicht aus dem Badezimmerfenster klettern könnte. In einer Schneewehe sein Leben auszuhauchen, konnte doch nicht so schlimm sein, oder?
Und jetzt sprach Clara wieder über ihren Mann. Ihren Noch-Mann. Es kam Constance vor, als würde Clara in Unterwäsche herumspazieren. Die intimsten Dinge preisgeben. Es war unangenehm und unschicklich und unnötig. Constance wollte einfach nur noch heim.
Aus dem Wohnzimmer hörte sie »Fuck, fuck, fuck«. Sie wusste nicht, und inzwischen interessierte es sie auch nicht mehr, ob es von der Ente oder von der Dichterin kam.
Clara ging an einer Staffelei vorbei. Auf der Leinwand waren die geisterhaften Umrisse von etwas zu sehen, das vielleicht mal ein Mensch werden würde. Ohne große Begeisterung folgte Constance Clara in den hinteren Teil des Ateliers. Clara schaltete eine Lampe ein, und ein kleines Bild wurde in Licht getaucht.
Auf den ersten Blick wirkte es uninteressant, jedenfalls unscheinbar.
»Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Sie gerne malen«, hatte Clara gesagt, ohne sie anzusehen.
Constances Nackenhaare stellten sich auf. Hatte Clara sie erkannt? Wusste sie, wer sie war?
»Lieber nicht«, hatte sie mit fester Stimme geantwortet.
»Ich verstehe«, hatte Clara gesagt. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich gemalt werden wollte.«
»Warum nicht?«
»Ich hätte zu viel Angst davor, was jemand sehen könnte.«
Clara hatte gelächelt, dann war sie zur Tür gegangen. Constance war ihr gefolgt, nachdem sie einen letzten Blick auf das kleine Bild geworfen hatte. Es zeigte Ruth Zardo, die mittlerweile auf Claras Sofa eingeschlafen war und schnarchte. Auf dem Bild hielt die alte Dichterin mit klauenartigen hageren Händen einen blauen Schal um ihren Hals zusammen. Unter der Haut, durchscheinend wie Zwiebelschalenpapier, zeichneten sich Adern und Sehnen ab.
Clara hatte Ruth’ Verbitterung eingefangen, ihre Einsamkeit, ihre Wut. Constance merkte, dass es ihr schwerfiel, den Blick von dem Porträt abzuwenden.
An der Tür zum Atelier drehte sie sich noch einmal um. Sie sah nicht mehr so gut wie früher, aber das war auch gar nicht nötig, um zu erkennen, was Clara tatsächlich eingefangen hatte. Es war Ruth. Aber es war noch jemand anderes. Ein Anblick, an den Constance sich aus ihrer gottesfürchtigen Kindheit erinnerte.
Es war nicht nur die verrückte alte Dichterin, sondern auch die Jungfrau Maria. Die Muttergottes. Vergessen, gekränkt. Zurückgelassen. Zornig auf eine Welt blickend, die sich nicht mehr daran erinnerte, was sie ihr geschenkt hatte.
Constance war erleichtert, dass sie Claras Bitte, sie malen zu dürfen, abgelehnt hatte. Wenn Clara so die Muttergottes sah, was würde sie dann in ihr sehen?
Später am Abend war Constance wie zufällig noch einmal zu der Ateliertür getreten. Das Porträt wurde noch immer von der einzelnen Lampe beleuchtet, und selbst von der Tür aus konnte sie sehen, dass ihre Gastgeberin nicht einfach nur die verrückte Ruth gemalt hatte. Ebenso wenig wie die vergessene und verbitterte Jungfrau Maria. Die alte Frau starrte in die Ferne. In eine düstere und einsame Zukunft. Aber. Aber. Kaum wahrnehmbar. Kaum erkennbar. Kaum in den Blick gerückt. War da noch etwas anderes.
Clara hatte Verzweiflung eingefangen, aber auch Hoffnung.
Constance hatte sich mit ihrem Kaffeebecher wieder zu Ruth und Rosa, Clara und Myrna gesellt und ihnen dieses Mal richtig zugehört. Und ganz langsam hatte sie angefangen zu begreifen, wie es sein mochte, wenn man hinter die Fassade eines Menschen blicken konnte.
Das war vor vier Tagen gewesen.
Und nun hatte sie ihre Sachen gepackt und war aufbruchsbereit. Nur noch eine letzte Tasse Tee im Bistro, dann wäre sie weg.
»Fahr nicht.«
Myrna hatte es leise gesagt.
»Ich muss.«
Constance wich Myrnas Blick aus. Das war ihr zu viel Nähe. Stattdessen blickte sie aus dem vereisten Fenster auf das verschneite Dorf. Es dämmerte, und an Bäumen und Häusern leuchteten die ersten Weihnachslichter.
»Kann ich wiederkommen? Über Weihnachten?«
Darauf blieb es lange still. Und Constances Ängste kehrten zurück, krochen aus dieser Stille. Sie blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände.
Sie hatte sich entblößt. Sich zu der Vorstellung verleiten lassen, dass sie sicher war, gemocht wurde, willkommen war.
Dann spürte sie eine große Hand auf ihrer und hob den Kopf.
»Darüber würde ich mich sehr freuen«, sagte Myrna und lächelte. »Wir werden viel Spaß haben.«
»Spaß?«, sagte Gabri und ließ sich auf das Sofa plumpsen.
»Constance kommt Weihnachten wieder her.«
»Toll. Dann können Sie an Heiligabend zum Weihnachtssingen kommen. Wir geben die Top Ten zum Besten. ›Stille Nacht‹, ›Feliz Navidad‹ …«
»›Jingle Boys‹«, sagte Clara.
»›I’m dreaming of a queer Christmas‹«, sagte Myrna.
»Die Klassiker eben«, sagte Gabri. »Aber dieses Jahr üben wir auch was Neues ein.«
»Hoffentlich nicht ›O Holy Night‹«, sagte Constance. »Ich bin nicht sicher, ob ich schon so weit bin.«
Gabri lachte. »Nein. ›The Huron Carol‹. Kennen Sie das?« Er summte ein paar Takte des alten Québecer Weihnachtslieds.
»Das mag ich sehr«, sagte sie. »Heute singt das ja keiner mehr.« Allerdings war es kaum überraschend, in diesem kleinen Dorf auf etwas zu stoßen, das in der Welt draußen in Vergessenheit geraten war.
Constance verabschiedete sich und ging von Myrna und À bientôt-Rufen begleitet zu ihrem Auto.
Sie ließ den Motor an, um ihn warmlaufen zu lassen. Inzwischen war es zu dunkel zum Eishockeyspielen, und die Kinder hatten die Spielfläche verlassen und schwankten auf ihre Schläger gestützt auf ihren Schlittschuhen durch den Schnee.
Jetzt oder nie, dachte Constance.
»Das haben wir auch immer gemacht«, sagte sie, und Myrna folgte ihrem Blick.
»Eishockey gespielt?«
Constance nickte. »Wir hatten unsere eigene Mannschaft. Unser Vater hat uns trainiert. Mama hat uns angefeuert. Es war der Lieblingssport von Bruder André.«
Sie suchte Myrnas Blick. Jetzt ist es raus, dachte sie. Geschafft. Endlich war das schmutzige Geheimnis aufgedeckt. Bei ihrer Rückkehr würde Myrna eine Menge Fragen haben. Und endlich, endlich wusste Constance, dass sie sie beantworten würde.
Myrna sah zu, wie ihre Freundin wegfuhr, und dachte nicht weiter über das eben Gesagte nach.
»Denken Sie gut nach«, sagte Armand Gamache. Seine Stimme klang neutral. Zumindest fast. Aber der Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen war unmissverständlich.
Er war hart und kalt. Und unnachgiebig.
Gamache sah den Agent über seine Lesebrille hinweg an und wartete.
Im Konferenzraum wurde es still. Das Rascheln von Papier, das kindische Geflüster verstummte. Selbst die belustigten Blicke wurden ernst.
Alle Augen richteten sich auf Chief Inspector Gamache.
Inspector Isabelle Lacoste, die neben ihm saß, ließ den Blick von ihrem Chef zu ihren Kollegen wandern. Sie waren beim wöchentlichen Briefing der Mordkommission der Sûreté du Québec. Ein Treffen, das dazu dienen sollte, Ideen und Informationen über laufende Ermittlungen auszutauschen. Früher war es von Gemeinschaftsgeist getragen gewesen, doch mittlerweile fürchtete sie sich vor dieser Stunde.
Wenn es ihr schon so ging, was mochte dann erst der Chief Inspector empfinden?
Es ließ sich nicht mehr so leicht sagen, was ihr Chef wirklich empfand und dachte.
Isabelle Lacoste kannte ihn besser als jeder andere im Raum. Sie arbeitete von allen am längsten mit ihm zusammen, stellte sie überrascht fest. Der Rest der alten Garde war versetzt worden, entweder auf eigenen Wunsch oder auf Anweisung von Chief Superintendent Francœur.
Und dafür war dieses Pack gekommen.
Die erfolgreichste Mordkommission des Landes war ausgeweidet worden und mittlerweile nur noch eine Ansammlung fauler, anmaßender, inkompetenter Nichtsnutze. Aber waren sie tatsächlich inkompetent? Als Mordermittler ganz sicher, doch waren sie überhaupt welche?
Natürlich nicht. Sie wusste ebenso gut wie Gamache, was die eigentliche Aufgabe dieser Männer und Frauen war. Jedenfalls nicht, Morde aufzuklären.
Trotzdem schaffte es Chief Inspector Gamache noch, sie zu befehligen. Sie zu kontrollieren. Das Gleichgewicht verschob sich allerdings, Lacoste spürte es. Jeden Tag kamen neue Agents hinzu. Sie sah, wie sie sich vielsagend zulächelten.
Lacoste merkte, wie die Wut in ihr hochstieg.
Wahnsinn der Massen. Der Wahnsinn war in ihre Abteilung eingedrungen. Und jeden Tag bezwang Chief Inspector Gamache ihn und übernahm aufs Neue die Zügel. Doch sie begannen, ihm zu entgleiten. Wie lange konnte er noch durchhalten, bevor er völlig die Kontrolle verlor?
Isabelle Lacoste wurde von vielen Ängsten geplagt. Die meisten davon hatten mit ihren kleinen Kindern zu tun, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Sie wusste, dass diese Ängste zum größten Teil irrational waren.
Dagegen war die Angst davor, was passieren würde, wenn der Chief Inspector die Kontrolle verlor, nicht irrational.
Sie fing den Blick eines älteren Agents auf, der mit vor der Brust verschränkten Armen auf seinem Stuhl lümmelte. Offensichtlich gelangweilt. Isabelle Lacoste sah ihn streng an. Er senkte den Blick und wurde rot.
Er schämte sich. Das sollte er auch.
Als sie ihn weiter finster ansah, setzte er sich aufrecht und löste die verschränkten Arme.
Sie nickte. Ein Sieg, wenn auch klein und zweifellos vorübergehend. Aber in diesen Tagen zählte sogar das.
Inspector Lacoste wandte sich wieder Gamache zu. Er hatte seine großen Hände auf dem Tisch übereinandergelegt. Über dem Wochenbericht. Daneben lag ein unbenutzter Stift. Seine rechte Hand zitterte leicht, und sie hoffte, dass es außer ihr niemandem auffiel.
Er war glatt rasiert und sah aus wie das, was er war. Ein Mann Ende fünfzig. Nicht unbedingt attraktiv, aber distinguiert. Eher wie ein Professor als ein Polizist. Eher wie ein Forscher als ein Jäger. Er roch nach Sandelholz mit einem Hauch Rosenwasser und trug bei der Arbeit stets Jackett und Krawatte.
Sein grau meliertes Haar war sorgfältig frisiert und lockte sich leicht an den Schläfen und über den Ohren. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, die von Alter und Sorgen und Lachen herrührten. Wobei die Lachfalten in letzter Zeit nicht oft zum Einsatz kamen. Und dann war da noch die Narbe an seiner linken Schläfe und würde da immer sein. Eine Erinnerung an Ereignisse, die keiner von ihnen jemals vergessen würde.
Er maß ein Meter achtzig und war kräftig gebaut. Nicht besonders muskulös, aber auch nicht dick. Er war standhaft.
Standhaft, dachte Lacoste, wie das Festland. Wie eine Landspitze, die dem offenen Meer trotzte. Begann die unerbittliche Brandung jetzt tiefere Falten und Furchen zu graben? Zeigten sich erste Risse?
In diesem Augenblick zeigte Chief Inspector Gamache jedenfalls keinerlei Anzeichen von Schwäche. Er sah den impertinenten Agent an, und Lacoste verspürte unwillkürlich einen Anflug von Mitleid. Dieser neue Agent hatte das Festland mit einer Sandbank verwechselt und seinen Fehler zu spät bemerkt.
Sie konnte sehen, wie Frechheit in Beunruhigung umschlug und schließlich in Angst. Hilfe suchend drehte er sich zu seinen Freunden um, die jedoch wie ein Hyänenrudel zurückwichen. Geradezu begierig darauf zuzusehen, wie er zerrissen wurde.
Bis jetzt war Lacoste nicht klar gewesen, wie leicht sich die Meute gegen ihresgleichen wandte oder zumindest ihre Unterstützung verweigerte.
Sie warf einen Blick zu Gamache, dessen Augen unverwandt auf den sich windenden Agent gerichtet waren, und sie wusste, was der Chef vorhatte. Er stellte sie auf die Probe. Stellte ihre Loyalität auf die Probe. Er hatte einen aus der Meute herausgesucht und wartete ab, ob ihm irgendjemand zu Hilfe kam.
Aber es kam keiner.
Isabelle Lacoste entspannte sich ein wenig. Chief Inspector Gamache hatte immer noch alles unter Kontrolle.
Gamache starrte den Agent weiter an. Jetzt begannen die anderen nervös zu werden. Einer erhob sich sogar mit einem trotzigen »Ich hab noch was zu erledigen«.
»Setzen Sie sich«, sagte der Chief Inspector, ohne ihn anzusehen. Und der Agent plumpste wie ein Stein zurück auf seinen Stuhl.
Gamache wartete. Und wartete.
»Désolé, patron«, sagte der Agent schließlich. »Ich habe den Verdächtigen noch nicht vernommen.«
Die Worte verpufften. Ein armseliges Geständnis. Sie alle hatten den Agent lügen hören, was die Vernehmung betraf, und jetzt waren sie gespannt, was der Chief Inspector tun würde. Wie er den Mann zerlegen würde.
»Darüber sprechen wir nach dem Meeting«, sagte Gamache.
»Ja, Sir.«
Die Reaktion am Tisch folgte unmittelbar.
Verschlagenes Grinsen. Nachdem der Chief Inspector kurz Stärke gezeigt hatte, witterten sie wieder Schwäche. Hätte er den Agent an Ort und Stelle fertiggemacht, hätten sie ihn respektiert. Gefürchtet. Doch jetzt rochen sie Blut.
Isabelle Lacoste stellte erschrocken fest, dass auch sie sich gewünscht hätte, dass der Chief Inspector den Agent niedermachte und demütigte. Zurechtstutzte. Als Warnung an jeden, der Chief Inspector Gamache verärgerte.
Bis hierher und nicht weiter.
Aber Isabelle Lacoste war schon lange genug bei der Sûreté, um zu wissen, wie viel einfacher es war zu schießen, als zu reden. Wie viel einfacher es war zu schreien, als ruhig zu bleiben. Wie viel einfacher es war, andere zu demütigen und herabzusetzen und die eigene Autorität zu missbrauchen, als sich anständig und höflich zu verhalten, selbst denjenigen gegenüber, die das nicht taten.
Wie viel mehr Mut Freundlichkeit erforderte als Gemeinheit.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Sûreté hatte sich geändert. Inzwischen herrschte hier eine Kultur, die Gemeinheit honorierte und förderte.
Chief Inspector Gamache wusste das. Dennoch hatte er gerade ungeschützt seine Kehle präsentiert. War das Absicht, fragte sich Lacoste. Oder war er tatsächlich dermaßen geschwächt?
Sie wusste es nicht mehr.
Was sie wusste, war, dass der Chief Inspector in den vergangenen sechs Monaten zugesehen hatte, wie seine Abteilung ausgehöhlt und korrumpiert worden war. Seine Arbeit zunichtegemacht. Er hatte zugesehen, wie diejenigen, die ihm gegenüber loyal waren, gingen. Oder sich gegen ihn wandten.
Am Anfang hatte er den Kampf aufgenommen, aber er war niedergerungen wurden. Immer wieder hatte sie ihn nach einem Streit mit dem Chief Superintendent in sein Büro zurückkehren sehen. Geschlagen. Und inzwischen schien er kaum noch einen Funken Kampfgeist in sich zu haben.
»Weiter«, sagte Gamache.
Und so ging es noch eine Stunde lang. Jeder Agent stellte Gamaches Geduld auf die Probe. Doch das Festland hielt stand. Kein Anzeichen, dass es zerfiel, kein Anzeichen, dass all das überhaupt eine Wirkung auf den Chief Inspector hatte. Endlich war das Briefing vorbei, und Gamache erhob sich. Isabelle Lacoste stand ebenfalls auf, und es gab ein kurzes Zögern, bevor der erste Agent und nach und nach alle anderen aufstanden. An der Tür drehte der Chief Inspector sich um und sah den Agent an, der gelogen hatte. Nur ein kurzer Blick, aber er reichte. Der Agent folgte Gamache in sein Büro. Bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, erhaschte Isabelle Lacoste einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Chief Inspectors.
Er wirkte erschöpft.
»Setzen Sie sich.« Gamache deutete auf einen Stuhl und ließ sich auf dem Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch nieder. Der Agent gab sich unerschrocken, hielt unter dem strengen Blick aber nicht lange durch.
Als der Chief Inspector sprach, klang aus seinen Worten eine selbstverständliche Autorität.
»Fühlen Sie sich hier wohl?«
Die Frage überraschte den Agent. »Ich denke schon.«
»Kommen Sie, das kriegen Sie besser hin. Es ist eine einfache Frage. Fühlen Sie sich hier wohl?«
»Ich muss ja wohl hier sein.«
»Müssen tun Sie gar nichts. Sie könnten kündigen. Sie sind ja kein Sklave. Außerdem nehme ich mal an, Sie sind nicht so dumm, wie Sie sich stellen.«
»Ich stelle mich nicht dumm.«
»Nein? Wie würden Sie es dann bezeichnen, wenn man versäumt, einen Hauptverdächtigen in einem Mordfall zu vernehmen? Wie würden Sie es bezeichnen, deswegen jemanden anzulügen, von dem man weiß, dass er die Lüge durchschaut?«
Es war klar, dass der Agent nicht damit gerechnet hatte, erwischt zu werden. Ganz bestimmt war er nicht auf die Idee gekommen, dass er sich allein mit dem Chief Inspector in dessen Büro wiederfinden würde und ihm Rede und Antwort stehen müsste.
Vor allem aber war er nicht auf die Idee gekommen, dass Chief Inspector Gamache ihn einfach nur nachdenklich mustern würde, statt über ihn herzufallen und ihn in Stücke zu reißen.
»Ich würde es als dumm bezeichnen«, gab der Agent zu.
Gamache ließ ihn nicht aus den Augen. »Es ist mir egal, was Sie über mich denken. Es ist mir egal, was Sie über Ihren Einsatz hier denken. Sie haben recht, es war nicht Ihre Entscheidung, hier zu sein, genauso wenig wie meine. Sie sind kein ausgebildeter Mordermittler. Aber Sie sind ein Agent der Sûreté, einer der besten Polizeien der Welt.«
Der Agent grinste höhnisch, doch gleich darauf wich das Grinsen leichter Verblüffung.
Der Chief Inspector machte keine Witze. Er glaubte das tatsächlich. Er hielt die Sûreté für einen großartigen und effizienten Polizeiapparat. Einen Wellenbrecher zwischen den Bürgern und denen, die ihnen Schaden zufügen wollten.
»Sie kommen doch aus der Abteilung für Schwerverbrechen, wenn ich nicht irre.«
Der Agent nickte.
»Dort müssen Sie furchtbare Dinge gesehen haben.«
Der Agent saß reglos da.
»Es ist schwer, da nicht zynisch zu werden«, sagte der Chief Inspector leise. »Hier haben wir es nur mit einer Sache zu tun. Das hat einen großen Vorteil. Wir werden zu Experten. Der Nachteil besteht darin, womit wir es zu tun haben. Dem Tod. Jedes Mal wenn das Telefon klingelt, geht es um den Verlust eines Menschenlebens. Manchmal ist es ein Unfall, manchmal Selbstmord. Manchmal stellt sich heraus, dass es ein natürlicher Tod war. Aber meistens ist das nicht der Fall. Und dann treten wir auf den Plan.«
Der Agent blickte in Gamaches Augen und meinte einen kurzen Moment lang, die furchtbaren Tode zu sehen, die sich über Jahre hinweg angesammelt hatten. Die Jungen und die Alten. Die Kinder. Die Väter und die Mütter, die Töchter und Söhne. Getötet. Ermordet. Verlorene Leben. Und die Leichen wurden diesem Mann vor die Füße gelegt.
Es schien, als hätte sich der Tod zu ihnen gesellt und ließe die Luft im Büro schal und stickig werden.
»Wissen Sie, was ich nach dreißig Jahren Umgang mit dem Tod gelernt habe?«, fragte Gamache, beugte sich zu dem Agent vor und senkte die Stimme.
Unwillkürlich beugte der Agent sich ebenfalls vor.
»Ich habe gelernt, wie kostbar das Leben ist.«
Der Agent sah ihn an, wartete auf mehr, und als nichts mehr kam, ließ er sich auf seinem Stuhl wieder zurücksinken.
»Die Arbeit, die Sie tun, ist nicht unbedeutend«, sagte der Chief Inspector. »Die Menschen zählen auf Sie. Ich zähle auf Sie. Bitte nehmen Sie das ernst.«
»Ja, Sir.«
Gamache erhob sich, und der Agent tat es ihm nach. Der Chief Inspector begleitete ihn zur Tür und verabschiedete ihn mit einem Nicken.
Alle in der Mordkommission hatten gelauscht und auf den Wutausbruch gewartet. Darauf gewartet, dass der Chief Inspector den impertinenten Agent zur Schnecke machen würde. Selbst Lacoste hatte darauf gewartet und es sich gewünscht.
Aber nichts war passiert.
Die anderen Agents wechselten Blicke und gaben sich keine Mühe mehr, ihre Genugtuung zu verbergen. Der legendäre Chief Inspector Gamache war letztlich doch nicht mehr als ein Schwächling. Kurz davor, in die Knie zu gehen.
Als Lacoste klopfte, blickte Gamache von seiner Lektüre auf.
»Darf ich reinkommen, patron?«, fragte sie.
»Natürlich.« Er stand auf und deutete auf den Stuhl.
Lacoste schloss die Tür, wohl wissend, dass einige, falls nicht sogar alle Agents in dem großen Raum weiter lauschen würden. Es war ihr egal. Sie konnten sie mal kreuzweise.
»Die da draußen wollten sehen, wie Sie ihn fertigmachen.«
Der Chief Inspector nickte. »Ich weiß.« Er musterte sie. »Sie auch, Isabelle?«
Es hatte keinen Sinn, den Chef anzulügen. Sie stieß einen Seufzer aus.
»Ein Teil von mir hätte es auch gern gesehen. Aber aus anderen Gründen.«
»Nämlich?«
Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Agents. »Es hätte ihnen gezeigt, dass Sie sich nicht herumschubsen lassen. Gewalt ist das Einzige, was sie verstehen.«
Gamache dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. »Sie haben natürlich recht. Ich war auch in Versuchung, muss ich zugeben.« Er lächelte sie an. Er hatte eine Weile gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, dass ihm Isabelle Lacoste gegenübersaß und nicht Jean-Guy Beauvoir.
»Ich glaube, dass der junge Mann einmal von seiner Arbeit überzeugt war«, sagte Gamache und sah durch das Innenfenster zu, wie der Agent nach dem Telefonhörer griff. »Ich glaube, das war bei allen so. Ich glaube wirklich, dass die meisten Agents zur Sûreté kommen, weil sie helfen wollen.«
»Dienen und beschützen?«, fragte Lacoste mit einem kleinen Lächeln.
»Pflichterfüllung, Integrität, Gerechtigkeit«, zitierte er das Motto der Sûreté. »Altmodisch, ich weiß.« Kapitulierend hob er die Hände.
»Was hat sich geändert?«, fragte Lacoste.
»Warum fangen anständige junge Männer und Frauen an, andere zu schikanieren? Warum träumen Soldaten davon, Helden zu sein, und enden damit, dass sie Gefangene misshandeln und Zivilisten erschießen? Warum werden Politiker korrupt? Warum schlagen Polizisten Verdächtige zusammen und brechen die Gesetze, für deren Einhaltung sie eigentlich sorgen sollen?«
Der Agent, mit dem Gamache gerade noch gesprochen hatte, telefonierte. Trotz der Hänseleien seiner Kollegen tat er, was Gamache von ihm verlangt hatte.
»Weil sie es können?«, fragte Lacoste.
»Weil es die anderen auch tun«, sagte Gamache und beugte sich vor. »Korruption und Brutalität werden vorgelebt, sie werden erwartet und belohnt. Es wird zum Normalfall. Und jeder, der sich dem entgegenstellt, der sagt, dass es falsch ist, wird einfach mundtot gemacht. Oder schlimmer.« Gamache schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann diese jungen Agents nicht dafür verurteilen, dass sie vom Weg abgekommen sind. Es gibt kaum jemanden, der das nicht tut.«
Der Chief Inspector sah Lacoste an und lächelte.
»Sie wollen wissen, warum ich ihn mir nicht richtig vorgeknöpft habe, obwohl ich es gekonnt hätte? Deswegen. Und bevor Sie es als Heldentat missverstehen, es war keine. Es war eigennützig. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich noch nicht so tief gesunken bin. Denn verlockend ist es.«
»Sich auf die Seite von Chief Superintendent Francœur zu schlagen?«, fragte Lacoste, erstaunt über das Geständnis.
»Nein, mein eigenes stinkendes Süppchen zu kochen.«
Er sah sie nachdenklich an, schien seine Worte abzuwägen.
»Ich weiß, was ich tue, Isabelle«, sagte er leise. »Vertrauen Sie mir.«
»Ich hätte nicht zweifeln sollen.«
Und Isabelle Lacoste erkannte, wie der Fäulnisprozess in Gang gesetzt wurde. Dass es nicht über Nacht geschah, sondern nach und nach. Ein leiser Zweifel setzte sich fest. Dann folgte die Infektion. Unsicherheit. Kritik. Zynismus. Misstrauen.
Lacoste blickte zu dem Agent, mit dem Gamache gesprochen hatte. Er hatte aufgelegt und gab Notizen in seinen Computer ein, tat seine Arbeit. Aber seine Kollegen spotteten über ihn, und während Inspector Lacoste zusah, hörte er auf zu tippen und drehte sich um. Und lächelte. Er war wieder einer von ihnen.
Lacoste wandte ihre Aufmerksamkeit erneut Chief Inspector Gamache zu. Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten, dass sie ihm gegenüber illoyal sein könnte. Aber wenn es bei diesen ehemals anständigen Agents passieren konnte, dann konnte es vielleicht auch bei ihr passieren. Vielleicht war es bereits passiert. Wenn immer mehr von Francœurs Leuten in ihre Abteilung versetzt wurden, wenn immer mehr von ihnen Gamache infrage stellten, weil sie ihn für schwach hielten, wurde vielleicht auch sie davon infiziert.
Vielleicht begann sie schon, an ihm zu zweifeln.
Noch vor sechs Monaten hätte sie niemals infrage gestellt, in welcher Form der Chief Inspector einen Untergebenen zurechtwies. Doch jetzt hatte sie es getan. Und eine Stimme in ihr fragte sich, ob das, was sie gesehen hatte, was sie alle gesehen hatten, nicht doch Schwäche war.
»Was auch immer geschieht, Isabelle«, sagte Gamache, »Sie müssen auf sich selbst vertrauen. Verstehen Sie?«
Er sah sie eindringlich an, als versuchte er, diese Worte nicht einfach nur in ihren Kopf zu pflanzen, sondern tiefer. An einen geheimen, sicheren Ort.
Sie nickte.
Er lächelte und löste damit die Spannung. »Bon. Sind Sie nur deswegen gekommen, oder gibt es noch etwas anderes?«
Da war noch etwas, aber erst als ihr Blick auf das Post-it in ihrer Hand fiel, erinnerte sie sich wieder daran.
»Vor ein paar Minuten kam ein Anruf rein. Ich wollte Sie nicht stören. Ich bin nicht sicher, ob es privat oder dienstlich ist.«
Er setzte seine Brille auf und las die Notiz, dann runzelte er die Stirn.
»Das weiß ich auch nicht.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Jackett fiel auf, und Lacoste bemerkte die Glock in dem Holster an seinem Gürtel. An den Anblick hatte sie sich nach wie vor nicht gewöhnt. Der Chef verabscheute Waffen.
Matthäus 10,36.
Es war eines der ersten Dinge, die er ihr beigebracht hatte, nachdem sie zur Mordkommission gekommen war. Noch immer sah sie Chief Inspector Gamache vor sich, auf demselben Stuhl, auf dem er auch jetzt saß.
»Matthäus 10,36«, hatte er gesagt. »Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Vergessen Sie das niemals, Agent Lacoste.«
Damals hatte sie geglaubt, er meinte damit, dass man bei einer Mordermittlung mit der Familie anfangen sollte. Aber inzwischen wusste sie, dass es sehr viel mehr bedeutete. Chief Inspector Gamache trug eine Waffe. Im Hauptquartier der Sûreté. Inmitten seiner eigenen Hausgenossen.
Gamache nahm das Post-it von seinem Schreibtisch. »Lust auf einen Ausflug? Wir könnten zum Mittagessen dort sein.«
Lacoste war überrascht, ließ sich aber nicht zweimal bitten.
»Wer übernimmt in der Zwischenzeit die Verantwortung?«, fragte sie, während sie nach ihrer Jacke griff.
»Wer hat sie denn jetzt?«
»Sie natürlich, patron.«
»Nett von Ihnen, dass Sie das sagen, aber wir wissen beide, dass es nicht stimmt. Ich hoffe nur, wir haben keine Streichhölzer herumliegen lassen.«
Als die Tür hinter ihnen zufiel, hörte Gamache den Agent, mit dem er gesprochen hatte, zu den anderen sagen: »Es geht um das Leben …«
Er machte sich über den Chief Inspector lustig, imitierte ihn mit hoher, kindlicher Stimme. Ließ es wie die Worte eines Idioten klingen.
Lächelnd ging der Chief Inspector den langen Flur zum Aufzug hinunter.
Im Aufzug beobachtete er die Anzeige. 15, 14 …
Die andere Person im Aufzug stieg aus, ließ sie allein zurück.
… 13, 12, 11 …
Lacoste war versucht, die Frage zu stellen, die niemand mithören durfte.
Sie sah zu ihrem Chef, der auf die Anzeige blickte. Entspannt. Sie kannte ihn jedoch gut genug, um die neuen Falten, die tieferen Falten zu erkennen. Die dunkleren Ringe unter den Augen.
Ja, dachte sie, machen wir, dass wir hier rauskommen. Über die Brücke, runter von der Insel. So weit weg wie möglich von diesem verfluchten Ort.
8 … 7 … 6 …
»Sir?«
»Ja?«
Er drehte sich zu ihr, und erneut sah sie die Erschöpfung, die zum Vorschein kam, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Und sie brachte es nicht übers Herz zu fragen, was mit Jean-Guy Beauvoir geschehen war. Ihr Vorgänger als Gamaches Stellvertreter. Ihr eigener Mentor. Gamaches Protegé. Und mehr als das.
Fünfzehn Jahre lang waren Gamache und Beauvoir ein hervorragendes Team gewesen. Der Chief Inspector hatte den zwanzig Jahre Jüngeren zu seinem Nachfolger herangezogen.
Und dann war Inspector Beauvoir vor einigen Monaten nach der Rückkehr von einem Fall in einem entlegenen Kloster plötzlich versetzt worden, in die Abteilung von Chief Superintendent Francœur.
Ein Fiasko.
Lacoste hatte Beauvoir fragen wollen, was geschehen war, aber der Inspector wollte mit niemandem aus der Mordkommission mehr etwas zu tun haben, und Chief Inspector Gamache hatte eine Direktive ausgegeben. Die Leute in der Mordkommission sollten sich von Jean-Guy Beauvoir fernhalten.
Man sollte ihm aus dem Weg gehen. Er sollte verschwinden. Unsichtbar werden.
Nicht nur eine persona non grata, sondern eine persona non exista.
Isabelle Lacoste hatte es nicht glauben können. Und das war in all der Zeit, die inzwischen vergangen war, nicht einfacher geworden.
3 … 2 …
Das war es, was sie fragen wollte.
War es wahr?
Sie fragte sich, ob es ein Trick war, um Beauvoir in Francœurs Lager einzuschleusen. Um herauszufinden, was der Chief Superintendent im Schilde führte.
Bestimmt waren Gamache und Beauvoir in diesem gefährlichen Spiel nach wie vor Verbündete.
Doch mit jedem Monat, der verging, war Beauvoir immer unberechenbarer geworden und Gamache immer entschiedener. Und der Riss zwischen ihnen war zu einem Abgrund geworden. Inzwischen schienen sie in zwei verschiedenen Welten zu leben.
Während sie Gamache zu seinem Auto folgte, wurde Lacoste klar, dass sie es sich nicht um seinetwillen verkniffen hatte zu fragen, sondern um ihrer selbst willen. Sie wollte die Antwort nicht hören. Sie wollte glauben, dass Beauvoir immer noch loyal war und Gamache die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, Francœur an der Durchführung welchen Plans auch immer zu hindern.
»Wollen Sie fahren?«, fragte Gamache und hielt ihr die Schlüssel hin.
»Gern.«
Sie fuhr durch den Ville-Marie-Tunnel und dann auf die Champlain Bridge. Gamache blickte schweigend auf den halb zugefrorenen Sankt-Lorenz-Strom tief unter ihnen. Als sie sich dem höchsten Punkt der Brücke näherten, kam der Verkehr fast zum Stehen. Auch wenn Lacoste nicht an Höhenangst litt, wurde ihr etwas mulmig. Es war eine Sache, über die Brücke zu fahren, und eine andere, knapp neben dem niedrigen Geländer stehen bleiben zu müssen. In luftiger Höhe.
Tief unter ihr konnte sie Eisschollen sehen, die in der kalten Strömung aneinanderstießen. Unter der Brücke trieb wie Klärschlamm aussehender Schneematsch.
Neben ihr sog Chief Inspector Gamache scharf die Luft ein, dann stieß er sie wieder aus und rutschte auf seinem Sitz hin und her. Ihr fiel ein, dass er an Höhenangst litt, und sie bemerkte, dass er die Hände abwechselnd zu Fäusten ballte und wieder öffnete.
»Was Inspector Beauvoir angeht«, hörte sie sich sagen. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde sie von der Brücke springen.
Er sah sie an, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Was auch ihre Absicht gewesen war, wie ihr klar wurde. Ihm einen Schlag verpassen. Um die Blockade in seinem Kopf zu überwinden.
Natürlich konnte sie Chief Inspector Gamache nicht physisch schlagen. Aber emotional schon, und genau das hatte sie getan.
»Ja?« Er sah sie an, aber weder seine Stimme noch sein Gesichtsausdruck waren besonders ermutigend.
»Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Das Auto vor ihr bewegte sich ein paar Meter vorwärts, dann bremste es wieder. Jetzt hatten sie den höchsten Punkt fast erreicht.
»Nein.«
Er hatte zurückgeschlagen, und sie spürte den Schlag brennen.
Eine Zeit lang saßen sie in betretenem Schweigen da. Wenigstens ballte der Chief Inspector die Hände nicht mehr zu Fäusten. Jetzt starrte er einfach nur noch aus dem Fenster, und sie fragte sich, ob sie vielleicht zu fest zugeschlagen hatte.
Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er sah nicht mehr auf die dunklen Fluten des Sankt-Lorenz-Stroms, sondern zum Rand der Brücke. Sie hatten inzwischen den Scheitelpunkt erreicht und konnten sehen, was den Stau verursachte. Am Ende der Brücke blockierten Polizeiautos und ein Rettungswagen die rechte Fahrspur.
Ein zugedeckter, auf eine Trage geschnallter Körper wurde ans Ufer gezogen. Lacoste bekreuzigte sich, eine automatische Reaktion, nicht weil sie glaubte, dass es für die Toten oder die Lebenden eine Rolle spielte.
Gamache bekreuzigte sich nicht. Stattdessen beobachtete er die Szene genau.
Der Todesfall hatte sich am Südufer von Montréal ereignet. Das war nicht ihr Zuständigkeitsbereich, also nicht ihre Leiche. Die Sûreté du Québec war für die Überwachung von ganz Québec zuständig, mit Ausnahme der Städte, die über eigene Polizeikräfte verfügten. Damit waren sie zwar für einen sehr großen Bereich und sehr viele Leichen zuständig, aber nicht für diese.
Außerdem wussten Gamache und Lacoste, dass es sich bei dieser armen Seele vermutlich um Selbstmord handelte. Von den näher rückenden Weihnachtsfeiertagen in die Verzweiflung getrieben.
Als sie an der wie ein Säugling in Decken gewickelten Leiche vorbeifuhren, ging Gamache die Frage durch den Kopf, wie schrecklich das Leben sein musste, wenn das kalte graue Wasser die bessere Option zu sein schien.
Und dann waren sie an der Stelle vorbei, der Verkehr floss wieder, und wenig später fuhren sie in raschem Tempo über die Autobahn, weg von der Brücke. Weg von der Leiche. Weg vom Hauptquartier der Sûreté. Auf das Dorf Three Pines zu.
Die kleine Glocke über der Tür bimmelte, als Gamache den Buchladen betrat. Er klopfte mit seinen Stiefeln gegen den Türrahmen, um wenigstens einen Teil des Schnees abzuschütteln.
Bei ihrem Aufbruch in Montréal hatte es leicht geschneit, nur ein paar Flocken, doch als sie dann südlich der Stadt hoch in die Berge gefahren waren, war der Schneefall stärker geworden. Er hörte ein dumpfes Klopfen, als Lacoste sich die Stiefel abtrat und ihm folgte.
Dem Chief Inspector war der Buchladen so vertraut, dass er sich selbst mit verbundenen Augen darin zurechtgefunden hätte. Die Wände wurden von Regalen gesäumt, die mit allen Arten von Büchern gefüllt waren. Mit Belletristik und Biographien, Wissenschaft und Science Fiction. Krimis und Religion. Lyrik und Kochbüchern. Ein Raum voller Gedanken und Gefühle und Phantasie und Wünsche. Neu und gebraucht.
Auf dem Holzboden verteilt lagen abgetretene Teppiche, die dem Laden die Atmosphäre eines häufig benutzten Bibliothekszimmers in einem alten Landhaus verliehen.
An der Tür zu Myrnas Buchladen und Antiquariat hing ein festlicher Kranz, und in einer Ecke stand ein Weihnachtsbaum. Darunter stapelten sich Geschenke, und in der Luft hing der süße Geruch von Räucherkerzen.
In der Mitte des Raums standen zwei Sessel neben einem gusseisernen schwarzen Ofen, auf dem ein Kessel summte.
Seit dem Tag, an dem Gamache Myrnas Buchladen vor vielen Jahren zum ersten Mal betreten hatte, hatte sich nichts verändert. Bis hin zu dem altmodischen geblümten Überzug auf dem Sofa und den Sesseln am Erkerfenster. Neben einem der durchgesessenen Sessel stapelten sich Bücher, und auf dem Beistelltisch lagen alte Ausgaben des New Yorker und des National Geographic.
So könnte ein Seufzer aussehen, dachte Gamache.
»Bonjour?«, rief er und wartete. Keine Antwort.
Am hinteren Ende des Buchladens führte eine Treppe in Myrnas darüber liegende Wohnung. Er wollte gerade nach oben rufen, als Lacoste einen Zettel neben der Kasse entdeckte.
Bin in zehn Minuten zurück. Bitte das Geld für die mitgenommenen Bücher hinlegen. (Ruth, damit bist du gemeint.)
Keine Unterschrift. Die war nicht nötig. Aber darüber war eine Uhrzeit vermerkt. 11:55 Uhr.
Lacoste blickte auf ihre Armbanduhr, während Gamache sich zu der großen Uhr hinter dem Tresen drehte. Eine Minute vor zwölf.
Ein paar Minuten lang wanderten sie an den Regalen entlang. Es gab ungefähr genauso viele französische wie englische Bücher. Einige neu, die meisten jedoch gebraucht. Gamache verlor sich in den Titeln und entschied sich schließlich für ein eselsohriges Buch über die Geschichte von Katzen. Er zog seine dicke Jacke aus und goss für sich und Lacoste einen Becher Tee ein.
»Milch? Zucker?«, fragte er.
»Von beidem ein bisschen, s’il vous plaît«, kam ihre Antwort von der anderen Seite des Raums.
Er setzte sich neben den Holzofen und schlug das Buch auf. Lacoste ließ sich in dem anderen Sessel nieder und trank einen Schluck von ihrem Tee.
»Erwägen Sie, sich eine zuzulegen?«
»Eine Katze?« Er blickte auf den Einband. »Nein. Florence und Zora wünschen sich ein Haustier, vor allem nach ihrem letzten Besuch. Sie sind Henris Charme erlegen und wollen jetzt auch einen Schäferhund.«
»In Paris?«, sagte Lacoste mit einer gewissen Belustigung.
»Ja. Ich glaube, ihnen ist nicht so ganz klar, dass sie in Paris leben«, erwiderte Gamache lachend und dachte an seine beiden Enkelinnen. »Gestern Abend hat mir Reine-Marie erzählt, dass Daniel und Roslyn über eine Katze nachdenken.«
»Madame Gamache ist in Paris?«
»Über Weihnachten. Ich fliege nächste Woche hin.«
»Bestimmt können Sie es kaum erwarten.«
»Ja«, sagte er und wandte sich wieder seinem Buch zu. Um seine Sehnsucht zu verbergen, dachte sie. Und wie sehr er seine Frau vermisste.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss Gamache aus der überraschend fesselnden Geschichte der Tigerkatze. Er hob den Kopf und sah Myrna durch die Tür treten, die ihren Buchladen mit dem Bistro verband.
Sie trug eine Suppenschale und ein Sandwich in den Händen und blieb abrupt stehen, als sie Gamache und Lacoste sah. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln, das genauso leuchtete wie ihr Pullover.
»Armand, ich hätte nicht damit gerechnet, dass Sie persönlich herkommen.«
Gamache stand auf, und Lacoste tat es ihm nach. Myrna stellte das Essen auf dem Tresen ab und umarmte sie beide.
»Wir stören Sie beim Mittagessen«, sagte Gamache entschuldigend.
»Ach, ich bin nur schnell rübergelaufen, um mir was zu holen, für den Fall, dass Sie anrufen.« Dann hielt sie inne und musterte sein Gesicht. »Warum sind Sie hier? Ist irgendwas passiert?«
Es machte Gamache ein wenig traurig, dass seine Anwesenheit fast immer Beunruhigung hervorrief.
»Nein, keineswegs. Wir sind nur auf Ihre Nachricht hin gekommen.«
Myrna lachte. »Was für ein Service. Sie hätten ja auch anrufen können.«
Gamache drehte sich zu Lacoste. »Anrufen. Wieso sind wir darauf nicht gekommen?«
»Ich traue Telefonen nicht«, sagte Lacoste. »Sie sind Teufelswerk.«
»Galt das nicht für E-Mails?«, sagte Gamache und wandte sich wieder Myrna zu. »Sie haben uns einen Vorwand geliefert, für ein paar Stunden aus der Stadt zu flüchten. Und ich freue mich immer hierherzukommen.«
»Wo ist Inspector Beauvoir?«, fragte Myrna und sah sich um. »Parkt er das Auto?«
»Er hat einen anderen Einsatz«, sagte Gamache.
»Verstehe«, sagte Myrna, und in der kurzen Pause, die darauf folgte, fragte sich Gamache, was sie verstand.
»Wir müssen für Sie beide was zu essen organisieren«, sagte Myrna. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir hier essen? Hier sind wir unter uns.«
Aus dem Bistro wurde eine Speisekarte geholt, und binnen Kurzem waren Gamache und Lacoste ebenfalls mit dem spécial du jour versorgt, Suppe und Sandwich. Sie setzten sich in den hellen Erker, Gamache und Lacoste auf das Sofa und Myrna auf den großen Sessel, der im Lauf der Jahre den Abdruck ihres Körpers angenommen hatte und praktisch eine Erweiterung der beleibten Frau bildete.
Gamache verrührte den Klecks saurer Sahne in seinem Borschtsch und sah zu, wie die Farbe von Dunkelrot zu Rosa wechselte, als sich Rote Bete, Kraut und das mürbe Rindfleisch vermischten.
»Ihre Nachricht war ein bisschen vage«, sagte er und sah Myrna an, die ihm gegenübersaß.
Lacoste neben ihm hatte sich für das mit gegrillter Tomate, Basilikum und Brie belegte Sandwich als ersten Gang entschieden.
»Das war vermutlich Absicht«, fuhr der Chief Inspector fort.
Er kannte Myrna schon einige Jahre, seit er wegen einer Mordermittlung zum ersten Mal in das winzige Dorf Three Pines gekommen war. Damals war sie eine der Verdächtigen gewesen, inzwischen betrachtete er sie als Freundin.
Manchmal wandelten Dinge sich zum Besseren. Aber manchmal auch nicht.
Er legte den gelben Zettel neben dem Brotkorb auf den Tisch.
Tut mir leid, Sie zu behelligen, aber ich brauche Ihre Hilfe. Myrna Landers
Darunter stand ihre Telefonnummer.
Gamache hatte beschlossen, die Nummer zu ignorieren, teils als Entschuldigung dafür, aus dem Hauptquartier wegzukommen, vor allem aber, weil Myrna bisher noch nie um Hilfe gebeten hatte. Es mochte um nichts Gravierendes gehen, aber für sie war es wichtig. Und sie war ihm wichtig.
Er aß seinen Borschtsch, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Wahrscheinlich ist es gar nichts weiter«, setzte sie an, dann begegnete sie seinem Blick und hielt inne. »Ich mache mir Sorgen«, gab sie zu.
Gamache legte seinen Löffel ab und schenkte Myrna seine volle Aufmerksamkeit.
Myrna sah aus dem Fenster, und er folgte ihrem Blick. Durch die beiden Flügel sah er Three Pines. In beiderlei Bedeutung. Das Dorf und die drei alles überragenden Kiefern, von denen es seinen Namen hatte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie als Windbrecher dienten und die Wucht des Schneegestöbers bremsten.
Dennoch lag über allem eine dicke Schicht. Nicht der schmutzige Schnee wie in der Stadt. Hier war er strahlend weiß, nur von Fußpfaden und den Spuren von Langlaufskiern und Schneeschuhen durchbrochen.
Ein paar Erwachsene fuhren Schneeschaufeln vor sich herschiebend auf Schlittschuhen über den Teich und räumten die Eisfläche frei, während Kinder ungeduldig warteten. Keine zwei Häuser um den Dorfanger sahen gleich aus, und Gamache kannte jedes einzelne. Von innen und von außen. Von Befragungen und Feiern.
»Letzte Woche hatte ich Besuch von einer Freundin«, erklärte Myrna. »Eigentlich wollte sie gestern zurückkommen und über Weihnachten bleiben. Vorgestern Abend hat sie angerufen und gesagt, dass sie rechtzeitig zum Mittagessen hier sein würde, aber sie ist nicht aufgetaucht.«
Myrnas Stimme war ruhig. Klar. Eine perfekte Zeugin, wie Gamache mittlerweile festgestellt hatte. Nichts Überflüssiges. Keine Interpretationen. Nur das, was passiert war.
Aber die Hand, die den Löffel hielt, zitterte leicht, sodass der Borschtsch kleine rote Spritzer auf dem Holztisch hinterließ. Und in ihren Augen lag eine Bitte. Nicht um Hilfe. Sie baten ihn um eine Bestätigung. Darum, ihr zu sagen, dass sie überreagierte, sich unnötig Sorgen machte.
»Also ungefähr vierundzwanzig Stunden«, sagte Isabelle Lacoste. Sie hatte ihr Sandwich weggelegt und hörte Myrna aufmerksam zu.
»Das ist nicht lange, oder?«, sagte Myrna.
»Bei Erwachsenen machen wir uns im Allgemeinen erst nach zwei Tagen Sorgen«, sagte Gamache. »Genauer gesagt wird erst dann eine Vermisstenanzeige aufgenommen, wenn jemand seit achtundvierzig Stunden verschwunden ist.« In seinem Tonfall schwang ein »Aber« mit, und Myrna wartete. »Aber wenn jemand verschwunden wäre, der mir nahesteht, würde ich keine achtundvierzig Stunden warten, bevor ich mich auf die Suche mache. Sie haben richtig gehandelt.«
»Vielleicht ist ja alles in Ordnung.«
»Ja«, sagte der Chief Inspector. Und auch wenn er nicht sagte, was sie gerne gehört hätte, hatte allein seine Anwesenheit eine beruhigende Wirkung. »Sie haben natürlich versucht, sie telefonisch zu erreichen.«
»Ich habe gestern Nachmittag ungefähr bis vier gewartet, dann habe ich bei ihr zu Hause angerufen. Sie hat kein Handy. Es sprang nur der Anrufbeantworter an. Ich habe«, Myrna hielt kurz inne, »oft angerufen. Ich würde sagen, jede Stunde einmal.«
»Bis?«
Myrna warf einen Blick auf die Uhr. »Das letzte Mal heute Vormittag um halb zwölf.«
»Lebt sie allein?«, fragte Gamache. Der Ton des Gesprächs hatte sich verändert, von einer ernsthaften Unterhaltung zu einer Befragung. Jetzt war es Arbeit.
Myrna nickte.
»Wie alt ist sie?«
»Siebenundsiebzig.«
Es folgte eine längere Pause, während der Chief Inspector und Lacoste das sacken ließen. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand.
»Ich habe gestern Abend bei allen Krankenhäusern angerufen, sowohl den englischen als auch den französischen«, sagte Myrna, die ihr Schweigen richtig interpretierte. »Und heute Morgen noch einmal. Nichts.«
»Sie ist selbst gefahren?«, vergewisserte sich Gamache. »Sie hat nicht den Bus genommen oder sich von jemandem fahren lassen?«
Myrna nickte. »Sie hat ein Auto.«
Sie musterte ihn, versuchte den Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen zu deuten.
»Und sie ist vermutlich allein gefahren?«
Wieder nickte Myrna. »Was denken Sie?«
Er antwortete nicht. Stattdessen zog er einen kleinen Notizblock und einen Stift aus seiner Brusttasche. »Was für ein Auto fährt Ihre Freundin?«
Lacoste zog ebenfalls ihr Schreibzeug hervor.
»Ich weiß nicht. Etwas Kleines. Orange.« Als Myrna sah, dass keiner der beiden sich etwas notierte, fragte sie: »Hilft Ihnen das weiter?«
»Wissen Sie das Kennzeichen?«, fragte Lacoste ohne große Hoffnung. Trotzdem musste die Frage gestellt werden.
Myrna schüttelte den Kopf.
Lacoste holte ihr Handy hervor.
»Die funktionieren hier leider nicht«, sagte Myrna. »Die Berge.«
Lacoste hatte einen Moment vergessen, dass es in Québec Orte gab, wo Telefone noch Leitungen hatten. Sie stand auf.
»Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
»Natürlich.« Myrna deutete auf den Tresen, und als Lacoste wegging, sah sie Gamache an.
»Inspector Lacoste ruft bei der Verkehrsüberwachung an, um zu klären, ob es auf der Autobahn oder einer anderen Straße hier in der Gegend irgendwelche Unfälle gegeben hat.«
»Aber ich habe die Krankenhäuser doch angerufen.«
Als Gamache nicht antwortete, begriff Myrna. Nicht jedes Unfallopfer musste ins Krankenhaus. Sie sahen beide zu Lacoste, die jemandem am anderen Ende der Leitung zuhörte, sich aber keine Notizen machte.
Gamache fragte sich, ob Myrna wusste, dass das ein gutes Zeichen war.
»Wir brauchen natürlich noch mehr Informationen«, sagte er. »Wie heißt Ihre Freundin?«
Er nahm den Stift und zog den Notizblock näher zu sich heran. Als es still blieb, hob er den Kopf.
Myrnas Blick war auf ihren Buchladen gerichtet. Er überlegte, ob sie seine Frage nicht gehört hatte.
»Myrna?«
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, doch ihr Mund blieb geschlossen. Die Lippen zusammengepresst.
»Ihr Name?«
Myrna zögerte noch immer, und Gamache legte verwundert den Kopf schief.
Isabelle Lacoste kam zurück, setzte sich und lächelte Myrna aufmunternd zu. »Es gab gestern keine schweren Unfälle auf dem Highway zwischen hier und Montréal.«