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Ob Muttertag, Nikolaus oder Weihnachten - Bestseller-Autorin Susanne Mischke schafft es in all ihren Psycho-Krimis und Thrillern die menschlichen Abgründe genauso düster darzustellen, wie wir sie am liebsten nie kennenlernen würden… In uns allen kommt mal das Böse zum Vorschein. Sei es aus Eifersucht, Rache oder Habgier... Susanne Mischke vereint in ihren Krimi-Kurzgeschichten, was uns alle beschäftigt und macht aus ganz alltäglichen Situationen spannende Kriminalfälle. Hätten Sie Ihre lang gehasste Mutter, nachdem sie Sie mit dem Gürtel verdroschen hat, auch am Muttertag erstochen? Diese und viele weitere hintergründige Krimi-Kurzgeschichten finden Sie in diesem Sammelband von Bestseller-Autorin Susanne Mischke.
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Redaktion: Annegret SchenkelCovergestaltung: Favoritbüro, MünchenCovermotiv: Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Mordsweiber
Der Muttertagsmörder
Sau tot
Mordskerle
Down Under Arosa
Hölle, Hölle, Hölle
Weihnachtskrimis
Die Vorzeigefamilie
Karlo muss sterben
Sancta Lucia
Nikolaustag
Was in Bethlehems Stall wirklich geschah
Oh, Tannenbaum
Das Geständnis
Christkind
»Streife fahren bringt überhaupt nichts«, sagte Ferdi missgelaunt. »Er hat sich noch nie eine von der Straße geschnappt. Immer in ihren Wohnungen. Wenn sie mal eben zur Mülltonne gehen, oder zum Briefkasten, oder ein Fläschchen Wein aus dem Keller holen und nur ganz kurz die Tür auflassen…«
»Möglich«, antwortete Siggi. »Aber man kann nicht in jedes Haus, in dem so eine Alte wohnt, einen Polizisten stellen. Auf Streife sehen uns die Leute und haben das Gefühl, dass was für ihre Sicherheit getan wird.«
»Es war klar, dass es wieder uns Ledige trifft«, maulte Ferdi. »Sonntagsschicht bei so einem Wetter!«
»Dienst ist Dienst. Denk an den Zuschlag.«
»Ich hab Durst«, knurrte Ferdi. »Fahr zum Kiosk. Scheiß Muttertagsmörder.«
Er holte noch einmal tief Atem und schaute hinauf zum samtblauen Maihimmel, so sehnsüchtig, wie einer schaut, der eine lange Haftstrafe anzutreten hat. Wenn ich ein Vöglein wär…, dachte er und drückte resigniert auf den vergoldeten Klingelknopf. Es dingdongte. Er hörte, wie sich die Absätze ihrer Gesundheitsschuhe in den Kokosläufer bohrten, der Schlüssel schabte im Schloss, die Tür öffnete sich gerade so weit, wie es die massive Kette zuließ.
Kein Wunder, dass sie ängstlich war. Er selbst hatte schließlich, auf Geheiß des Chefredakteurs, diesen Artikel Wird der Muttertagsmörder wieder zuschlagen? geschrieben. Seit Tagen versetzt der sogenannte Muttertagsmörder die Stadt in Angst… Im Grunde war es nicht der Mörder, sondern die Presse, die die Leute seit Tagen in Angst versetzte. Der Mörder verhielt sich ganz passiv. Bis jetzt. Wird er auch dieses Jahr wieder eine alte Dame in ihren eigenen vier Wänden überfallen und brutal ermorden… und so weiter. Täglich druckten sie die Ratschläge und Warnungen der Polizei an allein lebende ältere Damen, nur ja keinem Fremden die Tür zu öffnen.
»Ich bin’s, Mutti. Mach auf.«
Durch den Türspalt konnte er riechen, was es zum Essen geben würde. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Da stand sie, die Lippen ungeschickt angemalt, die Einheitsdauerwelle mit Haarspray zementiert. Sie trug eine karierte Schürze über einem billigen, hellblauen Häkelpulli und dazu den obligaten Faltenrock.
»Ach, du bist es.« Der leidende Tonfall einer vom Leben Enttäuschten.
»Hallo, Mutti.«
»Du kommst spät. Alles wird verkocht sein, aber das ist dann nicht meine Schuld.«
»Alles Gute zum Muttertag.« Er hielt ihr den Dreißig-Euro-Frühlingsblumenstrauß vor das Gesicht und küsste sie widerstrebend und so flüchtig wie möglich auf die bleiche Wange. Sie roch nach Maiglöckchen und Sauerbraten. Er wusste nicht, welchen der beiden Gerüche er mehr verabscheute.
»Der ist doch viel zu schön für mich.« Sie nahm ihm den Blumenstrauß ab und stopfte ihn in eine Vase.
Er schleuste sich durch den engen Flur an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Der Tisch war für drei gedeckt. In der Schrankwand lauerten, zwischen Spitzendeckchen und Kitschporzellan, die Bilder. Er mit einer Schultüte, sein Vater in Uniform, beide in Schwarz-Weiß. Die restlichen Fotos waren farbig: Torsten und seine blonde Gattin, die zwei niedlichen Kinder, das große Haus, der große Hund, Torsten im weißen Kittel, das Stethoskop um den Hals.
Er ließ sich am Tischende nieder, wo er die Fotos nicht ansehen musste. Am anderen Ende des langen, polierten Nussbaumtisches protzte ein voluminöser Blumenstrauß. Das Kunstwerk der Floristik war mindestens doppelt so groß und teuer wie seiner, die Fleurop-Gebühren nicht mitgerechnet.
»Von Torsten. Wunderschön, nicht wahr?« Wieder dieser Wimmertonfall, als läge sie im Sterben. Dabei war sie organisch gesund. Bei »organisch« musste er an den Sauerbraten denken und heimlich aufstoßen.
»Ja, schön.«
Er half ihr beim Entkorken einer Weinflasche. Honigfarben rann die Spätlese in die Kristallgläser. Er hätte viel lieber ein Bier getrunken, aber Bier war proletenhaft.
Sie schleppte ein Tablett mit Schüsseln und Platten heran, die sie drohend vor ihm aufbaute.
»Sauerbraten. Euer Leibgericht.« Mit einem großen Vorlegelöffel schaufelte sie kleine, eitergelbe Teigbatzen auf seinen Teller. »Die Spätzle sind matschig. Weil du nie pünktlich sein kannst.«
»Ich war pünktlich. Auf die Minute.«
»Wenn man zum Essen eingeladen ist, kommt man nicht in letzter Minute, sondern etwas früher.« Sie klatschte noch einen letzten Batzen auf den Spätzleberg.
»Danke. Genug!«
»Lang nur ordentlich zu. Wieso mache ich mir sonst die Mühe und steh mir den ganzen Vormittag die Beine in den Bauch?«
Ihre Beine. Gab es diese Stützstrumpfhosen denn tatsächlich nur in der Farbe angegammelter Fleischwurst?
»Du hättest nicht kochen müssen. Du weißt doch, Sonntags frühstücke ich immer spät.«
»Weil du dich am Samstag die ganze Nacht mit Schlampen herumtreibst.«
Ihre Stimme klang nun gar nicht mehr leidend, sondern scharf wie das Messer, mit dem sie gerade den Braten in Scheiben schnitt. Er lag auf einer weißen Platte mit Goldrand.
»Du sitzt auf Torstens Platz. Setz dich bitte dahin.« Sie wies auf den Stuhl an der Längsseite.
»Wieso? Kommt er noch?« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. Sie hatte einen Schönheitsfehler, die Musterfamilie: Sie lebte in Baltimore.
»Sie haben ihn zum Leiter der urologischen Abteilung befördert, habe ich das schon erzählt?« Sie hatte.
»Jedem das Seine. Mahlzeit.«
»Setz dich jetzt da rüber!«
Er gehorchte und nahm seinen Teller mit.
»Wann wirst du mal befördert?«
»Ich habe ein eigenes Ressort innerhalb der Lokalredaktion. Bei einer kleinen Zeitung gibt es nicht so viele Aufstiegsmöglichkeiten.«
Wozu erzählte er ihr das überhaupt? Für sie würde er immer ein kleiner Schmierenjournalist bleiben. Ein Versager.
Sie legte ihre Schürze ab, fädelte zwei Scheiben Braten auf die Fleischgabel und ließ sie auf seinen Teller glitschen. Aus einer Sauciere goss sie eine wässrigbraune Flüssigkeit über das Arrangement.
»Heutzutage muss man dankbar sein, wenn man mit vierzig noch einen Job hat«, fügte er trotzig hinzu.
»Dein Vater ist mit vierzig aus der Gefangenschaft gekommen und hat ganz von vorn angefangen…«
»Und war mit fünfzig tot.«
Schicksalsergeben ließ sie sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. Ihr Haupt mit den grauen Löckchen, die an einen Königspudel erinnerten, sank für einen Moment auf ihre volle Brust, ehe sie den Blick anklagend zum Himmel hob, die Hände faltete und sagte: »Bei Gott, es war nicht einfach für mich, euch beide alleine großzuziehen. Aber wenigstens ist aus deinem Bruder was geworden. Er wird übrigens im Dezember zum dritten Mal Vater.«
Er schwieg.
»Bei dir ist der Zug ja wohl abgefahren. Du hast ja noch nicht einmal eine Frau, geschweige denn…«
»Unser Vater war auch über vierzig, als ihr geheiratet habt«, unterbrach er gereizt.
»Das waren andere Zeiten.«
Er verzichtete auf einen Einwand.
»Willst du nicht mit deiner Mutter anstoßen?«
»Doch, natürlich, Mutti.« Er hob sein Glas. »Alles Gute zum Muttertag.«
»Danke«, sagte sie und hatte wieder ihren Leidenszug um den Mund.
Süß und warm rann der Affentaler die Kehle hinunter. Er musste husten.
»Lass es dir schmecken, Junge.«
Er schaute auf seinen Teller. Die Soße hatte eine dünne Haut bekommen. Die Spätzle waren aufgedunsene Maden, durch die Bratenscheiben zog sich eine breite, glibberige Sehne wie eine Krampfader.
Er schnitt ein Stück Braten ab. Das Fleisch war faserig und zäh.
»Iss«, sagte sie.
»Ich kann nicht.« Er legte das Silberbesteck hin.
Ihre Mundwinkel zuckten. »Willst du mich mit Absicht kränken?«
»Nein, Mutti. Aber ich kann nicht.«
»Dein Vater und dein Bruder haben meinen Sauerbraten geliebt. Nur du musst immer Zicken machen, dein ganzes Leben hast du nur Probleme gemacht. Iss, sage ich!«
Er nahm die Gabel wieder in die Hand und steckte das aufgespießte Stück Fleisch in den Mund. Er schluckte es ohne zu kauen hinunter. Auf halbem Weg durch die Speiseröhre überkam ihn Brechreiz und er spie den Batzen auf den cremeweißen Läufer.
»Also, das ist doch…!« Vor Empörung waberte ihre Brust unter dem hellblauen Häkelpulli wie Götterspeise.
»Es tut mir leid, Mutti!«
Sie erhob sich und sah ihn aus schmalen Augen an. »Du willst also nicht essen, was deine Mutter liebevoll gekocht hat?«
»Ja. Nein. Ich…« Er verstummte. Er wusste, was ihm bevorstand.
Sie verließ das Zimmer und kam mit einem kalten Gesichtsausdruck und einem Gürtel in der Hand zurück.
»Kennst du den?«
Er nickte. Seine Hände schwitzten.
»Antworte mir.«
»Vaters Gürtel«, hauchte er. Er hatte Schweißtropfen auf der Stirn. »Bitte, Mutti, ich werde essen, ich…«
»Zu spät. Runter mit dir!«
Heute war sie besonders wütend. Er zählte vierundzwanzig Schläge auf die nackte Haut, davon sechs mit der Gürtelschnalle.
Heulend kroch er auf den Stuhl zurück. Sitzen konnte er nicht, nur knien. Sein Gesicht hing über der Platte mit dem Fleisch, das wie Erbrochenes roch.
Sie beugte sich über den Tisch, das Kreuz an ihrer Halskette pendelte über dem Braten. Ihre Hand legte sich wie ein Schraubstock um sein Kinn. Perlmuttnägel gruben sich in seine Haut.
»Schau mich an!«
Stahlgraue Augen, graurosa Wangen, blutrote Lippen, graue Pudellöckchen, hellblaue Häkelbrüste, goldenes Kreuz über stahlgrau blitzendem Messer…
»Wirst du jetzt aufessen?«
»Fahr zur Hölle, Mutti!«
Stahlgraues Messer in weiches Hellblauhäkelpulllifleisch. Ein Fleck entstand, so rot wie ihr staunender Mund. Schnell arbeitete sich das Rot durch das Häkelmuster, Stäbchen für Stäbchen. Der Mund ging auf und zu, sie kippte nach vorn, Pudellöckchen sanken zwischen Bratenplatte und Spätzleschüssel.
Er vertiefte sich für einen lustvollen Moment in den Anblick, brannte ihn in sein Hirn. Er spürte eine wachsende Erregung, von der er wusste, dass sie noch lange anhalten würde. Dann rückte er seinen Krawattenknoten zurecht, legte einen Umschlag auf die Anrichte und trat hinaus ins Freie. Die Sonne schien, Vögel sangen. Es versprach noch ein schöner Sonntag zu werden.
Elke räumte den Tisch ab, riss die Fenster auf, warf das Essen in den Mülleimer und den rot verschmierten Pullover in die Waschmaschine. Sie seufzte. Sonntage waren immer anstrengend, und der Muttertag war der schlimmste von allen. Während der Woche lief ihr Geschäft ganz normal, Familienväter und Führungskräfte kamen zum Auspeitschen und Piesacken, aber Sonntage und Feiertage gehörten den Durchgeknallten. Der von eben, zum Beispiel, kam seit einem halben Jahr etwa einmal im Monat. Doch sie durfte nicht klagen, sie verdiente gut an diesen Herren. Das Kuvert wanderte in ihre Handtasche.
Sie säuberte das Messer mit der versenkbaren Klinge und legte es in die Schublade, zu der Pudelperücke, den Fotografien und dem BH mit den Mammutbrüsten aus Latex. Schnell noch einen Kaffee und eine Dusche, dann musste sie das Zimmer umdekorieren und sich umziehen. Um vier kam Ferdi mit dem Ärztinnen-Tick. Sie musste noch die Gipsverbände und die Spritzen herrichten.
Am Montag atmete man auf dem Polizeipräsidium erleichtert auf. Kein Leichenfund war gemeldet worden. Dies verdanke man den umfangreichen Präventivmaßnahmen, ließ der Dienststellenleiter vor der Presse verlauten.
Nur die Leser der Lokalzeitung waren im Geheimen ein klein wenig enttäuscht über die Schlagzeile:
Erster Muttertag ohne Mord seit sieben Jahren.
Hermine schläft. Bilder und Düfte eines rosaroten Traums lassen ihre blonden Wimpern flattern. Es ist heiß. Ihr Puls geht flach, der Atem rasselnd. Der Knall durchdringt ihre Ohrmuschel, ein Stromschlag jagt durch ihre Nervenbahnen. Der schwere Leib bäumt sich auf, die Beine treten ins Leere. Sie röchelt, aber die stickige Luft erreicht ihre Lungen nicht, kein Sauerstoff dringt mehr ins Gehirn vor. Der Herzschlag, eben noch ein holpriger Galopp, setzt aus, die wässrig blauen Augen quellen hervor. Dann schwinden ihr die Sinne. Das Rückgrat krümmt sich noch einmal, zuckt in Agonie, bis auch das aufhört.
Die Schreie der anderen, ihre Totenklage, hört Hermine nicht mehr.
Der Schuss fällt in der Morgendämmerung. Sofort ist Lina hellwach. Steif aufgerichtet sitzt sie in ihrem Bett, die Decke ans Kinn gezogen. Wieder ein Schuss, dumpf und dröhnend, schweres Geschütz. Ihre Füße gleiten in die Pantoffeln, sie wankt zum Schrank, zerrt das gute Kleid vom Bügel und streift es über das Nachthemd. Die Knöpfe bleiben offen, dafür ist keine Zeit. Das Geld! Mit der ganzen Kraft ihrer Arme stemmt sie die Matratze hoch. Der Umschlag ist weg. Wieder fällt ein Schuss, das Zimmer bebt. Geld hin oder her, jetzt heißt es fliehen, das nackte Leben retten. Aber warum hat man sie eingeschlossen, jetzt, wo der Feind vor dem Dorf steht, nein, schon da ist. Mein Gott, man weiß doch, was diese Bestien Frauen und Kindern antun!
»Heide!« Von Panik erfüllt rüttelt sie an der Türklinke. »Heide, versteck dich im Stall!« Ihre Stimme gellt durch das Zimmer und klingt fremd in den eigenen Ohren. Ein weiterer Schuss lässt Schranktür und Fenster zittern.
»Heide, flieh! Nimm die Flinte mit und schieß jeden gottverdammten Russen über den Haufen, jeden, hörst du!« Die knochigen Fäuste hämmern gegen die Tür. »Hier bin ich! Nehmt mich, ihr Bestien. Kommt schon her, ihr feiges Gesindel!«
Ein Schlüssel schabt im Schloss. Sie weicht zurück, sieht sich um. Einen will sie mit ins Grab nehmen, wenigstens einen! Aber es ist nichts zur Hand, kein Schürhaken, kein Stock, keine Pfanne. Nur eine Wasserflasche, aber die ist aus Plastik.
Wieder ein Schuss.
Die Tür geht auf. Hände greifen nach ihren Schultern und schütteln sie.
»Ganz ruhig, es ist nichts passiert.«
»Heide, du musst dich verstecken, schnell, die Russen…«
»Tante Lina, ich bin es, die Katharina. Und das sind nicht die Russen. Es sind diese Idioten vom Dorf, die da herumballern. Heute ist Tommsens Hochzeit.«
Linas Augen werden groß. »Kati…?«
»Geh wieder ins Bett, Tante Lina, es wird gleich aufhören. Ich muss nach den Schweinen sehen. Mein Gott, die armen Viecher…«
Rapsduft liegt wie eine schwere Decke über dem Dorf. Keine Wolke trübt den blassblauen Himmel. Es ist viel zu heiß für Ende Mai. Die Menschen, die sich unter den Kastanienbäumen versammelt haben, stöhnen. Schminke zerfließt, Schweißperlen sammeln sich auf Glatzen und Oberlippen.
Aus dem Inneren der Kirche dringen gedämpfte Orgelklänge nach draußen. Der Wind frischt auf. Er trägt die Töne über den Rasen bis in die Baumkronen, bläht die Röcke der Blumenmädchen, zerzaust die Frisuren der Damen und kühlt die verschwitzten Nacken der Feuerwehrmänner. So willkommen der Luftzug ist, so führt er doch leider auch eine würzige Brise mit sich.
»Muss die Lenzen ausgerechnet jetzt die Stalllüftung anmachen«, schimpft der Ortsbrandmeister.
»Warum ist die eigentlich nicht hier?«, fragt Thea Sand.
»Die muss doch immer aus der Reihe tanzen«, bemerkt Annegret Mohr, die hagere Metzgersfrau.
Tanzen. Tanzen ist das Stichwort, das Thea in Unruhe versetzt. Ihre achtköpfige Gymnastikgruppe wird nachher, zwischen Kaffee und Abendessen, auf der Saalbühne des Goldenen Hirschen den Bananentanz vorführen. Hoffentlich, fleht Thea zum Himmel, hoffentlich bleiben die Damen dieses Mal lange genug nüchtern. Bei der letzten Aufführung, anlässlich der goldenen Hochzeit des Altbürgermeisters, gab es einen Bänderriss und viel Gelächter.
Heute heiratet Holger Tommsen, der Sohn des größten Bauern. Endlich, wie viele hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Es gilt, das frisch getraute Paar zu betrachten und hochleben zu lassen. Und während vor dem Altar Braut und Bräutigam ihre Schwüre leisten, stöhnt man draußen über die Hitze, scharrt ungeduldig mit den Füßen und beneidet die, die im Kühlen sitzen. Nur wenige Dorfbewohner haben hinter den dicken Mauern der kleinen Kirche Platz gefunden. Die Verwandtschaft der beiden Familien hat fast alle Bänke besetzt.
»Meinem Karl verbrennt es garantiert die Platte.« Hertha Kotte, die Bäuerin des zweitgrößten Hofes am Ort, fächelt sich mit ihrem Strohhut Luft zu. Der Schweinedunst hat sich verzogen und dem erstickend süßen Duft Platz gemacht, den die Rapsfelder verströmen. Wie hingeworfene Teppiche liegen sie rund um das Dorf, grellgelbe Vierecke zwischen dem satten Grün des noch jungen Korns.
»Die Kati Lenzen denkt doch nicht an andere. Die lebt nur für ihre Schweine«, behauptet Rosemarie Lemke, die Frau des Bürgermeisters.
»Aber dass sie die verrückte Alte nicht ins Heim gibt, muss man ihr hoch anrechnen«, findet Hertha.
»Hört auf zu gackern, ihr Hühner«, tönt die sonore Stimme des Ortsbrandmeisters Karl Kotte aus der Reihe des Feuerwehrspaliers. Stramm stehen sie da, mit roten Köpfen, die Backen rasiert, die Schuhe poliert.
»Es geht los.«
Das Portal wird aufgestoßen, Menschen quellen ins Freie, Hochrufe werden laut. Die kleinen Mädchen schleudern Reis und Blüten auf das Brautpaar. Holger, stattlich und stolz, grüßt seine Kameraden von der Feuerwehr mit einem saloppen Winken. Die Braut hängt schwer an seinem Arm. Wild läuten die Glocken vom Kirchturm.
»Ach, irgendwie sind doch alle Bräute ganz hübsch«, seufzt Rosemarie.
»Hübsch muss eine Bäuerin nicht sein. Arbeiten muss sie können«, brummt die Metzgersfrau Annegret, die beim Anblick der rosigen Braut unweigerlich daran erinnert wird, dass ihr Ernst heute früh acht Spanferkel küchenfertig an den Goldenen Hirschen geliefert hat.
»Er ist ja auch nicht mehr der allerjüngste Bräutigam«, stichelt Thea Sand, selbst frisch geschieden. »Mit vierunddreißig…«
»Den alten Tommsens hat doch nie eine gepasst.« Bei diesen Worten reibt Hertha Kotte den Daumen gegen die anderen Finger ihrer rechten Hand. Ihre Finger sind rot und dick, der Ehering sitzt tief im Fleisch. Ihr Thomas ist mit dreißig ebenfalls noch ledig. Für Bauernsöhne ist es nicht einfach, eine passende Frau zu finden. So eine dahergelaufene Polin oder Russin kommt ihr jedenfalls nicht auf den Hof.
»Das Land, das ist es. Deswegen hat der alte Tommsen der Sache gehörig nachgeholfen, wetten?« Niemand widerspricht Herthas Vermutungen. Außerdem gehen die Tommsens gerade an ihnen vorbei. Knut Tommsen in feierlichem Schwarz, das Doppelkinn vom Kragen eingeschnürt, Erika großgeblümt und mit zementiertem Dauerwellenhügel. Ihnen folgen die Wernickes – ein grauhaariges, zusammengeschnurrtes Paar, dessen knorzige Mickrigkeit ihre große, stämmige Tochter geradezu elefantös erscheinen lässt.
»Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen«, murmelt Annegret.
»Ich sag da nur: Fahne drüber und für Deutschland!«, dröhnt eine Männerstimme hinter ihnen.
»Jan! Reiß dich gefälligst zusammen«, zischt Rosemarie Lemke.
Jan Lemke trägt ein weißes Kunstblumensträußchen am Revers und grinst.
»Bring du erst mal selbst eine an, bevor du solche Reden schwingst«, entgegnet Thea und tippt mit ihrem rot lackierten Fingernagel gegen seine Uniformjacke. Sie spannt ein bisschen um die Goldknöpfe herum.
»Ich werde nur durch den Tod aus dem Club der Junggesellen ausscheiden!«, verkündet Jan.
»Jawoll!«, tönen seine Freunde Thomas Kotte und Markus Sand im Chor und nicken dazu wie die Wackeldackel.
Thea tippt sich nur an die Stirn, sie hat keine Lust, sich jetzt mit ihrem Sohn zu streiten. Markus ist vierundzwanzig, da ist noch Zeit.
Auch Jans Mutter Rosemarie verdreht lediglich die Augen und zupft nervös am gewagten Ausschnitt ihres kleinen Schwarzen. Sie kennt die Einstellung ihres Sohnes zu Frauen – mitnehmen, was geht, aber sich nicht binden. Einzig für Kati Lenzen hätte er wohl eine Ausnahme gemacht. Aber die hat ihren Jan nur wie ein Spielzeug benutzt, Schlampe, die. Die Abfuhr hat ihn seinerzeit schwer getroffen, auch wenn er sich nichts hat anmerken lassen. Aber eine Mutter spürt so etwas.
»Komm, Jan, die sägen, das sehen wir uns an.« Thomas und Markus ziehen ihren Anführer am Arm davon.
Dem Brauch gehorchend muss das frisch vermählte Paar nun einen Baumstamm durchsägen. Die Anstrengung lässt das Gesicht der Braut fleckig rot anlaufen, aber darauf achten die wenigsten, denn ihre drallen Brüste drohen jeden Augenblick aus dem Kleid zu springen, worauf besonders die Abordnung der Landjugend spekuliert, die wie eine Schar Krähen auf der Kirchenmauer hockt. Holger, ebenfalls schwitzend, bellt Kommandos, die Menge brüllt Anfeuerungsrufe, die Braut sägt, dass ihr der Schweiß nur so hinunterläuft. Dann, endlich, ist der Stamm durch.
In den aufbrausenden Jubel mischen sich schrille Töne. Die Jägerschaft hat sich zusammengerottet und bringt dem Brautpaar ein Ständchen. Schon heute früh um sechs haben sie die Gemeinde aus dem Schlaf gerissen mit zwölf Salutschüssen und dem anschließenden Hohen Wecken. Jetzt schmettern die Jagdhörner die St. Hubertus Fanfare, den Jägermarsch, die Signale Hirsch tot, Sau tot und – es wird auch langsam Zeit – zum Essen.
Die Feuerwehr tritt in Aktion und riegelt die Dorfstraße ab. Über dem Asphalt flirrt die Luft. Holger schiebt seine Braut auf die wartende Kutsche. Das Blumenbukett liegt auf dem Kutschbock wie welker Salat. Der Kutscher schnalzt mit der Zunge, die Pferde setzen sich in Bewegung. Wie eine träge Raupe schiebt sich der Tross die Dorfstraße hinunter.
Tanja Wernicke steht vor dem Spiegel der Damentoilette und wischt mit dem Puderschwämmchen über ihre glänzende Nase. Auch die Wimperntusche ist schon wieder zerlaufen. Kein Wunder, der Saal kocht. Gerade führen die Gymnastik-Damen den Bananentanz vor. Die Hochzeitstorte mit dem Plastikpärchen obendrauf ist angeschnitten, die Damen picheln Sekt und Likörchen. Die Männer haben den ersten Klaren schon mittags gekippt, dem Spanferkel hinterher.
Ihre Hochzeit. Es fühlt sich immer noch fremd an, wie etwas, das gar nicht ihr passiert, sondern bloß einem Abbild von ihr. Aber es ist wahr: Sie, Tanja, ist heute die Braut.
Wer hätte das gedacht, vor gut einem Jahr, als Holger Tommsen sie beim Osterfeuer hinter den Getränkewagen der Landjugend gezerrt und ihr zwischen den Bierkisten die Zunge in den Hals gesteckt hat? Nach Zwiebel und Schnaps hat er gerochen, das weiß sie noch, obwohl auch sie zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr ganz nüchtern war. Wenige Wochen darauf, beim Mai-Singen, winkte Holger ihr zu und wurde sogar ein bisschen rot dabei. Kaum zu glauben: Holger Tommsen machte ihr, Tanja, den Hof. Da konnte Jan Lemke noch sehr lästern und sein Gift verspritzen: »Zwei Liter Herrenhäuser machen sogar ein Schwein schön, prost, Holger!«
Wenn Jan lächelt, dann ähnelt er Robbie Williams, deshalb kann Tanja ihm nicht böse sein.
Ach, Robbie. Heute startet seine Europa-Tournee. Sie denkt an ihr Zimmer, in dem sie heute früh das Brautkleid angezogen hat. Die Poster müssen leider dort bleiben. Es würde Holger bestimmt nicht gefallen, wenn sie im Schlafzimmer Robbie Williams an die Wände pinnt. Aber vielleicht kann sie ja eines in der Küche aufhängen, an den Kühlschrank.
Hinter ihr rauscht eine Toilettenspülung und eine Tür geht auf.
»Hallo, Tanja, hier bist du. Wolltest du dir auch den Auftritt der Hupfdohlen ersparen?«
Tanja nickt Kati Lenzen im Spiegel zu. Kati trägt Jeans und eine blaue Leinenbluse. So geht die zu einer Hochzeit, werden die anderen Gäste hinterher tuscheln.
»Alles Gute zur Hochzeit, Tanja!« Kati lächelt Tanja an und drückt sie an sich, als wären sie alte Freundinnen. Dabei kennen sie sich kaum. Kati ist acht Jahre älter als Tanja, fast schon eine andere Generation. Wie kühl ihre Wangen sind, trotz der Hitze.
Kati Lenzen wäscht sich die Hände mit den vielen Ringen und fährt mit einem Kajalstift um ihre Perlmuttaugen, die das schmale, blasse Gesicht beherrschen. Tanjas Augen sind zwei kleine, wasserblaue Schlitze, und wenn sie lächelt, so wie jetzt, verschwinden sie völlig zwischen dem Zuviel an Fleisch. Trotzdem kann sie zusehen, wie Kati mit einem Kamm, den die aus der hinteren Tasche ihrer Jeans zieht, durch ihr Haar streicht. Es hat die Farbe von Bitterschokolade und fällt in einer sanften Welle bis auf die Schultern. Tanja hat ihre blonden Flusen zur Feier des Tages in Löckchen legen lassen, die sich nun unter dem Schleier heraus um ihre glühenden Wangen ringeln. Da hilft kein Make-up und kein Puder.Schon seit ihrer Kindheit ist das so: Auf allen Farbfotos sieht sie aus wie ein rosiges Ferkel. Schweinegesicht haben sie sie im Kindergarten genannt. Später, in der Schule, pig face.
Kati anzusehen ist dagegen so, als würde man eine schöne Katze betrachten.
Kati ist keine von denen, die Tanja immer nur mitleidig anschauen, wenn überhaupt. Wie sie ihr nun im Spiegel verschwörerisch zuzwinkert – als wären sie Freundinnen. Das tut gut. Tanja hätte gerne eine Freundin wie Kati, es würde ihr nichts ausmachen, der hässlichere Teil des Duos zu sein. Es ist ihr auch egal, dass man im Dorf behauptet, Kati sei verrückt. Warum eigentlich? Weil sie mit dreißig anstatt eines Eherings lieber einen Ring am Nasenflügel trägt?
»Danke, dass du noch gekommen bist«, sagt Tanja.
»Ich wäre gerne zur Kirche gekommen, aber es ging nicht, wegen Tante Lina. Sie hat sich furchtbar aufgeregt über die Schüsse. Es hat sie an früher erinnert.«
»Das macht doch nichts«, versichert Tanja und spürt, wie sie noch röter anläuft. Rasch verschwindet sie in der Kabine der Toilette.
»Soll ich dir beim Pinkeln helfen? Ich meine, mit dem Kleid?«, fragt Kati.
»Nein, nein, es geht schon«, versichert Tanja. »Das ist nett von dir«, fügt sie noch hinzu. Dann schlägt die Tür hinter Kati zu, und Tanja verlässt kurz nach ihr die Toilette. Sie muss gar nicht pinkeln, sie schwitzt alles raus.
Der Flur ist schmal und dunkel und riecht nach Bratfett. Links geht es zurück in den Saal, wo man gerade applaudiert und pfeift, rechts führt der Gang zum Hinterhof. Die Tür ist offen. Vielleicht kann sie sich im schattigen Hof ein bisschen abkühlen und eine rauchen. »Eine Braut raucht nicht«, hat ihre Mutter sie ermahnt. »Wie sieht denn das aus?«
Aber im Hof sieht mich ja keiner, denkt Tanja und wendet sich nach rechts. Unter der Tür bleibt sie stehen. Jan Lemke steht mit dem Rücken zur Wand neben dem fliegenvergitterten Küchenfenster. Dahinter hört man Geklapper und das Lachen des Küchenpersonals. Vor Jan steht Kati, doch da ist keine Spur mehr von Charme und Freundlichkeit. Giftpfeile schießen aus ihren Augen.
»Du hast Hermine auf dem Gewissen! Dafür wirst du mir bezahlen, das verspreche ich dir!« Katis Fäuste trommeln auf Jans Brust ein, es ist ein dumpfes Geräusch, das von den Wänden des Hofes widerhallt. Jan hält sich die Arme vor das Gesicht und schreit: »Hör auf, du bist ja völlig durchgeknallt! Was kann ich dafür, wenn sich deine Sau erschreckt!«
»Wenn man direkt neben dem Stall Kanonenschüsse abfeuert, ist das wohl kein Wunder«, brüllt Kati. »Und das war hundertprozentig deine scheiß Idee!«
»Jetzt krieg dich wieder ein. Es ist doch nur eine Sau.«
»Diese Sau hatte mehr Charakter als du!«
Jetzt hat Jan ihre Fäuste zu fassen bekommen. Die Streitenden drehen sich um hundertachtzig Grad, nun ist es Jan, der Kati gegen die Wand drückt. Die lässt ihre Fäuste, die Jan immer noch festhält, sinken. Ihr Körper signalisiert Kapitulation, die Lippen, eben noch ein zorniger Strich, öffnen sich wie Blütenblätter.
Jan lächelt sein Robbie-Williams-Lächeln. Tanja ist hin- und hergerissen.
»Na also«, sagt Jan mit weicher Stimme. »Es gefällt mir, wenn Frauen wütend sind.«
Katis Knie schnellt nach vorn. Jan klappt zusammen wie ein Liegestuhl und quiekt dabei. Tanja hört Schritte hinter sich, ehe sie wie eine Gardine zur Seite geschoben wird. Es ist Rosemarie Lemke. Im bauchfreien Bananenkostüm und mit Apfelsinen im Haar erstürmt sie den Hof.
Jan hat sich inzwischen wieder aufgerichtet. Er schnappt nach Luft.
»Was ist hier los?«, keift Rosemarie.
»Misch dich nicht ein, Mama«, keucht Jan.
»Dein Herr Sohn ist schuld am Tod meiner besten Zuchtsau! Aber das wird er mir büßen, verlasst euch darauf!« Kati funkelt Jan und seine Mutter böse an.
»Das werden wir ja sehen«, faucht Rosemarie und zeigt auf die Tür.
»Los, verschwinde, du… du Irre!«
Kati betrachtet mit einem spöttischen Lächeln die Frau Bürgermeister im Tanzkostüm. Ganz langsam, von oben nach unten.
»Schau dich doch selber an.« Sie wirft das Kinn hoch und rauscht davon. Tanja macht ihr eilig Platz.
»Sorry, Tanja«, sagt Kati zu der Braut. Sie legt Tanja kurz die Hand auf die Stelle, wo der Träger des bräutlichen BHs in ihre nackte Schulter schneidet. Katis Hand ist warm, trocken und ein wenig rau. Dann verschluckt sie der dämmrige Flur
»Es tut mir leid, das mit deinem Schwein«, ruft ihr Tanja hinterher.
»Traurig, traurig«, nickt Thomas Kotte. »Dass es den Holger so schnell erwischt, das hätte ich nicht gedacht.«
Die drei letzten Hinterbliebenen des Clubs der Junggesellen hocken auf den Stufen vor dem Eingang des Goldenen Hirschen. Jeder hat einen Bierkrug vor seinen Füßen stehen.
»Wenn sie wenigstens hübsch wäre«, seufzt Jan Lemke »Aber diese Zuchtsau…«
»Kati Lenzen hat sie nicht alle, das ist doch bekannt«, meint Markus Sand. Die Neuigkeit von Katis Wutausbruch hat schon vor Stunden die Runde gemacht.
»Ich mein doch nicht die Sau.«
»Welche dann?«
»Die mit dem Schleier.« Jan schnippt seine brennende Kippe auf den Waschbeton. Eine Fledermaus kreuzt mit hektischem Flügelschlag den Schein der Straßenlaterne und verschwindet im Zickzackflug zwischen den Bäumen. Drinnen im Saal ist die Stimmung auf dem Siedepunkt. Lebt denn der alte Holzmichel noch…
»Ey, wirklich, dem Holger, dem graust vor gar nichts«, versichert Markus kniefällig. Offensichtlich hegt er Ambitionen auf die nun vakante Stelle als Jans bester Freund.
»Sooo hässlich ist sie nun auch wieder nicht«, widerspricht Thomas.
»Ein abgeseifter Bauerntrampel ist sie«, antwortet Jan. Um seine Worte zu unterstreichen, trinkt er von seinem Bier und rülpst. Markus Sand tut es ihm nach und rülpst noch lauter.
»Jetzt mach mal halblang«, protestiert Jungbauer Kotte verärgert. Jan hält sich wohl für was Besseres, weil seine Eltern Hannoveraner züchten und sein Vater der Ortsbürgermeister ist. Thomas versteht Jans Bitterkeit nicht. Hat er das mit dem Club wirklich so ernst genommen? Ist er vielleicht schwul?
»Nicht für viel Geld würd’ ich’s der besorgen wollen!«, bekräftigt Jan.
»Aber der Kati schon«, versetzt Thomas.
»Ach, die. Die hatte ich doch schon längst in der Kiste«, winkt Jan ab, aber sein Lächeln entgleist zur Grimasse.
Kati. Das ist ein Stachel, der immer mal wieder schmerzt. Ihr Streit vorhin hat alte Erinnerungen heraufbeschworen. Er hat versucht, sie in viel Bier zu ertränken, aber anscheinend können sie schwimmen. Die Tür geht auf. Heraus dringt ein Schwall abgestandener Luft und Gesang.
Jaaah, er lebt noch, er lebt noch, er lebt noch…
»N’ Abend Herr Pastor.«
»Guten Abend, ihr drei. Ihr heckt doch wohl keinen Unsinn aus?«, fragt er, als wären sie drei Lausbuben im Grundschulalter.
»Niemals, Herr Pastor«, versichert Jan.
Der Pastor bleibt auf den Stufen stehen und nimmt einen tiefen Atemzug. »Ach, wenn diese Gemeinde in der Kirche nur einmal so inbrünstig singen würde wie im Wirtshaus.«
»Versuchen Sie’s doch mal mit ’nem Bierausschank, Herr Pastor«, rät Jan. Grölendes Gelächter. Der Gottesmann macht sich kopfschüttelnd auf den Heimweg.
Jan wartet, bis er die Straße überquert hat, dann steht er auf und geht ein paar Schritte ins Gelände. Thomas und Markus lauschen stumm dem Rauschen des Urinstrahls im Gebüsch. Der Mond klettert über das Kirchendach. Die Uhr schlägt elf. Am Löschteich hinter der Kirche quaken die Frösche. Ab und zu weht eine Brise von Kottes Misthaufen herüber. Es ist die erste Sommernacht des Jahres, zum Sterben schön und so lau, um sich im Gras zu wälzen.
Als Jan zurückkommt, ist es, als hätte sich mit seiner Blase auch seine schlechte Laune entleert. »Männer!«, grinst er und zieht aus der Hosentasche einen Ring mit zwei Schlüsseln. »Ich hab hier was. Seine Hochzeitsnacht soll dieser Verräter nicht so schnell vergessen. Seid ihr dabei?«
Thomas, rasch versöhnt, grinst und nickt. »Logo.«
»Was hast du vor?«, fragt Markus.
»Weiß ich noch nicht. Kommt, wir gehen zum Teich, was rauchen.«
»Können wir nicht hier rauchen?«, fragt Markus, schwer von Begriff.
»Spinnst du?«
»Ach so, schon klar. Hast du was dabei?«
»Würd’ ich sonst fragen?«
Sie überqueren die Dorfstraße und gehen auf die Kirche zu, deren Turm sich nachtschwarz gegen den aufgehenden Vollmond stemmt.
»Nein, Ernst, wir laufen. Du hast schon etliche Lüttje Lagen intus.«
»Deshalb will ich ja nicht mehr laufen«, erklärt Metzgermeister Mohr mit der zwingenden Logik des Betrunkenen.
»Und ich sag, du fährst nicht mehr!«, kräht ihm Annegret ins hochrote Ohr.
»Glaubst du, auf den paar Metern liegt die Polizei auf der Lauer? Nachts um eins?«
Annegret entreißt ihm den Schlüssel und bugsiert den protestierenden Gatten auf den Beifahrersitz. Sie schnallt ihn an, steigt ein, holt sich den Sitz näher ans Lenkrad und startet den Motor, sie haben sich nun doch für die Autofahrt entschieden. Langsam knirscht der Benz über den Rollsplitt.
»Pass auf, da stehen welche!«
Teile der Hochzeitsgesellschaft entleeren gerade ihre Mägen über den Rosenrabatten, die die Dorfstraße säumen.
»Seh ich doch. Nun halt den Schnabel und lass mich fahren.«
Die Scheinwerfer streifen drei Gestalten, die mit einer Schubkarre den Platz mit dem Maibaum und dem blumengeschmückten Dorfbrunnen überqueren.
»Sieh an. Wo kommen die denn jetzt her? Und was stellen sie wohl mit der Schubkarre an?«
»Schau gefälligst auf die Straße!«
Annegret kneift die Augen zusammen und späht durch die Scheibe nach dem Inhalt der Schubkarre, aber ein anderer Wagen kommt entgegen und blendet sie.
»Wär ja nicht das erste Mal, dass einer in der Karre nach Hause gebracht wird, nicht wahr, Ernst?« Vor ein paar Wochen, nach dem Mai-Singen, ist ihrem sturzbetrunkenen Gatten diese Gunst seiner Sangesbrüder zuteilgeworden.
Ein kraftloses Brummen ertönt vom Beifahrersitz.
»Möcht’ wissen, wer da in der Karre lag. Hast du ihn erkannt, Ernst? Ernst!«
Der Angesprochene schnarcht. Auch egal, denkt Annegret. Morgen wird man es schon erfahren. Man hat hier noch immer alles von jedem erfahren.
Nur der Hund begrüßt Hertha Kotte, als sie nach Hause kommt. Die Glocke am Kirchturm sendet zwei mahnende Schläge in die Nacht. Halb zwei. Spät genug, aber sie hat es nicht länger ausgehalten. Diese Hitze, dieser Krach. Soll ihr Karl doch alleine weiterfeiern, rock around the clock, er hat es ja nicht weit nach Hause. Alle Fenster sind dunkel. Ob Thomas schon im Bett ist? Sie hat ihn seit Mitternacht nicht mehr gesehen. Hoffentlich treibt er keinen Unsinn. Ein tiefer Seufzer dringt aus Hertha Kottes fülliger Brust. Nun, da Holger verheiratet ist, wird sich ihr Thomas bestimmt noch mehr als bisher an Jan Lemke anschließen. Ein Gedanke, der ihr nicht gefällt. Obwohl der Bengel auf ihrem Hof aus und ein geht, seit er laufen kann, vertraut sie ihm nicht. Faustdick hat der es hinter den Ohren. Wenn irgendwo im Dorf ein krummes Ding läuft, ist er garantiert dabei. Man munkelt sogar, dass Jan schon mit Rauschgift zu tun gehabt hat. Kein Wunder ist das. Seine Mutter hat sich schon immer lieber mit ihren Gäulen beschäftigt, anstatt sich um ihr Früchtchen zu kümmern. Die Frau Bürgermeister! Stolziert immer so arrogant in ihren Reithosen durchs Dorf, wie die Königin von Saba. Hertha schält sich aus der Festrobe und stellt die Dusche an. Mit einem wohligen Schauder lässt sie den kühlen Wasserstrahl über ihren erhitzten Körper laufen. Herrlich!
Erfrischt geht sie kurz darauf ins Schlafzimmer und greift unter das Kopfkissen. Das Nachthemd ist nicht da, wo es zu liegen hat. Hat sie es in die Wäsche getan? Nein, es war doch erst zwei Tage alt. Das Hemd ist nicht zu finden, weder im Wäschekorb noch im Bad, auch nicht im Schlafzimmer. Sie macht das Fenster auf und schaut in den Hof. Vielleicht ist es ihr heute früh beim Bettenmachen runtergefallen? Aber das hätte man doch tagsüber bemerkt, wenn da ein geblümtes Nachthemd auf dem Hof liegt. Der Hund? Der lebt unten, zwischen Küche und Schweinestall, und weiß genau, dass er im ersten Stock nichts zu suchen hat. Außerdem ist das Tier auf Schuhe spezialisiert. Nachtwäsche hat den noch nie interessiert.
Hertha geht zum Schrank und holt ein frisches, lavendelduftendes Nachthemd heraus. Rätselhaft, das Ganze. Ob Thomas…? Aber was in aller Welt sollte Thomas mit ihrem Nachthemd anfangen wollen? Der Junge wird doch nicht…
Eben noch todmüde wälzt sich Hertha nun schlaflos im Bett herum, geplagt von schrecklichen Bildern.
Tanja folgt ihrem Bräutigam die Stufen hinauf. Holgers Eltern haben den geräumigen Dachboden für das junge Paar ausbauen lassen. Wohnzimmer, Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer, vorsorglich. Alles ist hell und neu, die Wände, die Möbel, das Bett. Die Braut ist willkommen – nicht zuletzt wegen der Mitgift. Tanja macht sich keine Illusionen darüber, was die Leute denken und tuscheln. Es ist ihr egal. Sie liebt ohnehin nur Robbie Williams. Was natürlich Blödsinn ist, völlig aussichtslos. Und davon abgesehen – heiraten, das wollte sie schon immer. Einmal der Mittelpunkt sein, die Braut.
Holger muss sich am Treppengeländer hochziehen und Tanja schiebt von unten ein wenig nach. Mit einer Hochzeitsnacht im traditionellen Sinn wird es wohl nichts mehr werden. Aber ihr Bräutigam hat seine ehelichen Pflichten schon vor zwei Stunden erledigt, auf dem Hof des Goldenen Löwen, genau dort, neben dem Küchenfenster mit den dicken Gitterstäben, wo sich am Nachmittag Jan und Kati gestritten haben. Tanja spürt noch jetzt die heißen Backsteine, die ihr ein Muster in den Rücken stempeln, fühlt den staubigen Saum ihres Kleides, der sich wie eine seidige Würgeschlange um ihren Hals legt, hört das rhythmische Grunzen ihres Bräutigams an ihrem Ohr, und während sein Adamsapfel vor ihren Augen auf und ab zuckt, denkt sie an Robbie und lauscht den müden Witzen des Küchenpersonals hinter dem gekippten Fenster.
»Hoffnich ham diese Saukerle da drin nix annestellt«, offenbart Holger nun seine Befürchtungen und versucht dabei die Wohnungstür aufzuschließen. Tanja muss ihm helfen. Dann ist die Tür offen. Tanja klammert sich an seinen Hals und Holger schafft es, sie in die Höhe zu stemmen. Aber kaum ist er über der Schwelle, klappen ihm die Knie weg. Die Braut knallt auf das Laminat, der Bräutigam landet auf ihr.
»Sorry!«, kichert Holger. Die Jungvermählten rappeln sich auf. Holger gibt der Tür einen Tritt, sie fällt ins Schloss. Sie sind allein. Bis jetzt ist alles in Ordnung. Dann öffnet Tanja die Tür zum Schlafzimmer.
Das Abendhandtäschchen unter den Arm geklemmt, stolpert Thea Sand den steinigen Feldweg entlang. Diese Tangomelodie will ihr nicht mehr aus dem Kopf, und so setzt sie ihre Schritte im feurigen Rhythmus. Tam-tam-taa-tam… Es ist halb sechs, aber die Sonne hat schon Kraft. Der Raps steht in voller Blüte und verbreitet seinen ordinären Duft. Thea ist erschöpft. Für Spaziergänge durch die Feldmark hat sie die falschen Schuhe an. Das wird Blasen geben. Zum Glück ist es nun nicht mehr weit. Das erste Gebäude des Dorfes ist schon erreicht, der Hof von Kati Lenzen. Ein echter Freak, diese Frau. Die verrückte Alte, die bei ihr lebt, hat man schon ab und zu im Dorf aufgelesen, orientierungslos und nach ihrer längst verstorbenen Tochter Heide rufend. Solche Leute gehören in ein Heim, findet Thea.
Der Weg wird jetzt schmaler. Aufgeräumt dösen die Schrebergärten in der Morgensonne, Kartoffelpflanzen stehen in Reihe, Pfingstrosen tragen pralle Knospen. Vögel lärmen. Thea drückt ihre Hände gegen die pochenden Schläfen. Erleichtert taucht sie ein paar Minuten später in den grünen Schatten der Bäume, die den Löschteich umgeben. Ihre Füße brennen. Übermütig zieht sie die Schuhe aus, rafft ihr Kleid und macht ein paar Schritte in den Teich. Frösche stürzen erschrocken ins trübe Wasser. Himmlisch, diese Kühle an den Beinen. Ihr Blick wandert über die glatte Wasseroberfläche. Die Seerosen blühen noch nicht, aber ihre Blätter breiten sich im hinteren Teil des Gewässers zu einem Teppich aus. Die Sonnenstrahlen werden durch das Laub gefiltert, was eine weiche Dschungelbeleuchtung ergibt. Richtig romantisch ist das hier.
Sie hat kaum geschlafen, aber sie ist nicht müde. Eher ein bisschen überdreht. Der Grund dafür heißt Helmut, ist Waldorf-Lehrer und wohnt im Nachbardorf. Sie wäre gern zum Frühstück geblieben, aber Markus soll nichts mitkriegen. Noch nicht. Erst mal abwarten, wie sich die Sache entwickelt.
Sie muss sich jetzt beeilen. Von der Kirche sind es noch gut zweihundert Meter die Hauptstraße hinunter bis zu ihrem Haus hinter dem Dorfplatz. Für diese Strecke gibt es keinen Schleichweg mehr. Sie kann nur hoffen, dass die Bürger um diese Zeit noch ihre Räusche ausschlafen.
Was schwimmt eigentlich da hinten? Thea ist etwas kurzsichtig, was sie sich jedoch nicht eingesteht. Sie watet bis zu den Hüften in den schlammigen Teich und fixiert den Gegenstand. Dann bleibt ihr die Luft weg. In hektischen Sätzen springt sie an Land. Ihr Kleid wird nass und schmutzig, sie beachtet es nicht.
Am Ufer streift Thea ihre Schuhe über und rennt los – so schnell es eben geht auf den hohen Hacken und mit dem engen Kleid, das an ihren Beinen klebt. Sie muss den Pfarrer rausklingeln, der wohnt am nächsten, der muss die Polizei anrufen. Doch vor der Pforte des Pfarrhauses hält sie inne. Wozu ihren Ruf riskieren? In einer knappen Stunde werden die ersten Hundespaziergänger ausrücken. Für den, der da mit dem Gesicht nach unten zwischen den Seerosenblättern dümpelt, ist bereits die Ewigkeit angebrochen. Da kommt es auf eine Stunde nicht mehr an.
Hauptkommissar Lars Seehafer parkt vor der Kirche, hinter einem Streifenwagen, dem Notarzt und dem Passat der Kollegen vom Kriminaldauerdienst. Die Glocken im Kirchturm schlagen sieben Mal. Seehafer stellt den Motor ab, steigt aus, gähnt und streckt sich zur vollen Länge von eins neunzig. Er ist unrasiert und unausgeschlafen, sein Körper ist noch nicht auf Touren, die Glieder sträuben sich gegen jede Bewegung. Er atmet tief ein. Die Luft riecht faulig-süßlich, wie abgestandenes Blumenwasser, aber auch eine Note Tierdung ist dabei. Vor dem Eingang zur Kirche stehen zwei Buchsbäumchen, die mit weißen Bändern geschmückt sind. Davor, auf dem Plattenweg, liegen verschrumpelte Blütenblätter und Reis.
Ein junger Notarzt kommt ihm entgegen. Seehafer lässt ihn wortlos vorbei. Er wird noch früh genug alles Nötige erfahren.
Der Zugang zu dem kleinen Park, der sich um einen Teich schmiegt, ist mit einem rot-weißen Band abgesperrt. Davor haben sich ein gutes Dutzend Bewohner versammelt. Sie unterhalten sich leise und mit betretenen Gesichtern.
Seehafer zeigt einem der Streifenpolizisten seinen Dienstausweis und schlüpft unter dem Band hindurch, wobei ihm sein Bauch im Weg ist und seine Knie laut knacken.
Unter dem grünen Dach der Bäume hat sich die Kühle der Nacht gehalten. Blütenstaub tanzt im Licht vereinzelter Sonnenstrahlen. Das dunkle Wasser ist zur Hälfte von Seerosenblättern bedeckt. Vögel zwitschern. Es hätte ein zauberisch schöner Ort sein können.
Eine junge Frau kommt ihm entgegen. »Guten Morgen. Ich bin Oberkommissarin Sabine Hinze, das ist mein Kollege, Kommissaranwärter Ralf Czerny.« Sie ist blond, etwa Ende zwanzig, er noch jünger. Zusammen dürften die beiden etwa in seinem Alter sein.
»Morgen.«
Sabine Hinze trägt Latexhandschuhe, offenbar hat sie die Leiche untersucht. Ihr Kollege hat einen Notizblock in der Hand. »Ich bin dabei, die Anwohner zu befragen«, erklärt er beflissen. »Die Spurensicherung ist verständigt und müsste jeden Moment eintreffen.«
Seehafer nickt.
Dort, am Ufer, liegt er. Er ist mittelgroß und trägt eine blaue Uniform mit Goldknöpfen. Schlamm und grünliche Schlieren bedecken das Gesicht. Es ist blass, der Mund steht staunend offen, das dunkle Haar klebt klatschnass am Kopf. Die Jacke ist offen, das weiße Hemd hängt aus der Hose. Es ist voller Schmutz und Blut. Und es hat Löcher. Seehafer bückt sich und zieht es vorsichtig hoch. Drei runde Stichwunden unterhalb des Rippenbogens, angeordnet wie die Drei auf einem Würfel.
Seehafer wendet sich ab und holt ein paar Mal tief Luft, um die aufkommende Übelkeit zu bekämpfen. Eigentlich sollte er nach über zwanzig Dienstjahren an Leichen gewöhnt sein. Es gab ja schon ganz andere als diese. Aber vermutlich ist es nicht der Leichnam, sondern die sichtbar gewordene Präsenz des Todes, das Memento mori, das ihm jedes Mal auf den Magen schlägt.
Die junge Kommissarin berichtet: »Der Tote heißt Jan Lemke. Er ist der Sohn des Bürgermeisters. Ledig, einunddreißig Jahre alt, wohnte bei seinen Eltern.«
»Was sagt der Arzt?«
»Er lag erst wenige Stunden im Wasser. Wahrscheinlich ist er nicht ertrunken, sondern wurde erstochen. Wenn Sie mich fragen – das sieht ganz nach einer Mistgabel aus«, meint Sabine Hinze.
»Eine Mistgabel«, wiederholt Seehafer nachdenklich. »Sind Sie da sicher?«
Sie lächelt. »Ich komme vom Land.«
Seehafer winkt einen der uniformierten Beamten, die den Zugang zum Teich vor ungebetenen Gästen sichern, zu sich heran. »Ich hätte gerne, dass sämtliche Mistgabeln in diesem Dorf beschlagnahmt und zur KTU gebracht werden.«
»Geht klar.« Der Beamte entfernt sich und spricht im Gehen in sein Funkgerät.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Der Pastor.« Sabine Hinze deutet auf einen Mann um die fünfzig in kurzen Hosen, der etwas abseits auf einer Bank sitzt. Seine Beine sind schmutzig, die Sportschuhe mit den Socken darin stehen neben ihm. Seehafer geht hin und stellt sich vor.
»Bernd Lowitz. Ich bin hier der Pastor und wohne gleich da drüben.« Er hat ausgeprägte Tränensäcke und alle Linien in seinem Gesicht weisen nach unten. Der Mann hat offenbar nicht viel zu lachen in seinem Job.
»Ich wollte heute Morgen um sechs Uhr joggen gehen, da habe ich ihn gesehen. Da drin lag er.« Er deutet auf den Seerosenteppich. »Zwischen den Blättern. Mit dem Gesicht nach unten, ich habe ihn erst gar nicht erkannt.«
»Haben Sie ihn herausgeholt?«
»Ja. Ich wusste ja nicht… Er hätte ja noch am Leben sein können. Der Teich ist nicht tief.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Personen? Fahrzeuge?«
»Nein. Es war alles so wie sonst. Bis auf…« Der Pastor deutet in Richtung der Leiche und Seehafer folgt seinem Blick. Drei Herren von der Spurensicherung sind soeben eingetroffen und schleppen ihre Ausrüstung heran.
Der Pastor schüttelt den Kopf mit den borstigen grauen Haaren. »Dabei war er gestern noch so fröhlich und munter. Als ich die Hochzeit verlassen habe, so gegen zwölf, da saß er noch mit seinen Freunden auf den Eingangsstufen des Goldenen Hirschen und scherzte.«
»Kennen Sie die Namen der Freunde?«
»Natürlich. Das waren Thomas Kotte und Markus Sand. Beide vom Dorf. Jan war der Trauzeuge…« Der Pastor berichtet in der für Geistliche typischen ausschweifenden Art über die Hochzeit. Seehafer lässt ihn reden.
»Und es wurde sicher viel getrunken«, bemerkt er, als der Pastor einmal innehält.
»Ja, das ist hier leider immer so.«
»Ist während der Feier etwas vorgefallen, gab es vielleicht Streit?«
Seehafer ist, als würde der Herr Pastor einen Moment mit der Antwort zögern, ehe er sagt: »Nein, nicht, dass ich wüsste.«
»Wie lange haben Sie dieses Amt hier schon, Herr Pastor?«»Seit fünfzehn Jahren.«
»Wie war Jan Lemke. War er beliebt?«
Wieder überlegt der Mann, ehe er antwortet. »Wohl nicht bei allen. Wenn hier Unfug angestellt wurde, dann war er der Anführer oder zumindest der Anstifter. Aber er hatte einen gewissen Charme, niemand konnte ihm lange böse sein.«
»Was ist mit Frauen?«
Der Geistliche nickt bekümmert. »Er war ein Casanova. Er sah ja auch recht gut aus. Leider hatte er nicht das Bedürfnis, sich zu binden.«
»Hatte er zuletzt eine Freundin?«
Seehafer denkt an die Mistgabel. Das spricht für Hass, Eifersucht, Leidenschaft. Oder Liebe. Verschmähte, vielleicht.
»Da fragen Sie besser die Eltern. Mein Gott, diese armen Menschen. Er war das einzige Kind.«
»Was war er von Beruf?«
»Er hat Landwirtschaft studiert und danach auf dem Gut seiner Eltern gearbeitet. Sie haben eine Pferdezucht.«
»Haben Sie in der Nacht etwas Verdächtiges gehört? Schreie vielleicht?«
»Nein. Ich muss gestehen, ich hatte auch Alkohol getrunken und habe daher tief und fest geschlafen.«
»Danke. Sie können sich jetzt umziehen«, sagt der Kommissar mit einem Blick auf die schlammverschmierten Beine und die nassen Sporthosen des Pastors. Der nickt betrübt und bückt sich nach seinen Nikes.
»Halt! Augenblick!« Der Pastor hält mitten in der Bewegung inne. Lars Seehafer hebt zu seinen Füßen eine dicke Kippe vom Boden auf. Sie kann noch nicht lange da gelegen haben, das Papier ist noch intakt. Er hält sie sich unter die Nase. Der Geruch weckt Erinnerungen. Linden, am Leineufer, eine Bank wie diese, eine Handvoll Halbstarker. Gekifft haben sie wie die kaputten Öfen und dazu Dark Side of the Moon gehört. Lange her. Zwanzig Jahre? Eher dreißig. Das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes ist plötzlich da und schnürt ihm den Brustkorb zu. Sentimentaler alter Sack, schimpft er sich.
Der Pastor erklärt gerade: »Diese Bank wird oft von Jugendlichen zu abendlichen Zusammenkünften genutzt. Im Sommer geht das oft bis in die Morgenstunden. Was habe ich hier schon Bierflaschen und Zigarettenkippen aufgesammelt.«
»Waren Jan und seine Freunde auch oft hier?«
»In letzter Zeit wohl nicht mehr. Sie sind ja auch nicht mehr so jung. Aber früher, da…«
Ein kleiner Tumult lässt ihn innehalten. Eine blonde, schlanke Frau kämpft kreischend gegen die beiden Uniformierten, die sie daran hindern wollen, den Tatort zu betreten. Hinter ihr steht ein hochgewachsener Herr. Hohe Stirn unter vollem, ergrautem Haar. Seine Haltung vereint Autorität und Eleganz, passt aber nicht zu seinem verstörten Blick.
»Oh Gott, die Eltern«, murmelt der Pastor, und seine Schultern kippen unter der Last seiner seelsorgerischen Pflichten nach vorne.